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Ramtha

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Man brachte mich in den Tross meines Heeres zu den Frauen, damit sie für mich sorgten. Das war wirklich eine äußerst<br />

erniedrigende Erfahrung, denn ich wurde von ihnen herumkommandiert und vor ihren Augen ausgezogen. Ich konnte nicht einmal<br />

allein urinieren oder Kot aus meinem Anus abgeben, sondern musste es vor ihren Augen tun. Ich musste stinkende Brustwickel<br />

aus Geierfett ertragen -ich bin davon überzeugt, dass das Geierfett mich nicht heilen sollte, vielmehr war es so übelriechend, dass<br />

das Leben in mir blieb, um nicht draußen den Gestank ertragen zu müssen.<br />

Im Laufe meiner Genesung musste ein großer Teil meines Stolzes und meines Hasses dem Kampf ums Überleben Platz machen.<br />

Während ich mich von der fürchterlichen Wunde erholte und sowieso nichts anderes tun konnte, begann ich, alles um mich herum<br />

zu betrachten. Eines Tages sah ich eine alte Frau diese Ebene verlassen. Sie klammerte sich mit aller Kraft an ein grobes Leintuch,<br />

das sie einmal für ihren längst verstorbenen Sohn gewebt hatte. Langsam schrumpfte sie zusammen im Licht der Mittagssonne, ihr<br />

Mund öffnete sich in entrücktem Ausdruck, die Augen wurden glasig, das Licht störte sie nicht mehr. Nichts bewegte sich außer<br />

dem Wind und ihrem weißen Haar.<br />

Ich dachte nach über die Frau und ihren Sohn, die beide gestorben waren, und ich dachte nach über ihre große Weisheit. Dann sah<br />

ich wieder empor zur Sonne, die niemals stirbt. Es war dieselbe Sonne, die die alte Frau durch einen Spalt im Dach gesehen hatte,<br />

als sie nach der Geburt zum ersten Mal die Augen öffnete ... und es war das letzte, was sie sah, als sie starb.<br />

Wieder schaute ich empor zur Sonne. Sie nahm keine Notiz vom Tod der alten Frau. Während wir den Leichnam unter einer<br />

Pappel am Fluss begruben, beobachtete ich die Sonne.<br />

Als sie an jenem Abend unterging, verfluchte ich sie. Ich sah, wie sie dasaß, auf dem Kamm der Berge, wie ein großer feuriger<br />

Edelstein mit scharlachroten Augen. Ich sah die purpurroten Berge und das Tal, schon in Nebel gehüllt, ich sah, wie die Strahlen<br />

der Sonne altes vergoldeten und mit illusionärer Schönheit umgaben. Ich sah Wolken, eben noch blau und bleich, jetzt erwacht zu<br />

strahlendem 1 eben in allen Schattierungen von scharlach, feuerrot und rosa.<br />

Ich sah, wie das große Licht sich zurückzog hinter die Berge, die min wie spitze Zähne am Horizont standen, ich sah, wie die<br />

letzten Strahlen seiner Schönheit dem Einbruch der Nacht wichen. Über mir schrie ein Nachtvogel, und ich sah auf zum<br />

Firmament, wo ein blasser Mond am dunkler werdenden Himmel aufstieg. Eine Brise kam auf, sie wehte mir durchs Haar,<br />

trocknete mir die Tränen und machte mich tief elend im Innern.<br />

Ich war ein großer Krieger. In der Zeit eines Augenaufschlags konnte ich einen Mann mit dem Schwert zerspalten. Ich hatte<br />

geklopft, zerhackt und zerfleischt. Ich hatte Blut gerochen und Menschen verbrannt. Warum aber tat ich das alles? Die Sonne in<br />

ihrer Größe ging trotzdem unter. Der Vogel schrie in die Nacht, gleich was ich tat. Und der Mond stieg auf, trotz alledem.<br />

Damals begann ich, über den Unbekannten Gott nachzusinnen. Alles, was ich wirklich wissen wollte, war, dieses unsichtbare<br />

höhere Sein zu verstehen, das so ehrfurchtgebietend, so geheimnisvoll, so weit von den Menschen entfernt schien. Und was war<br />

der Mensch? Was war er? Warum war er nicht größer als die Sonne? Warum konnte die alte Frau nicht weiterleben? Warum<br />

schien der Mensch in seiner wimmelnden Zahllosigkeit mit all seiner Kreativität doch die verletztlichste aller Kreaturen? Wenn<br />

der Mensch so wichtig war, wie mein Volk mir sagte, warum war er dann nicht wichtig genug, dass bei seinem Tode die Sonne<br />

still stand, um seiner zu gedenken? Warum wurde der Mond nicht purpurrot? Warum unterbrach der Vogel nicht seinen Flug? Der<br />

Mensch war sehr unwichtig, so schien es, denn alles ging weiter, auch wenn er in Gefahr war.<br />

Ich wollte wissen, mehr nicht.<br />

Ich hatte keinen Lehrer, der mich über den Unbekannten Gott hätte unterrichten können, denn ich vertraute keinem Menschen.<br />

Durch die Bösartigkeit des Menschen und sein verdrehtes Denken hatte ich so vieles durchgemacht und so vieles verloren. Ich<br />

hatte gesehen, wie Menschen einander verachten, und einer den andern für seelenlos hält. Ich hatte gesehen, wie Unschuldige aus<br />

Angst abgeschlachtet und verbrannt wurden. Ich hatte Kinder gesehen, nackt auf dem Sklavenmarkt, denen perverse Seelen die<br />

ersten Haare der Pubertät auszupften, damit sie später bei der Vergewaltigung noch wie junge Kinder aussähen. Ich hatte gesehen,<br />

wie Priester und Propheten aus Hass auf die Menschheit entsetzliche und hässliche Ungeheuer erfinden, um mit Hilfe religiöser<br />

Zeremonien Menschen zu beherrschen und zu versklaven.<br />

Es gab keinen lebenden Menschen, den ich als Lehrer hätte haben wollen, denn alle Menschen waren im verdrehten Denken<br />

befangen - sie hatten genommen, was eigentlich rein und unschuldig war, und es dann mit ihrer eigenen begrenzten<br />

Auffassungsgabe verdreht. Also wollte ich nichts zu tun haben mit einem Gott, der aus menschlichem Verständnis geschaffen<br />

war, denn ein von Menschen geschaffener Gott musste fehlbar sein.<br />

Das Leben selbst, dieser wahrhaftigste aller Lehrer, hat mich über den Unbekannten Gott unterrichtet. Ich lernte von den Tagen.<br />

Ich lernte von den Nächten. Ich lernte von dem zarten unauffälligen Leben, das auch im Angesicht von Zerstörung und Krieg noch<br />

im Überfluss vorhanden war.<br />

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