Wenn Mama durcheinander ist... - Psychiatrie aktuell
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FEUILLETON<br />
FEUILLETON<br />
OOb jung oder alt, ob Kritiker oder Kollege – sie alle geraten<br />
ins Schwärmen, wenn von Anton Cechov (Tschechow)<br />
(1860-1904) die Rede <strong>ist</strong>: „Wie kaum ein anderer hat Anton<br />
Cechov auf den Pulsschlag des modernen Lebens gehorcht,<br />
sein literarisches Werk <strong>ist</strong> für das 20. Jahrhundert wegweisend<br />
geworden“, schrieb etwa die Neue Zürcher Zeitung.<br />
„Cechov gegenüber komme ich mir wie ein Anfänger vor“,<br />
bekannte George Bernard Shaw. „Er <strong>ist</strong> der subtilste Analytiker<br />
menschlicher Beziehungen“, urteilte Virginia Woolf,<br />
und Woody Allen meint: „Er <strong>ist</strong> überhaupt der Größte.“<br />
Praxisstempel:<br />
Arzt und Dichter<br />
Die Lobeshymnen für Cechovs Erzählungen und Dramen<br />
erstaunen um so mehr, bedenkt man, dass der Jahrhundert-<br />
Autor zusätzlich einer anderen Berufung nachging: Cechov<br />
war fast bis zu seinem frühen Tod mit 44 Jahren ärztlich tätig:<br />
Nachdem er sich in Moskau durch das Medizinstudium<br />
gehungert hatte, war er als Krankenhausarzt<br />
und in eigener Praxis tätig;<br />
viele Patienten behandelte er umsonst.<br />
Auf der Sträflingsinsel Sachalin führte<br />
Cechov medizinische und soziale Studien<br />
durch und engagierte sich immer<br />
wieder im Kampf gegen die damals in<br />
Russland grassierenden Cholera-Epidemien<br />
und Hungersnöte.<br />
Anders als so mancher Dichterarzt-<br />
Kollege litt Cechov keineswegs an seiner<br />
„Doppelbelastung“. Als ihm sein Verleger riet, „nicht zwei<br />
Hasen nachzujagen und nicht mehr an die praktische Medizin<br />
zu denken“, entgegnete Cechov: „Ich habe aber ein besseres<br />
und zufriedeneres Gefühl, wenn ich mir vor Augen halte,<br />
daß ich zwei Berufe habe.... die Medizin <strong>ist</strong> meine gesetzliche<br />
Ehefrau, die Literatur meine Geliebte.“ Kein Wunder,<br />
dass Cechov fähig war, Phänomene der Krankheit differenziert,<br />
einfühlsam und medizinisch korrekt zu gestalten und<br />
der Figur des Arztes in seinem Werk eine zentrale Stelle einzuräumen.<br />
Es sind oft Ärzte, die an ihrem Beruf leiden, ebenso<br />
wie an ihrer Umgebung und der Korruptheit der Menschen.<br />
Einfühlsame Charakterdarstellung<br />
Da klagt etwa der Landarzt Dr. Astrow in „Onkel Wanja“:<br />
„Vom Morgen bis in die Nacht immer auf den Beinen, ich<br />
kenne keine Ruhe, und nachts liegt man unter der Decke und<br />
fürchtet nur, dass man zu einem Kranken geschleppt werden<br />
könnte.“ Ausgebrannt durch seinen Beruf, reagiert Astrow<br />
Kühle<br />
Diagnostik,<br />
aber mit<br />
feiner Ironie<br />
Vor 100 Jahren starb der Arzt und<br />
Schriftsteller Anton Cechov in<br />
Badenweiler. Seine Stücke<br />
haben derzeit Hochkonjunktur.<br />
nur noch zynisch auf die Probleme seiner<br />
Kranken, die zu Objekten werden. Da <strong>ist</strong> auch<br />
der Stationsarzt Koroljow in „Ein Fall aus der<br />
Praxis“, der, konfrontiert mit der ex<strong>ist</strong>entiellen<br />
Krise einer Fabrikantentochter, dieser lediglich<br />
„ehrenhafte Schlaflosigkeit“ attestieren<br />
kann. Oder der leitende Arzt Dr. Ragin in<br />
„Krankenzimmer Nr. 6“, der bei einem Paranoiker<br />
den einzigen Gesprächspartner im<br />
Dorf findet und nach einer Intrige schließlich<br />
selbst zum <strong>Psychiatrie</strong>patienten wird.<br />
Ebenso tragisch <strong>ist</strong> das Schicksal des berühmten<br />
Medizinprofessors Nikolaj Stepanovic<br />
in „Eine langweilige Geschichte“, die Thomas<br />
Mann als „ganz und gar außerordentliches,<br />
faszinierendes Werk“ lobte: Es <strong>ist</strong> die<br />
Geschichte eines lebensüberdrüssigen Alternden,<br />
der hypochondrisch den Tod erwartet.<br />
Nicht minder anrührend <strong>ist</strong> schließlich in<br />
„Drei Schwestern“ die Figur des alten Militärarztes<br />
Tschebutykin, dem durch sein Verschulden<br />
ein Patient verstarb.<br />
Cechov lässt ihn am Ende des Stückes desillusioniert<br />
sagen: „Wir sind ja gar nicht da.<br />
Wir ex<strong>ist</strong>ieren überhaupt nicht, es scheint nur<br />
so, als ex<strong>ist</strong>ierten wir.“ Gnadenlos sezierend,<br />
kühl diagnostizierend, aber trotz aller Sozial-<br />
MARION BÜHRLE<br />
Szenenfoto aus Cechovs<br />
„3 Schwestern“ im Theater<br />
Nürnberg. Dietmar Saebisch<br />
(2. v. r.) in der Rolle des<br />
Militärarztes Tschebutykin.<br />
kritik stets mit feiner Ironie<br />
zeichnete Cechov seine Figuren.<br />
Auch auf CD<br />
Wer Cechov lieber lesen<br />
oder auf CD hören mag, hat<br />
ebenfalls große Auswahl:<br />
Sein literarisches Werk <strong>ist</strong> in<br />
vielerlei Ausgaben auf dem<br />
Markt ebenso wie Bücher zu<br />
seiner Biographie und Literaturtheorie.<br />
So offeriert etwa der Diogenes-Verlag<br />
die größte<br />
nicht-russische Cechov-Edition<br />
und mit Peter Urbans<br />
Bildband auch die wohl<br />
schönste und umfassendste<br />
Ausgabe zu dessen Biographie<br />
(Cechov. Sein Leben in<br />
Bildern. 355 Seiten. 59 Euro.<br />
www.diogenes.ch). (bra) ●<br />
DIOGENES VERLAG, ZÜRICH