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100 JAHRE KRIEGSENDE<br />
Eine Bechtolsheimer Lokalgeschichte des Hörens<br />
Gedanken zum Ende des Ersten Weltkriegs<br />
Der Krieg hatte laut begonnen, bei Sonnenschein<br />
und brütender Hitze – und endete leise, bei<br />
herbstlichem Regenwetter. In der jüngeren Geschichtsschreibung<br />
hat der Versuch, eine „Geschichte<br />
der Sinne“ zu entwerfen, neue Einsichten<br />
gebracht. Für die Geschichte des Ersten Weltkriegs<br />
lässt sich dieser Aspekt nicht nur an der<br />
Front verfolgen, sondern auch an der Heimatfront.<br />
Er bietet somit einen Einblick in Teile der<br />
Kriegsrealität und Lebenswelt von Hunderten<br />
und Tausenden, der in den klassischen Biographien,<br />
Strategie- und Diplomatiegeschichten<br />
noch nicht zum Zuge gekommen ist. Gerade für<br />
Bechtolsheim lässt sich viel Unbeachtetes in einer<br />
Geschichte des Hörens zusammenfassen, die der<br />
Frage nach dem Klang des Kriegs nachgeht.<br />
Kriegsbegeisterung – nicht nachweisbar, nicht<br />
wahrscheinlich<br />
Gewiss: Die ganz laute Kriegsbegeisterung war<br />
ein überwiegend städtisches und bürgerliches<br />
Phänomen, das in den Geschichtsbüchern zu Unrecht<br />
lange als allgemeine Gemütsverfassung der<br />
europäischen Völker seinen Platz fand. Vor<br />
Kriegsbeginn waren die v. a. von den Sozialdemokraten<br />
organisierten Antikriegsdemonstrationen<br />
mit sechsstelligen Teilnehmerzahlen in deutschen<br />
Großstädten im Grunde ähnlich überhörbar<br />
wie die Jubelempfänge der Militärkapellen<br />
für die Freiwilligen während der ersten Kriegswochen.<br />
Wenden wir uns den rheinhessischen<br />
Dörfern zu, so gab es große Demonstrationen<br />
weder für noch gegen den Krieg. Und an Bechtolsheim<br />
zeigt sich exemplarisch, dass der Krieg<br />
neue Klangerfahrungen mit sich brachte – insbesondere<br />
durch Stille.<br />
Krieg und Vereine<br />
Denkmal des katholischen Kirchenchors an seine im Weltkrieg<br />
gefallenen Sänger.<br />
Bild: Dr. Tobias Schmuck.<br />
Bei allen rheinhessischen Kriegsdenkmälern<br />
kommt dem Denkmal des katholischen Gesangvereins<br />
für seine gefallenen Sänger eine Sonderrolle<br />
zu, indem es die fehlenden Stimmen gänzlich<br />
apolitisch, sondern aus dem Moment christlicher<br />
Brüderschaft heraus denkmalfähig abbildet.<br />
Für eine Zeit, in der Kriegsschuldzuweisungen<br />
und der Ruf nach Revanche noch en vogue<br />
waren, haben die Sänger hier menschliche Größe<br />
zum Ausdruck gebracht. Die Verluste an Freunden<br />
und Aktiven, welche der Chor zu beklagen<br />
hatte, gelten spiegelbildlich für das Vereinsleben:<br />
Sportverein, Theater- und Karnevalverein, Kriegerverein<br />
(von dem seither nichts mehr zu hören<br />
ist) [1] – sie alle standen vor einer schweren Aufgabe,<br />
die sie zudem erst nach Kriegsende wieder<br />
angehen konnten. Bis dahin machte sich im Dorfleben<br />
eine unverkennbare Grabesstille breit.