[t]akte 1I20<strong>19</strong> Tragikomischer Despot Cavallis Oper „Il Xerse“ in neuer Edition Den Stoff kennt man von Händel, doch die Vertonung Francesco Cavallis, fast hundert Jahre zuvor, ist nicht minder wirkungsvoll. Versöhnt: französischer und italienischer Stil Rameaus „Les Paladins“ oder die Mischung der Gattungen Die Uraufführung von Jean-Philippe Rameaus Comédie-Ballet „Les Paladins“ war ein Misserfolg, von dem sich das Werk lange nicht erholte. Heute erscheint es uns als ein Juwel mit vielen Möglichkeiten zur Realisierung auf der Bühne. Il Xerse kennt man heutzutage hauptsächlich dank der Oper Georg Friedrich Händels, die der Hallenser im Jahr 1738 schrieb. Jedoch ist Händels Oper in Wahrheit nichts anderes als das abschließende Kapitel in der Geschichte eines Sujets, das von Francesco Cavalli bereits fast ein Jahrhundert früher in Musik gesetzt worden war: Il Xerse, 1655 im Theater SS. Giovanni e Paolo in Venedig erstmals aufgeführt, war eine der erfolgreichsten Opern ihrer Zeit. Davon zeugen nicht nur die vielen bekannten Wiederaufführungen in ganz Italien, sondern auch die Tatsache, dass die Oper ausgewählt wurde, um in Paris anlässlich der Festlichkeiten der Hochzeit des französischen Königs Ludwigs XIV. mit der Prinzessin Maria Teresa von Spanien aufgeführt zu werden. Der Erfolg der Oper beruhte wesentlich auf dem Sujet, das der Textdichter Nicolò Minato dem siebten Buch der Historien des Herodot entnommen hatte, einem Werk aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Dort wird berichtet, wie der persische König Xerxes sich anschickt, mit seiner Armee n Europa einzufallen. Die Historien, die Minato übrigens aus einer Übersetzung von Matteo Maria Boiardo aus dem 15. Jahrhundert kannte, bilden aber nur den Rahmen des Dramas, das im Übrigen auf der Handlung einer mitreißenden Komödie des neapolitanischen Dramatikers Raffaele Tauro aus dem Jahre 1651 mit dem Titel L’ingelosite speranze beruht. Bei Tauros Lustspiel wiederum handelt es sich um eine italienische Fassung von Lo cierto por lo dudoso, einer spanischen Komödie von Lope de Vega aus dem Jahr 1625, im goldenen Zeitalter des spanischen Dramas. So zählt denn auch die Komik mit gewagten Situationen und schließlich dem Umschlagen der Handlung zu den Stärken dieses Dramas. Das komische Element besteht im Wesentlichen aus den Bemühungen des launischen Xerxes, die schöne Vasallin Romilda für sich zu gewinnen, die allerdings mit dem Bruder des Königs, Arsamene, in treuer Liebe verbunden ist. Die Intrigen, die unvermeidlicherweise folgen, lösen in den Beteiligten eine reichhaltige Welt an Affekten aus, die von einer stilistisch äußerst vielfältigen Musik ausgemalt wird. Jede Figur, ob ernst oder komisch, entspricht niemals einem bloßen Stereotyp, sondern reagiert immer individuell mit einer psychologischen Komplexität auf die Ereignisse, die ganz menschlich und auch einem heutigen Publikum leicht zugänglich sind. Xerxes ist auch schon ohne dies eine äußerst theatralische Figur. Bereits in den literarischen Texten der frühen Neuzeit wurde dieser persische König als Der wahre Xerxes. Relief an seinem Palast in Persepolis (Foto: Jona Lednering, www.livius.org) Emblem für Überheblichkeit gesehen. Er ist ein König, der von einer unerhörten Wollust und Maßlosigkeit besessen ist, die – nach Herodot – dazu führt, dass die Götter ihn bestrafen, weil er danach trachtet, die Grenze zwischen menschlichen und göttlichen Werken zu überschreiten. Diese Maßlosigkeit des Titelhelden bildet auch den roten Faden in Minatos Drama, in dem sich alle Figuren bemühen, nicht dem Zorn des wankelmütigen Herrschers anheimzufallen. Jedoch ist es eben diese Maßlosigkeit, die auch das Scheitern von Xerxes Plänen bewirkt, denn der König fällt schlussendlich in eine von ihm selbst gestellte Falle und muss so zusehen, wie die von ihm geliebte Romilda ausgerechnet mit Arsamene, seinem eingeschworenen Rivalen, verheiratet wird. Die tiefe Enttäuschung, die diesem Ereignis folgt, erfüllt eine notwendige kathartische (wenn man so will, pädagogische) Funktion und zwingt den König schließlich dazu, eine Situation, die er nicht mehr beherrschen kann, zu akzeptieren. Dieser psychologische Umschwung kann auch von einem modernen Publikum leicht nachvollzogen werden. Die durch eine ansprechende Nebenhandlung verdichtete Haupthandlung wird von spektakulären Ereignissen gekrönt, die Minato seinen Quellen entnommen und dann mithilfe seines dramaturgischen Genies angereichert hat. So häufen sich denn Fälle von amouröser Rivalität, vermeintlichem Verrat, Verleumdungen, Verkleidungen, verhindertem Mord, Auftritten von Magiern, zerstörerischen Stürmen, Kriegsszenen und Momenten purer Komik. Aber um die Einzigartigkeit dieser Oper zu erkennen, reicht schon das Erlebnis ihrer ersten Szene, in der wir zusammen mit Xerxes an den Ufern des Hellespont weilen und die majestätische Platane bewundern, die er dann mit Gold behängen lässt und an die er einen der schönsten und berühmtesten Liebesgesänge richtet, die uns das siebzehnte Jahrhundert geschenkt hat – ein Gesang, der auch das Herz Händels berührte: „Ombra mai fu …“ Sara Elisa Stangalino / Hendrik Schulze Francesco Cavalli Il Xerse. Dramma per musica von Nicolò Minato (Venedig, 1655). Hrsg. von Sara Elisa Stangalino (Libretto) und Hendrik Schulze (Musik). Francesco Cavalli: Opere. Rollen: Xerse, Amastre, Arsamene, Romilda, Adelanta, Periarco, Ariodate, Aristone, Clito, Eumene, Elviro, Sesostre, Scitalce, Soldat, Chor. Orchester: Streicher, Basso continuo Verlag: Bärenreiter. BA 8915, Aufführungsmaterial leihweise Jean-Philippe Rameaus Les Paladins wurden im Februar 1760, als letztes Bühnenwerk Rameaus, an der Académie royale de musique in Paris aufgeführt. Trotz der günstigen Terminierung während des Karnevals brachte es das Werk nur auf ein gutes Dutzend Vorstellungen und wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nicht wieder aufgeführt. Doch heute ist uns angesichts der Fülle musikalischer Schätze und der stilistischen Neuerungen die eisige Aufnahme durch die Zeitgenossen unverständlich. Das Comédie-Ballet auf ein anonymes Libretto, das Pierre-Jacques Duplat de Monticourt zugeschrieben wird, basiert auf La Fontaines Fabel „Le Petit chien qui secoue de l’argent et des pierreries“. In einem romanhaften mittelalterlichen Venetien hintertreibt Anselme die Liebesgeschichten seines Mündels Argie. Kritisiert wurde das Libretto vor allem für seine Mischung tragischer und komischer Gattungselemente. Tatsächlich übertreibt der Librettist der Paladins, indem er Sequenzen extrem tragischen Ausdrucks (der Monolog der Argie, Höllenszene) direkt neben ganz volkstümlich-komische stellt (Verführungsszene Orcans); die sexuell uneindeutige Fee Manto brachte schließlich die für die Verhältnisse der Opéra de Paris zu kühne Oper zu Fall. Die Quellen bestätigen, dass die Oper bereits Mitte der 1750er Jahre komponiert wurde, und so ist es gewiss nicht falsch, Les Paladins als Rameaus musikalische Antwort auf die Debatte zu lesen, die in Paris im sogenannten Buffonistenstreit aufkam. Während dieser Auseinandersetzung hatte sich Rameau nicht zu Wort gemeldet (von seiner Antwort auf Rousseaus Lettre sur la musique française einmal abgesehen). Mit Les Paladins schlug Rameau ein neues Opernmodell vor. Bestimmte Elemente wie der Verzicht auf das Zauberische und das Mythologische überhaupt, die realistische Intrige bei komischer Behandlung gewisser dramatischer Situationen und auch die leichte Streicherorchestrierung erinnern an den italienischen Stil, während andere der französischen Tradition folgen, zum Beispiel die getanzten Divertissements, der tragische Monolog, die Vogelsangarie oder die Höllenszene. All diese verschiedenartigen Elemente kommen zusammen und bilden eine hybride Form, im Ton nahe der Opéra-comique, die weder ganz italienisch noch ganz französisch ist und so beide Lager hätte zufriedenstellen können. Im Unterschied zur traditionellen Struktur französischer Opernlibretti, deren Partien zumeist eher kurz sind, verlangt Les Paladins vier Hauptrollen ähnlichen Umfangs. Die besten Sänger des Opernensembles stellten sie damals dar, und in den Tänzen brillierten die bedeutendsten Tänzer des Opernballetts, all dies in üppiger Instrumentierung, die an die instrumentalen Kühnheiten der Boréades erinnert. Nachdem Rameau die Komposition bereits abgeschlossen hatte, bewog Wieder auf der Opernbühne: „Les Paladins“ am Staatstheater Oldenburg (Foto: Aurélie Remy) ihn die Nominierung neuer Hornisten im Orchester der Opéra dazu, über weite Strecken den Klang ihrer Instrumente stärker zur Geltung zu bringen. Im Verlauf der Aufführungen überarbeitete Rameau Les Paladins stark und reagierte damit auf die öffentliche Kritik. Die innerhalb der Opera omnia Rameau erscheinende kritische Erstausgabe bietet die Fassung letzter Hand vom Ende der Aufführungsserie im März 1760, ergänzt um etliche Anhänge, die es ermöglichen, die erste Fassung zu spielen, wie sie ursprünglich für die Aufführung bei Hofe vorgesehen war. Zu Lebzeiten Rameaus blieben Les Paladins unveröffentlicht, und auch in den bei Durand erschienenen Œuvres complètes war der Titel nicht enthalten. Somit handelt es sich hier um die erste Ausgabe, die zugleich wissenschaftlichen Kriterien genügt und die praktischen Bedürfnisse der Musiker erfüllt. Thomas Soury Jean-Philippe Rameau Les Paladins. Comédie-ballet en trois actes (RCT 51). Libretto von Pierre-Jacques Duplat de Monticourt. Hrsg. von Thomas Soury. Opera omnia Rameau OOR IV.28 Erstaufführung nach der Edition: 16.2.2018 Oldenburg (Staatstheater), Musikalische Leitung: Alexis Kossenko, Inszenierung: François de Carpentries Besetzung: Argie (Sopran), Nérine (Sopran), Atis (Tenor), Manto, Fee (Tenor), Anselme (Bariton), Orcan (Bariton), Ein Paladin (Tenor) – Chor und Ballett Orchester: 2 (auch pte fl), 2, 2 Musettes, 0,2 – 2,0,0,0 – Str – B. c. – Ballett Verlag: Société Jean-Philippe Rameau/Bärenreiter, BA 8870, Aufführungsmaterial leihweise ] 4 [t]akte 1I20<strong>19</strong> [t]akte 1I20<strong>19</strong> 5