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Ramtha

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Ich sah, wie die Sonne mit glorreichem Strahlen über dem Horizont erschien. Ich verfolgte ihre Reise übers Himmelszelt, bis sie<br />

im Westen niederging und sich zum Schlafen begab. Ich lernte, dass sie, obwohl selbst stumm, auf subtile Weise das Leben<br />

kontrolliert; denn auch die tapfersten und kühnsten Krieger stellten ihre Feindseligkeiten nach Sonnenuntergang ein.<br />

Ich sah die Schönheit des Mondes, wenn er mit blassem Licht über den Himmel tanzte und die Dunkelheit geheimnisvoll und<br />

wunderbar erhellte. Ich sah die Feuer unseres Heerlagers den Abendhimmel erleuchten. Ich lauschte den wilden Vögeln, wenn sie<br />

aufs Wasser niedergingen, ich hörte andere Vögel nachts in ihren Nestern rascheln, ich hörte das Lachen der Kinder. Ich sah<br />

Sternschnuppen, Nachtigallen, den Raureif im Schilf, den von dünnem Eis überzogenen See, und ich spürte, wie das alles die<br />

Illusion einer anderen Welt herbeizauberte. Ich sah, wie die Blätter der Olivenbäume plötzlich silbrig anstatt smaragdgrün<br />

leuchteten, wenn der Wind hindurchfuhr.<br />

Ich beobachtete Frauen, die im Fluss in Krügen Wasser schöpften, die Kleider hochgebunden, so dass sie ihre Alabasterknie<br />

enthüllten. Ich hörte das Stimmengewirr, den Klatsch der Frauen, das neckende Gelächter. Ich roch den Rauch weit entfernter<br />

Feuer und den Knoblauch und den Wein im Atem meiner Männer.<br />

Erst da, als ich über das Leben und sein ständiges Weiterfließen nachdachte und sann, entdeckte ich, wer der Unbekannte Gott in<br />

der Wahrheit war. Ich schloss, dass der Unbekannte Gott nicht derselbe war wie die Götter, die aus dem verdrehten Denken der<br />

Menschen entstanden waren. Mir wurde klar, dass die Götter im Geist der Menschen nur Abbilder der Dinge sind, die sie am<br />

meisten fürchten oder respektieren; ich fand, dass der wahre Gott das immerwährende Sein ist, das es dem Menschen erlaubt, sich<br />

Illusionen zu erschaffen und sie spielerisch auszuprobieren, ganz wie es ihm beliebt, das Sein, das auch dann noch da sein wird,<br />

wenn der Mensch wiederkehrt zu einem neuen Frühling, zu einem neuen Leben. Mir wurde bewusst, dass der Sitz des<br />

Unbekannten Gottes sich in der Wahrheit, in der Macht und dem ewigen Bestehen der Lebenskraft befindet.<br />

Wer war der Unbekannte Gott? Ich war's ... und die Vögel in ihrem nächtlichen Nest, der Raureif im Schilf, die<br />

Morgendämmerung und der Abendhimmel. Die Sonne und der Mond, die Kinder und ihr Lachen, die alabasternen Knie und das<br />

fließende Wasser, der Geruch nach Knoblauch, Leder und Messing - das alles war Gott. Ich brauchte lange, das zu begreifen,<br />

obwohl es die ganze Zeit dagewesen war, direkt vor meinen Augen. Der Unbekannte Gott war nicht hinter dem Mond oder hinter<br />

der Sonne - er umgab mich auf allen Seiten! Mit dieser neuen Geburt meiner Vernunft begann ich, das Leben zu umarmen, es lieb<br />

und wert zu halten, einen Grund zum Leben zu finden. Ich erkannte, dass es mehr gab als Blut und Tod und den Gestank des<br />

Krieges; es gab das Leben weit umfassender, als wir es uns jemals vorgestellt hatten. Aufbauend auf dieser Erkenntnis sollte ich in<br />

den kommenden Jahre stehen, dass der Mensch wirklich das größte aller Dinge ist; und dass die Sonne nur deshalb weiter ihren<br />

Weg geht, wenn er stirbt, weil sie nie über den Tod nachdenkt. Alles, was sie versteht, ist ... zu sein.<br />

Als mir durch kontemplatives Denken bewusst wurde, wer und was der Unbekannte Gott ist, da wünschte ich mir, nicht<br />

dahinzuwelken und zu sterben wie die alte Frau. Es muss einen Weg geben, dachte ich, um weiterzubestehen wie die Sonne.<br />

Als ich mich von meiner grässlichen Wunde erholt hatte, hatte ich wenig mehr zu tun als auf einem Hügel zu sitzen und<br />

zuzusehen, wie mein Heer fett und träge wurde. Eines Tages blickte ich zum Horizont, sah die verschwommenen Umrisse<br />

geisterhafter Berge und Täler, die noch niemand erforscht hatte, und ich fragte mich, wie es wohl sein würde, selbst der<br />

Unbekannte Gott, selbst die Lebenskraft zu sein. Wie konnte ich Teil dieses immerwährenden Seins werden?<br />

In diesem Moment spielte mir der Wind einen Streich und stellte mich vor aller Augen bloß. Er erfasste meinen langen<br />

königlichen Mantel und blies ihn mir über den Kopf. Wie peinlich! Keine sehr fürstliche Situation für einen Eroberer. Dann<br />

formte der Wind eine wunderbare safranfarbene Säule neben mir, hoch hinauf bis in den Himmel. Ich merkte kaum, wie mir<br />

geschah, da ließ der Wind nach, so dass der Staub auf mich herabfiel.<br />

Dann wehte der Wind pfeifend durch die Schlucht, hinunter zum Fluss und weiter durch die wunderbaren Olivenhaine, so dass die<br />

smaragdgrünen Blätter ihre silberne Kehrseite zeigten. Er ergriff den Rock eines schönen Mädchens und ließ ihn um ihre Hüften<br />

flattern - das gab ein Gekicher. Dann blies er den Hut vom Kopf eines kleinen Kindes, und freudig lachend rannte das Kind ihm<br />

nach. Ich forderte, der Wind solle zu mir zurückkommen, doch er lachte mich nur aus, während er durch die Schlucht tobte.<br />

Später, als ich schon blau im Gesicht war vom Schreien der Befehle, ließ ich mich zurücksinken und setzte mich nieder ... und da<br />

kam er und strich mir zart übers Gesicht. Das ist Freiheit!<br />

Keinen Menschen wollte ich zum Vorbild haben, der Wind aber, wie er mir hier erschien, entsprach meinem Ideal in hohem<br />

Maße. Man kann den Wind nicht sehen, doch wenn er in seinem Zorn über einen kommt, wird man umgeworfen. Ganz gleich wie<br />

großartig und mächtig jemand ist, dem Wind kann er nicht den Krieg.<br />

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