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«Im Kern ging es darum,<br />
die Armen möglichst kostengünstig<br />
zu managen»<br />
INTERVIEW Die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, die jetzt<br />
aufgearbeitet wird, ist auch eine Geschichte des Umgangs mit Armutsbetroffenen<br />
in der Schweiz, wie der Historiker Thomas Huonker darlegt. Daraus liessen sich für<br />
die aktuelle Diskussion um die Sozialhilfe Lehren ziehen.<br />
sorgungssystem wirft ein Schlaglicht auf<br />
die Klassengesellschaft.<br />
Die Massnahmen zeugen von einem<br />
disziplinierenden Umgang mit<br />
Armutsbetroffenen. Wann entstand<br />
dieser?<br />
Bevor sich die öffentliche Armenfürsorge<br />
entwickelte, oblag es Klöstern und<br />
kirchlich geführten Hospitälern, die missliche<br />
Lage der Armen zu mildern. Viele<br />
Arme lebten auf der Strasse oder im Wald<br />
und zogen auf der Suche nach Unterkunft<br />
und Nahrung umher. Jede lokale Agrarkrise<br />
steigerte ihre Zahl rasch. Als Reaktion<br />
auf Industrialisierung und Massenarmut<br />
erliessen dann im 19. Jahrhundert viele<br />
Kantone Armengesetze. Die Städte waren<br />
zum Teil fortschrittlich und förderten den<br />
sozialen Wohnungsbau. Doch in weiten<br />
Teilen galt Armut als selbstverschuldet, oft<br />
wurden fehlende Arbeitsmoral und unsittlicher<br />
Lebenswandel als Ursachen ausgemacht.<br />
Obere Schichten nahmen die alte<br />
Armut ebenso wie die neue Armut der Fa-<br />
brikarbeiter als Gefahr für die öffentliche<br />
Ordnung wahr. Die Unterschichten in den<br />
Städten erhielten die Bezeichnung «classes<br />
dangereuses», gefährliche Klassen.<br />
Die Armut wurde dann vor allem mit<br />
Anstalten bekämpft?<br />
Anstalten gehörten ab dem 19. Jahrhundert<br />
bis weit ins 20. Jahrhundert zu<br />
den wichtigsten und gezieltesten Institutionen<br />
der Schweizer Armutspolitik. Wer<br />
weiss heute noch, dass es lange fast überall<br />
Gemeindearmenhäuser gab? Anfänglich<br />
hausten arme Familien, Alte und Kranke<br />
gemeinsam in den oft schitteren Gebäuden.<br />
Wer irgend konnte, wurde an die<br />
Arbeit gesetzt. Später differenzierte sich<br />
das Anstaltswesen. Erziehungs-, Behinderten-<br />
und «Irrenanstalten» entstanden,<br />
«Rettungsanstalten» für sogenannt gefallene<br />
Mädchen, Mütterheime, wo die jungen<br />
Frauen durch Wegnahme der Kinder<br />
wieder in den Arbeitsprozess eingegliedert<br />
wurden, während die Kinder zur Adoption<br />
freigegeben oder fremdplatziert wurden.<br />
Viele Anstalten waren gemeinnützig-kirchlich<br />
geführt, zusätzlich errichteten viele<br />
Kantone Zwangsarbeitsanstalten. Die Einweisungen<br />
wurden behördlich angeordnet<br />
und konnten mit polizeilichem Zwang<br />
durchgesetzt werden.<br />
Was waren die Beweggründe einer<br />
solchen Armutspolitik?<br />
Ein Gemisch aus ökonomischen und<br />
erzieherisch-repressiven Überlegungen.<br />
Wohl gab es bei einigen Akteuren auch Elemente<br />
des guten Willens und der Philanthropie.<br />
Im Kern ging es darum, die Armen<br />
möglichst kostengünstig zu managen. Um<br />
die finanzielle Unterstützung gering zu<br />
halten, lösten Gemeindebehörden bedüftige<br />
Familien, vor allem auch von Alleinerziehenden,<br />
auf und platzierten die Kinder<br />
in knapp dotierten Heimen oder bei Bauern,<br />
wo sie ihren Aufenthalt durch Arbeit<br />
mitfinanzieren mussten. Finanzschwache<br />
Gemeinden waren besonders durch die<br />
heimatliche Armenpflege überfordert.<br />
Der Heimatort musste für die Bedürftigen<br />
aufkommen?<br />
Genau. Wer in der städtischen Industrie<br />
nicht mehr gebraucht wurde oder krank<br />
war und deshalb armengenössig wurde,<br />
musste in den Heimatort zurück. Es kam<br />
zu grossen Abschiebeaktionen, sie wurden<br />
«Heimschaffungen» genannt. Für die Gemeinden<br />
wiederum war die Einweisung<br />
der Leute in eine Armenanstalt meist die<br />
billigere Lösung, als ihnen Unterstützung<br />
zu zahlen. Erst in den 1960er-Jahren hatte<br />
sich an den meisten Orten das Prinzip<br />
durchgesetzt, dass der Wohnort zuständig<br />
ist. Dafür engagierte sich im übrigen auch<br />
die Vorgängerorganisation der SKOS, die<br />
Armenpflegerkonferenz.<br />
Und worin gründete der erzieherischrepressive<br />
Aspekt?<br />
Aus der kirchlichen, besonders der protestantischen<br />
Tradition heraus unterschieden<br />
die Verantwortungsträger zwischen<br />
«würdigen» und «unwürdigen» Armen.<br />
Besonders negativ bewertet wurde die<br />
Trunksucht. Auch ledige Mütter waren stigmatisiert,<br />
anstatt dass sie als Nachfahrinnen<br />
von Mutter Maria gewürdigt wurden.<br />
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