LE-1-2015
LOGISTIK express Fachzeitschrift
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INTRALOGISTIK<br />
In der Logistik wird zu viel<br />
Potenzial verschwendet<br />
Österreichs KMU und Logistiker sollten sich schleunigst mit dem Thema Industrie<br />
4.0 auseinandersetzen, rät Professor Wilfried Sihn, Geschäftsführer von Fraunhofer<br />
Austria.<br />
WILFRIED SIHN<br />
Der Hype um das Thema Industrie<br />
4.0 ist in Deutschland schon verflogen,<br />
Information und Kommunikationstechniken<br />
(IKT) mit physischen<br />
Prozessen zu verbinden ist schon Realität<br />
und die Umsetzung der dafür notwendigen<br />
Maßnahmen längst in Gang, weiß Professor<br />
Wilfried Sihn, Geschäftsführer von Fraunhofer<br />
Austria Research aus Erfahrung. Er beschäftigt<br />
sich mit diesem Thema seit Jahren und ortet<br />
hierzulande sowohl in der KMU-Firmenwelt<br />
als auch unter den kleinen und mittelgroßen<br />
Logistikunternehmen einen großen Nachholbedarf<br />
in Sachen Industrie 4.0. Das Thema<br />
ist nämlich kein Hype mehr, sondern schon<br />
geerdet und sollte von den Unternehmen<br />
unbedingt beachtet werden, empfiehlt Sihn.<br />
Es gehe darum, Mehrwert für die Kunden zu<br />
schaffen, die Wertschöpfung zu erhöhen und<br />
damit die eigene Firmenwettbewerbsfähigkeit<br />
langfristig abzusichern. „Die Frage, die<br />
sich jedes Unternehmen stellen muss, lautet:<br />
Wie kann ich meinem Kunden helfen, wir kann<br />
ich für diesen einen Mehrwert schaffen“, so<br />
Sihn.<br />
Er verweist dabei auf das Beispiel des österreichischen<br />
auf Hygiene-Produkte spezialisierten<br />
Unternehmens Hagleitner, das seinen Kunden<br />
längst nicht mehr nur Seifenspender und<br />
Handtücher für Hygienebereiche zur Verfügung<br />
stellt, sondern das Produkt „umfassende<br />
Hygiene“. In diesem übernehmen hochsensible<br />
Sensoren die Kontrolle der Funktionstüchtigkeit<br />
der Toilette über den Seifen- und<br />
Handtuchvorrat bis zur Sauberkeit der Sanitärz-elle<br />
insgesamt. Die Sensoren melden an<br />
eine zentrale Servicezentrale bei Hagleitner<br />
die aktuellen Zustände in Waschräumen oder<br />
Toiletten, und somit ist es möglich, jederzeit<br />
Handtücher nachzuliefern oder Seifenspender<br />
aufzufüllen, den Boden zu reinigen, die<br />
Klimaanlage zu justieren und noch andere<br />
Dinge mehr. Der Kunde muss sich nicht um<br />
diesen Kram kümmern, sondern Hagleitner<br />
garantiert dank 4.0 jederzeit voll funktionstüchtigen<br />
Hygiene-Bereiche. 4.0 steht simpel<br />
für die Ausstattung von Objekten, Maschinen,<br />
Produkten, Anlagen, Werkstücken oder<br />
Werkzeugen mit künstlicher Intelligenz. Kurzum:<br />
Objekte tauschen in echt Informationen<br />
aus, treffen eigene Entscheidungen und steuern<br />
sich selbst. Sogenannte „cyberphysikalische<br />
Produktionssysteme entstehen, jedes Objekt<br />
ist dabei eindeutig identifizierbar, jederzeit<br />
lokalisierbar und kennt seine Historie, seinen<br />
aktuellen Zustand sowie seinen Zielzustand.<br />
Mehrwert für den Kunden schaffen<br />
Sihn erwähnt auch noch ein anderes Beispiel,<br />
was mit Industrie 4.0 möglich wird und den<br />
Kundenbedürfnissen entgegenkommt. Der<br />
Mähdrescherhersteller Claas etwa entwickelt<br />
diese an sich rustikalen Landwirtschaftsgeräte<br />
in fahrende High-Tech-Maschinen, die mit immer<br />
mehr Sensoren ausgestattet werden, die<br />
permanent alle gewünschten Daten vom<br />
Raumklima in der Fahrerkabine über die Schneidschärfe<br />
der Messer, Reifendruck der Reifen<br />
oder zu erwartenden Temperaturen auf<br />
dem Getreidefeld an eine zentrale Service-<br />
Zentrale von Claas übermitteln, wo sofort auf<br />
etwaige Abweichungen von Soll-Zuständen<br />
reagiert werden kann.<br />
Dank I ndustrie 4.0, sprich optimale Vernetzung<br />
von physischen Prozessen mit den zur<br />
Verfügung stehenden Informations- und Kommunikationstechnologien<br />
garantiert Class<br />
seinen Kunden jederzeit einsatzbereite Mähdrescher.<br />
„Firmen leben in Kästchen“ und<br />
müssten besser heute als morgen ihr bisheriges<br />
Agieren und Denken in Frage stellen und<br />
sich auf die Entwicklungen von Industrie 4.0<br />
einstellen. Österreichische Firmen können von<br />
den Fehlern lernen, die in Deutschland bei der<br />
Implementierung von Industrie 4.0 passieren,<br />
sieht Sihn die Entwicklung positiv. Seiner Einschätzung<br />
nach haben 50 Prozent der KMU<br />
schon von Industrie 4.0 gehört, können aber<br />
damit noch wenig anfangen. Den anderen<br />
50 Prozent ist das Thema schon bewusst, sie<br />
wissen aber noch nicht, wie sie es anpacken<br />
sollen, wie sie sich zurecht finden sollen.<br />
Jetzt agieren statt später reagieren<br />
Sihns Ratschlag: Am besten sei es, sich externe<br />
Fachleute ins Haus zu holen und mit ihnen gemeinsam<br />
eine Strategie Richtung 4.0 entwickeln.<br />
„Ich gehe häufig in Unternehmen und<br />
versuche zuerst einmal Verständnis zu schaffen<br />
für das Thema.“ Es gehe darum, die Handlungsfelder<br />
auszuloten und die notwendigen<br />
Maßnahmen in die Praxis umzusetzen. Der<br />
Handlungsbedarf richtet sich auf das große<br />
Ziel: Wie wird durch die Kombination von IKT<br />
und physischer Ablaufprozesse, sprich Produktion<br />
oder Dienstleistung dem Kunden ein<br />
Mehrwert geboten, den dieser schätzt und<br />
per saldo auch honoriert, indem er weiterhin<br />
als Kunde bei der Stange bleibt. Nicht nur Firmen<br />
aus Handel und Industrie müssten über<br />
Industrie 4.0 intensiv nachdenken, sondern<br />
Gleiches gelte auch für die Logistik-Branche,<br />
die nicht weniger gefordert ist, ihre Kunden<br />
mit Innovationen in Form von Mehrwert zu begeistern.<br />
Sihn weiß beispielsweise von der Österreichischen<br />
Post, dass diese sich Gedanken<br />
darüber macht, wie die Briefpost effizient zu<br />
Bergbauernhöfen befördert werden kann.<br />
Dabei wird sogar an den Einsatz von Drohnen<br />
gedacht.<br />
Misstrauen in den Griff bekommen<br />
Logistiker sollten ihre Lagerbewirtschaftung<br />
auf den Prüfstand stellen und sich fragen,<br />
welche Auswirkungen Industrie 4.0 auf ihre gegenwärtigen<br />
Dienstleistungen haben könnte.<br />
Ein Drittel der heimischen Logistiker beschäftigt<br />
sich bereits mehr oder weniger intensiv<br />
mit den Herausforderungen 4.0, doch bei den<br />
anderen zwei Drittel sei Industrie 4.0 noch sehr<br />
unterbelichtet.<br />
Sihn: „Die Logistiker sollten schleunigst nachdenken,<br />
wie sie sich auf die Entwicklung<br />
einstellen“, weil sonst könnten sie schneller<br />
Kunden verlieren als sie schauen können. Der<br />
Experte hat den Eindruck, dass gerade im<br />
Supply Chain Management heute viel wertvolle<br />
Ressourcen verschwendet werden. Der<br />
Weg zwischen Warenausgang und Wareneingang<br />
ist eine „Misstrauensstrecke“, die die<br />
Akteure in den Griff bekommen sollten. Warum<br />
nicht mit offenen Karten spielen und das<br />
Misstrauen öffentlich überwinden, fragt Sihn<br />
und verweist auf „offene Innovationen“ im Industriebereich,<br />
wo via Internet zur Entwicklung<br />
eines Autos eingeladen wurde und unterm<br />
Strich nicht weniger als 14.000 Ingenieure aus<br />
allen Teilen der Welt ihren Input beigesteuert<br />
haben. Entstehen würden die Mauern entlang<br />
der genannten Supply-Chain durch die<br />
Unsicherheit beim Datentransfer. (<strong>LE</strong>)<br />
Indudstrie 4.0 wird<br />
gravierende<br />
Auswirkungen auf<br />
die Logistik-Branche<br />
haben.<br />
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Fraunhofer<br />
www.fraunhofer.at<br />
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