100 Jahre Moderne in Hessen

Wohnheim
2.5
Otto Haesler, Karl Völker
Altersheim der Marie-von-
Boschan-Aschrott-Altersheim-
Stiftung
Kassel, 1929–31
Das von Otto Haesler und Karl Völker kurz vor Ende
der Weimarer Republik in Kassel errichtete Altersheim
der Marie-von-Boschan-Aschrott-Altersheim-
Stiftung gilt schon zu seiner Entstehungszeit als eine
Ikone des Neuen Bauens. Als solche findet es auch
Eingang in die legendäre und kanonbildende Ausstellung
International Style, die 1932 im Museum of
Von der Straßenführung losgelöst, orientieren sich
die Gebäude direkt nach den vier Himmelsrichtungen.
So können die voll verglasten und mit Balkonen
ausgestatteten Wohnfassaden der modernen Forderung
nach ›Licht, Luft und Sonne‹ idealtypisch
gerecht werden. Richtung Norden entwickelt sich
der Heizungstrakt, dessen drei hoch aufragende
Schornsteine das rein technische Element geradezu
zelebrieren und damit formal überhöhen.
In seiner radikalen Modernität muss das Gebäude
damals gerade als Altersheim überraschen.
Haesler nutzt diese Gelegenheit zu einem ironischen
Seitenhieb und prophezeit in der Werkbundzeitschrift
Die Form: »Die Zufriedenheit der Heimbewohner
ist ein Beweis dafür, daß neue sinn- und
gefühlsmäßig gewandelte Formen im Zusammenhang
mit den Auswirkungen entwickelter Zweckformen
selbst von der älteren Generation verstanden
werden. Folgerung: Es kann nur eine Frage
der Zeit sein, daß diese großen Entwicklungsmöglichkeiten
des neuen Bauens auch von der jüngeren
Generation erkannt und gewertet werden.«1
M. E.
1 Haesler 1932, S. 171
Modern Art in New York gezeigt wird. Schon der
Wettbewerb ist glänzend besetzt. Das Kuratorium
der Stiftung hat die Hauptprotagonisten der modernen
und der konservativen Strömungen geladen –
Haesler und Völker können sich unter anderem gegen
Walter Gropius (→ 3.4), Hans Poelzig (→ 8.3),
Ludwig Hilberseimer, Paul Schmitthenner und Heinrich
Tessenow (→ 10.3) durchsetzen.
Ausgehend von einer 22 m2 großen Musterwohnung
– der Stifter Paul Felix Aschrott hatte als Zielgruppe
alleinstehende, nicht mehr im Berufsleben
stehende Frauen bestimmt –, entwickeln die Architekten
eine U-förmige Gesamtanlage, bei der sich
zwei viergeschossige Wohnflügel über einen niedrigeren,
zweigeschossigen Gebäuderiegel mit großzügig
bemessenen Gemeinschaftsräumen erheben.
Literatur
Berthold Burckhardt/Roland Dorn/Benedikt Hotze (1993): Das
Marie von Boschan-Aschrott-Altersheim von Otto Haesler und Karl
Völker in Kassel. In: Erhaltungskonzepte. Methoden und Maßnahmen
zur Sicherung historischer Bauwerke. Hg. H. Schmidt. Berlin. S. 27–40;
Otto Haesler (1932): Altersheim in Kassel. Marie von Boschan-Aschrott-
Stiftung. In: Die Form 7. S. 171–178; Carsten Hettwer/Monika Markgraf
(1988): Modernisierung ohne Moderne. Zur Sanierung des Marievon-Boschan-Aschrott-Heims
in Kassel von Otto Haesler, 1929. In:
Werk. Bauen + Wohnen 75, Heft 7/8. S. 12/13; Otto Völckers (1932):
Altersheim der Marie-von-Boschan-Aschrott-Stiftung in Kassel.
In: Moderne Bauformen 31. S. 133–155.
70