LA Spicker 2010
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Ein schöner Brocken<br />
Unser Chef bezwingt einen Berg<br />
Goethe und ich haben Gemeinsamkeiten: Er suchte vor<br />
langer Zeit vergeblich Weggefährten, die mit ihm den<br />
höchsten Berg Norddeutschlands (1.142m) erklimmen<br />
sollten – im damals ziemlich schneereichen Winter.<br />
Ebenso wenig Begeisterung erfuhr ich bei der Idee, den<br />
Brocken mit dem Mountainbike im Oktober zu erobern.<br />
Also wurde das Vorhaben zur Einmanntour – kein Problem.<br />
Der erste Schnee fiel diese Woche schon, taute<br />
aber zum Glück wieder. Der Goethe-Wanderweg (ca.<br />
7,5km lang) endete bis 1989 nicht auf dem Brocken,<br />
sondern am Grenzzaun der ehemaligen DDR. Seit die<br />
Grenzanlagen abgebaut wurden, erfreut sich dieser<br />
historische Wanderweg großer Beliebtheit. Nach einer<br />
kurzen Vorbereitung auf dem Wanderparkplatz mit<br />
Kartenstudium und den erforderlichen Radcomputereinstellungen<br />
geht es los, und die erste Ernüchterung läßt<br />
nicht lange auf sich warten: Ausgehend vom Ort Torfhaus<br />
(800m) führt der Wanderweg zunächst durch ein<br />
Hochmoor und ist dort auf dem ersten Kilometer nicht<br />
wirklich radtauglich. Hohe Wurzeln und große Steine<br />
behindern das Vorankommen. Kaum merklich gewinne<br />
ich an Höhe, zweifle schon am Höhenmesser, gelegentlich<br />
geht es sogar bergab, bis der Weg in einen besser<br />
befahrbaren Waldweg mündet, der sogleich merklich<br />
bergauf führt. Jetzt habe ich etwas mehr Gelegenheit,<br />
die vielen Werte auf der Anzeige des GPS-Radcomputers<br />
zu studieren. Puls, Trittfrequenz, Geschwindigkeit,<br />
Höhe, Steigung, Fahrzeit, Uhrzeit, alles Daten, die den<br />
Ehrgeiz nicht gerade unterdrücken. Ich habe mir vorgenommen,<br />
das Vorhaben mit etwas Zurückhaltung anzugehen<br />
und, soweit sichtbar, die Historie der Gegend<br />
auch wirken zu lassen. „Bitte nicht erschrecken“, mit<br />
diesen Worten kündige ich mich jedem Wanderer an,<br />
den ich überhole. Deren Blicke sind meist überrascht bis<br />
verwundert, manche haben sogar Humor oder bedanken<br />
sich.<br />
Das Original: Die ehemalige Grenzsicherungsstraße<br />
3km liegen hinter mir, die Anzeige sagt 860m Höhe und<br />
10% betrug bis hier der steilste Anstieg. Irgendwann<br />
muß doch das dicke Ende kommen, sage ich mir immer<br />
wieder. Das Ende des Waldweges taucht auf, ich komme<br />
auf eine freie Fläche, ein Richtungswechsel um 90°<br />
nach Nord-Osten, und dann sehe ich sie mit Macht und<br />
halte beeindruckt inne bei einem Bananensnack: Die<br />
ehemalige Grenze. Der damals abgeholzte Grenzstreifen<br />
erholt sich in dieser Höhe bis heute nur langsam.<br />
Der Weg wechselt schlagartig, statt sanft schlängelnden<br />
Waldwegen nun diretissima bergauf, Betongitterplatten<br />
nach DDR-Standardbaukasten, ausgewaschene<br />
und tiefe Zwischenräume, authentisch, für Wanderer<br />
und Historiker eine Attraktion, für Radfahrer ein Alptraum.<br />
In Gedanken sehe ich eine Grenzpatrouille mit<br />
ihrem 2-Takter dahertuckern, mit quietschenden Blattfedern.<br />
Der Puls geht vom Anblick des Kommenden schon<br />
hoch, also: Augen auf und rein in den Berg.<br />
Wanderer blockieren den schmalen Pfad aus 10cm Beton<br />
alle 50cm Wegesbreite, ich erkenne, daß ich nicht<br />
wirklich steuern kann, falle von einem ausgewaschenen<br />
Loch ins Nächste. Als die Steigung zunimmt habe ich den<br />
Dreh etwas besser raus. Die Anzeige des Radcomputers<br />
zeigt 18% Steigung, 4km/h, 2. Gang, der Höhenmesser<br />
und der Pulsmesser leisten Schwerarbeit. Bloß nicht<br />
aus dem Pedal kommen, sonst war es das. Ich sehe<br />
das Ende des Anstiegs schon, treffe bald auf die Gleise<br />
der Brockenbahn. Und dann passiert es doch noch auf<br />
den letzten Metern, ein großes Loch mit Schneematsch,<br />
schlecht sichtbar, tief, das Hinterrad dreht durch und ich<br />
muß vom Rad. Na ja, 50m schieben ist ja auch kein Drama.<br />
Die Anzeige sagt am Brockenbahngleis 990m Höhe.<br />
Seit dem Start habe ich 4km zurückgelegt.<br />
Von hier folgt der erst neu angelegte Goetheweg den<br />
Gleisen der Brockenbahn, die Steigungen verlaufen flacher<br />
und in Wellen, das kommt mir jetzt sehr entgegen,<br />
um mich etwas zu erholen und trotzdem an Höhe zu<br />
gewinnen. Zwei weitere Kilometer geht das so. Dann<br />
treffe ich auf einen Bahnübergang. Der Goetheweg<br />
mündet hier bei Kilometer 6 und 1.030m Höhe in die<br />
Brockenstraße, Teer mit Schlaglöchern, aber der beste<br />
Belag des Tages.<br />
Das letzte Teilstück zum Gipfel mit 8-10% Steigung liegt<br />
über der Baumgrenze des Brockens, eine weitere Größe<br />
mischt sich ein: Der Wind. Einige Schneereste zeugen<br />
davon, daß eine solche Tour um diese Jahreszeit auch<br />
schnell platzen kann.<br />
Geschafft, der Gipfel kommt in Sicht. Wo kommen<br />
bloß die hunderte von Menschen her? Kaum gedacht,<br />
schnauft schon die nächste Dampflock in den Brockenbahnhof<br />
und spuckt die nächste Menschenmasse aus<br />
acht Waggons aus.<br />
Ich ziehe mich im Freien um, 3°C und steife Brise sind<br />
angenehm kühl. Ein Mann fragt mich, ob ich mit dem<br />
Rad hochgefahren bin – auf mein atemloses „ja“ entgegnet<br />
er mir „warum?“ Ich ziehe mir was Trockenes<br />
an, während ein anderer Mann seiner Frau erklärt, daß<br />
es sehr wichtig sei, die nassen Sachen auszuziehen und<br />
ich genau das Richtige täte, ein Experte!<br />
Auch eine Möglichkeit, auf den Brocken zu kommen<br />
Ich sitze etwas abseits vom Rad und esse und trinke.<br />
Einige Leute versammeln sich um mein Rad und fachsimpeln.<br />
Nach deren Meinung sollte mein Rad fast von<br />
selbst bergauf fahren. Danke für diese Erkenntnis!<br />
Ich packe meinen Rucksack und mache mich auf den<br />
Rückweg, je tiefer ich komme, umso weniger Ausflügler<br />
sind unterwegs. Die beim Aufstieg überholten<br />
Wanderer treffe ich wieder. Rücksichtsvoll bremse ich<br />
die rasante Abfahrt ab, bei jeder Begegnung. In ihren<br />
Gesichtern und an ihren Reaktionen erkenne ich, daß<br />
die meisten von ihnen diese deutlich gezeigte Rücksicht<br />
als sehr angenehm empfinden. Zurück am Auto nach 1<br />
_ Stunden ziehe ich das kurze Fazit, daß diese Tour eine<br />
interessante Alternative zur geteerten Brockenstraße<br />
ist, die von Schierke (660m) auf den Gipfel führt und von<br />
Bikern hauptsächlich befahren wird (nichtöffentliche<br />
Versorgungsstraße). Die zweistelligen Steigungsprozente<br />
halten sich auf dem Goethewanderweg in ihrer<br />
Länge zwar in Grenzen, werden aber durch den schwierig<br />
befahrbaren Untergrund erschwert.<br />
Die Tourdaten aus dem Radcomputer: Streckenlänge<br />
(Hin-, und Rückfahrt) 15,2km, Höhendifferenz Start-Ziel<br />
342m, Gesamtsteigung der Tour 422m, größte Steigung<br />
18% (Länge ca.100m), Fahrzeit Anstieg ca. 55Min.,<br />
Fahrzeit Abfahrt ca. 15Min., Gesamtdauer incl. 3 Pausen<br />
1:35Std.<br />
Alternative: Brockenstraße von Schierke (660m) ausgehend.<br />
Hartwig Vöhringer<br />
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