pdf Abschlussbericht - Baden-Württembergischer Landesverband ...
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Podiumsdiskussion, 27.10.2011<br />
„Substitution auf dem Prüfstand. Neue Regierung, neue Chance?“<br />
Veranstalter: <strong>Baden</strong>-<strong>Württembergischer</strong> <strong>Landesverband</strong> für Prävention und<br />
Diskussionsteilnehmer:<br />
Rehabilitation (bwlv)<br />
Dr. Karin Meissner (Anstaltsärztin der JVA Bruchsal, Medizinalreferentin am<br />
Justizministerium <strong>Baden</strong>-Württemberg)<br />
Heiderose Nestle-Röhm (Leiterin der Fachstelle Sucht in Calw des <strong>Baden</strong>-<br />
Württembergischen <strong>Landesverband</strong>es für Prävention und Rehabilitation)<br />
Dr. Christoph von Ascheraden (Präsident der Bezirksärztekammer Südbaden)<br />
Thomas Bader (Geschäftsführer bwlv; Grußwort)<br />
MdL Josha Frey (suchtpolitischer Sprecher der Grünen im baden-württembergischen<br />
Landtag)<br />
Hans Gros (Suchthilfeplaner der Stadt Stuttgart)<br />
Dr. Richard Haumann (Suchtmediziner aus Tübingen)<br />
Karl Lesehr (Suchthilfereferent beim Paritätischen <strong>Landesverband</strong> <strong>Baden</strong>-Württemberg)<br />
Moderation: Andrea Sauermost, Karlsruhe<br />
Veranstaltungsort: „Biokraftwerk“, Stuttgart, Theodor-Heuss-Straße 2<br />
Planung und Organisation: Patzer PR GmbH, München<br />
Teilnehmer: über 60 Suchtmediziner, Mitarbeiter psychosozialer Betreuungseinrichtungen,<br />
Apotheker, Juristen, u.v.m.<br />
Mit freundlicher Unterstützung von
Mit dem Regierungswechsel im April dieses Jahres in <strong>Baden</strong>-Württemberg verbinden<br />
viele im suchtmedizinischen Bereich tätige Akteure auch die Hoffnung auf eine neue<br />
Drogenpolitik. Im Gegensatz zu den Debatten um Stuttgart 21 und Atomausstieg ist<br />
dieses Themenfeld öffentlich bisher jedoch kaum ausreichend gewürdigt worden.<br />
Dabei verfolgt die grün-rote Koalition gerade drogenpolitisch völlig neue und andere<br />
Ansätze als ihre Vorgängerregierung. Der Koalitionsvertrag vom 27. April 2011<br />
verspricht im Hinblick auf die Versorgung von Heroinabhängigen erstmals drei<br />
zentrale Punkte: einen flächendeckenden Zugang zur Substitutionsbehandlung,<br />
einen Ausbau der Substitutionsangebote in Haftanstalten und die Umsetzung der<br />
Diamorphinvergabe.<br />
Gespannt verfolgen über 60 Teilnehmer die kontroverse Podiumsdiskussion.<br />
Das erste baden-württembergische Suchtforum im „Biokraftwerk“ in Stuttgart<br />
beleuchtete die mannigfaltigen Herausforderungen, die bei der Umsetzung der<br />
angesprochenen drogenpolitischen Neuerungen von Ministerpräsident Kretschmann<br />
und seines Kabinetts bestehen. Sieben Diskussionsteilnehmer setzten sich mit der<br />
Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven auseinander und machten deutlich,<br />
welche Verbesserungen vor allem in der Praxis der täglichen Versorgung<br />
suchtkranker Menschen notwendig sind.
Flächendeckende Versorgung<br />
Diskutanten und Publikum kamen schnell überein, dass die wohl größte Hürde in der<br />
Versorgung von Opiatabhängigen der akute Mangel an substituierenden Ärzten ist.<br />
Der suchtpolitische Sprecher der Grünen im Landtag, MdL Josha Frey, machte zwar<br />
deutlich, dies sei nicht ausschließlich ein Problem der Suchtmedizin, trete hier aber<br />
besonders anschaulich zu Tage. Laut Bundesinstitut für Arzneimittel und<br />
Medizinprodukte (BfArM) steigt die Anzahl gemeldeter Substitutionspatienten in<br />
Deutschland seit Jahren kontinuierlich und betrug 2010 77.400. Gleichzeitig stagniert<br />
die Zahl der aktiv substituierenden Ärzte (2006: 2706; 2010: 2710). Dr. Richard<br />
Haumann, niedergelassener Suchtmediziner aus Tübingen, sprach deshalb von<br />
einem drohenden Kollaps des gesamten Systems der ambulanten Substitution<br />
innerhalb der nächsten fünf Jahre, wenn nicht gegengesteuert würde. Ärzte aus dem<br />
Publikum und auf dem Podium nannten vor allem die schwachen finanziellen Anreize<br />
und ein kaum entwirrbares, teilweise widersprüchliches Geflecht aus gesetzlichen<br />
Vorschriften und Richtlinien als Hauptgründe für die Schwierigkeiten bei der<br />
Nachwuchsgewinnung in der Suchtmedizin. „Wenn ich in Rente gehe, geht meine<br />
Substitutionsarbeit auch in Rente“, fasste ein Arzt im Auditorium das Problem<br />
zusammen.<br />
Auch die mangelhafte Kooperation zwischen Ärzten und Organisationen der<br />
psychosozialen Betreuung steht einer bedarfsgerechten flächendeckenden<br />
Versorgung, insbesondere auf dem Land, im Weg. Heiderose Nestle-Röhm vom<br />
<strong>Baden</strong>-Württembergischen <strong>Landesverband</strong> für Prävention und Rehabilitation<br />
wünschte sich eine Zusammenarbeit „auf Augenhöhe“ mit den Medizinern. Vielfach<br />
würde die psychosoziale Begleitung, die ein elementarer Bestandteil einer umfas-<br />
senden Substitutionstherapie ist, insbesondere im Bereich der Diagnostik viel zu spät<br />
in die Behandlung eingebunden werden. Dr. Christoph von Ascheraden, Präsident<br />
der Bezirksärztekammer Südbaden und Dr. Haumann hielten dem entgegen, die<br />
Therapieverantwortung der Ärzte könne nur wahrgenommen werden, wenn diesen<br />
auch die alleinige Diagnosestellung überlassen werde.
Karl Lesehr vom Paritätischen <strong>Landesverband</strong> <strong>Baden</strong>-Württemberg beklagte<br />
dementsprechend das Fehlen einheitlicher Konzepte zur Kooperation mit der<br />
psychosozialen Betreuung, die von ärztlichen Gremien und Suchthilfeverbänden<br />
gemeinsam vereinbart werden müssten. Vielfach würden Abhängige unnötig lange in<br />
der Substitution gehalten, weil nicht genügend konzertierte Angebote zur<br />
Entwicklung und Reintegration von Suchtkranken existierten. Hier sei die Politik<br />
gefordert, deren Vorschriften sich zu wenig am Arbeitsalltag der Suchtmediziner und<br />
anderen Akteuren in der Suchthilfe orientierten.<br />
Josha Frey zeigte Verständnis für den Wunsch nach einer grundlegenden<br />
Verbesserung der Versorgungsqualität, wies aber zugleich auf die Mehrheitsver-<br />
hältnisse im Bundestag hin, die eine grundlegende Neuausrichtung der Drogenpolitik<br />
schwierig machten. Dennoch werde Grün-Rot alles tun, um an den im Koalitions-<br />
vertrag formulierten Zielen festzuhalten und diese umzusetzen.<br />
Substitution in Haft<br />
Bei der Diskussion um die suchtmedizinische Versorgung in <strong>Baden</strong>-Württembergs<br />
Haftanstalten gehe es vor allem darum, die bestehenden Standards zu erhalten,<br />
auch wenn in einzelnen Gefängnissen noch immer erheblicher Verbesserungsbedarf<br />
bestehe, so die Anstaltsärztin der JVA Bruchsal, Dr. Karin Meissner. Insgesamt wird<br />
Gelöscht:
in 15 von 17 entsprechenden Einrichtungen in <strong>Baden</strong>-Württemberg substituiert,<br />
einige der anwesenden Ärzte beklagten deshalb, es sei beinahe einfacher in Haft<br />
eine suchtmedizinische Therapie zu erhalten als außerhalb. Dennoch bestehe ein<br />
erhöhter Bedarf an Fort- und Weiterbildungen für Gefängnismitarbeiter und am<br />
Aufbau eines Qualitätsmanagementsystems mit standardisierten Handlungsan-<br />
leitungen, um eine gleichermaßen qualitativ hochwertige Versorgung in ganz <strong>Baden</strong>-<br />
Württemberg zu gewährleisten, mahnte Dr. Meissner.<br />
Diamorphinvergabe<br />
Der grundsätzlich zwischen allen Anwesenden bestehende Konsens im Hinblick auf<br />
die Situation in den JVAs machte es Moderatorin Andrea Sauermost, die Referenten<br />
und Publikum souverän durch die komplexe Thematik führte, leicht, zum letzten<br />
Punkt des Abends, der Diamorphinvergabe, überzuleiten. Bisher werden lediglich in<br />
Karlsruhe schwerstabhängige Süchtige mit Heroin substituiert. Aber auch in Stuttgart<br />
wird derzeit die Einrichtung einer Diamorphinambulanz diskutiert. Hans Gros,<br />
Suchthilfeplaner der Stadt Stuttgart, stellte die enormen finanziellen Belastungen<br />
heraus, die die Diamorphinvergabe mit sich bringe. Laufende Kosten würden erst ab<br />
einer Patientenzahl von 40-50 überhaupt gedeckt werden. Auch die Gewinnung von<br />
für diese Art der Substitution qualifizierten Ärzten und Pflegern dürfte sich laut Gros<br />
als schwierig erweisen. Zwar will das Land einen Teil der Kosten übernehmen, man<br />
dürfe sich deswegen aber nicht der Illusion einer flächendeckenden Versorgung<br />
hingeben, dämpfte MdL Frey die Erwartungen. Aufgrund der geringen Anzahl der<br />
Patienten, die die Voraussetzungen für eine solche Behandlung erfüllen, sei es<br />
sinnvoller, einige wenige Diamorphinzentren zu errichten, was zur Folge hätte, dass<br />
Betroffene über einen eventuellen Wohnortwechsel nachdenken müssten, so der<br />
suchtpolitische Sprecher der Grünen.<br />
Andrea Sauermost schloss die Diskussionsrunde, die als erster Anstoß zur<br />
Bearbeitung vieler offener Fragen gewertet werden kann, mit dem Hinweis, es gäbe<br />
noch viel zu tun, wobei Josha Frey und die Politik wohl die meisten „Hausaufgaben“<br />
bekommen hätten.