100 Jahre Moderne in Hessen

Produktionsstätte
2 Muthesius 1913,
S. 30/31
3 Anonym 1908, S. 184
4 Ford 1923, S. 83
schen Werken der Architektur und des Ingenieurbaues ist sinnlos. […] Nützlichkeits-
und Schönheitsgesichtspunkte arbeiten hier wie dort von Anfang
an ineinander.«2 Der 1907 entstandene Werkbund, ein Zusammenschluss
von Künstlern, Architekten und Industriellen, verfolgt in seiner Satzung genau
dieses Ziel: »Der Zweck des Bundes ist: die Veredlung der gewerblichen
Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk
durch Erziehung, Propaganda und geschlossene Stellungnahme zu einschlägigen
Fragen.«3 Es sind vor allem Werkbund-Mitglieder wie Muthesius,
Peter Behrens (→ 1.2, 4.3, 8.2) und Walter Gropius (→ 3.4), die zu Beginn des
20. Jahrhunderts in Deutschland wegweisende Fabrikbauten errichten.
Die große Symbolfigur des Industriezeitalters ist damals der amerikanische
Automobilfabrikant Henry Ford, der sich später mit seiner hetzerischen
Publikation The International Jew (1920–22) zum weltweiten Anführer
des Antisemitismus herabwürdigt. Nicht nur Industriellen, sondern vielen
der progressiv eingestellten Architekten gilt er als Pionier und Vorbild. In
seiner 1923 auf Deutsch erschienenen Autobiografie schreibt Ford: »Man
nehme einen passenden, bewährten Artikel und suche dann alles Überflüssige
zu eliminieren. […] Indem wir die überflüssigen Teile abbauen und die
notwendigen vereinfachen, bauen wir zugleich die Herstellungskosten ab.«4
Diesen zweckrationalen Optimierungsgedanken des amerikanischen Fordismus
in die Architektur hineinzutragen, ein Haus zu bauen wie ein Auto
oder eine Maschine, wird zu einem Leitbild für die modernen Architekten.
Ein wichtiger Protagonist der konsequenten Umsetzung derartiger Vorstellungen
ist Giovanni Agnelli, Mitgründer der Fiat-Werke im Turiner Stadtteil
Lingotto. Für den Bau seiner Automobilfabrik gewinnt er den Ingenieur
Giacomo Matté Trucco, der das Werk zusammen mit beteiligten Kollegen
zwischen 1916 und 1926 als sechsgeschossige Stahlbetonkonstruktion realisiert.
Den krönenden Abschluss der Anlage bildet die berühmte, über einen
Kilometer lange Teststrecke auf dem Dach der Fabrik, erreichbar über
eine Autorampe, die an der Produktionslinie vorbei vom Erd- bis zum Dachgeschoss
führt.
Der zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch junge Baustoff Stahlbeton ermöglicht
derartige Innovationen. Bieten die in der Fabrikarchitektur des
späten 19. Jahrhunderts üblichen Stützkonstruktionen aus unverkleidetem
Gusseisen gefährliche Angriffsflächen für Feuer, so lassen sich jetzt auch
weitgehend brandsichere Baugefüge mit vorgehängten Fassaden (curtain
walls) realisieren. Es ist insbesondere der Industriebau, der durch seine
schlichte Gestaltung eine neue Sachlichkeit befördert, die bald auch bei anderen
Bauaufgaben zur Anwendung kommt. Auf diese Weise hält der Fordismus
Einzug in die Architektur. Dies gilt nicht nur für die Gestaltung der
Bauten, sondern auch für deren Herstellungsprozess. Die Dimensionierung
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