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G L a n z L ic h t e r J U L i / a U G U S t - Sonnendeck

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LOST<br />

FOR<br />

EVER?!<br />

linguistischen Programmieren ihre<br />

ureigensten Kommunikationsmuster<br />

und Verhaltensroutinen auslöschen<br />

und durch (meist marktkonformere)<br />

Eigenschaften ersetzten. Solche Zeitgenossen<br />

beerdigen aus einer Laune<br />

heraus ein Teil ihres Selbst (ihr<br />

„altes“ Ich) noch zu Lebzeiten. Sie<br />

wollen frei sein, frei von s<strong>ic</strong>h selbst.<br />

Sie wollen mit der Kontinuität ihrer<br />

Person brechen, den roten Faden<br />

ihres Lebens zerschneiden. Wollen<br />

neu sein für die beispiellose Karriere,<br />

für die s<strong>ic</strong>h anbahnende Partnerschaft,<br />

für ein Leben als Segelscheinbesitzer,<br />

wollen als Update ihrer<br />

selbst durchs weitere Leben brausen<br />

– jetzt neu: Hermann Maier V2,<br />

Sabine Schuler reloaded. Ein Irrweg!<br />

Man muss s<strong>ic</strong>h schon selbst aushalten<br />

8 – POOL<br />

nachher …<br />

können, sonst wird das<br />

n<strong>ic</strong>hts mit dem Leben.<br />

Freil<strong>ic</strong>h muss man n<strong>ic</strong>ht<br />

alles hinnehmen und<br />

bewahren was s<strong>ic</strong>h im<br />

Lauf der Reife an den<br />

Gefäßwänden unserer<br />

Existenz abgelagert hat.<br />

Doch zerstören sollte<br />

man nur, was man selbst<br />

mit Liebe erschaffen<br />

hat. Einen Cut machen,<br />

bisschen Ballast abwerfen,<br />

stumme Zeitzeugen<br />

verschwinden lassen –<br />

warum n<strong>ic</strong>ht! Hierfür<br />

hält unsere Zivilisation<br />

eine großartige Einr<strong>ic</strong>htung<br />

bereit, das sogenannte<br />

Autodafé.<br />

Beim Autodafé handelt<br />

es s<strong>ic</strong>h im historischen<br />

Sinne um die von Klerikern betriebene<br />

Verbrennung verfemter Bücher<br />

zur Zeit der Inquisition. Doch damit<br />

beschäftigen wir uns ein andermal.<br />

Ein Autodafé im Sinne einer Reinigung<br />

zur Wiederherstellung eines<br />

hygienisch makellosen Werksverze<strong>ic</strong>hnisses<br />

meint das Zerstören<br />

missliebiger Schriften und anderer<br />

Kunstprodukte, um s<strong>ic</strong>h von der<br />

zum Zeitpunkt ihrer Produktion<br />

gewählten formalen und inhaltl<strong>ic</strong>hen<br />

Prägung zu distanzieren oder jene<br />

als Verfehlung, als Irrtum zu markieren<br />

– auch um das restl<strong>ic</strong>he, aktuellere<br />

Werk n<strong>ic</strong>ht zu beeinträchtigen.<br />

Meist wird ein relevanter Zeitpunkt<br />

gewählt: der 18. Geburtstag, der<br />

Abschluss der Hochschule, 9/11 oder<br />

der Tod des Kanarienvogels „Beppo“.<br />

Alles was vor diesem St<strong>ic</strong>htag gemalt,<br />

komponiert und geschrieben wurde<br />

gilt fürderhin als „zu vernachlässigendes<br />

Frühwerk“ und wird zerstört.<br />

Was seither geschöpft wurde ist nun<br />

das „definitive Hauptwerk“, vollkommen<br />

entbeint, von den Quellen<br />

abgenabelt, gänzl<strong>ic</strong>h herkunftslos –<br />

also zweifellos das Werk eines Geläuterten.<br />

Wenn Ihnen, liebe Leserschaft,<br />

kunsthaltige Produkte aus<br />

einer früheren Epoche Ihres Lebens,<br />

seien es Tagebücher, Schul- und Hobbyze<strong>ic</strong>hnungen,<br />

Ton- und Filmauf-<br />

ze<strong>ic</strong>hnungen, Poesiealben, Reliquien<br />

aus dem Werkunterr<strong>ic</strong>ht, Notenblätter,<br />

Backrezepte, selbstgeblasener<br />

Weihnachtsschmuck, Collagen aus<br />

Milky Way-Verpackungen und Beipackzetteln<br />

von Anti-Baby-Pillen,<br />

Schatzkarten, die den Weg zu einem<br />

geheimen Zigaretten-Depot weisen,<br />

Briefbeschwerer aus Brotteig und<br />

Lampenschirme aus Pappmaschee<br />

plötzl<strong>ic</strong>h wie etwas vorkommen das<br />

die Katze hereingetragen hat, dann<br />

verbrennen Sie es! Es wird Ihnen<br />

guttun, und Ihrem Hauptwerk erst<br />

recht. Freil<strong>ic</strong>h, kein Mensch muss<br />

s<strong>ic</strong>h für seine Anfänge schämen, wir<br />

sind alle blind und ohne Sprache<br />

geboren, rochen ein wenig säuerl<strong>ic</strong>h<br />

und waren damals weit davon entfernt<br />

eine Symphonie zu komponieren<br />

oder ein Essay über, sagen wir, die<br />

Nachhaltigkeit der westdeutschen<br />

Abfallwirtschaft in den Jahren 1970-<br />

1975 zu schreiben. Aller Anfang ist<br />

stümperhaft und legt doch das Fundament<br />

für Bedeutendes.<br />

In diesem milden L<strong>ic</strong>hte betrachtet,<br />

scheint der Einzug der Piratenpartei<br />

in einige Landesparlamente weniger<br />

verstörend. Die im September 2006<br />

gegründete Interessensvertretung<br />

ist derzeit eher eine Sammlungsbewegung<br />

als eine Partei im enggefassten<br />

Sinne. Ihre meist männl<strong>ic</strong>hen<br />

Mitglieder entstammen einem sehr<br />

breiten Spektrum politischen und<br />

sozialen Reformwillens. Vom üblen<br />

Neo-Nazi bis zum nackensteifen<br />

Neo-Trotzkisten, vom Geistheiler bis<br />

zum Datenguru, vom Landkommunarden<br />

bis zum Verfechter einer digitalen,<br />

virtuellen Stadt sind alle dabei.<br />

Das Programm der Piraten ist kein<br />

Programm zu haben, darin ähneln sie<br />

der documenta 13. Als Forum für ein<br />

neues Politikverständnis bieten sie<br />

dem verdrossenen Bürger einen niederschwelligen<br />

Zugang zur (gefühlten)<br />

Partizipation. Wie auf einer<br />

riesigen Grillfete bringt jeder was<br />

Selbstgekochtes mit und schwupps<br />

entsteht ein Buffet, wie man es bei<br />

keinem Caterer bestellen kann. Die<br />

Köche der etablierten Parteien geraten<br />

in Verzweiflung, weil ihren Kantinenfraß<br />

keiner mehr essen möchte<br />

und auch die loyalsten der loyalen<br />

Kostgänger heiml<strong>ic</strong>h und in geheimer<br />

Wahl am Piratenbuffet als Wechselwähler<br />

naschen. Für bisherige<br />

N<strong>ic</strong>htwähler sind das unkonventionelle<br />

und heterogene Auftreten und<br />

Aussehen der Piraten ein zusätzl<strong>ic</strong>her<br />

Anreiz. Das pippilangstrumpfhafte<br />

Gebaren der Neu-Mandatsträger<br />

bei Parteiversammlungen, in ihren<br />

Wahlspots, im Straßenwahlkampf ist<br />

ein n<strong>ic</strong>ht zu unterschätzender Faktor<br />

ihrer Attraktivität. Die zahlenmäßig<br />

stärkste Gruppe der deutschen Wählerschaft,<br />

die 30 – 50-Jährigen, ist<br />

mit den lässigen Gesch<strong>ic</strong>hten Astrid<br />

Lindgrens aufgewachsen. Tief im<br />

Inneren dieser Wählersch<strong>ic</strong>ht findet<br />

s<strong>ic</strong>h eine Sehnsucht nach der Haltlosigkeit,<br />

Vergnügtheit und Umstandslosigkeit<br />

der Bullerbü-Welt. Schelmischer<br />

Trotz, spielerische Selbstbehauptung,<br />

Unordnung als die natürl<strong>ic</strong>hste<br />

Form der Ordnung, der Reiz<br />

des Klandestinen, die Toleranz als<br />

Vorbedingung der Gemeinschaft, die<br />

selbstlose Liebe sind funkelnde, verheißungsvolle<br />

Sehnsuchtsorte dieser<br />

mittleren Altersgruppe, also jenem<br />

Teil der Gesellschaft, der die größte<br />

Steuerlast trägt und in einer hybriden<br />

und zugle<strong>ic</strong>h paradoxen Welt mit<br />

massiven Identitätsfindungsproblemen<br />

ringt. Für jene verzagte Generation<br />

erscheint die Piratenpartei wie<br />

ein ewiger Flash-Mob: Zieh das Hütchen<br />

mit der Segel-Flagge auf und sei<br />

dabei. Dass Du n<strong>ic</strong>hts zu sagen hast,<br />

macht n<strong>ic</strong>hts. Was zählt ist das Defizit,<br />

das Du in dir trägst. Die „bunte<br />

Mischung“, das Ungefähre und die<br />

Beliebigkeit sind Grundlagen einer<br />

Heilserwartung, die beim Bürger<br />

verfängt, gerade weil sie kein konkretes<br />

Ziel, keinen vorze<strong>ic</strong>hnenden<br />

Weg, ja, n<strong>ic</strong>ht mal eine verbindl<strong>ic</strong>he<br />

Beschreibung des Ausgangszustands,<br />

des Status Quo angibt. Ist das tatsächl<strong>ic</strong>h<br />

eine neue Form der Politik?<br />

Oder eher eine Art Religion ohne<br />

Glaubensbekenntnis? Jedenfalls ist<br />

es eine Art organisiertes Verlorensein,<br />

ein adäquater Ausdruck des<br />

Lost forever. Hansjörg Fröhl<strong>ic</strong>h

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