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Rauf Ceylan (auth.) - Cultural Time Lag_ Moscheekatechese und islamischer Religionsunterricht im Kontext von Säkularisierung-VS Verlag für Sozialwissenschaften (2014)

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Cultural Time Lag


Rauf Ceylan

Cultural Time Lag

Moscheekatechese und islamischer

Religionsunterricht im Kontext

von Säkularisierung


Rauf Ceylan

Universität Osnabrück

Deutschland

Zugl.: Diss. Univ. Vechta 2014.

ISBN 978-3-658-06049-7

DOI 10.1007/978-3-658-06050-3

ISBN 978-3-658-06050-3 (eBook)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Für Rana und Ibrahim


Vorwort:

In der Krise zusammenstehen und sich entwickeln –

eine religionspädagogischen Perspektive

Seit ihrem Einzug in die Universität ist in die islamische Theologie in Deutschland Bewegung

gekommen. Im universitären Rahmen darf sie – in Verbindung mit den übrigen dort

vertretenen Disziplinen – ihr Objekt auf wissenschaftstheoretisch hohem Niveau reflektieren

und auf dieser Basis muslimische Glaubenspraxis vorantreiben. Dem Islam und seinen

Moscheegemeinden eröffnen die gegenwärtigen akademischen Dynamisierungsprozesse

Horizonte und Chancen, auf die diese in Zeiten globaler Säkularisierungsprozesse ebenso

angewiesen sind wie alle anderen Religionen und – nicht weniger als diese – die sie

beheimatenden Gesellschaften. Eine in jeder Hinsicht optimale Lebens- und Weltgestaltung

setzt uneingeschränkte Bestrebungen im Hinblick auf eine Intellektualisierung und

Professionalisierung religiöser Orthopraxie voraus. Weil die bundesdeutsche Gesellschaft

und die Verantwortlichen in den Moscheeverbänden und Moscheevereinen um diese Zusammenhänge

wissen, haben sie in einer konzertierten Aktion – gerade eben noch rechtzeitig

– Institute für Islamische Theologie in das universitäre Fächerspektrum eingebracht.

Die in diesem Kontext etablierte islamische Religionspädagogik sieht sich in besonderer

Weise durch Entwicklungen innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft und islamischen

Theologie sowie durch gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse zu speziellen

Untersuchungen und Reflexionen veranlasst. Sie könnte ihr Geschäft gewiss noch besser

betreiben, wenn sie als Subdisziplin einer an den neugegründeten Instituten noch zu

etablierenden Praktischen Theologie im Verbund mit weiteren Subdisziplinen (darunter

eine, die etwa der pastoraltheologischen vergleichbar wäre, eine religionssoziologische oder

religionspsychologische) operieren dürfte. Die Religionspädagogik selbst kennt neben den

speziellen Handlungsfeldern der (Gemeinde-)Katechese und des Religionsunterrichts (in

der Schule) unter anderem auch die der familiären religiösen Sozialisation, der religiösen

Elementarerziehung (Frühpädagogik), der religiösen Jugend- und Erwachsenenbildung

sowie der Medien.

Wie das religionspädagogische Geschäft im weiten theologischen Kontext und zugleich

unter den Bedingungen einer multidisziplinären Vernetzung betrieben werden kann,

exemplifiziert und demonstriert der mit der hier vorgelegten Dissertation zum Dr. phil.

der Universität Vechta promovierte islamische Wissenschaftler Dr. rer. soc. Rauf Ceylan.


8 Vorwort

Folgerichtig würdigte die international, interkonfessionell, interdisziplinär und gendersensibel

zusammengesetzte Promotionskommission (darunter drei auswärtige Kollegen)

seine überdurchschnittliche Leistung mit der bestmöglichen Bewertung.

Als Osnabrücker Professor für Islamische Theologie greift Ceylan in seinem Promotionsprojekt

die wohl gegenwärtig wie in naher Zukunft zentrale religionspädagogische

Frage aus dem Spektrum unzähliger religionspädagogischer Fragestellungen heraus: die

nach einer verantwortlichen Gestaltung religiöser Bildung am Ort der Moscheegemeinde

in Verbindung mit dem öffentlichen islamischen Religionsunterricht in der Schule sowie (in

erster Linie) mit der religiösen Sozialisation bzw. Erziehung in der Familie. In Anlehnung

an eine Theorie- und Begriffsbildung der katholischen Tradition diskutiert er die Forderung

nach einer curricular verantworteten religiösen Bildung und Erziehung durch die

Moscheegemeinde unter Verwendung des Begriffs „Moscheekatechese“. Bedeutungsgehalt

wie Relevanz des mit dem Begriff Gemeinten werden vor allem durch die „trittsichere“

Verortung seiner im Kern empirischen Untersuchung im großen Kontext der von ihm hervorragend

aufgearbeiteten christlichen Religionspädagogik (in Gestalt ihrer katholischen

und protestantischen Besonderheiten) deutlich.

Mit feinem Gespür für die gegenwärtigen Entwicklungen im deutschen Islam und

auf der Basis ungeschönter empirischer Befunde (Interviews mit Verantwortlichen aus

Moscheegemeinden und islamischen Verbänden bzw. Vereinen) deckt Rauf Ceylan in

den muslimischen Gemeinden ein besorgniserregendes Konfliktpotenzial auf und erörtert

bzw. empfiehlt wegweisende Maßnahmen vor allem im Hinblick auf eine zukünftige

Moscheekatechese und den islamischen Religionsunterricht vor dem Hintergrund vergleichbarer

Erfahrungen in den christlichen Kirchen. Seine ungeschminkte Sicht auf die

zu erwartenden Entwicklungen:

„Fasst man die[se] gesamten Prozesse zusammen, so zeichnet sich ein großes zukünftiges

Konfliktpotenzial ab. Diese Konflikte werden sich im Zuge des cultural time lag innerhalb

der Gemeinden zeigen, wenn der Migrationseffekt wegfällt und die Moscheegemeinden vor

ähnlichen Herausforderungen wie die Kirchen unter Säkularisierungs- und Individualisierungsbedingungen

stehen werden. Die muslimischen Familien werden, ähnlich wie die

christlichen Familien, nicht mehr die religiöse Erziehung gewährleisten können, und ebenso

werden die Moscheen aufgrund ihres sozialen Bedeutungsverlustes und abnehmender Gemeindemitglieder-

und -besucherzahlen ihre heutige Exklusivität nicht beibehalten können.

Je stärker sich diese Prozesse in den muslimischen Gemeinden zeigen werden, desto mehr

sind Vereinnahmungsversuche des islamischen Religionsunterrichts zu erwarten.“

Mit der vorliegenden Arbeit präsentiert ein muslimischer Theologe nicht nur die Resultate

einer exklusiven empirischen Untersuchung zur Situation und Zukunft der muslimischen

Gemeinden, er schließt zugleich auch die islamische Theologie, speziell die Religionspädagogik,

an den Theorienreichtum der christlichen Religionspädagogik an, indem er nicht

nur die dort ventilierten Themenstellungen insbesondere im Hinblick auf sein spezielles

Erkenntnisinteresse hinsichtlich einer zeitgemäßen religiösen Moscheebildung (Moscheekatechese)

rezipiert, sondern die breite Geschichte der christlichen Religionspädagogik

für seine Fragestellung nutzt. Rauf Ceylan hat sich damit nicht nur den Eintritt in die

Scientific Community der Religionspädagogen/innen verdient, er diskutiert den (sich


Vorwort

9

gerade im Licht kirchlicher Erfahrungen erschließenden) Ertrag seiner theoretischen wie

empirischen Recherchen auf kollegialer Augenhöhe.

Ceylan bewältigt sein Dissertationsprojekt nicht binnendisziplinär, sondern interdisziplinär,

indem er die Frage nach der Notwendigkeit und künftigen Gestalt von Moscheekatechese

und dem damit verbundenen Religionsunterricht im Kontext jahrzehntelanger

Entwicklungen der katholischen und evangelischen Religionspädagogik in Deutschland

unter dem Aspekt des sogenannten „cultural time lag“ und überdies paralleler Entwicklungen

im benachbarten Polen stellt und beantwortet. Umgekehrt dürften die Kollegen/

innen aus der von ihm bemühten Religionspädagogik gut beraten sein, sich ihrerseits an

den wegweisenden Ergebnissen seiner Forschung zu orientieren. Mit seiner in jeder Hinsicht

profunden Untersuchung hat sich Ceylan nicht nur als exzellenter Religionspädagoge im

Kreis der islamischen Religionspädagogen/innen, sondern auch als zukünftiger Kooperationspartner

der Kollegen/innen aus der christlichen Religionspädagogik empfohlen.

Mit ihnen zusammen wird er in nächster Zukunft eine gewaltige Aufgabe zu bewältigen

haben: nämlich die Säkularisierungsprozesse so aufzugreifen und aufzuarbeiten, dass das

in ihnen verborgene religiöse Potential sichtbar wird und sich positiv auf innerreligiöse

Transformationsprozesse auszuwirken vermag. Wenn sich nach Karl Rahner das Wort Gott

und das mit ihm Gemeinte möglichweise von außen, von anderswoher, neu erschließen

lassen mag, warum dann nicht auch explizit Religiöses durch das den Säkularisierungsprozessen

inhärente (implizit) Religiöse. Möglicherweise eröffnen gerade die weltweiten

Säkularisierungstendenzen inter- bzw. transreligiöse Unifizierungsprozesse und fördern

so nicht nur das Zusammenwachsen der (abrahamischen) Religionen im Hinblick auf

ein allen gemeinsames Weltethos. Was Islam wie Christentum im Hinblick auf sowohl

Säkularisierung als auch die Zeit danach (Postsäkularisierung) brauchen ist eine Art

Theologie der Säkularisation. Diese basiert – dasselbe gilt für den interreligiösen Dialog

– nicht auf Abschottung oder der Herausarbeitung von Unterschieden, sondern auf der

Suche nach (der Überfülle von) Gemeinsamkeiten und der gegenseitigen Anerkennung

von (einzelnen) Besonderheiten.

Eine islamische Religionspädagogik, die im Rahmen eines zentralen wissenschaftlichen

Forschungsanliegens nicht das Rad neu zu erfinden beansprucht, sondern die positiven

wie negativen Erfahrungen des christlichen Pendants aufgreift und für ihre Sache zu

verwenden weiß, verwirklicht auf diese Weise Gemeinsamkeit und bringt damit die Religionen

der Realisierung jener urbiblischen Vision, zwar in unterschiedlichen Sprachen

zu kommunizieren, sich dessen ungeachtet aber uneingeschränkt zu verstehen, näher.

Mit seiner Dissertation und ihrem speziellen Forschungsprojekt hat sich Rauf Ceylan um

genau diesen Annäherungsprozess verdient gemacht. Unser Glückwunsch gilt ihm und

zugleich uns selbst: die religionspädagogische Community ist um einen hochkompetenten

und -qualifizierten Kollegen bereichert worden. Ihr ist mit Ceylan – islamischerseits – ein

Grenzgänger zugewachsen, wie man ihn sich nicht idealer vorstellen kann: ein Muslim,

der seinen Glauben auf höchstem Reflexionsniveau vertreten kann und vertritt und aus

dieser Grundhaltung heraus den allgemeinen interreligiösen Dialog nicht nur sucht,

sondern die größten Anstrengungen unternimmt, um ihn im akademischen Raum (hier

im anspruchsvollen Rahmen einer Dissertation) angemessen voranzutreiben. Die Einlassung

von Ceylan auf die christliche Religionspädagogik und damit christliche Theologie


10 Vorwort

ist beredtes Zeugnis dafür, dass Bemühungen um den interreligiösen Dialog nicht, wie

nicht selten aus einem gewissen Religiozentrismus heraus behauptet wird, vornehmlich

christlicherseits unternommen werden, sondern in beeindruckender Tiefe und Breite

auch muslimischerseits. Meines Wissens hat sich unter den mittlerweile zahlreichen, im

interreligiösen Dialog ausgewiesenen Kolleginnen und Kollegen des christlichen Lagers

niemand auch nur mit annähernd vergleichbarer Intensität und Extensität mit der islamischen

Religionspädagogik auseinandergesetzt wie Ceylan mit der christlichen. Ceylan

ist deshalb auch mehr als nur Grenzgänger im Schnittfeld von muslimischer Religionspädagogik

auf der einen und christlicher Religionspädagogik auf der anderen Seite, er ist

Bindeglied, Pontifex, ein Brückenbauer. Vor diesem Hintergrund stimmt die Aussicht auf

eine adäquate religionspädagogische Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit mit

dem Neuzugang Rauf Ceylan und dem durch seine Arbeit geförderten Schulterschluss der

islamischen Religionspädagogik mit der christlichen mehr als nur optimistisch.

Vechta, Pfingsten 2014

Prof. Dr. theol. habil. Egon Spiegel

Dipl.-Theol., Dipl.-Pol.

Lehrstuhl für Praktische Theologie:

Religionspädagogik und Pastoraltheologie

Universität Vechta


Inhalt

Einleitung ................................................................. 17

A Theoretischer Teil

1 Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse in Deutschland

und das Phänomen des cultural time lag .................................. 37

1.1 Binäre Logik oder Synthese? Säkularisierungs- versus

Individualisierungsthesen und das Phänomen des cultural time lag ...... 40

1.2 Ursache-Wirkungsmechanismen der Säkularisierungs- und

Individualisierungsprozesse am Beispiel der religiösen Erziehung

und des religiösen Lernens an den Lernorten ‚Gemeinde‘ und ‚Schule‘

sowie kirchliche Reaktionen darauf .................................. 71

1.2.1 Historische Rolle der Religion in der Schule im Kontext der

Entstehung der Religionspädagogik als wissenschaftliche

Disziplin: eine kurze Skizze ................................... 72

1.2.2 Legitimationskrise des Religionsunterrichts im 20. Jahrhundert:

gesellschaftliche Transformationsprozesse und religionspädagogische

Herausforderungen in Deutschland ................ 81

1.2.3 Die Verhältnisbestimmung der Gemeindekatechese beziehungsweise

-pädagogik zum christlichen Religionsunterricht ............ 99

1.3 Exkurs: Cultural Time Lag – Zeitversetzte Entwicklungen am Beispiel

der Einführung des Religionsunterrichts in Polen ...................... 110

2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung

in den Familien, einer Moscheekatechese und eines islamischen

Religionsunterrichts im Migrationskontext ............................. 121

2.1 Daten und Fakten: Muslime in Deutschland .......................... 123

2.2 Von der „Ausländerpädagogik“ zur „Muslimpädagogik“? Nachholende

Integrationspolitik und „Islamisierung“ der neuen Integrationsdebatten . . . 127


12 Inhalt

2.2.1 Muslimische Immigration und Betreuungsmaßnahmen für

Migrantenkinder ............................................ 127

2.2.2 „Neo-Assimilationismus“ und „Islamisierung“:

Islamophobie und Parallelen zum anti-katholischen Diskurs ...... 130

2.3 (Religiöse) Sozialisation, religiöse Bildung und muslimische Identitäten . . . 135

2.3.1 (Religiöse) Sozialisation und islamische Erziehung

in muslimischen Familien .................................... 136

2.3.1.1 „Iqrā“ – Rolle der religiösen Bildung in den islamischen

Primärquellen unter besonderer Berücksichtigung

der sūra Luqmān und die elterliche Pflicht zur

Glaubensvermittlung .................................. 137

2.3.1.2 Forschungsstand zur religiösen Erziehung und

Sozialisation in muslimischen Familien ................. 146

2.3.2 Sozialisationsfeld ‚Kindergarten‘ und ‚Kindertagesstätte‘ ......... 149

2.3.2.1 Interkulturelle Öffnung der sekundären

Sozialisationsinstanz .................................. 151

2.3.2.2 Berücksichtigung der religiösen Lebenswelten

muslimischer Kinder .................................. 151

2.3.3 Religion und Bildung in der Schule ............................ 154

2.3.3.1 Interkulturelle Ausrichtung und Chancengleichheit ........ 154

2.3.3.2 Der Islam in der Schule ................................ 155

2.3.4 Soziokulturelles Umfeld: muslimische Jugendliche, Religiosität

und gesellschaftlicher Umgang ................................ 156

2.3.4.1 Soziale und strukturelle Anerkennungsprozesse:

der Prozess der Individuation und die Frage der medialen

Konstruktion des „muslimischen Jugendlichen“ .......... 158

2.3.4.2 Muslimische Jugendliche und religiöse Identität ........... 160

3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige

Praxis in Deutschland hinsichtlich einer islamischen Katechese ........... 163

3.1 Religiöses Lehren und Lernen in außerfamiliären Institutionen

in der islamischen Historie ......................................... 166

3.1.1 „Dār al-Arqam“: Beginn der islamischen Botschaft und

religiöses Lernen im Haus des Gefährten Al-Arqam ............. 167

3.1.2 „Ṣuffa": Bedeutung der Moscheen als Vorbild für die

außerfamiliäre religiöse Bildung am Beispiel des ersten

katechetischen Zentrums in Medina ........................... 170

3.1.3 Waḥiy und hadīṭ: Gotteswort und Prophetentradition als

Quellen einer islamischen Katechese ........................... 173

3.2 Forschungsstand zu den Lehrinhalten, Lernzielen und Methoden

in den Moscheegemeinden Deutschlands ............................. 180

3.3 Forschungsstand zur Rolle der Imame in den Moscheegemeinden ....... 183

3.3.1 Der Imam in der islamischen Geschichte und Theologie .......... 183

3.3.2 Imame in Deutschland – empirische Studien zu den religiösen

Autoritäten ................................................. 186


Inhalt

13

4 Der Diskurs über den islamischen Religionsunterricht ................... 191

4.1 Religionspädagogik als wissenschaftliche Disziplin in islamischen

Ländern: Entstehung und Entwicklung von Institutionen höherer Bildung

am Beispiel der Madrasa sowie der theologischen Fakultäten und die Frage

der religionspädagogischen Bezugswissenschaften – am Beispiel des

Osmanischen Reichs und der türkischen Republik ..................... 193

4.2 Ausbildung von Imamen, muslimischen Pädagogen und

Nachwuchswissenschaftlern – Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates

zur Etablierung von Zentren für islamische Studien in Deutschland

und konzeptionelle Herausforderungen der akademischen Disziplin

‚Islamische Religionspädagogik‘ .................................... 205

5 Zwischenfazit: Zusammenfassender Erkenntnisbeitrag der bisherigen

Forschungsergebnisse für die empirische Untersuchung .................. 215

B Empirischer Teil

1 Forschungsziele, Methodik der empirischen Untersuchung und vermutete

Ursache-Wirkungsmechanismen in den Moscheegemeinden .............. 223

1.1 Forschungsleitende Fragen und hypothetisches Modell

auf der Grundlage der theoretischen Vorüberlegungen ................. 224

1.2 Methodik der Untersuchung: Experteninterviews und qualitative

Inhaltsanalyse .................................................... 233

1.3 Die Beschreibung der untersuchten Moscheegemeinden der Schura

und der DITIB in Niedersachsen .................................... 237

1.4 Der Zugang ins empirische Feld ..................................... 240

2 Ergebnisse der empirischen Studie ...................................... 243

2.1 Charakterisierung der Experten der Schura und der DITIB ............. 243

2.2 Zwischen Säkularisierungs- und Individualisierungs- sowie

Muslimisierungs-/(Selbst-)Ethnisierungsprozessen: allgemeine

Rahmenbedingungen in den Moscheegemeinden mit besonderer

Berücksichtigung der Moscheekatechese ............................. 251

2.2.1 Der öffentliche Raum als Risikofaktor: gesellschaftliche

Transformationsprozesse und Reaktionen in den Gemeinden ..... 252

2.2.2 Mitgliederentwicklung, Gemeindebesucher und Reichweite der

Moscheegemeinden in Niedersachsen .......................... 258

2.2.3 Das „Wir“ gegen das „Ich“: Pluralisierung der Lebensstile und

Charakterisierung der Gemeindemitglieder und -besucher ....... 266

2.2.4 „Muslimisierung“ der Jugendlichen und Re-Ethnisierungsprozesse:

die Moschee als Ort kultureller Rückbesinnung .................. 281

2.2.5 Zukunftsängste und Problemhierarchiekataster:

Die Auswirkungen der Transformationsprozesse für die


14 Inhalt

Rahmenbedingungen der muslimischen Gemeinden

und Reaktionen ............................................. 293

2.2.5.1 Zukunftsängste und strukturelle Kompensationsversuche

durch einen „verkirchlichten Islam“ ..................... 295

2.2.5.2 Interne Kommunikationsprozesse und

Problemidentifikation ................................. 303

2.2.5.3 Personelle und finanzielle Rahmenbedingungen

der Gemeindearbeit ................................... 312

2.2.5.4 Mangelnde Gesellschaftsanalyse und fehlende

Konzeptionen ........................................ 318

2.3 Religiöse Erziehung in muslimischen Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

2.3.1 Erwartungen der Moscheegemeinden an die religiöse Erziehung

in muslimischen Familien .................................... 324

2.3.2 Zwischen Ideal und Realität: Inhalte und Methoden der religiösen

Erziehung in religiös weniger gebildeten Familien ............... 333

2.3.3 Bedeutungsverlust muslimischer Familien in der religiösen

Erziehung und Auswirkungen auf die Erwartungshaltungen

an die Moscheekatechse ...................................... 338

2.4 Zwischen Anspruch und Realität: Situation, Struktur und Entwicklung

der Moscheekatechese und Ergänzungen bisheriger Untersuchungen .... 343

2.4.1 Reichweite und Anmeldungsverfahren ......................... 344

2.4.2 Selbstverständnis und Ziele ................................... 348

2.4.3 Die Situation der Lehrkräfte .................................. 350

2.4.4 (Fehlende) Lehrpläne und ineffiziente Reformversuche durch

Verschulung der Moscheekatechse ............................. 353

2.4.5 Materialien der Moscheekatechese ............................. 359

2.4.6 Erfahrungen in der Moscheekatechese – die Auflistung

der größten religionspädagogischen Herausforderungen

in den Gemeinden ........................................... 365

2.4.7 Kooperation mit dem Elternhaus und Ermittlung der Bedürfnisse

der Eltern ................................................... 379

2.5 Islamunterricht: Erwartungen und Perspektiven an ein neues Fach ...... 385

2.5.1 Kommunikation zwischen Landesverband, lokalen Gemeinden

und muslimischen Eltern über die Einführung des islamischen

Religionsunterrichts ......................................... 387

2.5.2 Materialkerygmatischer Unterricht: Inhalte und Ziele des

islamischen Religionsunterrichts aus der Sicht der muslimischen

Gemeinden ................................................. 394

2.5.3 Erwartungen an die Rolle der Religionslehrer im Unterricht ...... 402

2.5.4 „Kein Staatsislam“: Erwartungen an den IRU auf der Grundlage

negativer historischer Erfahrungen mit der religiösen Unterweisung

im Rahmen des muttersprachlichen Türkischunterrichtes ........ 407

2.5.5 Verhältnisbestimmung und Funktion der drei Lernorte:

die Moschee als Korrektiv .................................... 415


Inhalt

15

C Schlussfolgerungen

1 Explizierung der theoretisch-konzeptionellen Annahmen auf

der Grundlage der empirischen Ergebnisse .............................. 423

2 Konkretisierung zentraler Thesen auf der Basis

der empirischen Erkenntnisse ......................................... 433

2.1 Die Auswirkungen der Individualisierungsprozesse

schlagen sich in den Moscheegemeinden nieder und

werden mittelfristig Säkularisierungsprozesse freisetzen ............... 433

2.2 Der Migrationsfaktor führt offensichtlich dazu, dass trotz der

Individiualisierungsprozesse die Zahl der Moscheemitglieder und

-besucher konstant bleibt ........................................... 434

2.3 Das religiöse Betreuungspersonal ist auf die Heterogenität der Lernenden

in der Moscheekatechese nicht vorbereitet und kann auf diese Vielfalt

nicht angemessen reagieren ........................................ 434

2.4 Das Fehlen eines Studienganges ‚Praktische Theologie‘ (Islamische

Katechetik oder Gemeindepädagogik) verhindert eine qualitative

Moscheekatechese ................................................. 435

2.5 Der Lernort ‚Schule‘ wird in der religiösen Bildung eine größere

Bedeutung einnehmen als die muslimischen Familien und

Moscheegemeinden ............................................... 436

2.6 Aufgrund der Projektion katechetischer Aufgaben an den islamischen

Religionsunterricht und an die Religionslehrer ergibt sich zukünftiges

Konfliktpotenzial ................................................. 436

2.7 Historische Erfahrungen mit dem muttersprachlichen Unterricht und

mangelnde Verarbeitung verhindern sachliche Auseinandersetzungen

im Hinblick auf die Rollenerwartungen der muslimischen

Religionspädagogen ............................................... 436

2.8 „Verkirchlichung“ der muslimischen Gemeinden stellt keine Maßnahme

gegen gesellschaftliche Transformationsprozesse dar .................. 437

2.9 Ein fehlendes Kommunikationssystem verhindert die frühzeitige

Problemidentifikation ............................................. 438

2.10 Muslimische „Synodenbeschlüsse“ sind in Zukunft erforderlich,

um das Verhältnis von Moscheen und schulischem Religionsunterricht

konstruktiv zu bestimmen ......................................... 438

3 Handlungsempfehlungen für die Moscheegemeinden .................... 441

3.1 Keine Verschulung: Für die Moscheekatechese müssen realistische

Lehrpläne entwickelt werden ....................................... 442

3.2 Materialien für Moscheekatechese ................................... 442

3.3 Kontinuierliche Fortbildung des Moscheepersonals .................... 443

3.4 Studiengang ‚Praktische Theologie‘ einrichten ........................ 443


16 Inhalt

3.5 Etablierung außeruniversitärer Einrichtungen (religionspädagogischer

Zentren) ......................................................... 444

3.6 Partner der religiösen Erziehung –

muslimische Eltern einbeziehen ..................................... 444

3.7 Imame und Religionslehrer: Brücken zwischen Moscheen und Schulen

sowie vertrauensbildende Maßnahmen in Richtung Religionslehrern

aufbauen ......................................................... 445

3.8 Kommunikationssystem verbessern: Bedarfs- und Situationsanalyse

sowie Informationen über die Rolle des schulischen

Religionsunterrichts ................................................ 446

3.9 Aufarbeitung der Vergangenheit: Staat und Religion in

islamischen Ländern .............................................. 447

3.10 Akzeptanz gesellschaftlicher Transformationsprozesse in den

muslimischen Gemeinden .......................................... 447

Literatur ................................................................ 449


Einleitung

Einleitung

Einleitung

Die demografischen Entwicklungen in Deutschland führen seit Jahren vor Augen, dass die

Zahl der Kinder und Jugendlichen aus muslimischen Familien kontinuierlich steigt. 1 Seit

der Familienzusammenführung stehen die gesamtgesellschaftlichen Anerkennungs- und

Eingliederungsprozesse dieser Zielgruppe im Fokus der Integrations- und Bildungspolitik.

In kontinuierlichen Lageberichten wird über die Situation dieser Zielgruppe – oft nur als

Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund erfasst – berichtet. Neben Fragen

der strukturellen Integration wie Sprache, Schulabschlüsse sowie Berufseinstieg stehen

ebenso Prozesse der sozialen Identitätsbildung im Vordergrund. 2 In diesem Zusammenhang

wurden von der Ausländerpädagogik über einen multi-/interkulturellen bis hin

zu einem transkulturellen Ansatz diverse Phasen in den gesamten wissenschaftlichen

und politischen Integrationsdebatten durchlaufen. Begleitet werden diese Diskurse bis

heute sowohl von „wissenschaftlich-analytischen“ als auch von „politisch-normativen“

Konzepten. 3 Diese korrespondieren mit den verschiedenen Phasen der Migrations- und

Integrationspolitik, die von der völligen Ablehnung bis hin zur teilweisen Anerkennung

der Einwanderungsrealität – mit entsprechenden positiven oder negativen juristischen

und sozialen Konsequenzen für die hierzulande lebenden Migranten – reichen. 4 Ähnliche

Diskurse sind in Bezug zu den Empfehlungen zur „selektiven Migration“ auf der Grundlage

1 Die Muslime in Deutschland weisen insgesamt eine im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft

junge Altersstruktur auf. Fast 42 % von ihnen sind in der Altersgruppe bis zu 24 Jahren vertreten,

wobei diese Bevölkerungsgruppe räumlich gesehen in westdeutschen Großstädten und

vor allem im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen lebt (vgl. Sonja Haug/

Stephanie Müssig/Anja Stichs: Muslimisches Leben in Deutschland – im Auftrag der Deutschen

Islam Konferenz, Nürnberg 2009, S. 102 ff.).

2 Vgl. Die Bundesbeauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration

(Hrsg.), 9. Bericht der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage

der Ausländerinnen und Ausländer (Juni 2012), Berlin 2012, S. 56 ff.

3 Vgl. Martina Sauer/Dirk Halm, Erfolge und Defizite der Integration türkeistämmiger Einwanderer.

Entwicklung der Lebenssituation von 1999 bis 2008, Wiesbaden 2009, S. 17 ff.

4 Vgl. Caroline Butterwegge, Armut von Kindern mit Migrationshintergrund. Ausmaß, Erscheinungsformen

und Ursachen, Wiesbaden 2010, S. 457 ff.

R. Ceylan, Cultural Time Lag, DOI 10.1007/978-3-658-06050-3_1,

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014


18 Einleitung

von ökonomischen Steuerungssystemen zu verzeichnen, die in Deutschland infolge der

demografischen Entwicklungen und dem Fachkräftemangel dringend benötigt werden. 5

Obwohl die wirtschaftlichen Vorteile dieser Migrationsform auf der Hand liegen, werden

die politischen Auseinandersetzungen darüber nicht immer rational geführt.

Integrationspolitik in Deutschland zwischen Idealisierung

und Skandalisierung

Ulrich Herbert arbeitet in seiner historischen Rekonstruktion der Ausländerpolitik dabei

ein ambivalentes, polarisierendes Muster in der deutschen Integrationspolitik – von Ablehnung

bis Anerkennung zwischen den Polen Idealisierung und Skandalisierung – seit

dem Kaiserreich heraus, die sich mit all ihren Traditionen und Brüchen auch in der Gegenwart

widerspiegelt. Typisch für dieses traditionelle Diskussionsmuster seien auch die

immer wiederkehrenden Skandalisierungsdebatten, die alle paar Jahre aufflammten. 6 Diese

Ambivalenz zeigt sich gegenwärtig bei den politischen Debatten über die EU-Ausländer

aus Bulgarien und Rumänien, unter denen sich auch ein nicht unerheblicher Teil von

Muslimen befindet. Dem waren die wenig konstruktiven Auseinandersetzungen über die

Publikation von Thilo Sarrazin vorausgegangen, in denen die gesamten diffusen Ängste

und Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft über Einwanderer, insbesondere türkische und

arabische Muslime, deutlich wurden. 7 Wie vergleichende Studien im Hinblick auf die „Vorund

nach-Sarrazin“-Phase zeigen, haben diese polarisierenden Diskussionen tatsächlich

den Effekt 8 , dass sich Stereotype – „als verallgemeinernde Annahme über eine Gruppe

von Menschen, die praktisch all ihren Mitgliedern, unabhängig von tatsächlichen Unterschieden

zwischen ihnen, bestimmte Eigenschaften zuschreibt“ 9 – oder Ethnisierungen in

der Meinungsbildung der Migrantenbevölkerung niederschlagen können, weil man sich

ausgegrenzt fühlt. Unter Ethnisierung ist dabei Folgendes zu verstehen:

„Ethnisierung beschreibt einen Prozess gesellschaftlicher Meinungsbildung, der die fremd

definierte oder freiwillig akzeptierte Zugehörigkeit zu einer Ethnie zum Vehikel nehmen will,

um damit Machtvorteile für die Eigengruppe zu erreichen. Das wird vor allem den einheimischen

Gruppierungen unterstellt, welche die Konkurrenz der ethnisch wahrnehmbaren

Zuwanderer um zu knappe Güter beschränken will. Diese ökonomische Konkurrenz befördert

5 Vgl. Holger Hinte, Zuwanderung und Integration: Baustein einer demografiefesten Politik, in:

Ders./Klaus F. Zimmermann (Hrsg.), Zeitenwende auf dem Arbeitsmarkt. Wie der demografische

Wandel die Erwerbsgesellschaft verändert, Bonn 2013, S. 282 ff.

6 Vgl. Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, Bonn 2003

7 Vgl. Egbert Jahn, Politische Streitfragen, Band 2. Deutsche Innen- und Außenpolitik, Wiesbaden

2012, S. 13 ff.

8 Vgl. Wolfgang Frindte, Exkurs: Vor und nach Sarrazin, in: Ders./Klaus Boehnke/Henry Kreikenbom/Wolf

Wagner (Hrsg.), Lebenswelten junger Muslime in Deutschland: Ein sozial- und

medienwissenschaftliches System zur Analyse, Bewertung und Prävention islamistischer

Radikalisierungsprozesse junger Menschen in Deutschland. Berlin 2012, S. 574 ff.

9 Elliot Aronson/Timothy D. Wilson/Robin M. Akert, Sozialpsychologie, München 2008, S. 425


Einleitung 19

Konzeptualisierungen der Ethnisierung, zunächst durch Außendefinition (Die Ausländer/

Türken nehmen uns die Arbeitsplätze weg) auf die dann mit Innendefinitionen (Wir werden

als Ausländer/Türken diskriminiert) reagiert wird.“ 10

Wolfgang Nieke weist in diesem Kontext darauf hin, dass dieser Prozess nicht einseitig –

also von der Majorität in Richtung Minorität –, sondern reziprok ist. Daher könne dieser

Prozess auch vonseiten der ethnischen Minoritäten initiiert werden:

„Ethnisierungen werden aber auch von den Angehörigen von Zuwandererminderheiten

selbst absichtsvoll betrieben und gefördert, um ihre eigene Lage als Minderheit zu verbessern

oder ihre Sinnkonstruktionen in einer skeptischen und sie bedrohenden mentalen Umwelt

aufrecht zu erhalten, also ihre kollektive Identität zu wahren.“ 11

Perspektivenwechsel und (unzureichende) Integrationsmaßnahmen:

Pragmatische Ansätze und Ausblendung der Dimension von Religion

Trotz dieser jahrzehntelangen „Experimente“ und Diskussionen hat sich in der Integrationspolitik

dennoch zunehmend ein pragmatischeres Zielbewusstsein herauskristallisiert:

(Muslimische) Migrantenkinder sollen gleiche Chancen wie Autochthone erhalten und

daher in allen relevanten Integrationsfeldern – von der Sprachförderung im Vorschulbereich

bis hin zu berufsbegleitenden Maßnahmen im Ausbildungsalter – gefördert werden. In

regelmäßigen Abständen soll, ganz in der Logik eines quantitativ ausgerichteten Monitoringsystems,

versucht werden, die Erfolge oder Misserfolge anhand von Indikatoren wie

Rechtsstatus, frühkindliche Bildung, schulische Bildung und Ausbildung zu messen, um

zugleich an den Defiziten anzusetzen und diese zu kompensieren. 12 Kritisch ist anzumerken,

dass durch derartige Systeme eine „Mathematisierung“ von Integration und Partizipation

stattfindet und qualitative Merkmale wie subjektives Empfinden sowie konstruktive zwischenmenschliche

Arrangements im lokalen Alltag – trotz ökonomischer oder „kultureller“

Konfliktkonstellationen – unberücksichtigt bleiben. 13

10 Wolfgang Nieke, Kulturelle und ethnische Identitäten – als Sonderfälle der Orientierung gebenden

kollektiven Identität, in: Hans-Jürgen von Wensierski/Claudia Lübecke (Hrsg.), Junge

Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen, Opladen/

Farmington Hills 2007, S. 93; Hervorhebungen im Original.

11 Ebd.

12 Vgl. Dietrich Engels et al.,Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge

und Integration (Hrsg.), Zweiter Integrationsindikatorenbericht erstellt für die Beauftragte

der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Köln/Berlin 2011

13 Das Forscherteam um Wolf-Dietrich Bukow zeigen in diesem Zusammenhang in einem multikulturellen

Stadtteil wie die dortige heterogene Bevölkerung Kompetenzen für das städtische

Alltagsleben entwickelt hat. Trotz zahlreicher ökonomischer und sozialer Herausforderungen

sowie der besonderen räumlichen Problemkumulation findet ein „funktionierendes lebenspraktisches

Miteinander“ statt (Wolf-Dietrich Bukow et al., Die multikulturelle Stadt. Von

der Selbstverständlichkeit im städtischen Alltag, Opladen 2001). Durch die rein quantitative


20 Einleitung

Während also im Bereich der strukturellen Integration zahlreiche Maßnahmen initiiert

und auf der Basis von permanenten Messungen Konzeptionen entwickelt wurden und

werden, fanden im Bereich der religiösen Akzeptanz und Förderung, speziell in der Frage

religiöser Betreuungsmaßnahmen im Kontext von Identitätsentwicklungen, kaum ähnliche

intensive Bestrebungen statt. Hier sind Defizite in unterschiedlichen Handlungsfeldern

mit unterschiedlicher qualitativer Tragweite identifizierbar.

Aufbau mentaler Hürden: Ausblendung muslimischer Lebenswelten im

Alltag der Bildungseinrichtungen und im Berufsleben

Diese Mängel in der Anerkennung und Förderung der religiösen Identität beginnen

bereits im Vorschulbereich, wenn wie bisher die Lebenswelt der muslimischen Kinder

kaum Eingang in den Alltag der Kindertagesstätten findet. Wie der „Länderreport frühkindliche

Bildungssysteme 2013“ der Bertelsmann-Stiftung vor Augen führt, wies im Jahr

2012 von den ca. 2, 2 Mio. der Kinder im Alter von drei Jahren bis zum Schuleintritt fast

ein Drittel (28,7 %) einen Migrationshintergrund auf. Die frühkindliche Förderung der

Bildungschancen der sehr heterogenen Zielgruppe – insbesondere die Kompensation der

Bildungsbenachteiligung von Kindern aus sozioökonomisch schwachen Familien – muss

ohnehin unter schwierigen Bedingungen erfolgen. Hierzu zählen strukturelle Defizite wie

Personalmangel und Überbelastung der Erzieher/innen (in Relation zu den hohen Kinderzahlen

pro Gruppe), wobei ferner unter den Einrichtungen ein großes strukturelles Gefälle

bezüglich personeller Ressourcen existiert. 14 In segregierten, benachteiligten Sozialräumen

nimmt die Konzentration der Problemlagen aufgrund der dortigen Sozial- beziehungsweise

Armutsstruktur nochmals zu, sodass die ohnehin ressourcenarmen Kindertagesstätten in

diesen Wohngebieten mit einer anderen Qualität an pädagogischen Herausforderungen

konfrontiert sind und sich dies zusätzlich negativ auf die Bildungschancen in der frühkindlichen

Entwicklung auswirkt. 15 Vor dem Hintergrund der Ausblendung islamischer

Lebenswelten im Rahmen der skizzierten Problemlage im Vorschulbereich ist der Aufbau

mentaler Hürden der muslimischen Kinder gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und deren

Institutionen langfristig vorprogrammiert. Die Einbeziehung der Lebenswelt dieser Kinder

in der Schule wäre eine Voraussetzung dafür, dass das gesellschaftliche Teilsystem ‚Schule‘

selbst Teil der Lebenswelt der Kinder wird (Stichwort ‚Schule als Lebenswelt‘). 16 Das Fehlen

derselben weist dabei eine hohe zeitliche Persistenz auf, die sich in den Grundschulen 17

Erfassung von Integration werden diese urbanen Kompetenzen, die viel mit qualitativen Merkmalen

im konkreten Alltag zusammenhängen, völlig ignoriert.

14 Vgl. Kathrin Bock-Famulla/Jens Lange, Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2013.

Transparenz schaffen – Governance stärken, Gütersloh 2013, S. 8 ff.; 294

15 Vgl. Regionalverband Ruhr (Hrsg.), Bildungsbericht Ruhr, Münster 2012, S. 63 ff.

16 Vgl. Hans-Ulrich Grunder, Schule und Lebenswelt. Ein Studienbuch, Münster 2001, S. 252 ff.

17 Vgl. Monika Stürzer, Schule und Nachmittagsbetreuung von Schulkindern, in: Melihan Cinar

et al. (Hrsg.), Kinder-Migrationsreport. Ein Daten- und Forschungsüberblick zu Lebenslagen

und Lebenswelten von Kinder mit Migrationshintergrund, München 2013, S. 166 ff.


Einleitung 21

und weiterführenden Schulen bis in das Berufsleben hinein durchzieht. Aufgrund des

Negativimages und der Diskriminierung sind in der späteren Phase der Bildungsbiografien

besondere didaktische Konzepte – wie etwa der berufsorientierte Religionsunterricht – erforderlich,

um diese negativen Erfahrungen zu verarbeiten und die berufliche Integration

dieser junger Menschen dennoch zu gewährleisten. 18

Selektions- und Assoziationsprinzip:

Der Islam als gewalttätige (Ausländer-)Religion in den Medien

Die mediale und politische Behandlung des Islam „leisten“ als weitere bedeutsame Felder

einer emotionalen und identifikatorischen Integration insofern ebenfalls keinen positiven

Beitrag, da sie nur eine andere Form der Ausblendung, und zwar eine Selektion der muslimischen

Lebenswelt durch die Akzentuierung negativer, quantitativer Randphänomene

wie Ehrenmord, Terrorismus oder Salafismus darstellen. Ebenso negativ beeinflusst wird

diese emotionale Integration durch eine undifferenzierte, öffentliche Kommunikation von

wissenschaftlichen Ergebnissen zu Themen wie Religiosität und Gewalt beziehungsweise

zum Fundamentalismus bei muslimischen Jugendlichen. Da die mediale Kommunikation

von höchst komplexen Forschungsfragen nur durch die Reduktion auf zentrale Ergebnisse

in Form von Pressekonferenzen oder Zusammenfassungen erfolgt, zeigen die bisherigen

Diskussionserfahrungen, dass sie eher kontraproduktiv verlaufen und zur Verfestigung von

Stereotypen beisteuern können. 19 Nicht weniger dramatisch ist es, wenn die Wissenschaft

selbst durch unzureichende Forschungsdesigns gängige gesellschaftliche Wahrnehmungsschemata

bestärkt und eine andere Form von Gewalt an dieser Zielgruppe ausübt. 20

Die Konstruktion einer muslimischen Parallelgesellschaft in den medial und politisch

inszenierten virtuellen Welten überschattet den Realzustand des Alltags der muslimischen

Kinder und Jugendlichen – mit allen seinen positiven und negativen Facetten. Hinzu

18 Vgl. Andreas Obermann, Im Beruf Leben finden. Allgemeine Bildung in der Berufsbildung –

didaktische Leitlinien für einen integrativen Bildungsbegriff im Berufsschulreligionsunterricht,

Göttingen 2013, S. 200 ff.

19 Diese Erfahrungen in der kontraproduktiven öffentlichen Kommunikation von Forschungsergebnissen

bestätigen in jüngerer Zeit unter anderem die kriminologische Studie von Christian

Pfeiffer mit dem Fazit „Je religiöser, desto gewalttätiger“ oder die des Migrationsforschers Ruud

Koopmanns „Islamischer Fundamentalismus ist weit verbreitet“. Hierbei ist zu hinterfragen,

inwieweit medienwirksame Darstellungen von Forschungserkenntnissen – im ohnehin sehr

diffusen Feld „Integration, Muslime, Jugendliche“ – forschungsethisch vertretbar sind (vgl.

hierzu z. B. „Kriminologische Studie: Jung, muslimisch, brutal“ abgerufen unter: http://www.

spiegel.de/panorama/justiz/kriminologische-studie-jung-muslimisch-brutal-a-698948.html

[13.01.2014]; „Islamischer religiöser Fundamentalismus ist weit verbreitet“ abgerufen unter:

http://www.wzb.eu/de/pressemitteilung/islamischer-religioeser-fundamentalismus-ist-weit-verbreitet

[13.01.2014]

20 Vgl. z. B. Werner Schiffauer, Beschwörungsrhetorik: Zur Konstruktion des islamischen Fundamentalismus

in der Wissenschaft, in: Wolf-Dietrich Bukow/Markus Ottersbach (Hrsg.), Der

Fundamentalismusverdacht. Plädoyer für eine Neuorientierung der Forschung im Umgang mit

allochthonen Jugendlichen, Opladen 1999, S. 101 ff.


22 Einleitung

kommen ständige Etikettierungsprozesse sowie Ethnisierungen der muslimischen Jugendlichen,

sodass die Gefahr einer Übernahme dieser negativen Zuschreibungen – trotz

der eigentlich fortschreitenden strukturellen Integration – droht und auf diese Weise die

wirklichen, den Alltag der Muslime betreffenden Fragestellungen überschattet werden.

Zuwanderer werden zu Muslimen kategorisiert, soziale Probleme werden ‚islamisiert‘;

davon zeugen Assoziationen mit innenpolitischen Problemen sowie Sicherheitsfragen wie

die geplante Plakatkampagne des Bundesinnenministeriums zur Radikalisierungsprävention.

21 Insgesamt scheinen die Muslime nach dem 11. September eine Projektionsfläche für

die gescheiterte Integration zu bilden. 22 Insofern bildet die problematisierte Islamisierung

der Integrationsdebatten für die gesamtgesellschaftliche Integration eine Hürde, weil

vor allem die emotionale Integration in Form der Identifikation mit dem hiesigen Land

kontraproduktiv tangiert wird. 23

Islamischer Religionsunterricht, Imam-Ausbildung, muslimische Theologen:

Entdeckung des Islam als Integrationsfaktor

Während dieser hier skizzierte Missstand seit mehreren Jahrzehnten anhält, wird parallel

seit dem Ende der 1990er-Jahre und stärker vor allem ab den 2000er-Jahren in Ansätzen

die Bedeutung und Funktion von Religion sowie Religiosität bei muslimischen Kindern

seitens der Politik und Bildungseinrichtungen entdeckt – wenngleich primär auch nur unter

integrations- und sicherheitspolitischem Vorzeichen und nicht unter dem positiven Aspekt

der Gleichberechtigung. 24 Im Zentrum der Interessen steht vor allem die Einführung eines

flächendeckenden islamischen Religionsunterrichts (IRU) mit unterschiedlicher integrations-

sowie bildungspolitischer Begründung, Erwartung und Zielsetzung. Angefangen mit

Schulversuchen wie in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen wurden sukzessiv in den

Bundesländern in Kooperation mit muslimischen Verbänden Projekte zur Realisierung

dieser langfristigen Zielsetzung gestartet und von muslimischen Wissenschaftlern aufgrund

der „sinn- und orientierungsstiftenden Bedeutung“ des Religionsunterrichts getragen. Die

Herausforderung hierbei liegt darin, die eigene Wissenschaftstradition aus den islamisch

21 „Kampagne der Beratungsstelle Radikalisierung gestartet“ abgerufen unter: http://www.bmi.

bund.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/2012/08/kampagne-sicherheitspartnerschaft.html

[27.1.2014]

22 Vgl. Jan Schneider/Gunilla Fincke/Anne-Kathrin Will, Muslime in der Mehrheitsgesellschaft:

Medienbild und Alltagserfahrungen in Deutschland, Berlin 2013, S. 6 ff.

23 Vgl. Naika Foroutan, Muslimbilder in Deutschland. Wahrnehmungen und Ausgrenzungen in

der Integrationsdebatte. Expertise im Auftrag der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitikpolitik

der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2012, S. 52 ff.

24 Zum Teil wird sogar der islamische Religionsunterricht als Konkurrenzprojekt zu der Moscheekatechese

gesehen, um die religiöse Erziehung am Lernort ‚Gemeinde‘ zu unterbinden, indem

man langfristig die muslimischen Kinder aus den „Koranschulen“ herausholt; (vgl. „Religionsstudie

über Muslime: Raus aus den Koranschulen“ abgerufen unter: http://www.spiegel.

de/politik/deutschland/religionsstudie-ueber-muslime-raus-aus-den-koranschulen-a-580423.

html [13.11.2014].


Einleitung 23

geprägten Ländern aufzuarbeiten, kritisch zu reflektieren und für den europäischen Kontext

neu zu verorten, 25 um, wie Johannes Lähnemann es auf den Punkt bringt,

„[…] den Kindern und Heranwachsenden Orientierungs-, Existenz- und Handlungshilfen

in Sinn-, Wert- und ethischen Fragen im Licht der unsere Gesellschaft maßgeblichen bestimmenden

religiösen Traditionen und für ein verantwortliches Verhalten in der pluralen

Gesellschaft zu bieten.“ 26

Hierzu bedarf es der Festlegung der wissenschaftstheoretischen Grundlagen sowie der

anthropologischen Ausgangslage einer islamischen Religionspädagogik, der Formulierung

von zentralen Definitionen, Entwicklung von Theorien und Praxishilfen für den Unterricht.

Zwar existiert ein großer theologischer Schatz sowie ein Repertoire an Schriften zur

religiösen Erziehung aus der 1400jährigen islamischen Ideengeschichte, diese müssen aber

systematisch ausgewertet und in Auseinandersetzung mit aktuellen religionspädagogischen

Fragen in Deutschland weiterentwickelt werden. Der Nachteil ist, dass es keine lange

akademische Tradition wie in Deutschland existiert, sodass die Prozesse der Auswertung

der eigenen Wissenstradition, die Auseinandersetzung mit den religionspädagogischen

Fragen der Muslime in Deutschland sowie die Anknüpfung an den aktuellen Diskurs in

der christlichen Religionspädagogik parallel verlaufen müssen. Das heißt also, dass die

Muslime die Vergangenheit aufarbeiten, die Gegenwart berücksichtigen und die Zukunft

ihrer Disziplin durch die Anknüpfung an die bereits ausgereifte christliche Religionspädagogik

bestimmen müssen.

Intensiviert wurde dieser Prozess durch die Empfehlungen des Wissenschaftsrats im

Jahre 2010 zur Aufbau von Instituten für Islamische Theologie, um – neben der Ausbildung

muslimischer Theologen für die hiesigen Moscheegemeinden sowie der Qualifizierung

von Nachwuchswissenschaftlern 27 zur Schaffung einer wissenschaftlich-theologischen

Gemeinschaft – Religionslehrer/innen für den schulischen Religionsunterricht auszubilden.

Bei einigen Hunderttausenden von muslimischen Kindern und Jugendlichen im

Bildungssystem sind hierfür in den nächsten Jahren mehrere Hundert Lehrkräfte erforderlich.

Es wird weit mehr als zehn Jahre dauern, bis diese sehr ambitionierte Zielsetzung

flächendeckend umgesetzt sein wird – sofern in allen Bundesländern die erforderlichen

Grundlagen, wie ein theologischer Beiratsmodell, die Resonanz unter den jungen Studierenden

für das neue Fach sowie die Entwicklung der entsprechenden Lehrpläne und

Qualifizierung der wissenschaftlichen Lehrkräfte an den Universitäten erfüllt werden;

25 Vgl. Bülent Ucar, Islamische Religionspädagogik im deutschen Kontext: Die Neukonstituierung

eines alten Fachs unter veränderten Rahmenbedingungen, in: Ders./Martina Blasberg-Kuhnke/Arnulf

von Scheliha (Hrsg.), Religionen in der Schule und die Bedeutung des islamischen

Religionsunterrichts, Göttingen 2010, S. 33 ff.

26 Johannes Lähnemann, Zum Profil religiöser Bildung in Schulen und Hochschulen – ein Resümee,

in: Lamya Kaddor (Hrsg.), Islamische Erziehungs- und Bildungslehre, Münster 2008,

S. 115

27 Der besseren Lesbarkeit wegen wird bei der Geschlechternennung in einigen Fällen nur die

maskuline Form verwendet. Es wird aber explizit darauf hingewiesen, dass dies auch das

weibliche Geschlecht impliziert.


24 Einleitung

eine weitere Voraussetzung bildet die Resonanz unter den muslimischen Eltern, aber auch

Schülern. Letztere können sich spätestens ab dem vierzehnten Lebensjahr für oder gegen

diesen Unterricht entscheiden.

Auf dem Weg zur „Verkirchlichung“?

Aufbau theologischer Beiräte und die Schule als neuer Lernort für den Islam

Die religionsgemeinschaftliche Funktion nach Art. 7. (3) GG soll nach dem Postulat des

Wissenschaftsrates der oben genannte theologische Beirat erfüllen, der sich auch aus Vertretern

der muslimischen Verbände zusammensetzen soll, um entsprechend den grundgesetzlichen

Vorgaben bei der Konzeption von Lehrplänen, und bei der Ernennung von

Religions- sowie Hochschullehrern mitzubestimmen. 28 Unabhängig von den vielen noch

offenen verfassungsrechtlichen Fragen hinsichtlich dieses unter Verfassungs- und Staatkirchenrechtlern

sehr umstrittenen Konstrukts 29 wird die Rolle der diversen muslimischen

Dachorganisationen hervorgehoben und aufgewertet, da diese allein in Deutschland über

2300 Moscheegemeinden unterhalten. 30 Unter ‚Gemeinde‘ ist dabei nach Carsten Claußen

Folgendes zu verstehen:

„‚G.‘ im religiösen Sinne bezeichnet die Gesamtheit der Angehörigen eines kirchlichen Bezirks

oder der Mitglieder eines vereinsartigen Zusammenschlusses von religiös gleichgesinnten

Personen. Speziell kann man unter ‚G.‘ auch die an einem Ort zum Gottesdienst versammelten

Gläubigen verstehen. Die Gemeinschaft vieler G. wird Kirche genannt.“ 31

28 Da der Islam in Deutschland nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt ist, wurden an den

Instituten für Islamische Theologie der unterschiedlichen Bundesländer sehr heterogene

Beiratsmodelle konstruiert, um die Etablierung bekenntnisgebundener Studiengänge ‚Islamische

Theologie‘ und ‚Islamische Religionspädagogik‘ sicherzustellen. In Niedersachsen

wurde am Institut für Islamische Theologie ein theologischer Beirat konstituiert, der sich

jeweils aus Vertretern der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e. V. und der

Schura zusammensetzt. Hinzu kommen weitere unabhängige muslimische Theologen, die

von den muslimischen Verbänden und von der Universität Osnabrück vorgeschlagen werden.

An der Universität Frankfurt dagegen wurde kein Beirat etabliert, während sich der Beirat

am Departement für Islamisch-Religiöse Studien ausschließlich aus muslimischen Personen

des öffentlichen Lebens zusammensetzt. Es ist davon auszugehen, dass in diesen sehr unterschiedlichen

Konstrukten zukünftiges Konfliktpotenzial steckt. Je mehr sich die muslimischen

Verbände mit den staatskirchlichen Regelungen auseinandersetzen werden, um so größer wird

die Wahrscheinlichkeit einer Infragestellung dieser Modelle.

29 Vgl. Eren Güvercin, „Islam-Theologie nüchtern betrachtet“ abgerufen unter: http://islam.

de/23194 [13.01.2014]

30 Summiert man die Angaben der Moscheevereine auf den eigenen Internetseiten der unterschiedlichen

muslimischen Organisationen, so erhält man diese Orientierungszahl. Allein die

Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V. (DITIB) gibt an, etwa 900 Gemeinden

im gesamten Bundesgebiet zu vertreten.

31 Carsten Claußen, Gemeinde, in: Alf Christophersen/Stefan Jordan, Lexikon Theologie. Hundert

Grundbegriffe, Stuttgart 2007, S. 117


Einleitung 25

Seit nunmehr vier Jahrzehnten haben muslimische Gemeinden eine Art Monopolstellung

in der institutionalisierten Religionsvermittlung, sodass die Einführung eines islamischen

Religionsunterrichts eine neue Konstellation im Feld der religiösen Erziehung mit sich

bringen wird. Zu den Imamen, die bisher als theologische sowie religionspädagogische

Referenzen in den Gemeinden wirkten, werden neue religiöse – männliche und weibliche –

Autoritäten und Vorbilder in der Rolle und Funktion des Religionslehrers beziehungsweise

der Religionslehrerin hinzutreten. Der bekenntnisgebundene Religionsunterricht wird die

muslimischen Kinder und Jugendlichen mit einem eigenen, den allgemeinen Bildungszielen

der Schulen kompatiblen Curriculum in islamische Grundlagen und Grundfragen einführen

und ihnen Kompetenzen vermitteln, damit sie in religiösen Fragen mündig werden.

Die muslimischen Eltern werden ebenfalls eine neue Form der religiösen Lernerfahrung

ihrer Kinder erleben, wenn das vermittelte Wissen zu Hause oder in den Gesprächen mit

den Religionslehrern kommuniziert und reflektiert wird. Ebenso werden die derzeit entwickelten

religionspädagogischen Schulmaterialien für den Religionsunterricht sowohl

für die Moscheegemeinden als auch für die Eltern eine neue Dimension der methodischen

Religionsvermittlung darstellen, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen.

Moschee versus Schule, Moschee und Schule oder Moschee gleich Schule?

Parallel zu diesen Entwicklungen kristallisieren sich Fragen der religionsdidaktischen

Realisierungen an den beiden zentralen Lernorten ‚Moschee‘ und ‚Schule‘ aus der Sicht

muslimischer Multiplikatoren heraus, die in den Gemeinden eine zentrale Rolle spielen,

da diese Funktionäre sowohl innerhalb der Gemeinden als auch im Diskurs über die Einführung

und Gestaltung des islamischen Religionsunterrichts aktiv mitbestimmen und

in der Öffentlichkeit einen Einfluss auf die Binnenentwicklungen hinsichtlich der Inhalte

und Ziele der Moscheekatechese ausüben können. Sie nehmen formelle und informelle

Machtpositionen in den Gemeinden ein. Sie fungieren auf der Ebene der Landesverbände,

in den Vorständen der lokalen Gemeinden oder zählen zum religiösen Betreuungspersonal

und haben in der Gemeindekatechese einen unmittelbaren Kontakt zu den Kindern und

Jugendlichen. Sie haben zum Teil den Aufbau wichtiger Strukturen (wie etwa Landesverbände)

und die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts an Schulen initiiert

und müssen zugleich die Erwartungen ihrer Gemeindemitglieder an diesen und an die

Politik sowie die Öffentlichkeit herantragen. Mit dem Anspruch, die muslimische Basis

nach innen und nach außen zu vertreten, werden diese Experten in Zukunft eine stärkere

Brückenfunktion zwischen diesen beiden Lernorten einnehmen und ihre inhaltliche

Ausrichtung mitbestimmen.

Allerdings sind mit dieser Rolle sowohl Chancen als auch Risiken verbunden, vor allem

in der Frage der Beziehung zwischen einer Moscheekatechese und eines Religionsunterrichts

an Schulen, also in der Betrachtung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten der

beiden Lernorte sowie in der Formulierung der Zielsetzungen für diese, denn nach wie vor

existieren keine schriftlich fixierten, wissenschaftlich-religionspädagogisch reflektierten

und formulierten Ziele in den Gemeinden über diese Differenzen; auch wurden an den

neuen Instituten und Zentren für islamisch-theologische Studien keine wissenschaftlichen


26 Einleitung

Debatten über diese Fragestellung initiiert. Die Kirchen in Deutschland besiegelten den

unterschiedlichen Charakter der beiden Lernorte in einem langen, kontroversen Prozess

in Form öffentlicher, wissenschaftlicher Diskussionen und in deren Folge auch durch Synodenbeschlüsse.

Bis dahin hatte der Religionsunterricht einen katechetischen, missionarischen

Charakter mit dem Ziel der Kirchengebundenheit und christlicher Glaubenspraxis.

Begleitet wurde dieser Prozess durch Fachleute aus den Kirchen und den theologischen

Fakultäten der Universitäten. Diese Frage der Verhältnisbestimmung wird auch in Zukunft

das Rollenverständnis der Imame und muslimischen Religionslehrer/innen sowie

die Inhalte und Ziele der jeweiligen Lernorte tangieren.

Cultural time lag – Herausforderung für die muslimischen Gemeinden

durch Säkularisierung und Individualisierung

Die Thematisierung der Verhältnisbestimmung ist insbesondere vor dem Hintergrund der

Auswirkungen der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen, wie der Säkularisierung (im

Sinne von Entkirchlichung) sowie der Individualisierung, auf die Binnenstrukturen der

muslimischen Gemeinden relevant, ebenso im Kontext einer kultur- und historisch-komparativen

Analyse ähnlicher Herausforderungen für Kirchen in der Verhältnisbestimmung

zwischen Katechese oder Gemeindepädagogik und dem schulischen Religionsunterricht

in Deutschland. In der Nachkriegszeit wurde die Erfahrung gemacht, dass der christliche

Religionsunterricht zunehmend eine gewichtigere Rolle als die religiöse Erziehung in den

Familien und Gemeinden einnahm.

Die religiöse Erziehung in den christlichen Familien verlor stetig an Bedeutung, die

Zahl der Kirchenmitglieder sowie der Teilnehmer/innen der Gemeindepädagogik beziehungsweise

Gemeindekatechese nahm ab, und somit traten seitens der Kirchen Versuche

auf, den schulischen Religionsunterricht als eine „Notlösung“ zu sehen, um die christlichen

Schüler/innen zu erreichen. Allerdings steht der Religionsunterricht selbst vor großen

Herausforderungen, weil Kinder und Jugendliche mit immer geringeren religiösen Vorbildungen

daran teilnehmen. So berichtet die Deutsche Bischofskonferenz auf der Basis

von Erfahrungsberichten der Religionslehrer/innen, dass viele Kinder und Jugendliche

kaum noch die Bedeutung zentraler christlicher Symbole kennen, und ihnen die Rolle

und Funktion der Kirchen fremd und sonntägliche Liturgien unbekannt sind. Ein Grund

hierfür wird darin gesehen, dass die Eltern diese Aufgaben einfach an die Schule und die

Gemeinde delegieren, wobei die letztere Institution ebenso von vielen Kindern und Jugendlichen

kaum frequentiert werde; 32 daher sei der Religionsunterricht heute der zentrale

Lernort im Kontext religiöser Erfahrung:

„Für die meisten ist jedoch der Religionsunterricht in der Schule der wichtigste Ort der

Begegnung mit dem christlichen Glauben. Hier können sie sich über mehrere Jahre hinweg

mit den Grundfragen des Lebens und den Antworten des christlichen Glaubens und anderer

Religionen auseinandersetzen. Der Religionsunterricht kann dabei kaum auf religiöse

32 Vgl. Die deutschen Bischöfe, Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen, Bonn

2005, S. 13 f.


Einleitung 27

Erfahrungen zurückgreifen, die die Schülerinnen und Schüler in Familie, Gemeinde oder

Jugendgruppe gemacht haben. Er steht deshalb vor der Herausforderung, den Schülerinnen

und Schülern einen Zugang zu den Formen gelebten Glaubens zu eröffnen. Denn ohne die

Begegnung mit gelebtem Glauben kann die Lebensbedeutung des gelehrten Glaubens nicht

erschlossen werden.“ 33

Zeitlich verlagert haben sich analoge Erfahrungen nach der Wiedervereinigung wiederholt,

und derzeit sehen sich Länder wie das katholische Polen mit ähnlichen Fragen konfrontiert.

Egon Spiegel nennt diesen Prozess cultural time lag und akzentuiert damit, dass sich – eben

zeitlich versetzt – ähnliche kulturelle Entwicklungen in verschiedenen Ländern unter den

gleichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wiederholen. Im Kontext dieser These ist

daher zu fragen, ob sich die gesellschaftlichen Ausdifferenzierungs- und Transformationsprozesse

zunehmend in den muslimischen Gemeinden widerspiegeln und damit auch einen

Einfluss auf den Bedeutungswandel der drei Säulen des religiösen Lernens – entsprechend

der klassischen Aufteilung Familie, Gemeinde sowie Schule – haben werden. Auf der Basis

der christlichen Erfahrungen ist also anzunehmen, dass sich die Moscheegemeinden mit

der Pluralisierung der muslimischen Gemeinschaft im Zuge der Säkularisierungs- und

Individualisierungsprozesse mittelfristig mit den gleichen Herausforderungen auseinandersetzen

müssen. Sowohl offensive Reaktionen (in Form von Reformen der Bildungskonzepte

in den Moscheen und einer Akzeptanz der Aufgabenteilung zwischen einer

Moscheekatechese und schulischem Religionsunterricht) als auch defensive Maßnahmen

(Erhalt des Status quo und Vereinnahmungsversuche des islamischen Religionsunterricht

mit katechetischer und missionarischer Orientierung) sind möglich. Allerdings tritt zu

diesen Erfahrungen der christlichen Kirchen als benachteiligender Einflussflussfaktor bei

den Muslimen, die eben ethnisch und konfessionell nicht im Herkunftskontext verankert

sind und daher nicht über die historisch-strukturell gewachsene Tradition als Mehrheitenreligion

verfügen, ihre Minderheitenrolle hinzu. Wie noch in der empirischen Studie

aufgezeigt wird, sind die spezifischen Ausgangsbedingungen hinsichtlich finanzieller und

personeller Ressourcen der muslimischen Gemeinden in der Auseinandersetzung mit den

genannten gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozessen ebenfalls zu berücksichtigen.

Aufgrund des Vereinscharakters der Gemeinden existiert oft ein großes materielles,

soziales und intellektuelles Gefälle zu den Kirchen.

Muslimische Multiplikatoren als Wegweiser für zukünftige

Gestaltungsmöglichkeiten der Moscheekatechese und

das Forschungsziel der vorliegenden Abhandlung

Insbesondere die Verbandsaktionäre, die Moscheevorstände und das religiöse Betreuungspersonal

sind zentrale Akteure in der Frage der Ausrichtung religionspädagogischer

Angebote in den Gemeinden sowie in der Definition der Rolle des zukünftigen Religionsunterrichts.

Diese Multiplikatoren erfahren unmittelbar vor Ort die Herausforderungen

durch die Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse auf das Binnenleben der

33 A. a. O., S. 14


28 Einleitung

Gemeinden, wie die Heterogenisierung der Mitglieder beziehungsweise der Moscheebesucher,

die Zu- oder Abnahme der Gottesdienstteilnehmer, die positiven und negativen

Entwicklungen in der Moscheekatechese sowie die Erwartungshaltungen an den geplanten

schulischen Religionsunterricht. Diese Experten sind in die Informations- und Kommunikationskanäle

zwischen den unterschiedlichen Ebenen der muslimischen Gemeinden

(Familie, Moschee, Landes- und Bundesverband) involviert, haben daher tiefe Einblicke

in das Binnenleben und verfügen über Informationen zu jahrzehntelangen, kumulierten

sozialen Prozessen, die in dieser Form nicht in der wissenschaftlichen Literatur oder in

internen Dokumenten existieren. Auf den Grundlagen dieser Binnenperspektive und

dem Wissensrepertoire der muslimischen Experten können die Kausalmechanismen in

den gemeindeinternen Dynamiken ermittelt werden, die einen Einfluss auf die Moscheekatechese

ausüben und aus diesen Gesamterfahrungen heraus die Erwartungshaltungen

an den schulischen Religionsunterricht forcieren; zudem können diese Multiplikatoren

Angaben über quantitative Entwicklungen wie Mitgliederzahlen oder Gemeindebesucher

machen. Des Weiteren werden diese Experten in Zukunft auf der Grundlage dieses komplexen

Handlungsgeflechts innerhalb des Gemeindelebens die Erwartungshaltungen der

muslimischen Gemeinden mittels diverser formeller und informeller Informations- und

Kommunikationskanäle an den schulischen Religionsunterricht formulieren.

Vor dem Hintergrund der skizzierten Situation ist es in der Anfangsphase der Einführung

eines flächendeckenden Islamunterrichts von religionspädagogischer Relevanz, antizipativ

die Chancen und Risiken in diesem neuen Lernort zu ermitteln. Das frühzeitige Erkennen

von Konflikten kann zur Formulierung zielgerichteter religionspädagogischer Maßnahmen

für die Moscheen und für den bekenntnisgebundenen Religionsunterricht beitragen, um

die zukünftigen Entwicklungen konstruktiver zu gestalten sowie Säkularisierungs- und

Individualisierungsprozesse seitens muslimische Gemeinden sachlicher zu verarbeiten.

Da es sich um einen reziproken Lernprozess – zwischen muslimischen Gemeinden und

bildungspolitischen sowie wissenschaftlichen Ansprechpartnern – handelt, sind zwei

Aspekte wichtig: Die muslimischen Gemeinden müssen die in übergeordnete Strukturen

eingebetteten Entwicklungen zunächst verstehen, um eine sachliche Diskussion sowie

Reformen in Gang zu setzen. Die Ansprechpartner in den Ministerien, in der Politik und

an den Schulen sowie Universitäten müssen auf der anderen Seite die gemeindeinternen

Prozesse nachvollziehen können, um diese Partner bezüglich einer islamischen Religionspädagogik

besser verstehen zu können, denn erst auf dieser Grundlage ist eine konstruktive

Kooperation gewährleistet. Daher verfolgt die vorliegende Forschungsarbeit das Ziel, in

Form von Experteninterviews soziale Transformationsprozesse sowie die pädagogischen

Herausforderungen in der religiösen Erziehung in den Gemeinden herauszuarbeiten sowie

mögliche Konflikte – auf der Basis der Erfahrungen der christlichen Gemeinden mit dem

Religionsunterricht in Deutschland und Polen – zu antizipieren und Vorschläge für eine

zeitgemäße ‚Moscheekatechese‘ zu entwickeln. Damit sollen neue Erkenntnisse für das

Feld ‚Islamische Religionspädagogik‘ empirisch gewonnen, theoretisch weiterentwickelt,

Möglichkeiten einer praktischen Umsetzung diskutiert und der Wissensstand auf diesem

Gebiet durch die Beleuchtung der gemeindeinternen Orientierungen, Einstellungen und


Einleitung 29

Erwartungen erweitert werden. Damit ist das Forschungsdesign der vorliegenden Abhandlung

erkenntnis- und handlungsorientiert zugleich. 34

Die empirische Ausrichtung zum Erreichen des definierten wissenschaftlichen Ziels ist

damit zu begründen, dass bezüglich einer Einführung des islamischen Religionsunterrichts

sowohl theoretische als auch empirische Defizite existieren. Die Etablierung einer

islamischen Religionspädagogik als wissenschaftliche Disziplin hat an deutschen Universitäten

mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass in den islamisch geprägten Ländern eine

ähnliche akademische Tradition und eine lange Disziplingeschichte wie in der christlichen

Religionspädagogik nicht existiert. Insofern muss dieses Fach in Deutschland durch eine

systematische Grundlagenforschung und im konstruktiven Austausch mit der christlichen

Religionspädagogik als einer Subdisziplin der Praktischen Theologie ausgearbeitet und

entwickelt werden. Hierzu zählen auch die Subdisziplinen ‚Katechese‘ beziehungsweise

‚Gemeindepädagogik‘, die bisher in den gesamten wissenschaftlichen Debatten seit den

Empfehlungen des Wissenschaftsrats im Jahr 2010 überhaupt nicht berücksichtigt wurden.

Keines der Institute oder Zentren für ‚Islamische Theologie‘ hat eine Professur oder einen

Lehrstuhl für praktische Theologie (insbesondere Moscheekatechese) eingerichtet. Trotz der

institutionellen Separation der Moscheekatechese und des schulischen Religionsunterrichts

können diese beiden Lernorte nicht unabhängig voneinander in den Fokus der Forschung

genommen werden, weil die Entwicklungen und Erfahrungen in der religiösen Erziehung

in den Gemeinden einen Einfluss auf den islamischen Religionsunterricht haben werden

– und umgekehrt. Diese Relevanz hat auch der Lernort ‚Familie‘. Die entsprechenden engen

Verflechtungen und Interdependenzen wurden in den bisherigen wissenschaftlichen

Diskursen zur islamischen Religionspädagogik weitgehend ausgeblendet.

Des Weiteren liegt die Herausforderung in der besonderen Minderheitensituation muslimischer

Kinder und Jugendlicher, die mit ihrem Migrationshintergrund in einer säkularen

und zugleich christlich geprägten Gesellschaft leben und in der Auseinandersetzung

mit diesen Rahmenbedingungen ihre religiöse Identität entwickeln und sich wiederum

in dieser gesellschaftlich verorten müssen. Da zudem eine wechselseitige Abhängigkeit

zwischen Theoriebildung und empirischen Erkenntnissen besteht, ist in diesem Kontext

auf die mangelnden quantitativen und qualitativen Daten in allen relevanten Feldern einer

islamischen Religionspädagogik hinzuweisen; sie reichen von fehlenden Kenntnissen

hinsichtlich der religiösen Bildungsprozesse in muslimischen Familien bis hin zu den

Erwartungen der Schüler/innen an den islamischen Religionsunterricht.

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Fragestellung und den Forschungslücken hat

die vorliegende Arbeit das Ziel, anhand einer mechanismenorientierten Erklärungsstrategie

und anhand von Experteninterviews sowie Dokumentenanalysen die Auswirkungen

der Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse auf die muslimischen Gemeinden

Niedersachsens mit besonderer Berücksichtigung der Moscheekatechese zu untersuchen.

Die Grundstruktur der Arbeit ist dabei in drei Hauptteile gegliedert. Im ersten, dem theoretischen

Teil (Teil A) werden zunächst die Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse

erörtert und Kenntnisse hinsichtlich der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen

34 Vgl. Armin Töpfer, Erfolgreich forschen. Ein Leitfaden für Bachelor-Master-Studierende und

Doktoranden, Wiesbaden 2012, S. 8


30 Einleitung

für die muslimischen Kinder und Jugendlichen, der Rahmenbedingungen des religiösen

Lernens (Familie, Moscheen usw.) und der Identitätsbildung sowie des Diskurses über die

Einführung eines islamischen Religionsunterrichts – auf der Grundlage der christlichen

Erfahrungen mit dem Religionsunterricht – zusammengetragen und gezielt diskutiert. Die

theoretische Erarbeitung erstreckt sich über verschiedene Analysen mit unterschiedlichen

Aggregationsgraden, die dann in Teil B der Abhandlung, in der empirischen Untersuchung,

aufgegriffen und überprüft werden, um dann in Teil C die zentralen Forschungsfragen

zu beantworten, weitere Perspektiven aufzuzeigen und Handlungsempfehlungen auf der

Basis der empirischen Ergebnisse zu formulieren. Insgesamt orientiert sich die vorliegende

Abhandlung am Leitfaden von Armin Töpfer, und zwar an den „6 Ebenen des wissenschaftlichen

Erkenntnisprozesses“, die sich aus Definition, Klassifikation, Deskription, Theorie

und Technologie (im Sinne von praktischer Umsetzung der Ergebnisse) sowie Philosophie

(im Sinne von normativ-wertenden Urteilen auf der Grundlage der Forschungsergebnisse),

zusammensetzen. 35

Aufbau und Struktur der Forschungsarbeit

Im theoretischen Teil (Teil A) werden zunächst die Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse

in Deutschland analysiert und deren Einfluss auf die zentralen Lernorte

‚Familie‘, ‚Kirche‘ und ‚Schule‘ im christlichen Kontext besprochen. Dabei werden grundlegende

Begriffe, wie Säkularisierung, Individualisierung und cultural time lag, definiert

und zentrale Thesen diskutiert. Insbesondere werden für diese Untersuchung die Ansätze

zur Säkularisierung und Individualisierung der Religionssoziologen Detlef Pollack und

Gert Pickel aufgegriffen, um Ursache-Wirkungsmechanismen herauszuarbeiten. Die historischen

Erfahrungen bei den Kirchen im Zusammenhang mit diesen Prozessen reichen

dabei von Vereinnahmungsversuchen des Religionsunterrichts im Dienste einer Katechese

(Stichwort: Kirche in der Schule) bis zur weitgehenden Akzeptanz der weitgehenden Autonomie

dieses Fachs. Nach dem Ansatz des cultural time lag von Egon Spiegel wird auf

ähnliche Entwicklungen, die seit den 1990er-Jahren zeitlich verlagert in den Gebieten der

ehemaligen DDR stattfinden sowie auf parallele Entwicklungen im katholischen Polen

der Gegenwart hingewiesen. Der Vergleich dieser zeitversetzten Entwicklungen lässt

vorab die These zu, dass die Moscheegemeinden vor ähnlichen Herausforderungen stehen

werden. Gerade die muslimischen Multiplikatoren, die für ihre Verbände und Vereine in

den Diskurs zur Einführung eines islamischen Religionsunterrichts involviert sind, haben

nicht nur die Möglichkeit eines Vergleichs zwischen den Anforderungen eines schulischen

Religionsunterrichts sowie einer islamischen Katechese, sondern stehen auch im Austausch

mit Medien, Schulen, Lehrern sowie mit christlichen Fachkräften (Priestern/Pastoren).

Insofern fungieren diese muslimischen Eliten als Schnittstellen zwischen den Gemeinden

und gesellschaftlichen Teilsystemen sowie Akteuren.

Anschließend wird den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nachgegangen, in

denen die religiöse Erziehung und religiöse Lern- und Identitätsbildungsprozesse der

35 Vgl. Töpfer, Erfolgreich forschen, S. 69 ff.


Einleitung 31

Zielgruppe der Moscheekatechese und des islamischen Religionsunterrichts stattfinden:

die muslimischen Kinder und Jugendlichen. Dabei werden zentrale Sozialisationsfelder,

wie Familie, Vorschule und Schule sowie das soziokulturelle Umfeld in Deutschland, beleuchtet,

um alle relevanten Informationen zu den oben genannten Rahmenbedingungen

zusammenzutragen.

Dann findet eine Auseinandersetzung mit dem Lernort ‚Gemeinde‘, speziell mit der

Moscheekatechese, statt. Zunächst werden die historischen und islamisch-theologischen

Grundlagen einer außerfamiliären religiösen Erziehung dargestellt, um auf die Kontinuität

gewisser Inhalte und Ziele der Moscheekatechese hinzuweisen. Mit dem Beginn der

Verkündung des Islam im 7. Jahrhundert sind bereits historische Informationen über die

religiöse Erziehung in Privaträumen in Mekka und später in der ersten Moschee der Muslime

in Medina dokumentiert. Diese Lerntradition wurde im Laufe der islamischen Historie

beibehalten, ausgeweitet und institutionalisiert. Nach der geschichtlichen Rekonstruktion

dieser Lerntradition wird auf die Gegenwart Bezug genommen und auf den aktuellen Forschungsstand

hinsichtlich der Inhalte, Ziele und Materialien einer Moscheekatechese in

Deutschland sowie auf die Rolle und Funktion von Imamen eingegangen. Die Analyse und

Bewertung dieser Erkenntnisse werden auf die leitenden Forschungsfragen hin pointiert

diskutiert und für die empirische Untersuchung – die sowohl eine theoretische als auch

konzeptionell-methodische Erweiterung darstellen soll – ertragreich gemacht.

Schließlich wird darauffolgend der Diskurs der letzten Jahre zur Einführung eines

islamischen Religionsunterrichts sowie die Etablierung des Fachs ‚Islamische Religionspädagogik‘

erörtert. In diesen Ausführungen werden zunächst die Entstehung und

Entwicklung von Institutionen höherer islamischer Bildung nachgezeichnet, danach wird

auf die gegenwärtige akademische Situation eingegangen. Das Ziel ist es aufzuzeigen,

dass eine ähnliche akademische Disziplin ‚Islamische Religionspädagogik‘ erst viel später

und nur sehr unzureichend an Universitäten etabliert worden ist. Nach wie vor fehlt es

an wichtigen Fragen der Wissenschaftstheorie des Fachs und seiner Methodologie, an

Diskussionen über Definitionen und Theorien und Ansätzen islamisch-religiöser Bildung

sowie an fachdidaktischen Fragestellungen, die mit der christlichen Religionspädagogik

vergleichbar sind. Ebenso relevant ist die Frage der Entwicklung religionspädagogischer

Bezugswissenschaften an den islamischen Fakultäten, da die Religionspädagogik eine

Verbundwissenschaft ist und ihre theoretischen Grundlagen in der Auseinandersetzungen

mit den sowohl theoretischen als auch empirischen Impulsen aus den Sozialwissenschaften

und der Theologie entwickelt. Schließlich gilt es auch, der Frage eines innerislamischen,

religionspädagogischen Austauschs nachzugehen, also ob und inwiefern akademische

Vernetzungen und Diskurse über die jeweiligen muslimischen Länder hinweg bestehen.

In einem kurzen Zwischenfazit werden die zentralen Erkenntnisse aus den theoretischen

Ausführungen zusammengefasst; diese fließen als theoretische Vorannahmen in das

Forschungsdesign in Teil B – in den empirischen Teil der Abhandlung – ein, in welchem

die Konzeptualisierung der Forschung und deren Operationalisierung offengelegt werden.

Die gesamte Analyse wird dabei von einem hypothetischen Modell – entsprechend den

Ausführungen von Jochen Gläser und Grit Lauder zu Experteninterviews und qualitativen


32 Einleitung

Inhaltsanalysen 36 – angeleitet, welches auf der Grundlage der theoretischen Vorannahmen

konzipiert wurde. Alle zentralen Handlungsfelder und -ebenen werden als Beziehungsgeflecht

visualisiert; dabei wird zwischen abhängigen, unabhängigen sowie intervenierenden

Variablen unterschieden. Die sozialen Mechanismen, die zwischen diesen Variablen erst

den Zusammenhang herstellen, bilden zunächst eine Art „Black Box“ und sind noch in

der empirischen Untersuchung zu beleuchten. Auf dieser hypothetischen Basis werden die

forschungsleitenden Fragen formuliert und die Methodik der gesamten Untersuchung beschrieben.

Wie oben bereits erwähnt, wurde für diese Studie eine mechanismenorientierte

Erklärungsstrategie gewählt, weil eine relationsorientierte Erklärungsstrategie nicht dem

Forschungsziel eines Ursache-Wirkungsmechanismus zur Ermittlung der Entwicklung

der Moscheekatechese unter den vorausgesetzten komplexen gesellschaftlichen und lokalen

Rahmenbedingungen für die Gemeinden sowie der Erwartungshaltung bezüglich

der Inhalte und Ziele des islamischen Religionsunterrichts gerecht werden kann. Daran

anknüpfend werden die Methodik der Experteninterviews sowie die qualitative Inhaltsanalyse

als Textanalysemethode des extrahierten Datenmaterials vorgestellt, die sich im

Wesentlichen an den Ausführungen von Gläser und Laudel orientieren. Ferner folgt die

Beschreibung der untersuchten Landesverbände – Türkisch-Islamische Union der Anstalt

für Religion e. V. (DITIB) und die Schura – sowie Strategien zum Zugang ins empirische

Feld, denn für eine empirische Untersuchung ist dieser Zugang eine der größten Herausforderungen,

um überhaupt die Zustimmung der befragten Personen oder Organisationen

zu erreichen. Die vorliegende Studie verspricht also insgesamt neue Erkenntnisse, weil sie

jene muslimischen Experten in den Moscheegemeinden zu Wort kommen lässt, die in

den letzten Jahren aktiv im Diskursfeld zum islamischen Religionsunterricht sowie an der

Etablierung von Hochschulstudiengängen für ‚Islamische Theologie‘ mitwirkten. Neben

der Rekonstruktion der sozialen Prozesse in den Gemeinden hinsichtlich der Entstehung

der Erwartungshaltung an den islamischen Religionsunterricht korrespondiert diese empirische

Arbeit zudem eng mit den aktuellen Entwicklungen und liefert damit wichtige

Einblicke in zukünftige Chancen und Konflikte.

Die Auswertung und Interpretation der Interviews in den Moscheegemeinden bildet das

Kernstück dieser Untersuchung. Dabei werden zum ersten Mal für den deutschen Kontext

auf der Grundlage des empirischen Materials die in Moscheegemeinden aktiven Experten

charakterisiert, die konkreten Auswirkungen der Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse

sowie der öffentlichen Islamdebatten auf das Binnenleben der Moscheegemeinden

rekonstruiert, die Rahmenbedingungen, unter denen die Landesverbände und

lokalen Moscheegemeinden tätig sind, erklärt sowie die zentralen Herausforderungen in

Form eines Problemhierarchiekatasters aufgelistet. Des Weiteren werden für den deutschen

Kontext erstmalig Informationen zur religiösen Erziehung in muslimischen Familien

erhoben. Auf der Basis der jahrelang gesammelten Informationen über den Lernstand

bei der Anmeldung der Kinder für die Moscheekatechese sowie den Gesprächen mit den

muslimischen Eltern kategorisieren die interviewten Experten die unterschiedlichen Familientypen

und geben systematische Informationen über die Inhalte und Methoden der

36 Vgl. Jochen Gläser/Grit Laudel, Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalysen als Instrumente

rekonstruierender Untersuchungen, Wiesbaden 2009


Einleitung 33

religiösen Erziehung in muslimischen Familien. Diese gesamte Vorarbeit diente dazu, die

Prozesse in der Moscheekatechese sowie die religionspädagogischen Herausforderungen

für die Gemeinden besser zu verstehen, die in ihrer Gesamtheit die Erwartungshaltungen

an die Inhalte und Ziele des islamischen Religionsunterricht wesentlich mitbestimmen

(werden). In den Befragungen geht es vor allem darum, den bisherigen (geringen) empirischen

Kenntnisstand zum Selbstverständnis, der Qualifikation und der Aufgaben

des religiösen Betreuungspersonals, zu den Materialien, zur Frage der Lehrpläne, zum

formellen Prozess der Anmeldungen, zu den positiven und negativen Erfahrungen in der

Moscheekatechese sowie zu den Kooperationen mit dem Elternhaus zu ergänzen und zu

erweitern. Abschließend werden anhand der skizzierten Konstellation in den Gemeinden

die Erwartungshaltungen zum islamischen Religionsunterricht abgebildet, die aufgrund der

Transformationsprozesse in den Gemeinden entstehen. Zwar wirken die Repräsentanten

der Landesverbände DITIB und Schura in unterschiedlichen Gremien (etwa bei der Lehrplanentwicklung)

mit, allerdings ist hier die Frage zu stellen, inwieweit die interne Kommunikation,

also zwischen Landesverbandsvertretern, den Moscheevorständen sowie den

Gemeindemitgliedern, funktioniert. Werden die Wünsche oder Erwartungen der Gemeinden

ausreichend erfasst und berücksichtigt? Wie wirken sich diese Erwartungshaltungen auf

die zukünftige Gestaltung des Religionsunterrichts aus? Und schließlich: Inwieweit sind

die Partizipanten der genannten Gremien religionspädagogisch qualifiziert? Diese wichtige

Zukunftsfrage – das Verhältnis von Moscheekatechese und Religionsunterricht – wird in

den Gemeinden ausgetragen werden und sich als Forderung der muslimischen Basis an die

zuständigen Gremien für den islamischen Religionsunterricht widerspiegeln. Wie zudem

die historische Aufarbeitung der Erfahrungen von den 1970er- bis zu den 1990er-Jahren

mit dem Religionsunterricht im Rahmen des muttersprachlichen Türkischunterrichts

zeigen wird, spielen diese negativen Erfahrungen hinsichtlich der Verhältnisbestimmung

‚Moschee und Schule‘ eine wichtige Rolle. Analogien hierzu existieren in den neuen Bundesländern.

Aufgrund der staatlichen Eingriffe in religiöse Angelegenheiten seitens der

ehemaligen DDR-Regierung, hatten christliche Eltern und der Kirchen unmittelbar bei

der Einführung eines ordentlichen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen nach der

Wiedervereinigung zunächst große Skepsis.

In Teil C der Arbeit werden schließlich die zentralen Ergebnisse der Studie in Form von

Thesen zusammengefasst sowie das konstruierte hypothetische Modell auf der Basis dieser

Erkenntnisse expliziert und darauf folgend zentrale Thesen als weitere Forschungsperspektiven

ausgearbeitet. Da jede gute wissenschaftliche Forschung auch einen praktischen Nutzen

für die Gesellschaft haben sollte, werden darauf aufbauend praxisbezogene Empfehlungen

für die Moscheekatechese sowie für den islamischen Religionsunterricht artikuliert. Die

Forschungsarbeit begnügt sich daher nicht ausschließlich mit den gewonnenen Erkenntnissen,

sondern es werden Maßnahmen zur Gestaltung des zentralen Handlungsfeldes

‚Moscheekatechese‘ formuliert. Dabei geht es vor allem um eine zukünftige Rollendefinition

der Lernorte ‚Moschee‘ und ‚Schule‘ zur Überwindung möglicher Konflikte sowie um

Impulse für eine zeitgemäße Moscheekatechese, die weitgehend alle Rahmenbedingungen

der (Bildungs-)Sozialisation junger Menschen berücksichtigt.

Die muslimischen Gemeinden betreten auf dem Weg zur Anerkennung als Religionsgemeinschaft

nach Art. 7.3 Neuland. Zwar haben sie diesen Rechtsstatus noch nicht erreicht,


34 Einleitung

jedoch genießen sie, wie eben in Niedersachsen, die gleichen Rechte in der Mitsprache bei

Lehrplänen für den islamischen Religionsunterricht und bei der Einstellung von Religionslehrern

oder bei der Lehrerlaubnis für Hochschullehrer/innen sowie in der Akzeptanz von

Unterrichtsmaterialien. 37 Dementsprechend liegen sie zeitlich gesehen – was die Erfahrungen

der westdeutschen Kirchen betrifft – zurück; allerdings bieten die historischen Prozesse

im christlichen Kontext hinsichtlich der Verhältnisbestimmung von Kirche und Schule

ein großes Wissensrepertoire; auch liefern die Erfahrungen ab den 1990er-Jahren in den

neuen Bundesländern sowie die gegenwärtigen, zeitlich parallelen Entwicklungen in Polen

wichtige Vergleichsdaten. Je früher sich daher die Moscheegemeinden und ihre Vertreter

auf diese Realitäten einlassen, desto früher können ideologische, kräftezehrende Debatten

und Einflussnahmen auf die Schule unterlassen und der Fokus auf die Entwicklung einer

bedürfnisorientierten Moscheekatechese sowie auf den islamischen Religionsunterricht

gerichtet werden. Hierbei handelt es sich um einen wechselseitigen Lernprozess zwischen

staatlichen (Bildungs-)Institutionen und Moscheegemeinden. Auf der Basis fundierter

theoretischer und empirischer Daten sowie praxisorientierter Maßnahmen soll diese Abhandlung

grundsätzlich einen entscheidenden Beitrag zu frühzeitigen Erkenntnissen und

zielgerichtetem Handeln in der islamischen Religionspädagogik leisten sowie Anregungen

für eine praktische Theologie an den neuen Islam-Instituten geben.

37 Die muslimischen Staatsverträge in den Bundesländern Hamburg und Bremen sowie die

begonnenen Gespräche im ersten Flächenland Niedersachsen versprechen weitere Schritte

in Richtung der Anerkennung als Religionsgemeinschaften, auch wenn viele Regelungen im

Vertrag einen mehr symbolischen Charakter aufweisen.


A

Theoretischer Teil


Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse

in Deutschland und das Phänomen des cultural

time lag

1

1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag

Die (religions-)soziologischen und religionspädagogischen Debatten der Nachkriegszeit

in Deutschland 38 zur Bedeutung der Religion, zur Religiosität beziehungsweise den religiösen

Orientierungen in der Bevölkerung sowie zu den Entwicklungen der christlichen

Kirchen wurden im übergeordneten, thematischen Kontext von Säkularisierungs- und

Individualisierungsthesen geführt. 39 Die Nachkriegszeit war zunächst durch eine eher

ambivalente, paradoxe Situation gekennzeichnet, da sich die Menschen aufgrund der materiellen

Notlage einerseits stärker an Milieus wie Familie, Kirche oder die eigene soziale

Gruppe binden mussten, andererseits der Zweite Weltkrieg traditionelle Familienformen

insofern relativiert hatte, dass junge Soldaten von ihren eigenen Familien sozial entfremdet

waren und sich die Frauen während des Krieges – als Töchter oder Ehefrauen – ohne

die Präsenz eines männlichen Familienoberhauptes den materiellen Herausforderungen

des Alltags stellen und sich einen gewissen autonomen Lebensstil aneignen mussten. Vor

diesem Hintergrund war es mit Schwierigkeiten verbunden, sich in der Nachkriegszeit

38 Zwar erfreute sich die Thematik unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg an Beliebtheit in

Deutschland, allerdings fallen die (religions-)soziologischen Analysen zu dieser Zeit eher

dürftig aus, weil die akademische Disziplin noch nicht stark entwickelt war. Erst im Laufe der

Jahrzehnte sollte die (empirische) Religionssoziologie eine größere Rolle in dieser Debatte spielen

(vgl. Hartmann Tyrell, Säkularisierung – eine Skizze deutscher Debatten der Nachkriegszeit, in:

Michael Hainz et al. (Hrsg.), Zwischen Säkularisierung und religiöser Vitalisierung. Religiosität

in Deutschland und Polen im Vergleich, Wiesbaden 2014, S. 51 ff.)

39 Neben der Säkularisierungs- und der Individualisierungsthese wird als dritter Ansatz das

Marktmodell zur Erfassung der Entwicklung von (organisierter) Religion und Religiosität in

der Religionssoziologie diskutiert. Da die vorliegende Studie primär die direkten Folgen der

gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen für die Binnenstrukturen der muslimischen Gemeinden,

das heißt die unmittelbar im Binnenleben wahrgenommenen Faktoren, wie Mitgliederverluste,

Pluralisierung der Gemeindebesucher sowie in deren Folge der „Clash“ mit den traditionellen

Norm- und Wertevorstellungen der Moscheen, im Fokus hat, wird das Marktmodell in der

Theorie und Empirie nicht gesondert berücksichtigt. Lediglich bei den Aussagen der Experten

aus den Gemeinden zu den salafistischen Bewegungen sowie den „Brain-Drain“-Prozessen wird

auf das Marktmodell hingewiesen. Hierzu bedarf es aber in der Zukunft separater Studien, um

die „Bedrohung“ durch konkurrierende, vitalere religiöse Strömungen zu erfassen.

R. Ceylan, Cultural Time Lag, DOI 10.1007/978-3-658-06050-3_2,

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014


38 A Theoretischer Teil

wieder in herkömmliche Familienstrukturen als Ehefrau oder als „gehorsamer“ Sohn

einzufügen. Der Wertewandel im Kontext der Säkularisierung sollte sich dann ab den

1960er-Jahren bis in die 1980er-Jahre intensivieren und zentrale Werte wie Religiosität

oder Religion einer Transformation unterwerfen. 40 Insbesondere der „Rückgang kirchlich

verfasster Religion“ ist seit den 1950er-Jahren empirisch sehr gut belegt und führte

zu tiefgreifenden Veränderungen im Gesamtkontext des Wertewandels in der deutschen

Gesellschaft, die bis heute eines der zentralen Themen der Religionssoziologie darstellen. 41

Den Tenor dieser wissenschaftlichen Diskurse bildet bis heute die Frage, welche Auswirkungen

Säkularisierungsprozesse auf individuelle und kollektive Religiosität, religiöse

Orientierungen und Lebensführungen haben. Je nach Definition und theoretischem Ansatz

werden unterschiedliche und konträre Positionen vertreten. Gegenwärtig werden diese

Diskussionen – zusammen mit dem Phänomen von gesellschaftlicher Heterogenisierung

und Pluralisierung – weiterhin unter den Themenblöcken „Verschwinden von Religion“,

„Rückkehr von Religion“ und „Transformation von Religiosität“ geführt. 42 Diese Debatten

um den Säkularisierungsbegriff sind auf die 1920er-Jahre zuzuführen und waren je nach

politischem Klima unterschiedlichen Deutungen ausgesetzt. Ab den 1960er-Jahren sollte

der religionssoziologische Diskurs über die Begriffsbestimmung wieder aufgegriffen, die

Frage „Verschwinden von Religion?“ oder „Bedeutungswandel von Religion?“ fortgeführt

und die Individualisierungsthese als weitere Erklärung eingeführt werden. 43 Im Hintergrund

dieser Debatten steht die eigentliche Frage, ob die Religion einem Spannungsverhältnis

zur Moderne ausgesetzt ist, dem gegenüber sie sich erfolgreich oder weniger erfolgreich

anpassen, positionieren und somit arrangieren kann.

Empirisch werden diese Theorien durch qualitative oder quantitative Messungen von

modernen Lebensstilen, der individuellen Angaben zur Religiosität sowie der Bedeutung

traditioneller und neuer, miteinander um Mitglieder konkurrierender Religionsgemeinschaften

unterstützt. Im Folgenden werden vor diesem Hintergrund die drei zentralen Begriffe

‚Säkularisierung‘, ‚Individualisierung‘ und ‚cultural time lag‘ definiert und die zentralen

Aussagen dieser Ansätze im Kontext der Relevanz für die Kirchen und Moscheen herausgearbeitet.

Für Töpfer zählt die Begriffserklärung in diesem Zusammenhang zu der ersten

Ebene im vorwissenschaftlichen Bereich 44 einer Forschungsarbeit mit folgender Funktion:

„Die Definition hat eine eindeutig abgegrenzte Begriffsbestimmung zum Gegenstand, die

präzise und überschneidungsfrei einem Wort bestimmte Merkmale zuordnet. Die Merkmale

40 Vgl. Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas: Von 1945 bis zur Gegenwart, München 2007,

S. 124 ff.

41 Vgl. Karl Gabriel, Säkularisierung und Religiosität im 20. Jahrhundert, in: Bernhard Bueb et

al., Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008, S. 97 ff.

42 Vgl. Klaus Hock, Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 2008, S. 105

43 Vgl. Katja Guske, Zwischen Bibel und Grundgesetz. Die Religionspolitik der Evangelikalen in

Deutschland, Wiesbaden 2014, S. 17 ff.

44 Zum vorwissenschaftlichen Bereich zählt Töpfer – neben der Definition – die Klassifikation

und die Deskription im Sinne von Konzeptualisierung und Operationalisierung.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 39

können als Unterbereiche der Definition verschiedene Ausprägungen aufweisen, und somit

bilden sie die zulässigen Dimensionen des definierten Begriffs.“ 45

Wie noch später dargelegt werden wird, sind bei Definitionen im Kontext empirischer

Untersuchungen ihre Operationalisierungen von hoher Relevanz; daher werden die Begriffe

als mehrdimensionales Konstrukt verstanden, die zudem konkrete Indikatoren für ihre

Messbarkeit aufweisen müssen. Gläser und Laudel zeigen, dass die mechanismenorientierte

Erklärungsstrategie im Gegensatz zur relationsorientierten Erklärungsstrategie, welche mit

eindimensionalen, quantifizierbaren Variablen arbeitet, von der Komplexität theoretischer

Begriffe ausgeht und somit von reduktionistischen Konstruktionen absieht. 46

Die folgende Diskussion wird daher pointiert und entsprechend den forschungsrelevanten

Fragen geführt und nicht in Form einer Gesamtdarstellung wie sie bereits in

zahlreichen deutsch- und englischsprachigen Grundlagen- und Einführungsbüchern für

Religionssoziologie zu lesen ist. Die Studie interessiert sich primär für die Situation der

Moscheekatechese sowie die daraus resultierenden Erwartungshaltungen an den islamischen

Religionsunterricht. Dieses wechselseitige Verhältnis wird bestimmt von der Bedeutung

der Moscheegemeinden für die Muslime in Deutschland, der Resonanz der Moscheedienstleistungen,

vom Lernerfolg der Kinder und Jugendlichen in der Moscheekatechese

sowie von den Auswirkungen der Pluralisierung der Lebensstile der Gemeindemitglieder

und Gemeindebesucher auf die Binnenstrukturen. Diese Entwicklungen führen – je nach

positiver oder negativer Wahrnehmung der Gemeinden – zu unterschiedlichen Reaktionen

nach innen und nach außen. Sie können zu Funktionalisierungen der Moscheekatechese

sowie des islamischen Religionsunterrichts an Schulen führen, wenn der Prozess der Säkularisierung

und Individualisierung die Binnenstrukturen der Gemeinden zu „bedrohen“

scheint und die Gemeindevorstände entsprechend reagieren müssen. Das heißt also, dass

die Fragen auf der Organisationsebene von Religion, konkret nach den Entwicklungen

der Gemeindemitgliederzahlen, der Resonanz bei Gottesdiensten und der Wahrnehmung

der Praxis der offiziellen Glaubenslehre seitens der Gemeindebesucher (aus der Sicht der

Moscheen), sowie auf der individuellen Ebene nach der Heterogenisierung der Lebensstile

zu stellen sind, um Widersprüche zwischen der offiziellen Glaubenslehre und -praxis herauszuarbeiten,

die als Motor für entsprechende Denk- und Handlungsmuster fungieren

können. Vor diesem Hintergrund werden später für die Operationalisierung nur jene

Thesen herausgearbeitet, die für die Binnenperspektive relevant sind; daher sind auch

eher integrative Ansätze der beiden Erklärungsmodelle Säkularisierung und Individualisierung

von Bedeutung. Wegen dieser Binnenperspektive ist außerdem der substanzielle

Religionsbegriff von größerer Relevanz, da sich die Orientierungsgröße und der Maßstab

für die Bewertung der gegenwärtigen Entwicklungen des Gemeindelebens oder der Glaubenspraxis

an den von den Gemeinden definierten Glaubensgrundlagen ausrichten. Dies

gilt auch für die Bewertung der Pluralisierung und Heterogenisierung der Lebensstile

aus der Sicht der Gemeinden. Die Besucher selbst können ein funktionales Religionsverständnis

zutage fördern, welches aber nur indirekt ermittelt werden kann und auch

45 Töpfer, Erfolgreich forschen, S. 74

46 Vgl. Gläser/Laudel, Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse, S. 79


40 A Theoretischer Teil

nicht das primäre Forschungsinteresse darstellt. Diese Menschen mit Gemeindebindung

müssten hierfür im Rahmen einer weiteren Studie persönlich befragt werden. Allerdings

verspricht die empirische Studie auch zahlreiche Impulse für diese Thematik zu liefern, die

im Schlussteil in Form von zentralen Thesen formuliert werden und für weitere relationsund

mechanismenorientierte Forschungsstrategien als Forschungsfrage dienen können.

1.1 Binäre Logik oder Synthese?

Säkularisierungs- versus Individualisierungsthesen

und das Phänomen des cultural time lag

1.1 Binäre Logik oder Synthese?

Der Terminus ‚Säkularisierung‘ zählt wahrscheinlich zu einem der ideologieaufgeladensten,

polarisierendsten Begriffe der letzten 200 Jahre und ruft sowohl bei nicht-religiösen als auch

religiösen Menschen oder Menschengruppen unterschiedliche inhaltliche Assoziationen

hervor. Aus historischer Perspektive ist diese Emotionalisierung dadurch zu erklären, dass

die Funktion der Religionen als individuelle sowie kollektive, Deutungssysteme – aus der

Sicht der organisierten Religion – zunehmend an Bedeutung verliert. Die Religion hat den

Menschen seit Jahrtausenden als weltumspannendes Sinnsystem zur Verarbeitung und

Bewertung existenzieller Erfahrungen von Geburt, Krankheit, Altern und Tod gedient:

„Bisher wurde in der ganzen langen Geschichte der Menschheit kein Volk oder Stamm gefunden

ohne irgendwelche Merkmale von Religion. Schon dem Neandertaler vor 100.000 Jahren

werden Vorstellungen eines jenseitigen Lebens, erkennbar in seiner Grabesausstattung, schon

dem Heidelberger Menschen vor 150.000 Jahren werden Erstlingsopfer zugeschrieben. Immer

hat es Religion gegeben. Religion ist sowohl historisch wie geografisch allgegenwärtig.“ 47

Alle Religionen hatten und haben – von den Religionen der Urgeschichte bis zu der Gegenwart

– je nach ihrem Glauben an Gottheiten, entsprechend den Lehren ihrer mündlichen

und schriftlichen Überlieferungen, ihren Jenseits- und Heilvorstellungen, ihren Grabeskulten/Bestattungsritualen

und anderem mehr 48 – Deutungsangebote für das Individuum

und vor allem für das Kollektiv geliefert. Diese knüpfen unmittelbar an die im Alltag

erlebten Erfahrungen der Menschen an, wobei die Begegnung mit der Transzendenz

sowie der „letzte Seinsgrund“ ein zentrales Merkmal sind. 49 Diese Sinngebung wird zum

Teil in Schrift- oder Offenbarungsreligionen, wie beispielsweise beim Islam im folgenden

Korantext 50 (Verse 1-12) sehr explizit und komprimiert formuliert:

47 Hans Küng, Freud und die Zukunft der Religion, München 1987, S. 68

48 Vgl. Johann Figl (Hrsg.), Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentrale Themen,

Innsbruck 2003

49 Vgl. Michael Weinrich, Religion und Religionskritik: Ein Arbeitsbuch, Göttingen 2011, S. 298 f.

50 Alle in dieser Abhandlung zitierten Koranverse sind entnommen aus: Muhammad Asad, Die

Botschaft des Koran, Düsseldorf 2009


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 41

„GEHEILIGT sei Er, in dessen Hand alle Herrschaft liegt, da Er die Macht hat, alles zu

wollen: Er, der den Tod erschaffen hat wie auch das Leben, so daß Er euch einer Prüfung

unterziehen möge (und also zeige), welcher von euch am besten im Verhalten ist, und (euch

erkennen lasse, daß) Er allein allmächtig, wahrhaft vergebend ist. (Geheiligt sei) Er, der die

sieben Himmel in voller Harmonie miteinander erschaffen hat: keinen Fehler wirst du in

der Schöpfung des Allergnädigsten sehen. Und wende deinen Blick noch einmal (darauf):

kannst du irgendeinen Makel sehen? Ja, wende deinen Blick wieder (darauf) und noch einmal:

(und jedesmal) wird dein Blick auf dich zurückfallen, geblendet und wahrhaft geschlagen …

Und, fürwahr, Wir haben den der Erden nächsten Himmel mit Lichtern geschmückt, und

haben sie zum Gegenstand vergeblicher Vermutungen für die Üblen (unter den Menschen)

gemacht: und für sie haben Wir Leiden durch eine lodernde Flamme bereitet – denn Leiden

in der Hölle erwartet alle, die (also) darauf aus sind, ihren Erhalter zu lästern: und was für ein

schlimmes Ende einer Reise! Wenn sie in diese (Hölle) hineingeworfen werden, werden sie

ihr Atemholen hören, indes sie aufkocht, 8 fast berstend vor Wut; (und) jedesmal, wenn eine

Schar (solcher Sünder) in sie hineingeworfen wird, werden ihre Wächter sie fragen: ‚Ist kein

Warner jemals zu euch gekommen?‘ Sie werden erwidern: ‚Ja doch ein Warner ist fürwahr

zu uns gekommen, aber wir ziehen ihn der Lüge und sagten: ‚Niemals hat Gott irgend etwas

(durch Offenbarung) herabgesandt! Ihr (selbsternannten Warner) sei nur in einer großen

Täuschung verloren!.‘ Und sie werden fortfahren: Hätten wir nur (auf jene Warnungen)

gehört oder (wenigstens) unseren eigenen Verstand gebraucht, wären wir (nun) nicht unter

jenen, die für die lodernde Flamme bestimmt sind.‘ […] (Dagegen) siehe, jenen, die Ehrfurcht

vor ihrem Erhalter haben, obwohl Er jenseits der Reichweite ihrer Wahrnehmung ist, steht

Vergebung bevor und eine große Belohnung.“ 51

Im zitierten Vers werden kohärent und zugleich vereinfacht die zentralen Glaubenselemente

des abrahamitischen Religionssystems ‚Islam‘ artikuliert: Die Welt ist von einem Schöpfergott

erschaffen und nicht die zufällige Ansammlung von Materie; das Leben ist eine Prüfung;

Gesandte Gottes bringen seine Botschaft in Form von Glaubens- und Verhaltensregeln zu

den Menschen; nach dem Tod wird der Mensch zur Rechenschaft gezogen und entsprechend

seinen Taten positiv oder negativ sanktioniert. Dabei ist Religion zugleich – trotz

individueller Dimensionen und persönlichen Beziehungen zu einer höheren Macht, wie

durch persönliche Bittgebete zu einem Schöpfergott oder durch ein Opfermahl oder einer

eigenen Beziehung zu einem Hausgott – ein geteiltes, kollektives Phänomen, wie Emile

Durkheim bekräftigt. 52 Durch Überlieferungen, durch gemeinschaftliche Rituale, durch

die Verarbeitung in Kunst, Literatur und Musik hat sich die Religion so fest in das soziale

Leben unterschiedlicher Gesellschaften verankert, dass sich ihre Deutungsangebote und

Glaubenswelt als Selbstverständlichkeiten etabliert haben; zugleich bot sie durch die geistige

Elite der jeweiligen Religionen Impulse für höhere Reflexionen. Die „selbstreflexive

Selbstdistanzierung“ hat beispielsweise im christlichen Zusammenhang die Theologie

übernommen. 53 Diese bekenntnisgebundene und zugleich kritische Reflexion in dieser

Disziplin versteht Martin Jung dabei folgendermaßen:

51 Vgl. Koran, sūra 67, Verse 1-12

52 Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1994

53 Vgl. Ludwig Möller, Wege der Überlieferung: eine Untersuchung zur Weitergabe christlicher

Überlieferung bei Studierenden der Religionspädagogik an der Universität Kassel, Göttingen

2005, S. 227


42 A Theoretischer Teil

„Als Theologie kann nur die wenigstens ansatzweise wissenschaftliche, d. h. vernünftig reflektierende

Rede von Gott bezeichnet werden, die religiöse Erfahrung kommunizierbar macht.

Eine ausschließlich vernünftige Rede von Gott wäre aber auch keine Theologie, sondern das

wäre Religionsphilosophie. Die Theologie ist keine subjektlose Theorie des Absoluten, sondern

sie ist gläubige und zugleich vernünftige Rede von Gott.“ 54

Das Kollektive wurde vor allem durch die Organisation, die Institutionalisierung der

Religion sowie durch die Spezialisierung religiöser Rollen wie Priester, Medizinmänner

oder Imame übernommen, um den „Otto-Normal-Gläubigen“ bei der richtigen Ausübung

von Ritualen anzuleiten, bei Lebenskrisen religiöse Hilfestellungen zu leisten oder aufgrund

einer besonderen Beziehung zur Geisteswelt, zu einer Gottheit oder Ähnlichem als

vermittelnde Instanzen aufzutreten. Aufgrund ihres Spezialwissens und ihrer Sonderrolle

wurden und werden diese professionellen Referenzen oft positiv gewertet. Mit der Organisation

der Religion und durch die „Ausbildung einer inneren Struktur“ geht daher oft eine

Arbeitsteilung einher, die zugleich zu unterschiedlichen Machtkonstellationen innerhalb

von Religionsgemeinschaften führt und „ökonomische Gegenleistungen“ in Form von

Spenden, Opfern usw. voraussetzt. 55 Pierre Bourdieu zeigt in diesem Zusammenhang, dass

die Entstehung und Ausdifferenzierung des „relativ autonomen“ religiösen Feldes sowie

die fortschreitende gemeindeinterne Arbeitsteilung und die Kumulierung von symbolischer

Macht bei diesen religiösen Experten durch Urbanisierungsprozesse im Laufe der

Religionsgeschichte ihren Anfang nahmen. Die Zunahme des „Entwicklungs- und Differenzierungsgrades“

des religiösen Feldes übt auch einen Einfluss auf die Distribution von

religiösem Kapital aus und führt zu einer „Monopolisierung der religiösen Produktion“,

die in den Händen dieser Spezialisten liegt. 56 Dazu Bourdieu:

„Die Konstituierung eines religiösen Feldes ist das Ergebnis der Monopolisierung der Verwaltung

von Heilsgütern durch ein Korps von religiösen Spezialisten, die als die ausschließlichen

Inhaber der zur Produktion oder Reproduktion eines organisierten Korpus von geheimem,

also seltenem Wissen notwendigen spezifischen Kompetenz gesellschaftliche Anerkennung

genießen. Insofern geht sie Hand in Hand mit der objektiven Enteignung derer, die davon

ausgeschlossen sind und die solchermaßen als Laien bzw. Profane ihres religiösen Kapitals

(als akkumulierter symbolischer Arbeit) beraubt sind und die Legitimität dieser Enteignung

einzig aufgrund der Tatsache anerkennen, daß sie sie als solche verkennen.“ 57

Trotz dieser „Beraubung“ des religiösen Kapitals entwickelt sich parallel zu dieser organisierten

und intern ausdifferenzierten Form der Religion ein Volksglauben wie im

Christentum oder im Islam aus Elementen der offiziellen Glaubenslehre sowie durch lokal

geprägte Glaubensformen, die in der Regel in ihrer Praxis eine sehr heterogene Konstellation

erkennen lassen. Diese „Laien“ oder „Profane“ handeln, wenn sie eigenen Bräuchen

und „Aberglauben“ Folge leisten, nicht selten gegen den Willen der religiösen Spezialisten

54 Martin Jung, Einführung in die Theologie, Darmstadt 2004, S. 15

55 Vgl. Hubert Knoblauch, Religionssoziologie, Berlin/New York 1999, S. 150

56 Vgl. Pierre Bourdieu, Das religiöse Feld: Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz

2000, S. 49 ff.

57 A. a. O., S. 56


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 43

aus den organisierten Religionen, die das Interpretationsmonopol in religiösen Fragen für

sich beanspruchen. Franz Höllinger zeichnet diese Heterogenität des – sehr resistenten –

Volksglaubens am besonderen Beispiel der historischen, politischen und soziokulturellen

Entwicklungen Brasiliens nach, und zwar im Zusammenspiel der Beziehung des Volkskatholizismus,

der afrobrasilianischen Religion sowie der modernen Erweckungsbewegungen:

„Von Volks-Religiosität kann man aus zweierlei Gründen sprechen: erstens, weil es sich nicht

um die offizielle kirchliche Religion, sondern um Formen des Religiösen handelt, die in der

Bevölkerung selbst, vielfach gegen den Widerstand der Kirche, entwickelt wurden; zweitens,

weil ein großer Teil der Bevölkerung diese Art der Religiosität im Alltag praktiziert oder

zumindest in bestimmten Lebenssituationen auf sie zurückgreift. Durch die ökonomischen,

sozialen und kulturellen Transformationen, die der Übergang der Kolonialgesellschaft zur

modernen, urbanen Industriegesellschaft mit sich brachte, wandelten sich auch die Formen

des religiösen Lebens.“ 58

Während sich diese heterogene, dynamische und oft synkretistisch geformte Volksreligiosität

in vielen Industrieländern dieser Welt trotz der im Zitat akzentuierten Umbrüche als sehr

widerstandsfähig erwiesen hat, 59 hat die organisierte, historisch-gewachsene Religion in

Form der christlichen Kirchen im europäischen Raum ihre gesellschaftliche Funktion als

Deutungsgeber der uns umgebenden Welt stark eingebüßt. Mit den Paradigmenwechseln

in den Naturwissenschaften wurden wissenschaftliche Revolutionen 60 mit weitreichenden

Folgen für die Kirche und Gesellschaft initiiert. Für Horst-Eberhardt Richter ist das der Anfang

des Prozesses, in dem durch die technologischen, wissenschaftlichen und industriellen

Entwicklungen Gott in der westlichen Kultur zunehmend verloren geht und die seit dem

Mittelalter bestehende „Ohnmachtsangst“ infolge der „infantilen Abhängigkeitsposition“

des Menschen von der ihn umgebenden Natur durch eine „neurotische Überkompensation“

verdrängt wird. Damit entfällt nach Richter in den westlichen Zivilisationen die

„Gewißheit der Geborgenheit in Gott.“ 61

Die Ursprünge dieser Revolutionen liegen dabei im Zeitraum von 1500 bis 1750.

Die kopernikanische Wende mit dem heliozentrischen Modell des Nicolas Copernicus

(1473−1543), die Entwicklung der modernen Physik durch Johannes Kepler (1571−1630)

und Galileo Galilei (1564−1642), die radikale Entwicklung einer mechanischen Naturphilosophie

des René Descartes (1595−1650) oder das Gravitationsgesetz des Isaac Newton

(1643−1727): Diese Revolutionen in der Physik hatten direkte und indirekte Folgen für das

58 Franz Höllinger, Religiöse Kultur in Brasilien. Zwischen traditionellem Volksglauben und

modernen Erweckungsbewegungen, Frankfurt/M. 2007, S. 21

59 So ist es im Kontext von volksreligiösen Praktiken in islamisch geprägten Ländern wie in der

Türkei nicht unüblich, dass Menschen aus sehr säkularisierten Familien in den Stadtteil Eyyüp

zur zentralen Moschee mit dem Schrein eines Gefährten des Propheten Muhammad fahren,

um dort Bittgebete auszusprechen. Auch scheint es kein Widerspruch zu sein, Gräber von

christlichen Heiligen aufzusuchen, sofern man sich die Erfüllung von Wünschen verspricht.

60 Vgl. Alan F. Chalmers, Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie, Berlin/

Heidelberg 2007, S. 90 ff.

61 Vgl. Horst-Eberhard Richter, Der Gotteskomplex. Die Geburt und die Krise des Glaubens an

die Allmacht des Menschen, München 2001, S. 29 ff.


44 A Theoretischer Teil

Denken in anderen wissenschaftlichen Disziplinen, wie die Revolution im 19. Jahrhundert

in der Biologie durch die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809−1882) oder im 20.

Jahrhundert durch die Entdeckung der Molekularstruktur der DNA durch James Watson

(geb. 1928) und Francis Crick (1916−2004). 62

Parallel zu diesen wissenschaftlichen Revolutionen setzte durch den Übergang in die

Renaissance die Aufklärung ein, in deren Folge zunehmend politische und philosophische

Reflexionen zur Frage von Staat und Gesellschaft in Europa fanden mit dem Ergebnis statt,

dass absolutistische Systeme im Zuge der weit in das 20. Jahrhundert reichenden Prozesse

der Demokratisierung abgelöst wurden. Während es also durch diese wissenschaftlichen

Revolutionen zu Paradigmenwechseln (Thomas Kuhn) gekommen ist, musste sich die

christliche Kirche in Europa erst mit diesen Fortschritten arrangieren, denn diese Revolutionen

forderten die Kirchen in der Legitimation ihrer politischen und gesellschaftlichen

Macht heraus, auch in der Frage ihrer religiösen Deutungsangebote infolge der naturwissenschaftlichen

Erklärungen der Naturphänomene, die nicht nur die Schöpfungsgeschichte,

sondern die Existenz eines sich dem Menschen offenbarenden Schöpfers nicht

mehr als selbstverständlich erschienen ließen. Die Kirche konnte sich zwar nach langen,

eher destruktiven und defensiven Auseinandersetzungen weitgehend mit der Aufklärung

arrangieren, allerdings ziehen sich die Herausforderungen bis in die Gegenwart fort. 63

Der gesamte skizzierte Prozess im Übergang vom 15. ins 16. Jahrhundert wurde dabei

in der Philosophie und Soziologie mithilfe des Begriffs der ‚Moderne‘ charakterisiert als

„[…] u. a. empirisch für die Epoche der Neuzeit, normativ für die Entwicklung aufklärerischer

Subjektphilosophie seit Descartes, gesellschaftsgeschichtlich für technisch-soziale Modernisierungsprozesse,

kritisch-ästhetisch für den gesellschaftlich-künstlerischen (Bewusstseins-)

Stand des Spätkapitalismus. Zuletzt ist mit dem Begriff der Postmoderne als Nachmoderne

im Gegenzug zur oder als Implikation der M. auch der Begriff der M. und die Frage ihrer

Geschichtlichkeit erneut diskutiert worden: als letzte Epoche großer leitender Ideen oder

Diskurse (z. B. Fortschritt oder Emanzipation). Es stellt sich dann die Frage, ob die M. durch

eine plurale und relativistische Postmoderne schon überholt sei (Lyotard) oder ob die normativen

Vernunftsgehalte der M. als noch unvollendetes Projekt gegen alle widerstreitenden

Entwicklungen zu verteidigen und einzulösen seien (Habermas).“ 64

Als Merkmale dieses Prozesses werden unter anderem die Industrialisierung, die Urbanisierung,

die Demokratisierung sowie die Rationalisierung und die Säkularisierung

angeführt. 65 Detlef Pollack arbeitet in der Auseinandersetzung mit den Thesen führender

Religionssoziologen für seine empirische Analyse fünf wesentliche Merkmale moderner

Gesellschaften heraus, die er in Form von Hypothesen konkretisiert und auf die Frage

62 Vgl. Samir Okasha, Philosophy of Science: A very short Introduction, New York 2002, S. 3 ff.

63 Vgl. Hans Küng. Das Christentum. Wesen und Geschichte, München 2008, S. 742 ff.

64 Peter Christian Lang, Moderne, in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkhard (Hrsg.), Metzler Lexikon

Philosophie, Stuttgart 2008, S. 386

65 Vgl. Nina Degele, Modernisierung, in: Günter Endruweit/Gisela Trommsdorf (Hrsg.), Wörterbuch

der Soziologie, Stuttgart 2002, S. 376 f.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 45

der Auswirkungen der „Stabilität und Vitalität religiöser Orientierungen und Praktiken“

hin untersucht:

Wirtschaftswachstum und Anstieg des Wohlstandniveaus: Diese Entwicklung bringe

für die Lebensqualität von Gesellschaften und Gesellschaftsmitgliedern, wie soziale

Sicherungssysteme, technologische Errungenschaften, Verbesserung medizinischer

Versorgungen usw., zahlreiche Vorteile mit sich. Insgesamt führten diese miteinander

verbundenen Prozesse zu eine größeren Kontrolle über das Leben und parallel dazu eine

Risikoreduktion. Hieraus leitet Pollack zwei mögliche Konsequenzen für die Religion

ab: Abnahme des Bedarfs „für religiöse Sicherungen und Kontingenzbewältigung“

aufgrund des größeren Sicherheitsgefühls, oder eine diametrale Entwicklung durch

den Übergang zu postmaterialistischen Werten und somit zur größeren Relevanz von

Religion und religiösen Themen. 66

Funktionale Differenzierung: Die Modernisierung zeichne sich – entsprechend der

Systemtheorie von Niklas Luhmann – durch eine Ausdifferenzierung gesellschaftlicher

Teilsysteme wie Wirtschaft, Politik, Recht, Religion usw. aus. Zum einen steige

die Autonomie dieser Teilsysteme durch die interne Komplexität, zum anderen nehme

aber auch die Abhängigkeit der Teilsysteme voneinander zu, weil das einwandfreie

Funktionieren der jeweiligen autonomen Bereiche auch das Funktionieren der anderen

Bereiche voraussetze. Die Konsequenzen für die Religion werden von Pollack wiederum

durch zwei konträr zueinander stehende Hypothesen zugespitzt: Da die Religion

nicht mehr als ganzheitliches, übergeordnetes Sinn-/Orientierungssystem, sondern nur

noch als eines der gesellschaftlichen Teilsysteme fungiere, nehme somit ihre Bedeutung

stärker ab. 67 Aber auch eine gegensätzliche Hypothese sei möglich, weil gerade durch

die Autonomisierung der Teilsysteme die Religion zunehmen könnte:

„Ob man in den Himmel kommt, hängt dann nicht mehr davon ab, ob man sich im bürgerlichen

Leben moralisch verhält, gute Werke tut oder ein guter Staatsbürger ist, sondern

vom Glauben des Individuums allein. Ob man in die Kirche geht, ist dann nicht mehr davon

beeinflusst, ob man potentielle Kunden, Heiratskandidaten oder Wähler trifft, sondern davon,

ob man von der Heilswirkung kirchlicher Partizipation überzeugt ist. Ob man zu einer

Religionsgemeinschaft gehört oder nicht, ist dann nicht mehr sozialen Rücksichten und

Vorteilsabwägungen geschuldet, sondern dem Gefühl der Nähe zu den Grundüberzeugungen

dieser Gemeinschaft.“ 68

Prozess der Individualisierung: Eine weitere Folge der Modernisierung sei, dass sich das

Individuum zunehmend aus traditionellen Zwängen und Strukturen durch „Freisetzungs-

und Emanzipationsschübe“ befreie und selbstbestimmter über sein Leben und

seine Biografie verfügen könne. Allerdings seien dem Individuum wiederum „Grenzen

seiner Individualisierung“ durch Arbeitsmarktbedingungen, Bildungschancen oder

66 Vgl. Detlef Pollack, Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland

und Europa II, Tübingen 2009, S. 69 f.

67 Vgl. a. a. O., S. 71 f.

68 A. a. O., S. 72


46 A Theoretischer Teil

Mobilitätsstrukturen gesetzt. Hinsichtlich der Effekte auf die Religion könnte diese

größere Selbstbestimmtheit einerseits die Anfälligkeit der Funktion der Religion als

selbstverständlicher Instanz – wie in traditionellen Gesellschaften üblich – zur Gewährung

von allgemein akzeptierten, anerkannten „religiösen Überzeugungen und

Praktiken“ und damit auch die Unsicherheit des Einzelnen erhöhen, andererseits aber

könnten sich durch die Emanzipation des Individuums aus überbrachten, traditionellen

Glaubensüberzeugungen oder -praktiken „Möglichkeiten für hochindividualisierte

religiöse Virtuosenleistungen eröffnen“. Erst durch dieses bewusste, reflektierte und

freiwillige Bekennen zu bestimmten Überzeugungen und Praktiken könne man wirklich

von Glauben sprechen. 69

Pluralisierung kultureller Orientierungen und Identitäten: Aufgrund von Globalisierungsprozessen

und durch die Pluralisierung ethnisch, kulturell und religiös geprägter

Werte komme es zwangsweise zu einer Relativierung der eigenen religiösen Standpunkte,

weil in der Konfrontation mit zahlreichen, konkurrierenden religiösen Angeboten der

eigene Anspruch auf „unbefragte und selbstverständliche Gültigkeit“ relativiert werde

und „erhobene Wahrheitsbehauptungen sich gegenseitig unterminieren“. Die positive

Konsequenz dieser Pluralisierung könnte jedoch ganz im Sinne des ökonomischen

Marktmodells sein, dass die vielfältigen religiösen Angebote im Gegensatz der monopolisierten

Religionen aufgrund dieser Konstellation viel stärker einem Legitimationszwang

ausgesetzt seien und daher eine größere Vitalität entwickeln müssen, um neue

Mitglieder zu rekrutieren oder die eigenen Mitglieder zu halten. 70

Prozesse der Horizonterweiterung: Als Summe der oben aufgezählten Merkmale komme

es zu „einer bislang ungeahnten Ausweitung des verfügbaren Wissens- und Erfahrungshorizonts

mit der Konsequenz, dass Wirklichkeit und Möglichkeit prinzipiell

auseinandertreten.“ 71 Infolgedessen trete eine „exzentrische Positionalität“ zutage, die

zwar im Alltagsleben eingebettete „Normalitäts- und Gewissheitsunterstellungen“ nicht

gänzlich aufheben, aber sehr störanfällig seien:

„Die exzentrische Positionalität, der wir ausgesetzt sind, ist in den gewöhnlichen Bahnen

unserer Lebenswelt abgedeckt durch Hintergrundannahmen und Herkunftsprägungen, die

wir für gewöhnlich nicht in Frage stellen. Wie brüchig sie sind, zeigt sich aber spätestens,

wenn die Routinen unseres Alltags wegbrechen. Dann wird offenbar, was auch ansonsten

der Fall ist, dass selbst unsere Alltagsannahmen kontingent und unnotwendig sind. Unsere

Welt- und Selbstverhältnis wird damit unvermeidlich reflexiv.“ 72

Für die Funktion der Religion in der modernen Gesellschaft könnte diese Ausweitung

des Wissens- und Erfahrungshorizonts wieder ambivalente Wirkungen mit sich bringen.

Einerseits könne die Religion mit ihrer zentralen Funktion der Kontingenzbewältigung

infolge der oben gezeichneten Relativität der „exzentrischen Positionalität“ und des Auseinanderdriftens

von „Wirklichkeit und Möglichkeit“ keine absolute Gewissheit mehr für

69 Vgl. Pollack, Rückkehr des Religiösen?, S. 72 f.

70 Vgl. a. a. O., S. 73 f.

71 A. a. O., S. 74

72 A. a. O., S. 75


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 47

das Individuum liefern, da unter diesen Bedingungen ihre „Sinnformen“ selbst kontingent

würden, 73 andererseits jedoch könnte gerade der „Bedarf an letzten Wahrheiten“ infolge

der zunehmenden Reflexivität steigen, da

„[…] die religiösen Sinnformen in einem Prozess der Konkretisierung und Essentialisierung

einen stärker substantialistischen Charakter annehmen. Gerade aufgrund der mit der Horizont-

und Wissenserweiterung einhergehenden Orientierungslosigkeit und Ungewissheit

im Selbst- und Weltverhältnis des Individuums könnte die Konsequenz also möglicherweise

nicht in einer Verflüssigung der religiösen Formen, sondern in ihrer Fundamentalisierung

und Verdinglichung bestehen, und das könnte dann wiederum sowohl stärkere Bindungs- als

auch Abstoßungsreaktionen hervorrufen. Was unter den Bedingungen reflexiver Ungewissheit

für religiöse Sinnformen aber immer schwerer zu garantieren ist, das ist die Gleichzeitigkeit

ihrer Immanenz und Transzendenz, auf der ihre besondere kontingenzbewältigende Funktion

beruht.“ 74

Die sehr differenziert formulierten Hypothesen im Kontext von Transformationsprozessen

der sozialen Bedeutung von Religion und Kirchen überprüft Pollack akribisch anhand

empirischer Analysen und kommt zu folgenden wichtigen Schlussfolgerungen: 75

Die Wohlstandsanhebung wirke sich offensichtlich negativ auf die „Vitalität“ von Religion

und „die Integrationsfähigkeit von Religion und Kirche“ aus. Diesen jahrzehntelangen

Trend bestätigten die abnehmenden „Zustimmungswerte“ bezüglich Kirchenzugehörigkeit,

Glaubenspraxis und Akzeptanz des Gottesglaubens.

Die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft führe dazu, dass religiöse Orientierungen

als sinnstiftende Handlungen in unterschiedlichen Bereichen wie Familie

oder Wirtschaft abnehmen. Die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme

und zugleich deren Autonomisierung habe den Kirchen keine Vorteile gebracht, sondern

im Gegenteil habe ihre soziale Bedeutung sukzessiv im Zuge dieser funktionalen

Differenzierung stark abgenommen.

Der Prozess der Individualisierung gehe mit Effekten wie der Abnahme der „Integrationsfähigkeit

religiöser Institutionen und Gemeinschaften“ sowie der Abnahme der

individuellen Religiosität (auch als Konsequenz des geringen Einflussmöglichkeiten

insbesondere in der religiösen Erziehung in Familien) einher und führe zugleich zur

Entstehung „nicht so hoch institutionalisierter, synkretistischer und diffuser Religionsformen

mit einem starken individualisierten Zuschnitt.“ Diese individualisierten

Religionsformen seien jedoch quantitativ nicht so stark ausgeprägt und korrelierten

positiv mit traditionellen Glaubenspraktiken und Überzeugungen. Insgesamt übe also

die Individualisierung einen negativen Effekt auf das religiöse Feld aus.

Hinsichtlich der negativen Auswirkung auf das religiöse Feld schließen sich auch die

Effekte der religiösen und kulturellen Pluralisierung aus, weil seit den 1960er-Jahren

empirisch nachweisbar die religiöse Zugehörigkeit, die rituelle Praxis und der Gottes-

73 Vgl. a. a. O., S. 75

74 Ebd.

75 Vgl. zu den nächsten Ausführungen Pollack, Rückkehr des Religiösen?, S. 100 ff.


48 A Theoretischer Teil

glauben stark abgenommen habe und somit die Vitalität von Religion und Religionsgemeinschaften

schwäche. Das religiöse Engagement von gesellschaftlichen Minoritäten

sei zwar stärker, doch das ändere nichts an der dargestellten Gesamtentwicklung im

religiösen Feld.

Die „Entkonkretisierung religiöser Vorstellungen“ infolge der Horizonterweiterung

führe ebenfalls dazu, dass sich aufgrund der mangelnden Universalität und des „Kontingenzverdachtes“

religiöser Sinnformen ein negativer Effekt auf die individuelle

religiöse Lebensführung zeige.

Für die Kirchen haben alle Besonderheiten der Modernisierung eine Relevanz, doch

brachten insbesondere die von Pollack dargestellten Folgen der Säkularisierung und Individualisierung

eine existenzielle Herausforderung mit sich, weil sie dadurch ihre „zentrale

kulturelle Sonderstellung“ verloren haben. Die enge Verflechtung der Kirchen mit dem

Staat – und somit der Einfluss des Klerus auf den Staat (Stichwort: „corpus christianum“)

– nahm ab und reduzierte sich auf ihre Rolle als „gesellschaftliche Repräsentation“ und als

„Symbolfunktion bei der allmählichen Konstituierung einer eher allgemein bleibenden,

den status quo eher rechtfertigenden Kulturreligion“ 76 . In den letzten 200 Jahren hat die

Kirche dadurch in Europa wesentlich von ihrer gesellschaftlichen Machtposition eingebüßt,

auch wenn sie sich noch in vielen europäischen Ländern als „moralische Instanz“

in aktuelle Diskurse zu gesellschaftlichen Fragen einbringe. 77

Dieser Frage der Moderne und der neuen Rolle beziehungsweise Funktion der Kirchen

und der Religion wird in jeder Einführung in die Grundlagen der Religionswissenschaft/-soziologie

und Religionspädagogik ein eigenes Kapitel gewidmet. Dabei wird schnell

deutlich, dass in den theoretischen Debatten über diese Frage zwei Ansätze miteinander

konkurrieren: die Säkularisierungs- und die Individualisierungsthese. Beide Ansätze

– die in sich nochmals durch unterschiedliche Vertreter jeweils einen anderen Akzent

aufweisen – erheben den Anspruch, diese gesellschaftlichen Transformationsprozesse

und ihre Auswirkungen auf die traditionellen Religionsgemeinschaften seit der Neuzeit

bis in die Gegenwart zu erklären. Bei den Vertretern der Säkularisierungsthesen müssen

zweifelsfrei die historischen, geistigen Väter wie Max Weber oder Emile Durkheim genannt

werden, denn bereits als sich die Religionssoziologie noch als relativ junge Disziplin in

der sogenannten klassischen Phase mit der Thematik des Verhältnisses von Religion und

Gesellschaft auseinandersetzte, spielten die Frage der Funktion und Rolle der Religion in

modernen Gesellschaften eine zentrale Rolle. 78 Max Weber fragte bereits nach den Folgen

der „Entzauberung der Welt“ als religionsgeschichtlicher und wissenschaftsgeschichtlicher

Prozess, 79 Emile Durkheim setzte sich mit der Frage der Funktion der Religion in der mo-

76 Friedrich Fürstenberg, Modernisierung, in: Siegfried Rudolf Dunde (Hrsg.), Wörterbuch der

Religionssoziologie, Gütersloh 1994, S. 211 f.

77 Vgl. René Rémond, Religion und Gesellschaft in Europa. Von 1789 bis zur Gegenwart, München

2000, S. 48 ff.

78 Vgl. Knoblauch, Religionssoziologie, S. 39 ff.

79 Vgl. Wolfgang Schluchter, Entzauberung der Welt, Tübingen 2009, S. 7 ff.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 49

dernen Gesellschaft auseinander, 80 und Georg Simmel führte soziologische Analysen zur

Urbanisierung und deren Konsequenzen für die Religion im Sinne einer „Schwächung des

religiösen Empfindens“ 81 durch. Dass die kontroversen Debatten zur Säkularisierungsthese

in der Religionssoziologie heute noch anhalten, zeigen einerseits die hohe Relevanz der

Thematik, aber andererseits auch die offenen Fragen bezüglich ihrer Begriffsbestimmung

und Erklärung. Wie oben in Anlehnung an Klaus Hock dargestellt, gibt es auch innerhalb

dieses Ansatzes unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen, wobei die größte Verbreitung

in den Standpunkten jene sein dürfte, dass die Säkularisierung einen Bedeutungsverlust

der Kirchen in der Gesellschaft sowie ihre abnehmende Deutungshoheit bewirke. Moderne

und Religion scheinen sich nach diesem Verständnis nicht zu vertragen. Dieser Prozess

der zunehmenden sozialen, institutionellen und individuellen Bedeutungslosigkeit scheint

unumkehrbar und unaufhaltbar zu sein.

Der Begriff ‚Säkularisierung‘ wird häufig im Kontext der Debatten zur Religiosität

genutzt. In der Regel wird diese Bezeichnung in medialen und politischen Diskussionen

sowie in Alltagsgesprächen sehr unscharf angewandt und zum Teil auch als Synonym für

Weltlichkeit oder Verweltlichung sowie für Religionslosigkeit und als Teilphänomen der

Modernisierungsprozesse verwendet. Für den religionswissenschaftlichen Kontext zeigt

Hock, dass auch in den gesamten Debatten kein Konsens über die Bedeutung, über den

Prozess insgesamt sowie über seine Charakteristik besteht. Einigkeit scheint dagegen in

der Abgrenzung von Säkularisierung zum Begriff ‚Säkularisation‘ zu bestehen:

„Übereinstimmung gibt es lediglich darin, dass zwischen Säkularisierung und Säkularisation

strikt zu unterscheiden ist. Beide Begriffe gehen auf das lateinische saeculum zurück, dessen

ursprüngliche Bedeutung ‚Zeitalter‘, im Mittelalter zu ‚Welt‘ erweitert wurde. Säkularisation

beschreibt den Vorgang der Enteignung kirchlichen Eigentums, während Säkularisierung

einen Prozess bezeichnet, der im Deutschen noch am angemessensten mit ‚Verweltlichung‘

wiederzugeben ist.“ 82

In Anlehnung an verschiedene Religionssoziologen zeigt Hock, dass zu diesem „recht

allgemein gehaltenen Begriff“ noch zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten existieren,

und zwar Säkularisierung in ihrer Bedeutung

„[…] als Verfall von Religion, als Übereinstimmung mit der Welt, als Entsakralisierung der

Welt, als Abkehr der Gesellschaft von der Religion, und als Übertragung religiöser Inhalte

in die weltliche Sphäre.“ 83

Vor dem Hintergrund dieser Vielfalt in den Auslegungen weist Hock darauf hin, dass die

wissenschaftlichen Vertreter je nach ihrem Verständnis des Begriffs ‚Säkularisierung‘ zu

ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Bedeutung der Religion in

den gegenwärtigen Gesellschaften gekommen sind, und zwar vom Rückgang über das

80 Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt/M. 1994

81 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Köln 2009

82 Klaus Hock, Einführung in die Religionswissenschaft, S. 105; Hervorhebungen im Original.

83 Ebd.


50 A Theoretischer Teil

Verschwinden bis hin zur puren Transformation in die „Sozialgestalt“ von Religion. Eine

weitere Schwierigkeit in der Erfassung des Phänomens liege darin, dass „nur zum Teil

zuverlässige Daten“ vorlägen, wie etwa die soliden Statistiken zu Kirchenbesuchern in

Europa, die seit über 100 Jahren erstellt würden. 84 Übertragen auf die empirische Überprüfung

des Phänomens für die Muslime in Deutschland wird die Schwierigkeit bezüglich

der Statistiken zu Gemeindebesuchern deutlich, weil bisher keine Daten vorliegen. Es

existieren lediglich Studien, die Auskunft darüber geben, wie viele Prozent der Muslime

sich von den muslimischen Verbänden vertreten fühlen. 85

Die Vielfalt der von Hock dargestellten, zum Teil sehr konträren und diametralen Bedeutungen

kann für die vorliegende Studie insofern pragmatisch gelöst werden, als eine

auf das Forschungsinteresse hin zugeschnittene Arbeitsdefinition Verwendung findet. Da

die Moscheegemeinden und ihre Wahrnehmungen der gesellschaftlichen Entwicklungen

sowie deren Auswirkungen auf das Binnenleben der Moscheen im Fokus der Untersuchung

stehen, geht es vor allem um solche Fragen, die einen substanziellen Religionsbegriff voraussetzen:

Wie sieht die Entwicklungen der Mitgliederzahlen aus? Wie sieht es mit der

Reichweite der angenommenen religiösen Dienstleistungen aus? Wie sieht die Praxis der

vertretenen Glaubensgrundlagen der muslimischen Gemeinden durch ihre Mitglieder aus?

Wie hoch sind die Besucherzahlen an den Freitagen und Feiertagen? Daher interessiert

primär die Säkularisierung in ihrem Verständnis als „Entkirchlichung“ und „Entchristlichung“,

weswegen unter Säkularisierung im Kontext der Studie zwei der von Hartmut

Lehmann zusammengefassten vier einflussreichsten Varianten verstanden werden sollen,

und zwar „die Vorstellung von Säkularisierung als dem Nachlassen […] der Ausübung

von Religion in modernen Gesellschaften“ sowie „als Beschreibung der Tatsache, daß die

etablierten Kirchen seit der Aufklärung das Monopol bei der Bewältigung schwieriger

Lebenssituationen verloren haben (Stichwort: Entkirchlichung).“ 86

Wie Lehmann in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem Erklärungsmodell der

Säkularisierung darlegt, bringt es für die wissenschaftliche Forschung Vor- und Nachteile

mit sich. Zu den Vorzügen zählt er die Interdisziplinarität des Modells, weil Erkenntnisse

aus der Religionssoziologie, der Politikwissenschaft, oder der Philosophie sowie der

Sozial- und Kirchengeschichte berücksichtigt werden können. 87 Ein weiteren Vorteil ist

nach Lehmann darin zu sehen, dass man den zahlreichen Interpretationsmöglichkeiten

„[…] einen sehr weiten chronologischen Horizont zugrunde legen muß: die Erforschung von

Prozessen der Säkularisierung heißt immer auch die Erschließung von Argumenten zum

Verständnis von Prozessen der ‚longue durée‘. […] Drittens schließlich ermöglicht es das

Konzept der Säkularisierung, daß man der neueren europäischen Geschichte ein unverwechselbares

eigenes Profil gibt. Denn kein anderer Kontinent, keine andere der großen Kulturen

84 Vgl. ebd.

85 Die Studie Muslimisches Leben in Deutschland geht der Frage des Bekanntheitsgrades der

muslimischen Verbände sowie der Vertretung der Muslime nach; der tatsächlichen Reichweite

der Moscheegemeinden in Deutschland wird man allerdings nicht gerecht.

86 Hartmut Lehmann, Säkularisierung: der europäische Sonderweg in Sachen Religion, Göttingen

2004, S. 57

87 A. a. O., S. 57 f.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 51

ist in einem ähnlich starken Maß von den Prozessen beeinflußt und geprägt worden, die wir

mit dem Begriff Säkularisierung charakterisieren. Nur in Europa ist die Säkularisierung zu

einer dominierenden politischen, sozialen und kulturellen Kraft geworden; nur in Europa hat

die Säkularisierung triumphiert, wenigstens bis heute. Innerhalb einer globalisierten Welt

kann man die Säkularisierung deshalb als den europäischen Sonderweg in Sachen Religion

bezeichnen.“ 88

In der Auseinandersetzung mit der Säkularisierungsthese zeigt der Religionssoziologe

Gert Pickel, dass sich trotz der Heterogenität der Meinungen und Ansätze innerhalb dieser

Theorie folgende Grundthesen herauskristallisierten:

Die soziale Bedeutung von Religion nimmt in modernisierten, funktional differenzierten

Gesellschaften ab, sodass die Religion nur noch ein Teilsystem von vielen sei.

Zwischen der Moderne und der Religion existiert ein Spannungsverhältnis zuungunsten

der Letzteren.

Ein Grund für den Bedeutungsverlust von Religion sei die zunehmende Rationalisierung

als Leitsatz des modernen Menschen. 89

Wie Pickel ferner in der theoretischen Auseinandersetzung mit klassischen und zeitgenössischen

Religionssoziologen resümiert, gehen die Vertreter der Säkularisierungstheorie – in

Anlehnung an Max Weber – von einem substanziellen Religionsbegriff aus, sodass der

Rückgang von Religiosität und deren sozialer Bedeutung entsprechend den Indikatoren

dieser Religionsdefinition empirisch messbar sei sowie durch unterschiedliche Studienergebnisse

„als Verlustprozess diagnostiziert“ und als eine langfristige, komplexe und

nicht-lineare Entwicklung angenommen werde, ohne von einem gänzlichen Verschwinden

der Religion auszugehen. Im Zusammenhang mit der Annahme einer nicht-linearen

Entwicklung wären auch „Effekte der Pfadabhängigkeit und historischer Abhängigkeit“

der Säkularisierung inbegriffen. 90 Anhand der differenzierten Analyse von Karel Dobbelaere

– die in der wissenschaftlichen Gemeinschaft bisher „kaum größerer Detailkritik

ausgesetzt“ sei – zeichnet Pickel die „Dreiteilung der Säkularisierung“ nach und gibt die

Essenz dieser Differenzierung wie folgt wieder:

„*(1) auf der organisatorischen Ebene im Sinne eines anpassenden Wandels der Kirchen, die

wiederum Säkularisierung fördert.

*(2) auf der gesellschaftlichen Ebene wird Religion immer mehr an den Rand der Gesellschaft

gedrängt.

*(3) auf der individuellen Ebene verlieren die ehemals Gläubigen die Bindung an die Kirche

und die Religion und befolgen in immer geringerem Umfang religiöse Normen und

Vorgaben.

Alle drei Prozesse skizzieren die Vielfalt der Entwicklungen, die mit dem Begriff Säkularisierung

in Zusammenhang stehen.

88 A. a. O., S. 58

89 Vgl. Gert Pickel, Religionssoziologie. Eine Einführung in zentrale Themenbereiche, Wiesbaden

2011, S. 137

90 Vgl. a. a. O., S. 138 ff.


52 A Theoretischer Teil

* Es besteht ein Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und individueller Säkularisierung,

der hauptsächlich durch die ‚Compartementalization‘ – also die Säkularisierung in den

Köpfen der Menschen – getragen wird.“ 91

Pickel zeigt in Anlehnung an die empirischen Ergebnisse von David Voas, dass der Säkularisierungsprozess

– trotz historischer Faktoren einzelner Länder sowie der dortigen

„speziellen Konstellation“ und der Berücksichtigung der kurvenförmigen Entwicklungen

– zunehmend zu einer Expansion von religiöser Indifferenz führe, die stufenweise erfolge:

„Dabei zeigt sich eine zeitlich verzögerte Wirkung zwischen der Abnahme der Kirchlichkeit

und der subjektiven Religiosität. Zuerst lässt die Bindung an die Kirche nach, dann die Partizipation

an religiösen Aktivitäten und zuletzt sinkt die subjektive Religiosität – über den

Weg zunehmender Indifferenz – ab. Man hat es bei der Entwicklung der religiösen Vitalität

also mit einem graduellen und langsam ablaufenden Prozess zu tun. […] So verläuft der Säkularisierungsprozess

in verschiedenen Kulturen und Ländern teils völlig unterschiedlich.

Was ihn verbindet ist der langfristige Rückgang religiöser Vitalität.“ 92

Diesen aufgezählten Merkmalen des Konzepts setzt Lehman eine negative Kritik entgegen,

wobei er den größten Nachteil darin sieht, dass mit Säkularisierung eine „irreversible

Entwicklung, eines nicht variablen Prozesses der Modernisierung“ 93 impliziert werde. Als

Nachteil dieses Ansatzes zählt er Folgendes auf:

„Ein weiteres Problem mit dem Konzept der Säkularisierung liegt darin, daß mit Säkularisierung

häufig die Transformation des Religiösen von der offiziellen, staatlichen Sphäre in

den Bereich des privaten Lebens beschrieben wird. Nun soll nicht bestritten werden, daß

es diese Transformation tatsächlich gegeben hat. Man sollte jedoch berücksichtigen, daß

die Erforschung dieser Transformation die Wissenschaftler vor außerordentlich schwierige

Probleme stellt. Denn während man kirchliche Organisationen und etablierte Kirchen auf der

Basis der Materialien studieren kann, die diese Einrichtungen im Zuge ihrer geschäftlichen

Aktivitäten produziert haben, ist es schwierig, die Dimensionen privater Religiosität adäquat zu

erfassen. 94 […] Denn individuelle Fälle zeigen in der Regel eben nur individuelle Erfahrungen,

und das gilt auch für die Frage der Religiosität. Die Resultate, die man bei der Erforschung

der privaten Religiosität erzielen kann, sind deshalb möglicherweise deutlich verschieden von

den Überlegungen, die durch die Theorie der Säkularisierung deutlich gemacht werden.“ 95

91 A. a. O., S. 163

92 A. a. O., S. 173 f.

93 Lehmann, Säkularisierung, S. 58

94 Für die vorliegende empirische Studie wurden aufgrund dieser Problematik die individuellen

Lebensstile und religiösen Orientierungen nur indirekt anhand der gesammelten Informationen

der Gemeinden ermittelt. Diese Aussagen sind zwar allgemein gehalten, haben allerdings genug

Aussagekraft darüber, ob die offiziell vertretene Glaubenslehre, wie die täglichen Pflichtgebete,

das Alkoholverbot oder das Verbot vorehelicher Beziehungen, von den Gemeindebesuchern

eingehalten werden. Die Wahrnehmung unterschiedlicher Lebensstile und Differenzen zu

den Glaubensüberzeugungen der Gemeinden haben unmittelbare Folgen für ihre Denk- und

Handlungsprozesse, weil sie konträr zu dem substanziellen Religionsverständnis sind.

95 A. a. O., S. 60


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 53

Der zweite zentrale Begriff, die Individualisierung, knüpft an die obige Zitation an und

führt die Aufmerksamkeit weg von kirchlichen Strukturen und Glaubensvorstellungen

hin zu den subjektiven Selbstbestimmungen. In der neo-klassischen Religionssoziologie ist

dieser Perspektivenwechsel mit der Kritik an der Dominanz des Strukturfunktionalismus

einhergegangen, weil das Individuum in diesen Theorien vernachlässigt wurde, sodass sich

durch eine neue Akzentsetzung subjektorientierte Ansätze stärker herauskristallisierten.

Damit finden auch die Verlagerung der religiösen Deutungshoheit und die Bestimmung

der Glaubenslehren von traditionell organisierten Religionen zur individuellen Religiosität

statt. Hier treten vor allem seit den 1960er-Jahren die Ansätze von Peter L. Berger

und Thomas Luckmann in den Vordergrund, die zwar aufgrund ihres ungleichen Religionsverständnisses

bezüglich der Säkularisierungsthese unterschiedliche Auffassungen

aufweisen, hinsichtlich des Bedeutungsverlustes der Kirchen einerseits und der stärkeren

individuellen Leistungen der Subjekte in der Aneignung von Religiosität andererseits aber

Gemeinsamkeiten aufzeigen: 96

„Für Berger ist die Religion von einem gesellschaftlichen Allgemeingut zu einem kirchlichen

Sonderbesitz degradiert worden. Durch die Säkularisierung werden die kirchlich Religiösen

zu einer ‚kognitiven Minderheit‘, während die Mehrheit sich Ersatzreligionen zuwendet, die

die nach wie vor bestehende Sinnfrage sättigen. Luckmann ist dagegen der Meinung, die

Säkularisierung sei ein ‚moderner Mythos‘. Zwar sei die Bedeutung der religiösen Organisationen,

insbesondere der Kirchen, deutlich zurückgegangen; doch bedeute dies nicht,

dass die Religion selber an Boden verliere. Sie ändere lediglich ihre Form. Zwar werden die

gesellschaftlichen Institutionen der Wirtschaft, der Kunst u. a. säkularisiert, nicht aber die

Gesellschaft und die Individuen. Weil die Religion deswegen nicht mehr unbedingt die Gestalt

der bekannten religiösen Organisationen, der traditionellen Lehren und der überlieferten

Rituale annehmen müsse, charakterisiert er sie als ‚unsichtbare Religion‘.“ 97

Wenn Lehmann in diesem Zusammenhang fragt, ob nicht das Konzept „Transformation

des Religiösen“ – weil das Konzept der Säkularisierung „äußerst komplex und schwierig“

sei – zur Erfassung und Interpretation der Religion oder Religiosität in den gegenwärtigen

Gesellschaften adäquater sei, 98 dann kann man diesen Ansatz nicht unabhängig von

Individualisierungsprozessen betrachten, um sich durch die Möglichkeit der Selbstbestimmung

und Entscheidungsfreiheit in der Glaubensauffassung von etablierten Religionen

zu unterscheiden. Diesem Ansatz liegt – im Gegensatz zur substanziellen Definition von

Religion der Säkularisierungsthese – ein funktionalistisches Verständnis zugrunde, das

schon in der klassischen Phase der Religionssoziologie von Emile Durkheim und Bronislaw

Malinowski zur Begründung der Rolle und Funktion von Religion für die Gesellschaft

diente; demnach übt die Religion eine „sozialintegrative Funktion“ für die Gesellschaft

aus. 99 In modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaften behält die „Kontingenzformel

Gott“ – wie in den monotheistischen Religionen – und die Religion als „autonomes

96 Vgl. Knoblauch, Religionssoziologie, S. 109 f.

97 A. a. O., S. 123

98 Vgl. Lehmann, Säkularisierung, S. 60 f.

99 Vgl. Fritz Stolz, Grundzüge der Religionswissenschaft, Göttingen 2001, S. 24 ff.


54 A Theoretischer Teil

Kommunikationssystem“ sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft eine

zentrale Rolle. 100 Wolf-Dietrich Bukow zeigt in diesem Zusammenhang, dass sich reflexiv

eingesetzte religiöse Formate, die einen „deutungsbedürftigen säkularen Alltag“ und eine

„religiös-zentrierte deutungskompetente Diskursgemeinschaft“ voraussetzen, auch in (post-)

modernen Gesellschaften durchgesetzt haben, um beispielsweise bei Brüchen, Übergängen

und anderem in den Biografien der Menschen „in Form von lebensphasenspezifischer

Intervention“ Deutungsangebote zur Verfügung zu stellen. Der alltagsorientierte Blick

auf die Funktion von Religion zeige, dass religiöse Deutungsmuster trotz oder gerade

infolge der Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse ihre Rolle nicht verlieren,

weil sich die bewährten, reflexiv ausgerichteten religiösen Formate durchgesetzt haben

und unabhängig von traditionellen, kirchlich-organisierten Formen neu kontextualisiert

werden. 101 Die Herausforderung für das Deutungspotenzial in modernen oder im Übergang

zu postmodernen Gesellschaften sieht Bukow dabei in folgenden Entwicklungen:

„Wir beobachten seit dem Ende der Moderne, genauer im Übergang zur Postmoderne, dass

einerseits die großen Traditionen an Konsistenz und Dichte, ja überhaupt an Relevanz verlieren

und sich andererseits die alltäglichen Herausforderungen so ausdifferenzieren und komplexer

werden, dass sie so einfach gar nicht mehr in gewohnter Weise religiös deutbar sind. Es droht

eine doppelte Dekontextualisierung: Wir beobachten einen Verlust an reflexiver Stringenz

bzw. an theoretische Klarheit und eine Veralltäglichung und Privatisierung des Dauerablaufs

des Alltags. Die religiösen Narrative oder Interpretamente (Signifikant) verlieren an Dichte,

das Alltagsleben (Signifikat) verliert an Stringenz.“ 102

Aufgrund dieser Herausforderung für die religiösen Formate sei eine „postmoderne Rekontextualisierung

des Religiösen“ zu beobachten, deren Implementierung infolge neuer

„Mobilitäts- und Kommunikationsformen“ nicht mehr unbedingt auf rein traditionelle

Begründungen zurückgeführt werde, sondern die von den Individuen entsprechend ihren

lokalen, alltäglichen, biografischen Wirklichkeiten, persönlichen Lebenslagen und „Milieubedingungen“

reflexiv zu deuten versucht werden: 103

„Die Reflexivität wird räumlich-zeitlich erzeugt und basiert auf einer zeitlichen wie räumlichen

Differenz zwischen einem Signifikanten (Bezeichnendes) und einem Signifikat (Bezeichnetes).

Ohne diese doppelte Differenz wären die Formate bloße Texte, aber eben keine gezielten Deutungen.

Die religiösen Formate erzeugen mithilfe dieser doppelten Differenz eine Deutung,

Definition bzw. die Beschreibung eines eigens signierten Bestandteils des Dauerablaufs des

Alltags. Die im Rahmen der religiösen Formate geleisteten Deutungen definieren, ermächtigen,

qualifizieren bzw. disqualifizieren, inkludieren bzw. exkludieren dem Dauerablauf des Alltags

eingelagerte Abläufe, Ereignisse, Einschnitte, Brüche, Konflikte, Krisen oder Katastrophen.

100 Vgl. Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2002, S. 147 ff.

101 Vgl. Wolf-Dietrich Bukow, „Muslimische Parallelgesellschaft“ oder ein postmodernes religiöses

Milieu?, in: Rauf Ceylan (Hrsg.), Islam und Diaspora. Analysen zum muslimischen Leben

in Deutschland aus historischer, rechtlicher sowie migrations- und religionssoziologischer

Perspektive, Frankfurt/M. 2012, S. 236 ff.

102 A. a. O., S. 243

103 Vgl. a. a. O., S. 246 ff.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 55

Die dem Alltag eingelagerten Prozesse selbst sind folglich als solche (intrinsisch) noch nicht

religiös, sondern werden als nichtreligiöse Prozesse usw. einer religiösen Bezeichnung, einer

religiösen Qualifizierung unterzogen. Das heißt, der Dauerablauf des Alltags wird als ein

säkularer Vorgang behandelt, den es ggf. religiös zu deuten gilt.“ 104

Mit diesem Verständnis wird also in Bezug auf die Entwicklungen von Religiosität und

traditionell-institutionalisierten Religionen ein Perspektivenwechsel vorgenommen, weil

die Abnahme der sozialen Bedeutung von organisierten Religionen nicht zwangsläufig zu

einem Verschwinden der Religion führe, sondern – weil die Religion ein anthropologische

Eigenschaft darstellt – die Menschen trotzdem religiös bleiben und nur eine Transformation

der sozialen Formen von Religion feststellbar sei. Die Exklusivität der christlichen Kirchen

als sinnstiftende Institutionen hinsichtlich ihrer Gemeindemitgliederzahlen oder Deutungshoheit

schrumpfe zwar, dafür aber „basteln“ sich die Subjekte in den modernisierten,

pluralistischen und individualisierten Gesellschaften ihre eigenen Orientierungssysteme

zusammen, denn trotz der Rationalisierungsprozesse und der zunehmenden Naturbeherrschung

bleibe immer ein „Restrisiko“ bestehen, weil man eben keine hundertprozentige

Kontrolle über die Natur und das eigene Leben ausüben könne. Nach wie vor werden

Erfahrungen im existenziellen Bereich, wie Krankheit oder (vorzeitiger) Tod, gemacht,

sodass der Religion eine Funktion der Theodizee und der Kontingenzbewältigung zukommt,

um bestimmte, krisenhaft erlebte Ereignisse in ein Sinnsystem einordnen und

verarbeiten zu können. 105

Wie Pickel hinsichtlich der Grundannahmen der Individualisierungsthesen konstatiert,

hat dieser Ansatz mit der Säkularisierungsthese zunächst gemeinsam, dass auch die Vertreter

dieser Theorie den Bedeutungsverlust von organisierter Religion wie bei den Kirchen

akzeptieren. Da jedoch kein prinzipielles Spannungsverhältnis zur Moderne herrsche,

werde dieser „Verlust“ nur in die „subjektive Religiosität“ verlagert, die sich – entsprechend

dem funktionalen Religionsbegriff – nicht rein aus traditionellen Überzeugungssystemen,

sondern aus der individuellen Aneignung und Konstruktion neuer Orientierungselemente

– als „funktionale Äquivalente“ zu den historisch-etablierten Religionen – zusammensetze.

Infolge der „Autonomie des Individuums“ könne dieses Überzeugungssystem synkretistische

Formen annehmen. Während es also auf der einen Seite zu einem Traditionsbruch mit

der organisierten Religion kommt, werden die subjektive Religiosität und die Nachfrage

nach Religion von diesem Prozess nicht tangiert. 106

Der Begriff der Individualisierung, der in diesen religionssoziologischen, subjektorientierten

Ansätzen akzentuiert wird, bedarf an dieser Stelle einer Konkretisierung, da

man grundsätzlich zwischen einer philosophischen und einer soziologischen Konzeption

differenzieren muss, denn als Ideengeschichte des Individualismus reichen ihre geistigen

Wurzeln bis in die griechische Philosophie zurück und meint, „die Betonung der Autonomie,

der Würde und Eigenverantwortung“ des Menschen.

104 A. a. O., S. 237 f.

105 Vgl. Knoblauch, Religionssoziologie, S. 117 ff.

106 Vgl. Pickel, Religionssoziologie, S. 194 f.


56 A Theoretischer Teil

Als soziologisches Konzept bedeutet Individualisierung dagegen „realgeschichtliche

Prozesse“, und zwar die „strukturelle Transformation sozialer Institutionen und der Beziehung

zwischen Individuum und Gesellschaft“ 107 . Diese konzeptionelle Differenzierung

ist zwar für analytische Zwecke wichtig, aber die Interdependenz beider Prozesse ist nicht

von der Hand zu weisen. So zeichnet sich der Prozess der Individualisierung vor allem

im Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit und damit mit dem geistigen Aufbruch der

Aufklärung ab, der in der Renaissance und durch den Humanismus auftrat, wobei philosophische,

wissenschaftliche und gesellschaftlich-strukturelle Transformationen parallel

liefen und sich bedingten. Der Mensch als Individuum, ausgestattet mit seiner Würde,

Selbstständigkeit, Selbstentfaltung und (Denk-)Freiheit, rückte immer mehr in den Vordergrund

und prägt das europäische Denken bis heute. 108 Matthias Junge konstatiert in

diesem Kontext:

„Individualisierungsprozesse setzen die kulturelle Erfindung des Individuums voraus.

Erfindung meint in diesem Zusammenhang, dass die Idee des Individuums im Zuge langer

historischer Prozesse schrittweise entwickelt wird. Es bedeutet aber auch, dass mit der Entstehung

der Idee des Individuums eine Veränderung in der Beschreibung gesellschaftlicher

Verhältnisse einsetzt. Diese können nur unter Einbeziehung der Bedeutung der Handlungen

einzelner Individuen neu dargestellt werden. Bedeutsam ist, dass das, was sich anfänglich

nur als mögliche Bereicherung der Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse zeigt, später

zum Angelpunkt der Beschreibung wird.“ 109

Ansätze der „kulturellen Erfindung des Individuums“ seien bereits in Form autobiografischer

Reflexionen in der Spätantike in der Literatur zu erkennen. 110 Die kulturelle Wichtigkeit

des Individuums nahm im Zuge historischer Prozesse zu, wobei Junge in Anlehnung an

Norbert Elias auf die Bedeutung dieser Entwicklung als eine „zentrale Folge des Zivilisierungsprozesses“

hinweist. 111 Junge schreibt weiter:

„Mit der Entstehung des Individuums wird zugleich eine Individualitätssemantik geprägt.

Diese reagiert sowohl auf sich wandelnde gesellschaftliche Strukturen wie auch auf sich

verändernde Selbsterfahrungen der Individuen. Die Komplexitätssteigerung gesellschaftlicher

Verhältnisse wird unter anderem durch Ausdifferenzierungsprozesse von Rollen

aufzufangen versucht. Differenzierungsprozesse eröffnen die Möglichkeit zur Beschreibung

eines Individuums als Individualität durch die Angabe der jeweiligen Rollenkombinationen.

Die veränderte Selbsterfahrung beruht vor allem darauf, dass sich, zuerst im entstehenden

Bürgertum, Individuen als Individuen verstehen lernen.“ 112

107 Vgl. Ulrich Beck, Individualisierung, in: Günter Endruweit (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie,

Stuttgart 2002 , S. 227

108 Vgl. Christoph Helferich, Geschichte der Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart

und Östliches Denken, München 1999, S. 117 ff.

109 Matthias Junge, Individualisierung, Frankfurt/M., S. 31.

110 Vgl. a. a. O., S. 31 f.

111 Vgl. a. a. O., S. 34 f.

112 A. a. O., S. 35


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 57

Diese „Individualitätssemantik“ kristallisierte sich vor allem im 19. Jahrhundert, welches

das „bürgerliche Jahrhundert“ genannt werden sollte, stärker heraus. Ein kleiner Bevölkerungsanteil

von Ärzten, Professoren, Beamten usw., der – je nach europäischem Land und

je nach Definition von Bürgertum – maximal 15 Prozent der Gesellschaft ausmachte, sollte

in allen zentralen gesellschaftlichen Teilsystemen, wie Wirtschaft, Kultur, Familie, Politik

usw., Transformationen in die Wege leiten. Vorausgegangen waren die Revolutionen des

18. Jahrhunderts, wie die in Frankreich, wobei ein Ideal die selbstständige Bestimmung

der individuellen Lebensläufe und Ziele war. 113 Ein Faktor hierfür war beispielsweise auch

das bürgerliche Ehemodell, das nicht mehr auf arrangierten Beziehungen, sondern auf der

freiwilligen Wahl des Ehepartners beruhte. Hierin drückt sich eine sehr starke Individualisierung

aus, die oft auf die Rolle des Mannes zurückgeführt werden kann. In der Regel

rekrutierten sich diese Männer aus dem Beamtentum und wiesen aufgrund der beruflichen

Integration und der Schaffung ökonomischer Grundlagen für die Ehe ein relativ hohes

Heiratsalter auf. Wegen der finanziellen Autonomie und des reifen Alters legten sie Wert

auf eine selbstbestimmte Partnerwahl. Je mehr sich die sozialstrukturellen Bedingungen

in der Gesellschaft änderten und je mehr Frauen in das Erwerbsleben eintraten, desto

geringer wurde die Rolle der ökonomischen Voraussetzungen für die Ehe. Auch sollten

Selektionskriterien, wie soziale Merkmale, ihre Bedeutung für Eheschließungen verlieren

und sich im Zuge der Individualisierung die Liebesheirat durchsetzen. 114

Die gesellschaftlichen strukturellen Transformationsprozesse nahmen im Laufe des

19. und 20. Jahrhunderts zu und damit änderte sich zunehmend das Verhältnis von Gesellschaft

und Individuum. Zugleich rückte auch der Individualisierungsprozess immer

stärker in das Forschungsinteresse der (Religions-)Soziologie. Allerdings existiert innerhalb

der Sozialwissenschaften und speziell der (Religions-)Soziologie bis heute kein Konsens

bei der Definition der Individualisierung. Die beiden Religionssoziologen Detlef Pollack

und Gert Pickel zeigen in der Auseinandersetzung mit der Begriffsbestimmung, dass der

Begriff „Individualisierung“ aufgrund dessen großer Verbreitung nicht immer konsequent

einheitlich und widerspruchsfrei verwendet wird. In dieser Variationsbreite und Inkonsistenz

sehen sie jedoch Chancen und Risiken zugleich: Zum einen habe diese Definitionsbreite

im Gegensatz zu einer „eindimensionalen“ Begriffsverwendung eine größere Reichweite,

weil man „eine Vielzahl an Phänomene“ in diesem Kontext „einfangen“ könne und somit

auch eher der Widersprüchlichkeit, Komplexität und Vielfalt der Realität gerecht werde, 115

auf der anderen Seite stellt sich aber die Frage,

„[…] ob wir uns wirklich mit einer essayistischen Wirklichkeitsbeschreibung begnügen

müssen oder ob wir nicht in der Lage sind, die von uns gebrauchten wissenschaftlichen Instrumentarien

zu schärfen. Denn die Gefahr einer Ausweitung des Begriffs Individualisierung

113 Vgl. Jürgen Kocka, Das europäische Muster und der deutsche Fall, in: Ders., Bürgertum im 19.

Jahrhundert, Bd. I: Einheit und Vielfalt Europas, Göttingen 1995 S. 9 ff.

114 Vgl. Karl Lenz, Paare in der Aufbauphase, in: Ders./Frank Nestmann (Hrsg.), Handbuch persönliche

Beziehungen, Weinheim und München 2009, S. 193 ff.

115 Vgl. Detlef Pollack/Gert Pickel, Individualisierung und religiöser Wandel in der Bundesrepublik

Deutschland, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 28, Heft 6, Dezember 1999, Stuttgart S. 466


58 A Theoretischer Teil

besteht darin, daß der Gehalt des bezeichneten Begriffs unbestimmbar wird und damit eine

Universalität erhält, die ihm vielleicht gar nicht zukommt.“ 116

Für die vorliegende Untersuchung wird daher die Definition von Pollack und Pickel aufgegriffen,

die sie aus dieser gesamten Definitionsbreite herausgearbeitet haben:

„Individualisierung wird also – das ist unser Vorschlag – hier verstanden als ein Prozeß der

zunehmenden Selbstbestimmung des Individuums und seiner gleichzeitig abnehmenden

Fremdbestimmung durch äußere gesellschaftliche Instanzen und Faktoren. Individualisierung

meint natürlich nicht, daß das Individuum am Ende des bezeichneten Prozesses etwa

freikommt von der Gesellschaft und sich dann im gesellschaftsfreien Raum bewegt. Auch

der Prozeß der Individualisierung […] ist an gesellschaftliche Voraussetzungen gebunden.

Die Mindestvoraussetzung besteht darin, daß, wenn Handeln selbstbestimmt erfolgen soll,

das Individuum die Möglichkeit haben muß, zwischen verschiedenen Optionen zu wählen.

Die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Individualisierung besteht also in der strukturellen,

institutionellen und kulturellen Differenzierung bzw. Pluralisierung der Gesellschaft.

Nur wenn es zu einer Ausweitung der individuellen Handlungsmöglichkeit kommt, hat das

Individuum die Chance, zwischen verschiedenen Optionen zu wählen und insofern selbstbestimmt

zu handeln.“ 117

Pollack und Pickel führen ihre Überlegung damit weiter aus, dass diese „Ausweitung der

individuellen Handlungsmöglichkeit“ sowohl sozialstrukturell als auch kulturell bedingt

sei. In Anlehnung an Kohli und Beck wird unter sozialstruktureller Bedingtheit der Prozess

verstanden, der mit dem Anstieg der materiellen Lebensqualität, der Herausbildung

des Sozialstaates, der Zunahme an Freizeit in der Relation zur Arbeitszeit usw. erst die

Voraussetzungen für die Individualisierung ermöglichte. Bei den kulturellen Transformationsprozessen

werden als Bedingungen für die „normative Freiheit“ des Individuums

die Abnahme der „[…] über moralische Sanktionen und soziale Kontrolle abgestützte[n]

Rigidität des kulturell strikte[n] Norm- und Wertesystems“ genannt. 118 Die Ausweitung

der Möglichkeiten für das Individuum ist auch für das religiöse Feld entscheidend:

„Für das religiöse Feld bedeutet dies, daß sich Individualisierungsprozesse nur dann vollziehen

können, wenn es zu einer Erweiterung der individuell wählbaren religiösen Handlungsmöglichkeit

kommt. Das heißt, daß Individualisierung auf dem religiösen Feld einmal davon

abhängt, ob die normative Kraft traditioneller religiöser Weltdeutungssysteme zurückgeht,

und zum anderen davon, ob sich die Vielzahl alternativer religiöser Sinndeutungen erhöht, sei

es, daß die Zahl der verfügbaren Alternativen größer wird oder daß die Wahrscheinlichkeit

vorher unwahrscheinlicherer Optionen zunimmt.“ 119

Den scheinbaren Widerspruch, dass das Ausmaß der Individualisierung auf „die Erweiterung

oder Einschränkung gesellschaftlicher und kultureller Opportunitätsstrukturen“

zurückgeführt werden könnte und somit einen „fremdbestimmten Prozess“ suggeriere“,

116 A. a. O., S. 466 f. ; Hervorhebung im Original.

117 A. a. O., S. 467 f. ; Hervorhebungen im Original.

118 Vgl. a. a. O., S. 468

119 Ebd.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 59

lösen die beiden Autoren dadurch auf, dass sie „zwischen gegebenen Opportunitätsstrukturen

und der individuellen Wahrnehmung der in ihnen liegenden Chancen“ eine

Unterscheidung vornehmen: 120

„Auch wenn sich das Angebot religiöser Alternativen verbreitert hat, muß man es individuell

noch nicht wahrnehmen. Von Individualisierung kann man erst dann sprechen, wenn sich

der einzelne zu diesen ausgeweiteten religiösen Wahlmöglichkeiten selektiv verhält. Eine

zunehmende Pluralisierung und Heterogenität auf dem religiösen Feld impliziert nicht notwendiger

Weise auch eine Individualisierung des religiösen Handelns.“ 121

Unabhängig vom religiösen Feld zeigen zahlreiche Studien, dass der Individualisierungsprozess

in Deutschland stark fortgeschritten ist. So legt die sehr differenzierte Sinus

Milieu-Studie dar, dass die sozialen Milieus und Lebensstile in Deutschland heute nicht

ausschließlich nach den Lebenslagen differenziert werden können. Zwar sind materielle

Faktoren, wie Einkommen und beruflicher Status, immer noch entscheidend, aber

Deutschlands Sozialstruktur wird eben zunehmend nicht nur entlang ökonomischer

Kriterien in traditionelle Klassen aufgeteilt, sondern es werden entlang der vier Kategorien

„gesellschaftliche Leitmilieus“, „traditionelle Leitmilieus“, „Mainstream-Milieus“

sowie „hedonistische Milieus“ sehr durchlässige Grenzen gezogen, wobei innerhalb dieser

Kategorien nochmals differenziert wird. 122 Die Pluralität in den Wertevorstellungen zeigt

in diesem Zusammenhang die Längsschnittstudie „Werteindex“, die quantitative und

qualitative Daten zur Wahrnehmung, zum Wandel und zur Verschiebung von Werten

seitens der Internetuser erhebt. Demnach nehmen kollektive Werte zugunsten individueller

Werte ab, und zugleich sinkt das Vertrauen in die Gesellschaft, sodass sich die Individuen

eigene Gemeinschaften suchen. Des Weiteren kommen für die individuelle Lebensqualität

und Selbstverwirklichung die Werte „Gesundheit“, „Freiheit“ und „Erfolg“ noch vor der

Familie. Zwar ist die Familie für die Lebensqualität ebenfalls wichtig, sie musste aber seit

2012 zwei Plätze im Werte-Ranking einbüßen. 123

Die genannten gesellschaftlichen und kulturellen Opportunitätsstrukturen sind entsprechend

dem oben definierten Verständnis für Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse

gleichermaßen relevant, denn auch die Frage von Entkirchlichung und

Bedeutungsverlust von Religion hängt davon ab, inwieweit ein Staat oder eine Gesellschaft

die notwendigen Voraussetzungen beziehungsweise Opportunitätsstrukturen hierfür bietet.

In einem Staat wie dem Iran, in dem ein theokratisches Staatsystem herrscht und die Normen

und Werte durch zahlreiche formelle und informelle Institutionen kontrolliert sowie

sanktioniert werden, ist es aufgrund des (sozialen) Konformitätsdruckes weitaus schwieriger,

keine Gotteshäuser zu besuchen; auch sind die Möglichkeiten für selbstbestimmte

individuelle Lebensführungen aufgrund geringer struktureller Wahlmöglichkeiten nur

wenig ausgeprägt. Diese Tatsache führt zur nächsten Frage, und zwar ob es unter gleichen

120 Vgl. ebd.

121 Ebd.

122 Vgl. Rainer Geissler, Die Sozialstruktur Deutschlands: Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit

einer Bilanz zur Vereinigung, Wiesbaden 2008, S. 110 ff.

123 Vgl. Peter Wippermann/Jens Krüger (Hrsg.), Werte-Index 2014, Frankfurt/M. 2013


60 A Theoretischer Teil

rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Voraussetzungen wie in den westlichen

Staaten zu analogen Entwicklungen, vor allem im Kontext des religiösen Feldes,

kommen könnte. Vergleicht man die Entwicklungen innerhalb europäischer Länder, so

ist festzustellen, dass Prozesse der Säkularisierung- und Individualisierung zunehmend

in allen Gesellschaften Einzug halten. Der US-Religionssoziologe José Casanova belegt in

diesem Zusammenhang anhand empirischer Studien zur Religiosität in Europa, dass zwar

der allgemeine Glaube an einen Schöpfergott noch weitgehend hoch sei, die individuelle

Religiosität im Sinne von regelmäßigem Beten zu diesem Gott sowie religiöser Erfahrungen

aber weit niedriger ausfalle. 124 Für die These der traditionellen Säkularisierungstheoretiker

sprechen vor allem die harten Fakten bezüglich der seit den 1950er-Jahren kräftig abnehmenden

Kirchenbesucherzahlen:

„In mehr als der Hälfte der europäischen Länder besuchen weniger als 20 Prozent der Bevölkerung

regelmäßig eine Kirche. In Ostdeutschland, Russland und in den skandinavischen

Ländern sinkt der Anteil regelmäßiger Kirchgänger sogar in den einstelligen Bereich. Nur in

drei europäischen Ländern, Irland, Polen und der Schweiz besucht eine Bevölkerungsmehrheit

regelmäßig die Kirche.“ 125

Auf der Grundlage der gegenwärtigen Entwicklungen wagt Casanova einen Blick in die

Zukunft in Form von hypothetischen Prognosen:

„Was die erste Bedeutung des Wortes säkular angeht, also das Leben innerhalb des immanenten

Rahmens der säkularen Welt, sind wir nicht nur im Westen immer noch säkular und

werden es wohl auch bleiben. Selbst die meisten nicht-westlichen Gesellschaften schließen

sich dieser Entwicklung an: Kosmische Ordnungen werden zunehmend durch die moderne

Wissenschaft und Technologie definiert, Gesellschaftsordnungen durch Mitgliedschaft in

einem Netz demokratischer Staaten, Marktwirtschaften und mediatisierter Öffentlichkeiten,

moralische Ordnungen schließlich durch die Kalkulationen von Rechte tragenden individuellen

Akteuren, die Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und den pursuit of happiness einfordern.

Was die zweite Bedeutung von säkular angeht, gibt es in der Bevölkerung westeuropäischer

Gesellschaften, vielleicht abgesehen von einem gegenläufigen Befund bei der Gruppe der

Einwanderer, nur wenige Belege für eine signifikante religiöse Wiederbelebung. Man könnte

vielleicht behaupten, dass sich die Rate des religiösen Niedergangs etwas verlangsamt hat oder

dass in einigen Ländern die Abwärtsbewegung zum Halten gekommen ist. Dennoch hat die

Säkularisierungsrate in vielen europäischen Gesellschaften offensichtlich einen point of no

return erreicht. Religion ist als ‚Erinnerungskette‘ […] hoffnungslos zerbrochen, und ganze

Generationen junger Europäer wachsen ohne jede persönliche Beziehung zur christlichen

Tradition oder sogar ohne Wissen über diese auf. 126 Nicht nur die Kirchen, sondern vor

124 Vgl. José Casanova, „Sind wir immer noch Säkular?“ Thesen zum Prozess der Säkularisierung,

in: Christian Peters/Roland Löffler (Hrsg.), Der Westen und seine Religionen. Was kommt nach

der Säkularisierung? Freiburg im Breisgau 2010, S. 60 ff.

125 A. a. O., S. 62

126 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass nach der Studie des PewResearch Center Atheisten

und Agnostiker mehr über Religion, sogar mehr über Christentum, wussten als sich als

christlich bzw. gläubig definierende Befragte (vgl. „U.S. Religious Knowledge Survey“ abgerufen

unter „http://www.pewforum.org/2010/09/28/u-s-religious-knowledge-survey/ [28.3.2014).


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 61

allem die Familien haben ihre Rolle im Prozess religiöser Sozialisierung verloren. Schließt

man eine unvorhersehbare Wiederbelebung aus, dann ist es eher unwahrscheinlich, dass

dieser Prozess der Säkularisierung, d. h. die Entkirchlichung der europäischen Bevölkerung,

umgekehrt werden kann. In dieser Hinsicht wäre es voreilig, europäische Gesellschaften als

post-säkular zu bezeichnen.“ 127

Der von Casanova erwähnte Anschluss nicht-westlicher Gesellschaften an den Säkularisierungsprozess

– wenn zahlreiche Faktoren der Modernisierung, wie Individualisierung

oder Wohlstandsanhebung, wie oben von Pollack in Form von Hypothesen herausgearbeitet

und empirisch überprüft, vorliegen – führt also irgendwann zu einem point of no return.

Zeitlich verzögert sind dann im Sinne des cultural lag die gleichen Erfahrungen in Fragen

der Religion zu erwarten. Den Begriff cultural lag (Theorie der kulturellen Phasenverschiebung)

prägte William Fielding Ogburn, der die unterschiedlichen Entwicklungen von

Teilbereichen einer Gesamtgesellschaft untersuchte. Ogburn definiert dabei den cultural

lag – den er als das soziale Erbe der Menschheit versteht – wie folgt:

„A cultural lag occurs when one of two parts of culture which are correlated, changes before

or in greater degree than the other part does, thereby causing less adjustment between the

two parts than existed previously.“ 128

Kultur wird dabei von Ogburn verstanden als

„[…] the accumulated products for human society, and includes the use of material objects

as well as social institutions and social ways of doing things.“ 129

Wie Richard L. und June E. Brinkman darlegen, zählt der cultural lag in der amerikanischen

Soziologie zu einem wichtigen Ansatz, um soziale Veränderungen und Probleme

zu analysieren:

„As concept and theory, cultural lag helps to identify, analyse and explain social problems as

well as to predict and anticipate future problems. More than that, it can also be policy-oriented

and direct us to possible solutions.“ 130

Ogburn differenzierte dabei zwischen einer materiellen (Wirtschaft, Technik) und immateriellen

(Recht, Ethik, Soziales) Kultur. Im Kontext von Entwicklungen in den beiden

Bereichen attestierte er zunächst der materiellen Kultur ein höheres Tempo hinsichtlich

von Transformationsprozessen, sodass die immaterielle Kultur zeitlich hinter dieser Entwicklung

liege. Der Grund für das Hinterherhinken der immateriellen Kultur wird dabei

mit der kulturellen Trägheit begründet:

127 Casanova, „Sind wir immer noch Säkular?“, S. 63 f. ; Hervorhebungen im Original.

128 William Fielding Ogburn zit. n. Richard L. Brinkmann/June E. Brinkman, Cultural Lag: conception

and theory, in: International Journal of Social Economics, Vol. 24 No. 6, 1997, S. 609

129 A. a. O., S. 611

130 Ebd.


62 A Theoretischer Teil

„There are those who cling to the old forms (cultural inertia) for various reasons: settled social

habits promoting institutional inertia in the form of vested interests; conformity due to fear

of ostracism; and the pastbinding power of tradition, among many others. Consequently,

aspects of non-material culture, manifesting institutional scelerosis, may present obstacles

to change, and lag behind the characteristic acceleration of material culture.“ 131

Entsprechend der Theorie der kulturellen Phasenverschiebung von Ogburn entsteht

infolge von „ungleichen Zeitintervallen“ ein Spannungsverhältnis, weil es Folgen für die

immaterielle Kultur, wie etwa für die Sozialstruktur einer Gesellschaft, mit sich bringt. 132

Dabei wird „non-material-culture“ wiederum in einen „adaptive“ und „non-adaptive“ Teil

differenziert, die, wie nachfolgend von Brinkmann und Brinkmann erläutert, in einem

wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen:

„An example of this would be the family, which is a part of non-material culture. When the

factory system provided work away from home, the family had to adapt and adjust to these

changed material conditions. At the same time, some of its functions remained constant,

and were non-adaptive, such as procreation. Culture evolves and accumulates as a result of

invention, discovery and diffusion. It accumulates selectively because of the persistence of

cultural forms (cultural inertia) and the addition of new forms.“ 133

Die klassische cultural lag-Theorie wurde jedoch erweitert und modifiziert. In diesem

Rahmen wurde darauf hingewiesen, dass ein lag auch zwischen zwei Elementen innerhalb

der materiellen Kultur vorliegen könne. Des Weiteren kann ein lag auch zwischen zwei

Bestandteilen der immateriellen Kultur vorliegen. 134 Dazu Ogburn:

„Als die Hypothesen (sic!) der Theorie der kulturellen Phasenverschiebung veröffentlicht

wurde, wies ich jedoch darauf hin, daß die unabhängige Variable ebenso gut eine Ideologie

oder eine andere nicht-technische Variable sein könnte. […] Die kulturelle Phasenverschiebung

ist unabhängig davon, welcher Art der auslösende oder der nachhinkende Teil ist,

vorausgesetzt, daß beide in Wechselbeziehung zueinander stehen. Die unabhängige Variable

kann technischer, ökonomischer, politischer, ideologischer oder beliebig anderer Natur

sein. Immer wenn die Ungleichheit des Zeitpunktes oder des Grades der Veränderung eine

Spannung in den aufeinander bezogenen Teilen hervorruft oder wenn mit anderen Worten

die Korrelation schwächer wird, liegt eine kulturelle Phasenverschiebung vor. Das Maß der

allgemeinen Anwendbarkeit dieser Theorie hängt davon ab, wieviel Wechselbeziehung zwischen

den verschiedenen Kulturteilen vorhanden ist. Es steht außer Zweifel, daß zahlreiche

Beziehungen bestehen. Religion und Wissenschaft, Familie und Erziehung, Erziehung und

Industrie, Straßen und Kraftfahrzeuge stehen in Beziehung zueinander.“ 135

131 Brinkmann/Brinkman, Cultural Lag, S. 612

132 Vgl. William Fielding Ogburn, Kultur und sozialer Wandel. Ausgewählte soziologische Texte,

Neuwied am Rhein/Berlin 1969, S. 140

133 Brinkmann/Brinkman, Cultural Lag, S. 611

134 Vgl. a. a. O., S. 613

135 Ogburn, Kultur und sozialer Wandel, S. 139 f.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 63

Auf die umwälzenden Entwicklungen der Gegenwart bezogen weist Ogburn des Weiteren

ergänzend zu seiner Theorie darauf hin, dass die zahlreichen Innovationen in den angewandten

Wissenschaften sowie die vielen Erfindungen „in der Art einer Exponentialfunktion“

steigen und somit zu einer Akkumulation der Verspätungen in den kulturellen

Phasenverschiebungen führen. 136 Im Zuge der Modifikationen und Ergänzungen der

cultural lag-Theorie wurden auch von anderen Wissenschaftlern unterschiedliche Impulse

gegeben. So ist in diesem Zusammenhang bei Emrich zu lesen:

„Im deutschsprachigen Raum entwickeln Thurnwald und Mühlmann den C.L.-Begriff weiter

und verweisen darauf, dass jede kulturelle Gegenwart im Sinne der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Einstellungen aufweist, die zu verschiedenen Zeiten Geltung beanspruchten,

und dass sich vor allem die geistige Verfassung einer Gruppe langsamer ändert als die übrige

Kultur.“ 137

Dem wertfreien Anteil der cultural lag-These zufolge entsteht also aufgrund des unterschiedlichen

Tempos der Transformationsprozesse in der materiellen und immateriellen

Kultur ein Spannungsverhältnis, das sich innerhalb einer Gesellschaft allerdings mit der

Internalisierung der materiellen Fortschritte sowie den damit zusammenhängenden sozialen

Konsequenzen mit der Zeit weitgehend entspannen sollte, ohne sich ganz auflösen

zu müssen, denn, wie in dem obigen Zitat deutlich wird, muss diese Entwicklung „im

Sinne der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ diese Ko-Existenz raum-zeitlich parallel

existierender und sich kulturell-konträr verhaltender Phänomene implizieren.

Die cultural lag-Theorie von Ogburn sah sich in den soziologischen Diskursen unterschiedlicher

Kritik ausgesetzt. In Anlehnung an Don Martindale weist Eike Emrich beispielsweise

auf die Schwierigkeit der klaren Trennung von materieller und immaterieller

Kultur sowie auf die „wertende Grundkonzeption der Theorie“ hin:

„Der ungleiche Entwicklungsgrad einzelner Kulturbereiche ist nur mit Hilfe eines wertgebundenen,

vom Forscher formulierten Kulturzwecks als eigentlichem Entwicklungsziel

beurteilbar. Wertfrei beschreibt die Theorie des C.L. nur das unterschiedliche Tempo im

Wandel verbundener, einzelner Kulturbereiche. Die Beurteilung der Fortschrittlich – bzw.

Rückständigkeit und die Analyse der konkret mit dem sozialen Wandel verbundenen sozialen

Prozesse unterbleiben.“ 138

Brinkmann und Brinkmann zeigen in diesem Zusammenhang, dass dem cultural lag-Ansatz

auch vorgeworfen wurde, zu allgemein und daher unpräzise zu sein, sodass mit dieser

Konzeption alle möglichen Daten als kulturelle Phasenverschiebung interpretiert werden

könnten. Konkret geht es vor allem um die Frage der empirischen Messbarkeit. 139 Diese

136 Vgl. a. a. O., S. 141 f.

137 Ebd.

138 Eike Emrich, Cultural Lag, in: Günter Endruweit/Gisela Trommsdorff (Hrsg.), Wörterbuch

der Soziologie, Stuttgart 2002, S. 76

139 Vgl. Brinkmann/Brinkman, Cultural Lag, S. 612 f.


64 A Theoretischer Teil

Antwort gibt Ogburn selbst, indem er auf folgende Voraussetzungen bei der Anwendung

dieser Theorie auf empirische Phänomene hinweist:

„1) Die Unterscheidung von wenigstens zwei Variablen; 2) den Nachweis, daß zwischen den

beiden Variablen ein Anpassungsverhältnisse [sic!] besteht; 3) den exakten Nachweis, daß

sich die eine Variable verändert hat und die andere nicht; den Nachweis, daß infolge der

früheren oder stärkeren Veränderung der einen Variablen eine weniger gute Anpassung

zwischen beiden besteht als vorher.“ 140

Durch diese konkrete Explizierung der einzuhaltenden Schritte tritt Ogburn denjenigen

Kritikern entgegen, die unter cultural lag nur einen Begriff und somit nicht ein durchdachtes

Konzept erkennen. Ogburn hebt hervor, dass dieses Konzept weitaus komplexer ist und

man infolge der Untersuchungen von Beziehungen auch von einer Theorie sprechen könne.

Anhand von Hypothesenbildungen aus dieser Theorie rekonstruiert Ogburn zahlreiche

kulturelle Phasenverschiebungen in der menschlichen Geschichte und Gegenwart, wie

etwa die zeitlich verzögerten Anpassungen von Gesetzgebungen an Arbeitsunfälle infolge

der beschleunigten Industrialisierung. 141

In der folgenden Abbildung ist der Prozess des cultural time lag bei Vorhandensein von

mindestens zwei miteinander korrelierenden Variablen grafisch visualisiert. Diese Grafik

ist nach drei Zeitzonen eingeteilt und skizziert den gesamten zeitlichen Rahmen, innerhalb

dessen der cultural lag stattfindet. In der Zeitzone A befinden sich die beiden miteinander

korrelierenden Variablen in einem Zustand der Übereinstimmung. Die Linie 1 stellt dabei

die unabhängige Variable dar, die zeitlich ab Punkt a den Übergang in die nächste Zeitzone

B vollzieht. Die bis zu diesem Punkt existierende Anpassung der beiden Variablen wird ab

dieser Zeitzone aufgelöst, weil die Linie 2 als abhängige Variable – als adaptiver Teil der

Kultur, der zugleich die Bindung an die Vergangenheit repräsentiert – den Anschluss an die

Gegenwart und somit an die unabhängige Variable noch nicht realisiert hat. Dieser Anschluss

wird erst in der Zeitzone C verwirklicht, sodass die beiden Variablen wieder in Form einer

Angleichung miteinander ko-existieren und das Spannungsverhältnis aufgehoben ist. 142

a

b

2__________________________ -----------------------------

1___________----------------------------------------------------

Adjusted Maladjusted Adjusted

(A) (B) (C)

Abb. 1 A sequential time-paradigm of cultural lag

Quelle: Brinkmann/Brinkman, Cultural Lag, S. 615

140 Ogburn, Kultur und sozialer Wandel, S. 137 f.

141 Vgl. a. a. O., S. 138 f.

142 Brinkmann/Brinkman, Cultural Lag, S. 615


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 65

Anhand der oben aufgestellten vier Überprüfungskriterien skizzieren Brinkmann und

Brinkmann die cultural lag-Theorie am Beispiel der Transformation der Rolle der (Ehe-)

Frau sowie des traditionellen Familienbildes mit dem Eintritt der Ehefrauen beziehungsweise

Mütter mit Kindern nach dem Zweiten Weltkrieg in den Arbeitsmarkt nach. Entsprechend

dem ersten Kriterium befinden sich die unabhängige (zunehmender Eintritt

der Frauen und Mütter in den Arbeitsmarkt) und abhängige Variable (die verbreitete

gesellschaftliche Vorstellung, Frauen sollten zu Hause bleiben) in einem (noch) harmonisierenden,

angeglichenen Verhältnis. Mit der quantitativen Zunahme der (Ehe-)Frauen

auf dem Arbeitsmarkt driften ab Punkt a die beiden Variablen auseinander. Zwar bildet

die Geschlechterrollenvorstellung noch das vorherrschende gesellschaftliche Bild, jedoch

widerspricht die soziale Realität auf dem Arbeitsmarkt diesen traditionellen Vorstellungen.

Aufgrund dieser Diskrepanz sind die Mütter mit Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen

konfrontiert; daher ist dieses Zeitintervall durch Fehlanpassungen charakterisiert.

Ab dem Zeitpunkt b sollte infolge sozialer und rechtlicher Verbesserungen ein Prozess der

Wieder-Angleichung der beiden Variablen einsetzen, wobei dieser noch nicht abgeschlossen

ist. Davon zeugen die nach wie vor großen Benachteiligungen oder Diskriminierungen

der Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Eine weitere offene Frage, die bis heute nicht gelöst ist,

ist die (rechtliche und soziale) Vereinbarkeit der modernen Rolle als emanzipierte Frau im

Beruf und Familienleben. Da diese Ungleichheit in den sozialen Institutionen noch stark

verankert ist, wird es Zeit, diese Diskriminierung zu durchbrechen und die Zeitzone C

zu erreichen. 143 Dazu Brinkmann und Brinkmann:

„In summary, the socio-cultural lag between the increasing number of mothers entering the

labour force and the ideology embedded in our social institutions that „woman’s place is in the

home“ has brought about maladjustment in the form of unequal treatment for women in both

the work and family spheres as noted above, in spite of the many changes taking place, this

lag has yet to reach the adjustment zone (C), and there is still a need for the synchronization

of the various parts of culture.“ 144

Die cultural lag-Theorie ist aufgrund der differenzierten Darstellung der empirischen Parameter

also nicht einfach ein allgemeingehaltenes Konzept, sondern kann als analytischer

Bezugsrahmen für Prozesse der sozialen Transformation und Konflikte dienen. Theodor

W. Adorno und Max Horkheimer identifizierten beispielsweise mithilfe des cultural lag

in ihrer Publikation „Dialektik der Aufklärung“ die Folgen der Kommerzialisierung der

Kultur in den USA. Sie sahen in der Kulturindustrie als eine auf rein ökonomische Ziele

fixierte Entwicklung die Ursache dafür, dass die authentische Kultur und das Denken der

Individuen untergraben wird und somit eine Entindividualisierung stattfindet. Daher

stellten sie einen cultural lag fest, weil sie die Situation in den USA der 1940er-Jahre als

einen Blick in die Zukunft sahen, die Europa noch vor sich hat. Europa war zeitlich gesehen

„hinter der Tendenz zum Kulturmonopol“ zurückgeblieben. 145 Vor allem in der Soziologie

143 Vgl., a. a. O., S. 617 ff.

144 A. a. O., S. 621

145 Vgl. Walter Reese-Schäfer, Politische Theorie der Gegenwart in achtzehn Modellen, München

2012, S. 72 ff.


66 A Theoretischer Teil

fand die These des cultural lag rasch Eingang und wird heute als konzeptionelle Erklärung

für das Verhältnis von technischen Entwicklungen und deren gesellschaftlichen Konsequenzen

herangezogen, 146 wie auch in Forschungen, welche die Auswirkungen bestimmter

wirtschaftlicher Abbauprozesse in Regionen mit einer Monostruktur untersuchen, um die

Fehlanpassung der dortigen Bevölkerung an die Folgen des Verlustes eines traditionellen

Berufszweiges zu dokumentieren. 147 Ferner werden das Konzept und die Theorie des cultural

lag in Fragen der Untersuchung der sozialen Gerechtigkeit empirisch angewandt, wenn die

institutionellen Fehlanpassungen infolge des großen Einkommensgefälles in modernen

Gesellschaften offengelegt werden und somit den Reformbedarf der wirtschaftlich liberal

ausgerichteten Institutionen vor Augen führen. 148 Auch in der Migrationsforschung findet

der Begriff cultural lag Verwendung, wenn ihn etwa Wolf-Dietrich Bukow im Zusammenhang

mit den kontroversen Migrationsdebatten in Deutschland gebraucht:

„Der Diskurs über Zuwanderung, Asylmissbrauch, Parallelgesellschaft und Kulturkonflikte

belegt einen fundamentalen cultural lag. Er dokumentiert, dass weniger die Menschen,

zumal die transnationalen Migrant(inne)n und Einwander(inn)en, als vielmehr die für die

deutsche Öffentlichkeit so kennzeichnenden ‚Ausländer-Diskurse‘ immer noch nicht in

der globalen Wirklichkeit, genauer formuliert in der metropolitanen Differenzgesellschaft,

angekommen sind.“ 149

Im Kontext der cultural time lag-These von Egon Spiegel wird davon ausgegangen, dass es

eben unter den gleichen strukturellen und sozialkulturellen Opportunitätsstrukturen in

nicht-westlichen Ländern zu ähnlichen Säkularisierungs- und Individualisierungsprozessen

kommt. Spiegel erweitert die cultural lag-Theorie von Ogburn insofern, indem er die

Globalisierungsprozesse, die infolge der Entwicklungen in der Wirtschaft, der Technologie

sowie der Kommunikation, die eine „soziale Köhäsion globalen Ausmaßes bedingen“ 150 ,

stärker aufgreift. Der Motor dieser Entwicklungen sei vor allem die jüngere Generation, die

„[…] die positiven sozialwirksamen Chancen dieser Entwicklungen erkennen und (verstärkt

durch touristische Möglichkeiten, gezielte Begegnungs- und Austauschprogramme sowie berufliche

Mobilität) ergreifen. Es ist in erster Linie die junge Generation, die durch ihr passives

wie aktives Mitwirken an weitgreifenden medialen wie konsumtiven Unifizierungsprozessen

dazu beiträgt, den in Alteritätsdiskussionen viel zu selten veranschlagten cultural time lag

146 Vgl. Werner Rammert, Technik und Gesellschaft, in: Hans Joas (Hrsg.), Lehrbuch der Soziologie,

Frankfurt/M. 2007, S. 489

147 Vgl. Klaus Geyer, Cultural lag und Schiffbau – Ein Diskussionsbeitrag aus dem Forschungsprojekt

„Kommunikationsraum Werft“, in: Ludwig M. Eichinger/Friedhelm Debus (Hrsg.),

Maritime Kultur und regionale Identitäten: der südliche Ostseeraum, Stuttgart 2007, S. 129 ff.

148 Vgl. Brinkman/Brinkman: Cultural Lag, S. 228 ff.

149 Wolf-Dietrich Bukow, Die Rede von Parallelgesellschaften. Zusammenleben im Zeitalter einer

metropolitanen Differenzgesellschaft, in: Ders. et al. (Hrsg.), Was heißt hier Parallelgesellschaft?

Zum Umgang mit Differenzen, Wiesbaden 2007, S. 29

150 Egon Spiegel, Multireligiös und authentisch: interreligiöses Lernen in einem diachronisch

strukturierten Unterricht, in: KERYKS (Religionspädagogisches Forum international – interkulturell

– interdisziplinär) 11 (2012) , S. 122


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 67

weltweit zusehends auf null hin zu reduzieren und eine global unity im Sinne des von John

R. McNeill und William H. McNeill beschriebenen human web zu realisieren.“ 151

Wie aus dem Zitat deutlich hervorgeht, erweitert Spiegel die Theorie des cultural lag auch

dahingehend, als dass er Ansätze aus der Universalienforschung, wie die in den Alteritätsdiskursen

thematisierten Unifizierungsprozesse, mit aufnimmt. Ein führender Wissenschaftler

in diesem Zusammenhang ist der Ethnologe Christoph Antweiler, der in seinen

Forschungen primär die anthropologischen Grundlagen der Menschheit herausarbeitet. 152

Statt die Unterschiede hervorzuheben, versucht er durch vergleichende Studien, die kulturübergreifenden

Gemeinsamkeiten zu akzentuieren. Trotz der unterschiedlichen und

scheinbaren Differenzen hat nach Antweiler die Menschheit kulturelle Gemeinsamkeiten,

die er unter Universalien verfasst. Im Zuge der Globalisierung treten diese gemeinsamen

kulturellen Muster nicht nur stärker hervor, sondern die Internationalisierung kann gerade

deshalb funktionieren, weil dieser kleinste gemeinsame Nenner in allen Kulturen der Welt

existiert. 153 Dabei ist hinzuweisen, dass die Globalisierung eigentlich kein neuer Prozess ist

wie am Beispiel des globalen Handeln oder der Kunstgeschichte deutlich wird, welche seit

der Antike in einem jahrhundertelangen Prozess zu einer Vernetzung Weltgemeinschaft –

insbesondere ab dem 19. Jahrhundert – führte. 154 Der Prozess der Globalisierung hat sich

seitdem durch neuere Technologien in Transport und Kommunikation intensiviert und auf

alle relevante Bereich des menschlichen Lebens (Wirtschaft, Politik, Kultur, Gesellschaft)

ausgeweitet und zu einer Vernetzung geführt. Insbesondere der grenzüberschreitende

soziale und kulturelle Austausch haben zugenommen. 155

Vor diesem Hintergrund ordnet Spiegel diesen Ansatz der Universalien in die cultural

time lag-Theorie ein, weil mit dem Entstehen bestimmter gesellschaftlicher Rahmenbedingungen

– unabhängig von religiös-kulturellen Prägungen – aufgrund der von Antweiler

identifizierten anthropologischen Gemeinsamkeiten ähnliche Entwicklungen, wie etwa

die Pluralisierung der Lebensstile, in Erscheinung treten. Der Zeitfaktor ist bei diesen

kulturellen Phasenverschiebungen entscheidend. Je nach Akkumulation der wirtschaftlichen,

politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen können die Transformationen

früher oder später eintreten. Diesen cultural time lag beschreibt Spiegel in einem weiteren

Artikel in seiner eigenen Biografie. Aufgewachsen in einer katholischen Familie in einem

151 A. a. O.; Hervorhebungen im Original.

152 Egon Spiegel verfolgt beispielsweise diesen Ansatz der anthropologischen Gemeinsamkeiten in

seiner Soziotheologie, wenn er das gemeinsame Menschenbild des Judentums, Christentums

und Islam gegen die Thesen der Soziobiologie stellt. Diese Bestrebungen eröffnen zu gleich neue

Dimensionen im Kontext des interreligiösen Dialogs sowie in der gemeinsamen Positionierung

zu aktuellen sozio-ethischer Fragen (vgl. Egon Spiegel, „Wer ist meine Mutter, und wer sind

meine Brüder?“ Soziotheologie versus Soziobiologie (i. E.)).

153 Vgl. Christoph Antweiler, Inclusive Humanism: Anthropical Basics for a Realistic Cosmpolitism,

Göttingen 2012, S. 39 ff.

154 Vgl. Ulricke Herrmann, Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte

von Wachstum, Geld und Krisen, Frankfurt/M 2013, S. 97 ff.

155 Vgl. Ditmar Brock, Globalisierung. Wirtschaft – Politik – Kultur – Gesellschaft, Wiesbaden

2008, S. 117 ff.


68 A Theoretischer Teil

kleinen Dorf (Rhön) habe er in den 1960er-Jahren die phasenweisen Auswirkungen der

Modernisierungsprozesse, vor allem die des Siegeszuges des Kapitalismus und infolgedessen

die Zunahme des Konsumverhaltens, miterlebt. Im Zuge des Wirtschaftswunders

war das traditionell geprägte Dorf zahlreichen Veränderungsprozessen unterworfen, die

sehr schnell den Anschluss an die Moderne garantierten, die Lebensqualität der Dorfbewohner

erhöhten und deren Lebensstil änderten. Parallele, zeitversetzte Wiederholungen

dieser Entwicklungen erkennt Spiegel im heutigen China, das in einem rasanten Tempo

den Anschluss an die Moderne finden möchte und wo sich die Lebensstile der Menschen

entsprechend dem „modern (western) way of life“ ändern. 156 Daher richtet sich Spiegel

gegen die Akzentuierung kultureller Differenzen und hebt die Bedeutung des cultural time

lag hervor, welcher unabhängig von ethnisch-kulturellen Traditionen eines Landes oder

von Gesellschaften dazu führt, dass ähnliche Entwicklungen einer Enttraditionalisierung

beobachtbar sind, wie folgende von ihm zitierten Beispiele offenbaren:

„Sometimes we are assuming cultural differences where in fact we may find cultural similarities,

if we start from the premise that it exists somewhat we can call a cultural time lag.

In some countries women are forbidden by Islamic fundamentalists to wear trousers today;

at the end of the 1960 a pastor of roman-catholic church reject to give a schoolgirl the host

(eucharistic bread) because she dared to wear a jeans instead of a skirt in the mass. In Germany

the (partly religious motivated) custom of Arabic women (especially Turkish citizen) to

wear a veil appears strange for a lot of people they are not familiar with the culture (Islamic

religion) behind. This people don’t remember that still about 70 years ago (when no Turkish

people were living in Germany) a lot of women usually wore veils and nuns do this till today.

Till the 1950s no woman dared to go to (Christian) church without a veil or later a hat. At

this time a husband could still beat his wife or force to having sex with him without being

punished for that. Still in the 1950s you could observe especially older men spitting to the

street. Younger people learnt letting do this. Criticism against parents was not usual. Even

married couple doesn’t talk about sexuality. Very quickly the times changed in the 1960s. At

this time in Germany the ‚economic miracle‘ began and construction workers usually worked

day and night, also on Sunday, living in primitive barracks, migrant workers came from

the Southern countries of Europe looking for work, usually going home on public holidays.

The car became a status symbol. In China a little bit more than 50 years later you can watch

phenomenons like these.“ 157

Den Säkularisierungs- und Individualisierungsthesen wurde bisher vorgeworfen, dass

sie zu „eurozentrisch“ seien, weil sie eher empirische Daten und Entwicklungen in den

westlichen Gesellschaften im Blick haben. Hierzu ist auch Japan zu zählen, obwohl dieses

hinsichtlich seiner historisch-religiösen Wurzeln sowie seiner räumlichen Distanz nicht

direkt mit Europa oder dem nordamerikanischen Kontinent vergleichbar ist. Die Entwicklungen

seit dem Ende des 2. Weltkrieges zeigen jedoch auch, dass Säkularisierungs- und

156 Vgl. Egon Spiegel, Friedenswissenschaft in China. Zwischenbilanz einer Kooperation: Eindrücke

und Einträge, S. 14 ff. (i.D.).

157 Egon Spiegel, Cultural Time Lag, not cultural differences, in: Ders./Liu Cheng (Hrsg.), Peace

Building in a Globalized World. An Introduction to Peace Studies with 200 Illustrations and

Comments, S. 1430 (i. E.)


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 69

Individualisierungsprozesse mit der Industrialisierung, der Urbanisierung und Technologisierung

sowie der Enttraditionalisierung stattgefunden haben. 158

Um den „Eurozentrismus-Vorwurf“ zu entkräften, müssten jedoch die internationalen

Studien ausgeweitet und weitere Gesellschaften oder Nationalstaaten – trotz der Diskrepanz

in zentralen Bereichen wie Wirtschaft, Kultur, Religion, Soziales – langfristig untersucht

werden. Wie Pickel zu Recht betont, wird dies mittlerweile in der Religionssoziologie

berücksichtigt:

„Relativ einig ist man sich in den meisten Ansätzen der Säkularisierungstheorien dagegen

mittlerweile über die Notwendigkeit der Berücksichtigung alternativer Prädiktoren (Konfessionelle

Natur, Verhältnis von Politik und Religion, religiöse Konflikte, soziale Ungleichheit)

für religiöse Vitalität und über die Beachtung kultureller Transitionspfade von Religion.

Zwar wird der Prozess der Säkularisierung weiterhin als universal angenommen, er ist aber

eingebettet in eine multikausale Erklärungsstruktur religiöser Vitalität und soziokulturelle

Rahmenbedingungen.“ 159

Pickel weist anhand internationaler Studien, wie in Lateinamerika, Afrika und Asien,

jedoch darauf hin, dass sich nähere Analysen nach wie vor aufgrund des Mangels an

qualitativem und quantitativem empirischem Datenmaterial als schwierig erweisen. Bei

der Erhebung empirischer Daten spielt auch die Wissenschaftsfreiheit in den jeweiligen

Länder eine zentrale Rolle, um verlässliche Informationen für komparative Studien zu

gewinnen. Wie sollten in einem Land wie Saudi-Arabien mit hoher staatlicher und sozialer

Kontrolle sowie einem Homogenitäts- und Konformitätsdruck quantitative und qualitative

Daten erhoben werden, ohne – angstfrei – sozial unerwünschte Antworten zu erhalten?

Neben autoritären Strukturen spielen auch die Möglichkeiten an den wissenschaftlichen

Institutionen eine Rolle, die auf der Grundlage von Forschungsarbeiten relevante Daten

für eine vergleichende Perspektive bieten müssen.

Die Übertragung religionssoziologischer Theorien im internationalen Kontext ist nach

Pickel ferner auch schwierig, weil noch zahlreiche Aspekte berücksichtigt werden müssten:

„In der westlichen Diskussion bisweilen vernachlässigte Aspekte wie der Einfluss sozialer

Ungleichheit, die politische Position der Kirchen im Transformationsprozess, oder die Integrationsfähigkeit

von traditionalen Religionen können zusätzliches Erklärungspotential für die

Verbreitung und Vitalität von Kirchlichkeit und Religiosität entfalten. Die dabei gewonnenen

Erfahrungen sind in die westlichen Debatten zurückzuspielen und können möglicherweise

die Diskussion über die Erklärung religiöser Entwicklungen beleben.“ 160

Vor dem Hintergrund der skizzierten Situation kommt noch eine weitere Vergleichsmöglichkeit

für den cultural time lag hinzu, die für die vorliegende Studie relevant ist: die

Analyse der Entwicklung eingewanderter Religionsgruppen aus weniger säkularisierten

Gesellschaften innerhalb von Aufnahmeländern mit höherem Säkularisierungsgrad. Der

Unterschied dabei ist, dass diese Migrantengruppen ursprünglich aus Gesellschaften

158 Vgl. Christoph Kleine, Buddhismus in Japan, Tübingen 2011, S. 489 ff.

159 Pickel, Religionssoziologie, S. 176

160 A. a. O., S. 391


70 A Theoretischer Teil

stammen, die räumlich und zeitlich – im Sinne von Fortschritten in der Technologie,

Urbanisierung usw. – voneinander entfernt sind und zudem große Unterschiede hinsichtlich

politischer Systeme, gesellschaftlicher Stellung der Religion und der Traditionen

aufweisen. Religionsgruppen wie Muslime leben zwar in westlichen Gesellschaften, wie

der in Deutschland, unter den gleichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, allerdings

kommt zu den oben genannten Unterschieden noch das soziale Alter im Aufnahmeland als

weiterer Einflussfaktor hinzu. Bezogen auf das soziale Alter der Muslime in Deutschland

sprechen wir hier von einem Zeitraum von 50 Jahren, da der Islam ein Produkt der Arbeitsmigration

darstellt. Jedoch reicht das soziale Alter allein auch nicht aus, da zahlreiche

weitere Faktoren im Migrationskontext berücksichtigt werden müssen, weil der Prozess

der Integration und Adaption nicht einfach unilinear verläuft.

Vor diesem Hintergrund wird zwischen zwei Formen des cultural time lag unterschieden:

der externe cultural time lag als ein komparativ internationaler Ansatz, um zeitlich verzögerte

und verlagerte kulturelle Entwicklungen zwischen Nationalstaaten und Gesellschaften

zu untersuchen, und der interne cultural time lag, um kulturelle Phasenverschiebungen

bezüglich der Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse innerhalb von Nationalstaaten

und Gesellschaften offen zu legen, und zwar am Beispiel von sozialen Gruppen mit

geringerem sozialem Alter im Kontrast zur dominanten, historisch-traditionell verwurzelten

Mehrheitsgesellschaft, die ein viel höheres soziales Alter aufweist und längerfristig in die

soziale, wirtschaftliche und politische sowie kulturelle Entwicklung des entsprechenden

Nationalstaats eingebettet ist. Die „kulturelle Distanz“ dieser Mehrheitsgesellschaft mit

dem höheren sozialen Alter zu den materiellen oder immateriellen Fortschritten ist geringer,

weil sie eine viel längere Anpassungszeit an diese neuen Bedingungen aufweisen.

Diese zweite Form wird in der vorliegenden Abhandlung untersucht. Die Annahme

ist dabei folgende: Wenn das religiöse Feld, insbesondere kirchliche Strukturen und

kirchliche Glaubensauffassungen, in Gesellschaften mit einem hohen Säkularisierungsund

Individualisierungsgrad an Bedeutung verliert und die Selektionsmöglichkeiten im

„Supermarkt der Religionen und Lebensstile“ zunehmen, sind gleiche Erfahrungen für

religiöse Einwanderergruppen mit geringerem sozialen Alter innerhalb dieser säkularisierter

und individualisierter Gesellschaften, die trotz eines hohen religiösen Organisationsgrades

und trotz einer hohen subjektiven Selbsteinschätzung der Religiosität, sich an

die vorherrschenden Bedingungen adaptieren, zu erwarten. 161

161 Dieser Prozess des cultural time lag verläuft auch innerhalb Deutschlands ganz unterschiedlich.

Nimmt man den Individualisierungsprozess in Berlin, so erhält man ganz andere Daten als

etwa in München. Urbanisierungsprozesse lassen also die Opportunitätsstrukturen und damit

auch die Wahlmöglichkeiten steigen.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 71

1.2 Ursache-Wirkungsmechanismen der Säkularisierungs- und

Individualisierungsprozesse am Beispiel der religiösen

Erziehung und des religiösen Lernens an den Lernorten

‚Gemeinde‘ und ‚Schule‘ sowie kirchliche Reaktionen darauf

1.2 Ursache-Wirkungsmechanismen der Säkularisierungsprozesse

Die oben dargestellten gesellschaftlichen Prozesse im Kontext von Säkularisierung und

Individualisierung übten in den letzten Jahrzehnten in Deutschland einen Einfluss insbesondere

auf die Rolle der religiösen Erziehung und Bildung am Lernort ‚Schule‘ aus.

Da alle Lernorte – das heißt Familie, Kirche und Schule – in einer wechselseitigen Beziehung

zueinander stehen, beeinflussen die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen auch

das Verhältnis zueinander. Das zeigt sich in Deutschland unter anderem darin, dass die

Lernorte ‚Gemeinde‘ und ‚Familien‘ im Zuge gesellschaftlicher Transformationsprozesse

zunehmend an Bedeutung verloren haben und als Reaktion hierauf sich der schulische

Religionsunterricht für die Kirchen zu einem wichtigeren Handlungsfeld herauskristallisierte.

Gegenwärtig zeigen jedoch die Abmeldezahlen vom christlichen Religionsunterricht,

dass auch diese letzte „Bastion“ ebenso sehr prekär ist, auch wenn durch die Einführung

des islamischen Religionsunterrichts offensichtlich kurz- bis mittelfristig Synergieeffekte

zu erwarten sind.

In diesem Kapitel wird der Fokus auf den schulischen Religionsunterricht in Deutschland

in Form einer historischen Rekonstruktion sowie eine Betrachtung der gegenwärtigen

Situation gerichtet. Ihre Entstehung, Entwicklung und religionspädagogischen Paradigmenwechsel

werden jeweils in der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen

ihrer Zeit untersucht. Dabei wird deutlich, dass seit dem 19. Jahrhundert zwischen den

Religionspädagogen kontroverse Debatten über Inhalte und Ziele des Religionsunterrichts

geführt werden, um den zeitlichen Herausforderungen gerecht zu werden und

die Legitimation dieses Unterrichtsfaches zu untermauern. 162 Wie Franz Trautmann in

seiner Analyse religionspädagogischer Konzepte, von der „Biblischen Geschichte“ bis zur

„Materialkerygmatischen Katechese“ – in dem Zeitraum von 1800 bis 1970 – zeigt, hat

der kulturgeschichtliche Kontext einen entscheidenden Einfluss auf die konzeptionellen

Entwicklungen des Religionsunterrichts ausgeübt. 163 Religionspädagogisch-katechetische

Innovationen waren dabei in jeder Epoche mit der Klage begleitet, dass eine zunehmende

Entkirchlichung stattfinde, die vorweg zusammengefasst für den katholischen Kontext

folgende Reaktionen mit sich brachte:

„• Die Aufklärung habe in steigendem Ausmaß den christlichen Offenbarungsglauben

negiert (u. a. M.): Dieser Entwicklung sei das heilsgeschichtliche Konzept der ‚Biblischen

Geschichten‘ entgegenzustellen.

• Die Industrialisierung und Demokratisierung hätten unterschiedliche Formen positivistischer

Verflachung gefördert und damit die überkommenen christlichen Traditionen in

162 Vgl. Eckart Nordhofen/Anton A. Bucher, Deutschland, in: Karl Graf Ballestrem/Sergio Belardinelli/Thomas

Cordines (Hrsg.), Kirche und Erziehung in Europa, Wiesbaden 2005, S. 49 ff.

163 Vgl. Franz Trautmann, Religionsunterricht im Wandel. Eine Arbeitshilfe zu seiner konzeptionellen

Entwicklung, Essen 1990, S. 99 ff.


72 A Theoretischer Teil

erregendem Umfang aufgegeben (u. a.m): Dem habe das neuscholastische Theologie- und

Katechismuskonzept entgegenzuarbeiten.

• Nach dem Verlust der Arbeiterschaft drohe die innere Emigration des gesamten Katholizismus

(u. a. M.): Dieser Gefahr sei zu begegnen mit der Übernahme der reformpädagogischen

Bestrebungen und der Einleitung einer innerkirchlichen Aufbruchbewegung.

• Gegen den Fortgang der Entchristlichung und der pädagogischen Verengung (auf das

Psychologisch-Methodische) seit mit einer Rückbesinnung auf die kerygmatische Mitte

anzukämpfen: Doch auch die material-kerygmatische Katechese erwies sich mehr und

mehr als inadäquat zur weltanschaulich-pluralen, kirchlich-distanzierten (Nachkriegs-)

Gesellschaft. Auch die Theologie emanzipierte sich entscheidend von ihren hierarchischen

und neuscholastischen Traditionen und nahm eine ‚anthropologische Wende‘ (K. Rahner

u. a.).“ 164

Darüber hinaus sollen in diesem Kapitel auch die Erfahrungen– vor und nach der Wiedervereinigung

– in den neuen Bundesländern analysiert werden. Die unterschiedlichen

politischen Systeme führten auch zu unterschiedlichen Intensitäten sowie Ausprägungen

des Wertewandels in der Nachkriegszeit in den zentralen Werten der „Sozialintegration“,

wie Gleichheit, Leistung, Mitbestimmung (etwa demokratisch legitimierte Mitbestimmung

und Partizipation, Vertrauen in die Demokratie usw.) und Akzeptanz (zum Beispiel religiöse

Institutionen wie Kirchen). Insbesondere die Kontinuität der intensiveren Säkularisierung

in den neuen Bundesländern unter anderem als Folge der religionsfeindlichen Politik der

Ex-DDR ist auffällig und schlägt sich auch in den geringeren Kirchenmitgliedschaften

sowie in der geringeren Zustimmung christlicher Lebensweisen nieder. 165

Der Blick auf den Lernort ‚Schule‘ ist deshalb von Bedeutung, weil die historischen Erfahrungen

an diesem Lernort auch für das neue Schulfach ‚Islamischer Religionsunterricht‘

relevant sind. Erkenntnisse der Entwicklungen des christlichen Religionsunterrichts sowie

der religionspädagogischen Diskussionen in Korrespondenz mit den gesellschaftlichen

Entwicklungen könnten dem islamischen Religionsunterricht wichtige Impulse geben,

sich frühzeitig mit diesen religionspädagogischen Herausforderungen in den Gemeinden

zu arrangieren und ihr Verhältnis zum islamischen Religionsunterricht entsprechend

auszurichten, denn die Kirchen sind im Sinne des cultural time lag bis heute mit der

Herausforderung konfrontiert, sich mit den Folgen der Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse

zu arrangieren.

1.2.1 Historische Rolle der Religion in der Schule im Kontext der

Entstehung der Religionspädagogik als wissenschaftliche

Disziplin: eine kurze Skizze

Die zeitlich konkrete Bestimmung der Etablierung der Religionspädagogik als wissenschaftliche

Disziplin ist nur sehr schwer umsetzbar. Zwar könnte man begriffsgeschichtlich

das Auftauchen der Terminologie ‚Religionspädagogik‘ gegen Ende des 19. Jahrhunderts

164 Trautmann, Religionsunterricht im Wandel, S. 131

165 Vgl. Heiner Meulemann, Werte und Wertewandel: zur Identität einer geteilten und wieder

vereinten Nation, Weinheim und München 1996, S. 71 ff.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 73

bestimmen, doch damit würde man die wichtigen systematischen Grundlagen vor dieser

Zeit völlig ausblenden. Für die historische Rekonstruktion der Entwicklungen in der

christlichen Lehr-Lern-Tradition müsste man zu den Wurzeln der Religionspädagogik,

und zwar zur Katechetik, zurückkehren. 166 In der Darstellung der Entwicklungsgeschichte

einer christlichen Religionspädagogik weist Joachim Kunstmann darauf hin, dass Ansätze

hierzu bereits im Neuen Testament vorliegen. Hierbei hebt er die Rolle von Jesus hervor:

„Jesus wird als Lehrer dargestellt (vor allem bei Matthäus, vgl. etwa die Bergpredigt Mt 5-7);

er selbst verwendet in seinen Gleichnissen anschauliche, auf die Erfahrung der Hörer abgestimmte

‚didaktische‘ Formen. In den Briefen wird ein zunehmend lehrhafter Ton spürbar,

der die Erfahrungen und Erzählungen um Jesus sowie die ersten theologischen Deutungen

als anvertraute ‚Überlieferung‘ an die ersten Gemeinden weitergibt. Dazu treten ethische

Unterweisungen.“ 167

Die Botschaft des Evangeliums sollte bis ins frühe 2. Jahrhundert hinein von den Aposteln

beziehungsweise den Apostolischen Vätern verkündet werden, um Menschen für diese

neue Religion zu gewinnen. Überall dort, wo das Christentum Resonanz fand, bildeten

sich Gemeinden, die um 100 n.Chr. nachweislich auf 45 angewachsen waren. Die Apostel

führten nach der Etablierung dieser Gemeinden ihre Missionsarbeit an anderen Orten

weiter und vertrauten kundigen Gläubigen die Leitungsfunktion an. 168 Nach dem Vorbild

von Jesus übernahmen die frühen Christen die Aufgabe, die christliche Lehre gemeindeintern

weiterzugeben, indem sie durch eigene Schriften und Methoden dieser nochmals

ein besonderes persönliches Gepräge gaben. 169 Die ersten Formen der Glaubensweitergabe

oder -vertiefung erfolgten in Lerngemeinschaften wie Familie und Gemeinde, wobei die

Bibellektüre in privaten Haushalten sowie im Gottesdienst das zentrale Thema war. Die

starke Fokussierung auf den Bibeltext ging auf deren Bedeutung für die Liturgie zurück. 170

Vor diesem Grund hätten nach Bern Schröder die Liturgen und Bischöfe die Gläubigen

zum „privaten Gebrauch der Heiligen Schriften“ animiert:

„Was hier zusammenfassend privater Gebrauch der Bibel genannt wird, schloss verschiedene

Lesarten ein: neben der – idealerweise täglichen – eigenen Lektüre stand das Vorlesen

von Perikopen durch gebildete Gemeindemitglieder im Rahmen von hausgemeindlichen

Gebetstreffen. Das Memorieren von Schlüsseltexten, vorzugsweise Psalmen, wurde ebenso

empfohlen wie die Lesung während der Mahlzeit.“ 171

166 Vgl. Friedrich Schweitzer, Religionspädagogik. Lehrbuch der Praktischen Theologie, Gütersloh

2006, Bd. 1, S. 264

167 Joachim Kunstmann, Religionspädagogik. Eine Einführung, Tübingen/Basel 2004, S. 15

168 Vgl. Martin Jung, Kirchengeschichte, Tübingen 2014, S. 23 f.

169 Vgl. Ulrich Neymeyr, Die christlichen Lehrer im zweiten Jahrhundert. Ihre Lehrtätigkeit, ihr

Selbstverständnis und ihre Geschichte, Leiden 1989; Hervorhebungen im Original.

170 Vgl. Bernd Schröder, Religionspädagogik, Tübingen 2012, S. 35 f.

171 A. a. O., S. 35


74 A Theoretischer Teil

Die Geschichte des institutionalisierten religiösen Lernens im Christentum entwickelt

sich nach Reinhold Boschki schrittweise mit der Entstehung der Kirche, die jedoch in der

jungen Gemeinde nicht einen einheitlichen „Lehrplan“ kannte und erst allmählich mit

den Anfängen des Katechumenats – primär mit dem Ziel der Taufvorbereitung – feste

Konturen einnahm. Die Zielgruppe waren zunächst Erwachsene, die zum Christentum

konvertieren wollten und durch die Internalisierung des Glaubens sowie der Glaubenspraxis

auf ein christliches Leben vorbereitet wurden. Bedeutende Kirchenlehrer wie

Johannes Chrysostomos (350–407) oder Augustinus (354–430) prägten die Katechese

mit ihren Predigten und Schriften, in denen sie Themen wie Taufe, fromme Lebensführung,

christliche Erziehung, Rolle des Lehrers usw. behandelten. Mit Augustinus sind

auch schon Ansätze eines „lernpsychologisch-didaktischen“ Konzepts“ zu erkennen. 172

Bildungsgeschichtlich ist Augustinus auch deshalb interessant, weil sich in seinem eigenen

Werdegang die antike Erziehungsidee der Paideia widerspiegelt, denn erst nachdem er diesen

Prozess der Erziehung und Bildung durchlaufen hat, tritt er auf der Grundlage seiner

„Bekehrungserfahrung“ im Erwachsenenalter in den Katechumenat als Einführungs- und

Vorbereitungszeit für die Taufe ein. Die Frage der Beziehung zur „heidnischen Paideia“

sollte die Kirche in der Herausbildung einer eigenen genuin christlichen Pädagogik noch

lange Zeit beschäftigen. Dass Erziehung in der religiösen Entwicklung erforderlich war,

ist also nicht Gegenstand der Frage, sondern wie eine eigene Lernkultur zu entwickeln

ist. 173 Im Kontext der Befragung der erwachsenen Katechumenen vor ihrer Taufe war die

Frage-Antwort-Form zentral. Schwerpunkte waren zunächst das Glaubensbekenntnis,

das Vaterunser und das Hauptgebot, wobei der Dekalog erst zu einem späteren Zeitpunkt

eingeführt werden sollte. 174

„In diesem Sinn entwickelt sich vom 2. Jh. an der Katechumenat als ein Glaubensweg in

doppelter Hinsicht: Zuerst bezeichnet er einen Weg der Hinführung zum Glauben und einer

Einführung in das Glaubensbekenntnis der Kirche, die mehr ist als Unterricht. Dadurch, dass

dieser Weg inmitten der Gemeinde seinen originären Ort hat, bezieht er die bereits Getauften

mit ein. Wo diese zu Wegbegleitern werden, bewirkt diese Gefährtenschaft eine Vertiefung

und Bestärkung der eigenen Glaubensidentität. Diese wechselseitige Inspiration schafft so

eine kommunikative Form der Glaubensverortung, die sich in der frühen Kirche als einen

Weg mit mehreren Phasen und darauf bezogenen Stufenriten institutionalisieren kann.“ 175

Mit der zunehmenden Bedeutung der Kindertaufe kam es nach Boschki in der Katechese

zu einer Akzentverschiebung und Veränderung. Mit den Veränderungen der gesellschaftlichen

Rahmenbedingungen durch das Toleranzedikt aus dem Jahr 313 und durch die

Anerkennung des Christentums als römische Staatsreligion im Jahr 385 verlegte sich der

Schwerpunkt der Katechese auf die Phase nach der Taufe, womit die familiäre Sozialisation

172 Vgl. Reinhold Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, Darmstadt 2008, S. 24 ff.

173 Vgl. Schröder, Religionspädagogik, S. 44

174 Vgl. Wolfgang Lentzen-Dies/Gabriele Miller, Theologische Bildung/Katechismusunterricht,

in: Gottfried Bitter et al. (Hrsg.), Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe.

München 2006, S. 259

175 Franz-Peter Tebartz van Elst, Erwachsenenkatechese/Katechumenat, in a. a. O., S. 320


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 75

eine immer größere Rolle erlangte, denn neben der in den letzten Jahrhunderten zunehmend

institutionalisierten Katechese, die auch im 6. Jahrhundert durch die Gründung von

Schulen für den Priester- und Klosternachwuchs voranschritt, traten andere Lern- und

Handlungsfelder, wie die Familie, stärker in den Vordergrund. Insgesamt ist bis dahin eine

Vielfalt an katechetischen Formen zu erkennen, die von Wallfahrten über Prozessionen

bis hin zur „ästhetischen Form der Glaubensvermittlung“ reichten. 176 Die Akzentuierung

der Rolle der Familie sollte parallel zur Entstehung von neuen Lernorten in der Literatur

zur religiösen Erziehung immer beibehalten werden. Die „Familie als Hauskirche“ mit

dem väterlichen Oberhaupt als Katechet der Angehörigen sollte die religiöse Erziehung

garantieren. 177

Mit dem Übergang zur Kindertaufe werden nach Christoph Weissmann die alten Riten

des Katechumenat beibehalten, erfahren aber in liturgischer Hinsicht eine Komprimierung.

Zudem werden den Katechumenen die Paten zur Seite gestellt, die nicht nur im Namen des

Getauften die Glaubensfragen zu beantworten haben, sondern auch die Verantwortung

für die zukünftige Unterweisung des Täuflings übernehmen. Als „zweiten katechetischen

Traditionsstrang“ setzte sich das „für das hohe und späte Mittelalter“ charakteristische

Postulat der Kenntnis der Katechesenstücke durch, welches auch für die Beichte als notwendig

eingeführt wurde. Aufgrund des großen Analphabetismus im Volk wurden in den

Gottesdiensten diese katechetischen Inhalte oft rezitiert, damit sich die Gemeindemitglieder

diese Kenntnisse aneignen konnten. 178

Parallel dazu wurde durch die karolingischen Aktivitäten das mittelalterliche Schulwesen

weiter ausgebaut, wenngleich auch zunächst nur eine kleine Gruppe von Geistlichen und

Adeligen die Zielgruppe dieser Bildungsinitiative war. Gesamtgesellschaftlich bedeutsam

ist diese Elitebildung trotzdem, weil diese Gruppe ihre religiöse und weltliche Bildung in

den Gemeinden weitergab. In den sogenannten karolingischen Schulen, die sich an der

lateinischen Gelehrigkeit orientierten – daher auch „lateinische Schulen“ –, stand neben

den Werken von klassisch-griechischen, römischen sowie christlichen Autoren vor allem

die Bibellektüre auf dem Lehrplan. Da sich diese Schulen ausschließlich an männliche

Lernende richteten, ist an dieser Stelle zudem zu erwähnen, dass auch Frauen durch die

sogenannten Klosterschulen an den Frauenklostern zunehmend in die (religiöse) Bildungsarbeit

involviert wurden. 179 Diese Klosterschulen sollte zwar „ihre Bedeutung als

Orte des Wissens und der Wissensvermittlung“ lange Zeit beibehalten, wurden jedoch im

Zuge des hohen Mittelalters zunehmend durch die Domschulen – ausgestattet mit mehr

personellen Ressourcen wie Schulleitern, Lehrpersonal und Hilfskräften – verdrängt, die

sich durch eine größere Bereitschaft „für neue geistige Strömungen“ auszeichneten. 180 Die

Weitertradierung des Christentums behielt auch im Hochmittelalter ihre Dynamik an

176 Vgl. Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, S. 26 ff.

177 Vgl. Engelbert Groß, Religiöse Erziehung in Zukunft. Religionspädagogik im Europäischen

Haus, Münster 2003, S. 113

178 Vgl. Christoph Weissmann, Die Katechismen des Johannes Brenz, Berlin 1990, S. 6 f.

179 Vgl. Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, S. 29

180 Vgl. Jörg Schwarz, Das europäische Mittelalter I. Grundstrukturen,Völkerwanderung, Frankreich,

Stuttgart 2006, S. 42


76 A Theoretischer Teil

den Lernorten ‚Familie‘ und ‚Kirche‘ bei, und das Schulwesen sollte – trotz begrenzter

Schülerkreise – ständig ausgeweitet werden:

„Im Hochmittelalter nahmen die Klosterschulen in den großen Städten verstärkt Nichtnovizen

als externe Schüler auf, die für kirchliche Dienste, für Arbeiten am Hof des Kaisers oder

für die Verwaltung der Städte und des Reichs ausgebildet wurden. Ab dem 12. Jahrhundert

kam es zum Aufstieg des städtischen Schulwesens, v. a. der Domschulen (z. B. in Köln, Reims,

Chartres, Paris). Dennoch, die meisten Menschen im Mittelalter wurden durch ihre Familien

religiös ‚gebildet‘ – im Sinne von ‚sozialisiert‘. Religiöses Lernen erfolgte zumeist ‚nebenbei‘

durch Teilnahme am Gottesdienst, Hören der Predigt, Praxis der Volksreligiosität, ja, durch

die ganze Prägekraft einer religiös-christlichen Lebensform (Jahreszyklus, Tischgebete, Haussegen,

Toten- und Friedhofskultur, Kirchenräume, Verehrung der Patrone etc.). Allerdings

gibt es zur Katechese im Mittelalter noch viel zu wenig historische Forschung.“ 181

Wie Boschki ferner nachzeichnet, haben die bedeutendsten Theologen des Mittelalters,

wie etwa Thomas von Aquin (1225–1274) mit seinem Hauptwerk Summa theologiae, die

zeitlich nachfolgende Katechese insofern geprägt, weil sie zu deren Systematisierung

und zu ihrer didaktischen Entwicklung beitrugen. Es wurde ein großes Material an katechetischen

Werken, wie etwa Predigten, entwickelt, die zur Vertiefung des Glaubens

und zur frommen Lebensführung beitragen sollten. 182 Für die von Boschki dargestellten

„Bildungsschübe durch Renaissance, Reformation und Aufklärung“ 183 lieferten diese katechetischen

Traditionen einen wichtigen Beitrag, indem sie die religiöse Bildung in der

Bevölkerung förderten und den Aufbau der institutionellen Voraussetzungen forcierten,

denn Bildung war in der Renaissance und im Humanismus ein zentraler Aspekt. Der

Mensch sollte nach den Leitsätzen der Humanisten durch „Natur und Kunst“ kultiviert

werden, und somit spiegelte sich dieser Ansatz in Literatur, Kunst, Musik usw. wider,

erfasste aber nicht nur einen breiteren Kreis der Bevölkerung, sondern vor allem auch die

Theologen und Humanisten wie Erasmus von Rotterdam, dessen katechetische Werke von

der geistigen Atmosphäre seiner Zeit geprägt waren. Das Element ‚Bildung‘ zeigte sich in

seinem pädagogischen Ansatz der „Kindgemäßheit“ insofern, dass die Asymmetrie im

Lehrer-Schüler-Verhältnis durch die Aufwertung der Position des Kindes und durch die

Akzentuierung einer positiven Beziehung zu ihm relativiert wurde. Die Lehre sollte sich

am Kind orientieren und nicht umgekehrt. Ähnliche Perspektivenwechsel zeigten sich

im 16. Jahrhundert auch in der (religiösen) Erziehung von Jugendlichen durch jesuitische

Erziehungs- und Bildungseinrichtungen. 184

Als weiteren Bildungsschub für die religiöse Bildung führt Boschki den von Martin

Luther (1483−1546) initiierten Reformationsprozess auf. Mit dem theologischen Postulat,

dass zwischen Gott und dem Gläubigen kein Vermittler stehe, habe Luther – wie auch andere

Reformatoren – die persönliche Aneignung der christlichen Grundlagen und die Lektüre

der Bibel forciert. Luther förderte nicht nur die Gründung christlicher Schulen, sondern

181 Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, S. 29

182 Vgl. a. a. O., S. 30

183 Vgl. a. a. O., S. 31

184 Vgl. a. a. O., S. 31


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 77

verfasste auch Schriften wie Der große Katechismus und Der kleine Katechismus, die bis in

die Gegenwart hinein in Gemeinden gelesen werden. Mit dieser gesamten Bildungsoffensive

hatte man nicht nur die religiöse Bildung der „Experten“ wie Prediger und Seelsorger

gewährleistet, sondern auch die der „einfachen Gläubigen.“ Das katholische Pendant zu

Luther in katechetischen Reformen, der Jesuit Petrus Canisius (1521−1597), erweiterte die

Zielgruppe um die Kategorie der Schüler, für die er auch Katechismen entwickelte und

zur katholischen Bildungsoffensive durch die Gründung von Jesuitenschulen inklusive des

Angebots des Religionsunterrichts beitrug. 185 Mit zunehmendem Erfolg der Jesuitenschulen

expandierten diese Bildungseinrichtungen und eine Monopolstellung erlangten im höheren

Schulwesen. Der gesamte Lehrplan wurde auf der Grundlage der Ratio studiorum

von 1599 ausgerichtet; gleichzeitig wurde dabei systematisch der Bildungsweg ab dem

sechsten Lebensjahr bis zum Abschluss mit 20 Jahren durchdekliniert. Der Lateinunterricht

beanspruchte die meiste Unterrichtszeit. Daneben wurde der griechischen Sprache

ein großer Wert beigemessen. Methodisch wurde eher das Memorieren eingesetzt, indem

der Lehrer den Lernstoff den Schülern vorsprach. Anders als zu der Zeit üblich, wurde

nicht oder kaum mit körperlichen Züchtigungen gearbeitet, sondern es wurde ein System

der sozialen Kontrolle zur Disziplinierung der Schülerschaft etabliert. Als typisch für die

fortschrittlicheren Methoden und als Kontrastprogramm zu einer „Schwarzen Pädagogik“

gilt das Schultheater der jesuitischen Schulen, mittels dessen bestimmte Schlüsselqualifikationen

wie Rhetorik und Selbstvertrauen durch moralische Schwerpunkte vermittelt

werden sollten. 186 Die Religion nahm dabei als Querschnittsaufgabe im Lehrplan einen

zentralen Platz ein:

„In diesen katholisch geprägten Schulen bauten die Jesuiten die religiöse Unterweisung in den

gesamten Unterricht ein, so daß sich spezieller Religionsunterricht erübrigte. Die religiöse

Erziehung wurde vertieft und ergänzt durch häufigen Besuch der Messe, durch verschiedene

religiöse Übungen und die Einbindung der Schüler in die Marianischen Kongregationen. Dort

pflegte man in jeweils gleichaltriger Gemeinschaft intensiv die damals typische katholische

barocke Frömmigkeit mit ihren Prozessionen, Wallfahrten, Messen und Andachten, mit

gemeinsamem Kommunionempfang und regelmäßiger Beichte.“ 187

Bei einem Vergleich zwischen den Katechismen von Luther und Canisius sieht Boschki die

Unterschiede nicht so sehr in ihrem Aufbau, sondern vor allem in der stärkeren kirchlichen

Ausrichtung der katholischen Werke. Die Kirche ist also die Instanz, die zwischen Gott und

dem Gläubigen sowie der „kirchlichen Verkündung“ und den Sakramenten vermittelt. Im

Laufe der Konfessionalisierung bekamen nach Boschki die Katechismen zunehmend den

Charakter von „Identifikationspolen der jeweiligen Konfessionen“, indem durch Grenzziehungen

nach einem Innen und einem Außen unterschieden wurde. 188

Auf der Grundlage der Bildungsimpulse zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert wurde

nach Boschki ab dem 18. Jahrhundert die Entwicklung der Katechese durch den phi-

185 Vgl. a. a. O., S. 33

186 Vgl. Peter Claus Hartmann, Die Jesuiten, München 2001, S. 70 f.

187 A. a. O., S. 71 f.

188 Vgl. Schröder, Religionspädagogik, S. 33 ff.


78 A Theoretischer Teil

losophischen und gesellschaftlichen Prozess der europäischen Aufklärung fortgeführt.

Vorreiter dieser geistigen epochalen Aufbruchsstimmung waren es Philosophen, wie

Immanuel Kant (1724–1804) oder Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), und Pädagogen wie

etwa Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), die sich die „Erziehung des Menschengeschlechts“

zur Aufgabe ihrer aufklärerischen Mission gemacht hatten. Wiederum in dieser

geistigen Atmosphäre wurden der Theologie neue Impulse im Kontext religiöser Bildung

gegeben. Zwei zentrale historische Figuren trugen dabei „zur Entstehung einer modernen,

wissenschaftlich fundierten Reflexion des religiösen Lernens“ bei: Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher (1768–1834) und Johann Baptist Hirscher (1788–1865): 189

„An ihrem jeweiligen Werk wird deutlich, dass in jener Zeit das Nachdenken über die Voraussetzungen,

die Möglichkeiten wie auch über die Wege religiöser Bildung und Katechese

einer neuen Fundierung bedurfte. Frühchristliche und mittelalterliche Katechese musste

reformiert und von Grund auf neu konzipiert werden. Dazu sind nicht allein theologische

Erkenntnisse („Vermittlung“ der Inhalte), sondern auch humanwissenschaftliche, insbesondere

pädagogische Einsichten („Aneignung“ auf Seiten der Lernenden) heranzuziehen. Die

Reflexion darüber spielte sich von nun an in neuen universitären Disziplinen ab, nämlich der

Praktischen Theologie und der Katechetik, aus denen sich später die Religionspädagogik als

eigenständiger Wissenschaftsbereich entwickelte.“ 190

Boschki weist in seiner historischen Rekonstruktion der Anfänge der Religionspädagogik

zudem darauf hin, dass infolge der Bildungsschübe durch die Aufklärung die Schule als

neuer Lernort neben dem im Frühchristentum etablierten zentrale Lernort ‚Gemeinde‘ und

der seit dem Mittelalter eine stärkere Rolle spielende Familie neu hinzutrat und somit im

christlichen Lehren und Lernen und das Zusammenspiel aller drei Lernorte an Bedeutung

gewann. Allerdings sollte es noch Jahrhunderte bis zur Entstehung eines eigenständigen

Unterrichtsfachs ‚Religionsunterricht‘ an öffentlichen Schulen dauern, 191 denn die Etablierung

des Religionsunterrichts als grundgesetzlich geschütztes, ordentliches Lehrfach war

ein langer Prozess, der eng mit der Entwicklung des deutschen Bildungssystems verlief,

welches ein Produkt der Diskussionen seit dem 18. Jahrhundert darstellt und im Laufe der

Jahrhunderte infolge politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Entwicklungen

seine heutige Form eingenommen hat. Angefangen mit der Unterrichtspflicht hat sich die

Schulpflicht in einem Prozess bildungspolitischer und schulpädagogischer Diskurse, die

sich durch Kontinuität und Brüche auszeichnen, erst sukzessive durchgesetzt.

Wie Isabell van Ackeren und Klaus Klemm den historischen allmählichen Versuch

zur Etablierung eines Bildungssystems nachzeichnen, differenzierte der Staat schon im

19. Jahrhundert zunächst zwischen einem „niederen“ und einem „höheren“ Schulwesen

sowie einer „Mittelschule“ und verfolgte dabei unterschiedliche bildungspolitische Zielsetzungen.

Das „niedere“ Schulwesen fungierte als „Untertanenerziehung“ der christlichen

Bevölkerung, wobei die religiöse Grundbildung auch ein Lehrziel darstellte. Die zeitlich

später entstandene „Mittelschule“ dagegen bereitete die Schule auf nicht-akademische,

189 Vgl. Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, S. 33 f.

190 A. a. O., S. 36

191 Vgl. a. a. O., S. 37


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 79

bürgerliche Berufe vor. 192 Das staatlich forcierte, neuhumanistisch orientierte „höhere“

Schulwesen dagegen zielte auf eine qualifizierte akademische Beamtenbildung ab, wobei

die Religion ebenfalls eine herausragende Rolle spielte:

„Die staatlich voran getriebene Entwicklung des preußischen Bildungssystems konzentrierte

sich um 1800 zunächst vorrangig auf die höheren Schulen, die in Form von Gelehrtenschulen,

Stadtschulen, Ritterakademien und Lateinschulen bestanden. Diese zumeist von Städten

und Stiften unterhaltenen Schulen boten, was Niveau und Schülerschaft anging, ein sehr

heterogenes Bild. In vielen von ihnen, insbesondere in den Lateinschulen, standen Latein

und Religion im Mittelpunkt des Lehrplans.“ 193

Diese Schulen sollten als institutionelle Grundlage für das gegenwärtige mehrgliedrige

Bildungssystem dienen, das im Zuge von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen

in ihren Bildungszielen und Inhalten im späten 19. Jahrhundert, also

zunehmend mit dem Ende des Kaiserreichs und mit der Weimarer Republik, fortlaufend

reformiert wurde, wobei vor allem die Industrialisierung als treibende Kraft wirkte. 194

Diese Entwicklung bedeutete zugleich die Öffnung des Schulsystems für Mädchen, die das

Ergebnis der wirtschaftlichen Anforderungen und der Frauenbewegungen darstellte. Ebenso

spiegelten sich die Modernisierungstendenzen in den pädagogischen Unterrichtsmethoden

wider, die durch Impulse aus der Reformpädagogik zunehmend die Ablösung einer „autoritären

Pädagogik“ bewirkten und sukzessiv den Weg für eine „Demokratisierung des

Schullalltags“ und die „Humanisierung des pädagogischen Umgangs“ bereiteten. Zugleich

wurden in der Weimarer Republik Versuche gestartet, die ständisch geprägte Struktur zu

durchbrechen und das Leistungsprinzip zu etablieren, die jedoch nicht zu einer fundamentalen

Neugestaltung der Schulstruktur führten und den „Weimarer Schulkompromiss“ mit

Bezug auf die „Konfessionsfrage“ sowie die „Strukturfrage“ zur Folge hatten: 195

„• Hinsichtlich der konfessionellen Erziehung einigte man sich auf die ‚Simultanschule‘ als

Regelfall (also auf Schulen mit Schülern unterschiedlicher Konfession), in der nur der

Religionsunterricht nach Konfession getrennt erteilt werden sollte. Daneben konnten

Bekenntnisschulen (in denen der gesamte Unterricht vom Geist eines Bekenntnisses

geprägt war) und bekenntnisfreie Schulen (in denen Religion nicht unterrichtet wurde)

betrieben werden.

• Hinsichtlich der strukturellen Gliederung des Schulsystems verständigte man sich darauf,

die Schüler und Schülerinnen während der ersten vier Jahre (mit Ausnahme der

‚Hilfsschüler‘, wie damals die Gruppe der heutigen Sonder- bzw. Förderschüler bezeichnet

192 Vgl. Isabel van Ackeren/Klaus Klemm, Entstehung, Struktur und Steuerung des deutschen

Bildungssystems. Eine Einführung, Wiesbaden 2011, S. 14 ff.

193 A. a. O., S. 15.

194 Die kapitalistische Produktionsweise und die rasante Industrialisierung führten in Deutschland

ingesamt zu massiven gesellschaftlichen Umbrüchen. In den Zeitraum von 1873 bis 1913

verdoppelten sich nahezu die Beiträge zum Sozialprodukt aus Gewerbe und Industrie (auf

41 %), während die aus der Landwirtschaft um die Hälfte zurückgingen (auf 23 %). Deutschland

stieg somit zur Jahrhundertwende zur größten europäischen Industriemacht auf (vgl. Heiner

Karuscheit, Deutschland 1914. Vom Klassenkompromiss zum Krieg, Hamburg 2014, S. 43 ff.).

195 Vgl. van Ackeren/Klemm, Entstehung, Struktur, S. 24 ff.


80 A Theoretischer Teil

wurde) gemeinsam zu unterrichten, so dass eine Trennung in niedere, mittlere und höhere

Schulen erst nach der 4. Klasse auf Grund der bis dahin in der gemeinsamen Grundschule

erbrachten schulischen Leistungen erfolgte. Alle Kinder verblieben von da an die ersten

vier Jahre in der Unterstufe der Volksschule (der Grundschule), ein kleinerer Teil von

ihnen verließ diese dann und wechselte in die Mittelschulen (Realschulen) bzw. in die

Jungengymnasien und Mädchenlyzeen.“ 196

Trotz der Ideologisierung des Schulsystems im Dritten Reich, der Restraurationsversuche

in der Nachkriegszeit sowie intensiver Reformdiskussionen aufgrund ökonomischer Notwendigkeiten

in den 1960er-Jahren sollte die strukturelle, Ausrichtung des oben zitierten,

dreigliedrigen Schulsystems mit seiner „Selektions- und Allokationsfunktion“ weitgehend

beibehalten werden und aufgrund seiner Beständigkeit die aktuellen Bildungsdiskussionen

bestimmen. 197

Boschki zeigt in diesem Zusammenhang, dass die Einführung der allgemeinen Schulpflicht

zur Etablierung des konfessionellen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen

führte und somit die kirchliche Katechese zunächst „verschult“ wurde. In Anlehnung an

Christian Grethlein und Christoph Bizer beschreibt er die neue Rolle der Katechese an

den Schulen folgendermaßen:

„Im Vordergrund stand von nun an die Wissensvermittlung, die durch biblischen Unterricht

und Katechismusunterricht realisiert wurde. Auch in der Kirchengemeinde wurde Katechese,

also die Einweisung in christliches, kirchliches Leben (‚Sonntagsschule‘, ‚Christenlehre‘)

mehr und mehr reduziert auf Katechismus lernen: Wer die Satzwahrheiten des Katechismus

auswendig aufsagen kann, galt als religiös gebildet. In der katholischen Kirche wurde

diese Entwicklung durch die neuscholastische Theologie unterstützt. Katechetik in der neuscholastischen

Tradition bedeutete eine Theorie des katechetischen Unterrichtens in strikt

deduktiver Denktradition. Damit folgte die Katechetik einem ‚instruktionstheoretischen‘

Modell, wonach religiöses Lehren aus Instruktion und religiöses Lernen aus Rezeption der

dargebotenen Inhalte besteht.“ 198

In der Katechese und Katechetik sollte nach Boschki der instruktionstheoretische Ansatz

durch die Reformbewegungen nochmals infrage gestellt werden, da die Entwicklungen

in den theologischen Konzepten (liberale Theologie) einerseits sowie der Einfluss der

Reformpädagogik einer Maria Montessori andererseits maßgebliche Veränderungen mit

sich brachten und der Begriff ‚Religionspädagogik‘ im Jahr 1889 von dem evangelischen

Systematiker Max Reischle zum ersten Mal als Abgrenzung zur „alten“ Katechetik der

Kirchen in den gesamten Debatten verwendet wurde. Im Zuge dieser tiefgreifenden

Umbrüche kristallisierte sich in der evangelischen Theologie der Ansatz einer „liberalen

Religionspädagogik“ heraus. In der katholischen Theologie kam es gegen Ende der 19.

Jahrhunderts zu ähnlichen Reformbewegungen mit den beiden wichtigen Zentren in München

und Wien, um mithilfe der modernen Pädagogik den alten Katechismusunterricht

durch ein zeitgemäßes religiöses Lernen in der Schule und Gemeinde zu ersetzen. Auch

196 A. a. O., S. 34

197 Vgl. a. a. O., S. 35 ff.

198 Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, S. 37 f.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 81

von den katholischen Wissenschaftlern, wie etwa Josef Göttler (1874−1935), wurde der

Begriff ‚Religionspädagogik‘ namentlich verwendet. Wie Boschki konstatiert, wurden die

katholische Katechetik und Religionspädagogik jedoch immer im Kontext einer kirchlichen

Lehre kommuniziert. Diese Kirchenzentriertheit habe seit Johann Baptist eine Kontinuität

eingenommen, die sich auch im 20. Jahrhunderts noch zeige. 199

1.2.2 Legitimationskrise des Religionsunterrichts im 20. Jahrhundert:

gesellschaftliche Transformationsprozesse und religionspädagogische

Herausforderungen in Deutschland

Wie der knappen historischen Skizzierung zu entnehmen ist, ist die Entwicklung des Schulsystems

ein Spiegelbild gesellschaftlicher Anforderungen und kontroverser Diskurse über

die Struktur und die curricularen Bildungsinhalte. Die gesellschaftlichen Entwicklungen

spiegeln sich auch in der schrittweisen Einführung des verfassungsrechtlich geschützten

Religionsunterrichts an deutschen Schulen wider. Religion galt seit der Reformation und

Gegenreformation als ein öffentlicher Gegenstand kontroverser religiöser und politischer

Diskussionen. Aufgrund dieser zentralen Rolle wurde mit der sukzessiven Einführung einer

Schulpflicht ebenso der Religionsunterricht als Pflichtfach etabliert. Die Didaktisierung

des Religionsunterrichts verlief ferner in der Auseinandersetzung mit der philosophischen

Aufklärung, mit konfessionellen Fragen, mit den jeweiligen historischen und (bildungs-)

politischen Diskursen und mit verfassungsrechtlichen Errungenschaften sowie mit fachwissenschaftlichen

Diskussionen in der Theologie und Religionspädagogik sowie den Bezugswissenschaften

wie der Religionssoziologie. Ausgehend von einem ausschließlich von

Geistlichen geführten Unterricht und von einer eher katechetischen Ausrichtung entfaltete

sich zunehmend ein von wissenschaftlich-pädagogisch ausgebildeten Lehrkräften erteilter

sowie nach wissenschaftlichen Theorien (zum religiösen Lehren und Lernen) konzipierter

Religionsunterricht. Im Kontext der cultural time lag-Theorie war die Institution ‚Kirche‘

also immer mit der Herausforderung konfrontiert, auf die materiellen und immateriellen

Entwicklungen zu antworten und „mitzuziehen“.

Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte in der damaligen BRD die Legitimation des

Religionsunterrichts im staatlichen Bildungssystem auf die Weimarer Reichsverfassung

(1919) zurückgeführt werden. Der Art. 7 Abs. 3GG wurde von „kirchennahen“ Juristen als

Garant für einen – im Kontrast zu der eher informativen, rein neutralen Religionskunde

– bekenntnisgebundenen Unterricht gesehen. 200 Diese rechtliche Legitimationsgrundlage

in der Nachkriegszeit bestimmt noch heute die polarisierenden Diskussionen über die

Rolle des Religionsunterrichts und zeugen davon, dass normative Konzepte immer noch

Schwierigkeiten damit haben, sich auf die sozialen und kulturellen Transformationspro-

199 Vgl. a. a. O., S. 38 f.

200 Vgl. Martin Stock, Religiöse Vielfalt und pädagogische Eigenverantwortung – Konzepte und

Chancen eines anderen Wegs, in: Wolfram Weiße (Hrsg.), Dialogischer Religionsunterricht

in Hamburg. Positionen, Analysen und Perspektiven im Kontext Europas, Bd. 2, Religionen

im Dialog, Münster 2008, S. 63


82 A Theoretischer Teil

zesse der Gegenwart einzulassen und somit eine Fehlanpassung im Sinne des cultural lag

zutage fördern:

„Auch nach vierzig Jahren sind diese Diskussionen noch nicht zu Ende. Immer noch ist eine

bedauerliche Diskrepanz und disziplinäre Ungleichzeitigkeit zu verzeichnen: Einerseits ist

da die empirisch informierte und aufgeklärte, auf die schulischen Realitäten bezogene religionspädagogische

Fachdebatte (die sich mittlerweile weiter entfaltet und ausdifferenziert, in

den hier entscheidenden Punkten die Kontinuität aber wohl meist gewahrt hat). Andererseits

gibt es aber nach wie vor eine normativistisch verengte, rückwärtsgewandte juristische Doktrin.

Sie tut sich mit der Interdisziplinarität schwer und geht differenzierend-vermittelnden

religionspädagogischen Ansätzen gern aus dem Weg.“ 201

Die evangelische und katholische Diskussion um die inhaltliche Ausrichtung des Religionsunterrichts

musste sich nach dem Kriegsende im Laufe der darauf folgenden Jahrzehnte

neben der Beschäftigung mit dem historischen Bruch durch das Dritte Reich mit

neuen gesellschaftlichen Realitäten und Entwicklungen auseinandersetzen. Hierzu zählen

vor allem die Frage der Säkularisierung, gesellschaftliche Ausdifferenzierungen und die

Enttraditionalisierung (Entkirchlichung, Auflösung traditioneller familiärer Strukturen

usw.) sowie in deren Folge initiierte Individualisierungsprozesse. So zeigt Karl Dienst in

der Konfessionsstatistik, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in beiden Teilen

des damals getrennten Landes eine sehr hohe Kirchlichkeit zu verzeichnen war. Aus den

Volkszählungsergebnissen aus dem Jahr 1950 geht hervor, dass 81,3 % der damaligen

DDR-Bürger evangelisch und 11 % katholisch (Berlin-Ost: etwa 72 % evangelisch und 11 %

katholisch) waren. Für die BRD gibt Dienst die Zahlen von 50,5 % für evangelische und

44,3 % für katholische Konfessionsangehörige an. Im Jahr 1961 war in der BRD die Zugehörigkeit

mit einem evangelischen Anteil von 50,5 % und einem katholischen von 44,1 %

immer noch stabil. Zeitlich parallel waren im Jahr 1964 in der DDR 59,14 % evangelisch

und 8,1 % katholisch. 202 Allerdings sollte diese Stabilität in der Konfessionszugehörigkeit

– in den beiden unterschiedlichen politischen Systemen – in den darauf folgenden Jahren

rapide zurückgehen und den Beginn eines massiven Schwunds der Mitgliederzahlen in

den nächsten Jahren markieren:

„1977 waren von 17 Mio. Einwohnern der DDR noch 7,9 Mio. (46,4 %) evangelisch und 1,2

Mio. (7 %) katholisch. Nach Schätzung gehörten 1980 6,9 Mio. (41 %) zur evangelischen Kirche

(BRD 1979: 42,8 % evangelisch; 43,5 % katholisch). Gegen Ende der DDR dürften (regional

freilich unterschiedlich) ca. 20 % der Bevölkerung einer christlichen Kirche angehört haben.

Austritte, Nichtbeteiligung an Taufe und kirchlichem Unterricht, gesellschaftliche Marginalisierung,

Privatisierung und Verkirchlichung der Religion sowie Verlust von gesellschaftlichen

Funktionseliten in den eigenen Reihen sind Gründe für diesen Schrumpfungsprozeß, der

bis zum Mauerbau 1961 auch durch Auswanderungen in den Westen gefördert wurde.“ 203

201 A. a. O., S. 63 f.

202 Vgl. Karl Dienst, Bildungspolitik und Kirchen, in: Christoph Führ/Carl-Ludwig Furck (Hrsg.),

Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI: 1945 bis zur Gegenwart, Zweiter Teilband,

München 1998, S. 54

203 Ebd.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 83

Dabei gewann der Religionsunterricht im Kontext der kritischen Diskussionen hinsichtlich

des Verhältnisses von Kirche und Schule ein eigenständiges Profil, das später in Synoden

festgelegt wurde. Diese Verhältnisbestimmung wurde in der Nachkriegszeit deswegen

erforderlich, weil die Kirchen versuchten, den Religionsunterricht immer mehr zu vereinnahmen,

denn infolge von Säkularisierungsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg

mussten die Kirchen ihre Rolle in der religiösen Glaubensunterweisung zugunsten des

Lernortes ‚Schule‘ immer mehr einbüßen. Hinzu kamen für die Definition der Rolle,

Ziele und Inhalte des Religionsunterrichts Impulse aus neuen theologischen Ansätzen,

wie etwa Friedrich-Wilhelm Marquardts Theologie nach Auschwitz“ als Neuorientierung

im jüdisch-christlichen Dialog, die Korrelationstheologie von Paul Tillich als dynamische

Antwort auf zeitgemäße Entwicklungen beziehungsweise auf die Lebenswirklichkeit oder

die ökumenische Theologie von Hans Küng als interne (innerchristliche Konfessionen)

und externe (außerchristliche Religionen) Öffnung und Dialogbestrebungen. 204 Hierzu

zählen auch die religionspädagogischen Prinzipien und Theorien sowie die erziehungswissenschaftlichen

Diskurse, wie etwa durch neue didaktische Modelle eines Wolfgang

Klafkis (Kritisch-konstruktive Didaktik), die alle auf die Unterrichtskonzepte der Schulen

und somit auch des Religionsunterrichts einen Einfluss ausübten. 205

Harry Noormann zeigt im Zusammenhang mit der katholischen Religionspädagogik,

dass in der Nachkriegszeit – in Anlehnung an Wilhelm Sturm – zunächst ein „theologisch-deduktives

Dominanzmodell“ vorherrschte und der „missionarisch-verkündende

Unterricht“ hervortrat. 206 Vor diesem Hintergrund sollte bis zum Ende der 1960er-Jahre der

von Josef Andreas Jungmann vertretene materialkerygmatische Ansatz – in Abgrenzung

zur neuscholastischen Katechetik und von katholischen reformpädagogischen Strömungen

– einen großen Einfluss ausüben. Im Zentrum stehen dabei die „biblische Heilsgeschichte“

und „das rechte Leben aus der Erfahrung des Glaubens“ 207 . Dabei zeichnete sich dieser

Unterricht – wie auch die unten aufgeführte evangelische Konzeption – durch folgende

Merkmale aus:

„• Die Schüler sind getaufte Gemeindemitglieder,

• die Lehrer Zeugen und Verkünder des Evangeliums,

• Die Aufgabe des Unterrichts ist es, die Schüler durch die Evangeliumsverkündigung in

die Entscheidung des Glaubens zu stellen; so soll in ihnen der Glaube geweckt und ihnen zu

lebendiger Gliedschaft in der Kirche geholfen werden.

204 Vgl. Martin Jung, Einführung in die Theologie, Darmstadt 2004, S. 79 ff.

205 Vgl. Herbert Gudjons, Erziehungswissenschaft kompakt, 1. Auflage, Hamburg 1993, S. 147 ff.

206 Vgl. Harry Noormann, Wie Religionspädagoginnen und Religionspädagogen wurden, was sie

sind. Vom Nutzen der Didaktikgeschichte für die fachliche Kompetenz, in: Harry Noormann/

Ulrich Becker/Bernd Trocholepczy (Hrsg.), Ökumenisches Arbeitsbuch Religionspädagogik,

3. aktualisierte und erweiterte Auflage Stuttgart 2007, S. 132

207 Vgl. Peter Biehl, Religionsdidaktische Konzeptionen, in: Gottfried Bitter et al. (Hrsg.), Neues

Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, 2. Auflage, München 2006, S. 440 f.


84 A Theoretischer Teil

Texten. Auf katholischer Seite hat der Katechismus gleiches Gewicht. Daneben begegnen

Bilder aus der Geschichte und Gegenwart der Kirche, Gesangsbuchlieder, Gebete.“ 208

Im Kontext des evangelischen Religionsunterrichts dominierte nach Rainer Bolle und

Horst Gloy die Diskussion bis gegen Ende der 1950er-Jahre zunächst das Konzept der oben

genannten Evangelischen Unterweisung (Helmuth Kittel), das seine breite Wirkung noch

bis in die 1960er-Jahre in den Lehrmaterialien und Inhalten des Religionsunterrichts entfaltete.

209 Dieses Konzept distanzierte sich von einem Religionsunterricht als ein Lehren der

Religion und richtete den Fokus auf das Evangelium als Offenbarung Gottes. Der Glaube

könne nicht gelehrt oder gelernt, sondern nur durch das Hören, Lesen und Annehmen

des Evangeliums erfahren werden. Dieser Anschauung entsprechend wurde die Rolle

des Lehrers viel mehr als die des Predigers statt eines Pädagogen verstanden, der mit den

Grundlagen der Schrift und mit Gesangsbüchern sowie dem Katechismus arbeitete. Bolle

und Gloy weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die „Disqualifizierung von

Religion und Religionsunterricht“ seitens Kittels eine kompensatorische Funktion für die

mangelnde Auseinandersetzung mit der „nationalsozialistischen Vergangenheit“ durch

die Schuldzuweisung an die liberale Religionspädagogik sowie die Theologie habe und die

„persönliche Schuld“ mit der gleichzeitigen stärkeren Akzentuierung des Evangeliums

ertragen wurde. 210

„Ungeachtet dieser Schwäche der Vergangenheitsbewältigung erforderte das Konzept der

Evangelischen Unterweisung eine Neuorientierung im Kanon der Schulfächer sowie – vor

allem in der Auseinandersetzung mit Kritikern aus der Allgemeinen Pädagogik (u. a. Erich

Weniger) – wissenschaftlich-systematische Definitions- und Abgrenzungsversuche im Blick

auf zentrale Begriffe wie Mission, Lehre, Unterweisung und Erziehung, Weltlichkeit und

Christlichkeit, Konfessionalität und Konfessionalisierung, Freiheit und Zwang (Totalisierung)

etc. […]“ 211

Petra Schulz weist in Anlehnung an Folkert Rieckers auf „zeitgeschichtliche Verflechtungen“

hin, die Kittels Konzept und die eher autoritär ausgerichtete, bürgerlich-konservative

deutsche Gesellschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren aufwiesen. Die damalige Religionspädagogik

in Form der evangelischen Unterweisung spiegele mit ihrem zentralen

Postulat der „unbedingte[n] Autorität des Wort Gottes“ und der den „Religionslehrer/innen

208 Erich Bochinger/Eugen Paul, Einführung in die Religionspädagogik, München/Mainz 1979,

S. 44

209 Das Konzept Helmuth Kittels wurde ebenfalls in der damaligen DDR rezipiert und fand länger

als in der BRD Anwendung im Religionsunterricht.

210 Vgl. Rainer Bolle/Horst Gloy, Einleitung: Religionsunterricht nach dem Zweiten Weltkrieg:

Evangelische Unterweisung, in: Ders./Thorsten Kanuth/Wolfram Weiße, Hauptströmungen

Evangelischer Religionspädagogik im 20. Jahrhundert. Ein Quellen- und Arbeitsbuch, Münster

2002, S. 129 f.

211 A. a. O., S. 130


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 85

als Zeugen dieses Wortes“ zugeschriebenen Verkünderrolle diese autoritäre, unkritische

Geisteshaltung wider. 212

Dieses „religionspädagogische Paradigma“ bestimmte auch in der Deutschen Demokratischen

Republik über zwei Jahrzehnte den Unterricht. Die Kirche war nach dem

Nationalsozialismus mit einer anderen Ideologisierung und staatlicher Vereinnahmung

konfrontiert. Im Unterschied zur Bundesrepublik sollte nicht nur eine strikte Trennung

zwischen Staat und Religion eingeführt werden, sondern zugleich auch der Versuch der

Einführung einer Demarkationslinie zwischen Gesellschaft und Kirche. Anders als in der

bundesrepublikanischen Gesellschaft standen die Bürger zudem unter einem „doppeltem

Säkularisierungsdruck“, der zugleich die Frage mit sich brachte, ob die DDR-Kirchen

unter diesem politischen System und diesen gesellschaftlichen Bedingungen sich als „die

verheißungsvollen Vorformen eines Zukunftschristentums (Karl Nowak)“ entwickeln

könnten. 213 Detlef Pollack zeigt in seiner Analyse bezüglich der drastischen Abnahme der

Mitgliederzahlen der evangelischen Kirche in der DDR, dass diese eher diskontinuierlich

verlief. In der Entwicklung von einer Mehrheits- zur Minderheitenkirche identifiziert

Pollack unterschiedliche Phasen, die ab 1949 mit der zunehmenden Verschärfung des

Konflikts mit dem neuen Staat über einen offenen Kampf des Staates mit den Kirchen (ab

1952/53) hin zur systematischen Zurückdrängung der Kirchen (1954–1961) reichen. Mit

der endgültigen Teilung Deutschlands durch den Mauerbau konnte der Staatsapparat die

Bevölkerung durch Repression und fehlende Möglichkeiten zur Ausreise immer mehr in

das System integrieren, sodass man sich als Bürger in fatalistischer Manier arrangieren

musste. Infolgedessen nahmen ab 1966 die politischen Repressionen gegen die Kirche

aufgrund von Autonomieansprüchen und Einheitsbekenntnissen der EKD zu. Nach einer

Entspannungsphase infolge der Annäherung zwischen Staat und Kirche (1975–1985) sollte

ab 1985 wieder ein gespannteres Verhältnis eintreten. 214

Neben der zentralen Ursache der staatlichen Bevormundung und Unterdrückung spielten

dabei die Faktoren ‚Modernisierung‘ (Gefälle bezüglich der Religiosität zwischen Land

und Stadt: höheres Bildungsniveau, Wohlstandsniveau und Konsumverhalten in urbanen

Gebieten), ‚sozialstrukturelle Umschichtungsprozesse‘ (soziale und ökonomische Entwurzelung

der kirchentragenden Schichten durch radikale Enttraditionalisierung, Eindämmung

des Einflusses der Bildungsschicht, Entmachtung der Großkapitalbesitzer, wirtschaftliche

Umstrukturierungen im Sinne des sozialistischen Kollektivismus usw.), ‚innere Säkularisierung‘

(historisch bedingte Kontinuität der Distanzierung der Arbeiterschaft von der

Kirche, die – zusätzlich durch die Zerstörung des protestantischen Vereinsleben im Dritten

Reich – den fruchtbaren Boden für die antikirchliche Propaganda des DDR-Regimes

bereitete) sowie das ‚kirchliche Handeln‘ selbst, um das Image einer veralteten, überholten

Institution aufzupolieren und ihre Attraktivität beizubehalten, eine Rolle. 215 Dazu Pollack:

212 Vgl. Petra Schulz, Sich etwas von sich selbst her zeigen lassen. Ein Beitrag zur didaktischen

Theorie phänomenologisch orientierter Religionspädagogik, Rostocker Theologischer Studien,

Münster 2005, S. 22

213 Vgl. Dienst, Bildungspolitik und Kirchen, S. 59

214 Vgl. Pollack, Rückkehr des Religiösen?, S. 249 ff.

215 A. a. O., S. 253


86 A Theoretischer Teil

„Die evangelischen Kirchen investierten in die Pfaffererausbildung, verstärkten die Jugendarbeit,

ersetzten monologisierende Verkündigungsformen durch dialogische, nahmen Anregungen

eines missionarischen Gemeindeaufbaus aus der Ökumene auf, definierten sich als

Lerngemeinschaft, importierten neueste Wissensbestände aus Psychologie und Soziologie und

senkten die Zugangsbarrieren zur Kirche ab wie sie die Zugehörigkeitskriterien abschwächten.

Aufgrund dieser dialogischen Öffnung zur Gesellschaft konnten die evangelischen Kirchen

Ende der siebziger und in den achtziger Jahren zum Austragungsort gesellschaftsoffiziell

niedergehaltener Konflikte und Spannungen werden und gesellschaftlich bedeutsame Funktionen

der politischen Interessen sowie der Vermittlung zwischen den oppositionellen und

alternativen Gesellschaftsgruppen und der Staatsmacht wahrnehmen. Zugleich machten

sich die evangelischen Kirchen mit dieser gesellschaftsoffenen Strategie – anders als die Katholische

Kirche, die stärker auf Kontaktvermeidung setzte – aber auch leicht angreifbar.“ 216

In der ersten Verfassung der DDR wurde bis zur ihrer verfassungswidrigen Verdrängung

ab der Mitte der 1950er-Jahre und gänzlich mit der zweiten Verfassung 1968 der freiwillige

Religionsunterricht noch unter der Eigenverantwortung der Kirche weitgehend nach den

staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Republik gewährleistet. 217 Dieser

Schritt ist exemplarisch für die kirchenfeindliche Politik der SED, die unter dem nicht

berechtigten Vorwurf der mangelnden Loyalität die Rolle der Kirchen in der Öffentlichkeit

durch Verhaftungen, durch Publikationsverbote und durch Zensuren, durch Einschränkung

der religiösen Betreuung wie der „Militärseelsorge“ sukzessive zurückdrängte und

auch das Angebot des Religionsunterrichts erschwerte. Den gesetzlichen Einschnitt für

den Religionsunterricht brachte der „Lange-Erlaß“ von 1958. 218 Charakteristisch für

diese Erziehungsdiktatur ist die Regelung, dass die Lehrkräfte dem sozialistischen Staat

gegenüber loyal eingestellt sein und ihre Lehrerlaubnis für den Religionsunterricht alle

drei Monate von den jeweiligen Schulleitern bestätigen lassen mussten. 219 Die ideologisch

motivierte Verdrängung der Religion aus der öffentlichen Sphäre führte dazu, dass, wie in

der evangelischen Kirche, die „Christenlehre“ für schulpflichtige Kinder konzipiert wurde

und dementsprechend Katecheten ausgebildet wurden. Die „Christenlehre“ musste sich

infolge der kirchenfeindlichen Politik der DDR bewähren, zumal die staatliche Instrumentalisierung

der Schulen eine Hürde war:

„Immer wieder wurde gerade durch die Schule versucht, Kinder und Familien von der Teilnahme

an der Christenlehre abzuraten und auch auf sie Druck auszuüben. Der christliche

Glaube wurde diskreditiert, an der Christenlehre Teilnehmende wurden bloßgestellt und

häufig ihrer schulischen und Ausbildungsentwicklung behindert. Die Schule als Ganze hatte

216 A. a. O., S. 257 f.

217 Vgl. Klaus-Joachim Ziller, Gemeinsame Verantwortung der evangelischen und katholischen

Kirche für den Religionsunterricht in Ost-Deutschland. Eine Untersuchung aus evangelischer

Perspektive anhand religionspädagogischer und kirchlicher Stellungnahmen und evangelischer

und katholischer Lehrpläne, Münster 2004, S. 48 ff.

218 Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR: 1949–1989, 2. durchgesehene

und erweiterte Auflage, Berlin 1998, S. 120

219 Vgl. Christian Grehtlein, Religionspädagogik, Berlin 1998, S. 500


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 87

zum Ziel die Erziehung zur ‚sozialistischen‘ bzw. ‚kommunistischen‘ Persönlichkeit. Eines

ihrer Wesensmerkmale war eine atheistische Grundüberzeugung.“ 220

In der DDR sollte die Christenlehre als „das freie Regelangebot für Kinder und Jugendliche

im Schulalter am Lernort Gemeinde vor dem Hintergrund einer säkularen Gesellschaft“ 221

infolge der Verbannung des Religionsunterrichts aus den öffentlichen Schulen nach dem

„Lehrplanparadigma der evangelischen Unterweisung“ ausgerichtet werden. In der BRD

wurde dieses religionspädagogische Konzept am Lernort ‚Schule‘ umgesetzt. Entsprechend

dem katechetischen Charakter sowie den didaktisch und methodisch wenig ergiebigen

Lehrplänen wurden der Unterricht primär als Verkündung, die Lehrer als „Zeugen“ und

die Schüler als „getaufte Glieder der Gemeinde“ betrachtet. 222

Wiederum sollte zunächst in der BRD anlässlich gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen

und des bildungspolitischen Rahmens dieses veraltete religionspädagogische Paradigma

zunehmend aufgegeben werden. Veit-Jakobus Dieterich unterteilt in Anlehnung an Klaus

Westphalen den Zeitraum von 1965 bis 1990 in „zwei Phasen der Bildungs- und Lehrplanentwicklung“:

„eine erste Phase der Bildungsreform (1965–1975) und die darauffolgende

„Phase der Reformstagnation (1975–1990) oder neokonservativen ‚Tendenzwende‘“ 223 . Die

Entwicklungen ab 1965, die einen erheblichen Einfluss auf die Lehrplanentwicklung des

Religionsunterrichts hatten, führt er auf den folgenden übergeordneten Kontext zurück:

„Die Curriculumrevision war eingebettet in Entwicklungen, die sich einerseits mit ihr

verbanden, andererseits jedoch unabdingbar zu ihr hinzugehörten: eine Strukturreform

des gesamten Bildungswesens, eine Wissenschaftsausrichtung des Unterrichts sowie die

Orientierung der schulischen Erziehung an Verfassung und Demokratie, zeitweilig auch

am Gedanken der Emanzipation – mit insgesamt deutlichen Auswirkungen auch auf den

Religionsunterricht und -lehrplan.“ 224

In seiner zusammenfassenden Diskussion identifiziert Dieterich in diesem Transformationsprozess

folgende Errungenschaften: In der ersten Phase sei vor diesem Hintergrund ein

umfassender Wandel hin zu einem „curricularen, themenorientierten Religionslehrplan“

festzustellen, der sich durch eine „Verschränkung von Bibel- und Gegenwartsausrichtung“

auszeichne; gleichzeitig könne man eine grundsätzliche Bejahung des Säkularisierungsprozesses

sowie eine „Anschlussfähigkeit“ an die „zeitgenössische Theologie“ sowie an

gegenwartsbezogene Themen attestieren. Zugleich bescheinigt Dieterich den Lehrplänen

220 Jürgen Frank/Eckart Schwerin, Wie stehen die Kirchen – Ost und West – zum schulischen

Religionsunterricht?, in: Michael Wermke (Hrsg.), Aus gutem Grund: Religionsunterricht,

Göttingen 2002, S. 80

221 Dieter Reiher „Christenlehre“, in: Gottfried Bitter et al. (Hrsg.), Neues Handbuch religionspädagogischer

Grundbegriffe, 2. Auflage, München 2006, S. 331

222 Vgl. Veit-Jakobus Dieterich, Religionslehrplan in Deutschland (1871–2000), Gegenstand und

Konstruktion des evangelischen Religionsunterrichts im religionspädagogischen Diskurs und

in den amtlichen Vorgaben, Göttingen 2007, S. 421

223 Vgl. Dieterich, Religionslehrplan, S. 467

224 A. a. O., S. 468


88 A Theoretischer Teil

eine Anknüpfung an die allgemeinen Bildungsziele der Schulen sowie ausführliche „Hinweise

zu Zielen, Inhalten, Materialien und Methoden.“ 225 In der zweiten Phase – Ende der

1970er-Jahre – habe sich in der Tat eine „neokonservative Wende“ konsolidiert; allerdings

fügt Dieterich relativierend ein, dass diese nicht einer Abwendung vom „curricularen“

oder „themenorientierten Paradigma“ gleichkäme:

„Insofern lässt sich zwar eine zweitteilige Gliederung in die curricularen Religionslehrpläne

der siebziger und die nachcurricularen der achtziger Jahre vornehmen, doch wird mit dieser

Unterscheidung kein grundlegender Wandel angezeigt, vielmehr nur ein graduelle Differenzierung.

Im Blick auf den problemorientiert-themenzentrierten Ansatz lässt sich zwar

feststellen, dass eine deutliche Problemorientierung jetzt nicht mehr in den Vordergrund

gestellt (aber zugleich auch nicht ganz aufgegeben) und die Bibelorientierung mitunter empathisch

hervorgehoben wird, doch bleibt die Themenorientierung und die Verschränkung aus

Bibel- und Gegenwartsorientierung das anerkannte und beherrschende religionsdidaktische

Grundmodell.“ 226

Analysiert man vor diesem Hintergrund die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in

diesen beiden Phasen, so kann man für die Bundesrepublik konstatieren, dass die Phase

des Wiederaufbaus weitgehend abgeschlossen war. Der Wohlstand war infolge des „Wirtschaftswunders“

gestiegen, und der Mittelstand expandierte. Diese sozio-ökonomischen

Entwicklungen nahm der Soziologe Helmut Schelsky als Ausgangslage für seine Bezeichnung

der Sozialstruktur Deutschlands als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“, die er als die These

„von der relativ automatischen sozialen Angleichung der verschiedenen gesellschaftlichen

Gruppen im Prozess der Industrialisierung in westeuropäischen Staaten“ 227 versteht und

die durch die „sozialstaatliche Bürokratie“ intensiviert wird. 228 Die eher autoritär ausgerichtete,

bürgerlich-konservative deutsche Gesellschaft wurde immer mehr kritisiert, wie

etwa durch die Studentenbewegung und auch infolge der verdrängten oder verschleierten

NS-Vergangenheit, die gesellschaftliche Heterogenität nahm nicht nur infolge von Migrationsprozessen

zu, und die Zeichen des Säkularisierungsprozesses kristallisierten sich stärker

heraus. Zugleich nahm die öffentliche kritische Aufarbeitung der nationalsozialistischen

Geschichte zu. Ebenso forderten die marxistisch ausgerichteten politischen Diskurse sowie

die neuen marxistischen Klassentheorien der Soziologie eine stärkere Reflexion der deutschen

Sozialstruktur. 229 Die Position der Kirchen und deren gesellschaftliche Position war

in diesen Phasen – auch durch den Einfluss der CDU, die nach ihrer Neugründung in der

Nachkriegszeit auf die guten Beziehungen zu den Kirchen, insbesondere ins katholische

Milieu, setzte und diese förderte – dennoch stabil und wurde kaum hinterfragt. 230 Auf

225 Vgl. a. a. O., S. 504 f.

226 A. a. O., S. 505

227 Herman Korte, Einführung in die Geschichte der Soziologie, Wiesbaden 2011, S. 192

228 A. a. O., S. 192 f.

229 Vgl. a. a. O., S. 207 ff.

230 Vgl. Patrick Bredebach, Das richtige Europa schaffen. Europa als Konkurrenzthema zwischen

Sozial- und Christdemokraten – Deutschland un Italien von 1945 bis 1963 im Vergleich, Göttingen

2013, 41 ff.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 89

diese Beziehung baut man zwar noch heute, aber anscheinend scheint dieses „Exklusives

Verhältnis von Kirche und CDU“ der Vergangenheit anzugehören. 231

Diese gesellschaftliche Dynamik spiegelt sich auch in den theologischen und religionspädagogischen

Konzeptionen wider. In der Theologie konnten sich zunächst der

historisch-kritische Ansatz und somit die Hermeneutik durchsetzen. Ein geistiger Vater

dieses Ansatzes war der evangelische Theologe Rudolf Bultmann, der die Entmythologisierungsdebatte

des Neuen Testaments initiiert und sich unter anderem mit dem Theologen

Karl Barth als Vertreter einer kerygmatischen Theologie auseinandersetzte. In der Schule

sollte ebenso der hermeneutische Religionsunterricht das zentrale Lernziel der Verkündung

verdrängen und das „Verstehen“ akzentuieren. In diesem Zusammenhang erhalten die

Entstehung und die Auslegung des Bibeltextes in ihrem historischen Kontext eine größere

Bedeutung. Die Schüler/innen werden also somit von passiven Rezipienten zu aktiven Lernenden,

und dementsprechend wirkt sich dieser Ansatz auf die Lehrer-Schüler-Beziehung

aus, sodass die Rolle der Lehrkraft nicht mehr die eines Predigers sein soll. Durch den

wissenschaftlichen Anspruch an den Unterricht wird dieser zudem nicht mehr als „Kirche

in der Schule“ verstanden. Schließlich sollte durch diesen Neuansatz der Religionsunterricht

am Lernort ‚Schule‘ seine isolierte Position, wie in der Phase der materialkerygmatischen

Orientierung beziehungsweise evangelischen Unterweisung, verlieren und sich durch die

explizite Orientierung in seinen Lehrplänen an den allgemeinen Bildungszielen als Teil

des Bildungssystems verstehen. 232

Während dieser Ansatz bis zum Ende der 1960er-Jahre dominierte, sollte er ab den

1970er-Jahren infolge gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen von zunehmenden Kirchenaustritten

und theologischen Disputen, wie etwa der „Theologie der Befreiung“, vom

problemorientierten Religionsunterricht abgelöst werden. Diese Konzeption markiert

zugleich nach Johannes Lähnemann einen „Neuaufbruch“ in den religionspädagogischen

Konzeptionen. Bezüglich der Ursachen, die zu diesem Wendepunkt geführt haben, zitiert

er Wilhelm Sturm, der fünf zentrale Einflüsse identifizierte:

„1) ‚das Unbehagen an der einseitigen Traditions- und Stofforientierung (‚Didaktischer Materialismus‘),

2) der Streit um den Gegenwartsbezug der biblischen Texte und um die sog.

Stufe der ‚Anwendung‘, 3) das Unbehagen an der ‚Verleugnung des Kindes’ (W. Loch), die

Probleme der Motivation und die Schülerkritik am RU, 4) die sog. ‚empirische Wendung‘

(K. Wegenast) in der RP und 5) die Rezeption der Curriculum-Theorie in der RP und die

Prävalenz des Prinzips der Schülerorientierung.“ 233

Thorsten Knauth weist in seiner Kontextanalyse zu diesem religionspädagogischen Konzept

auf die besondere Rolle der ökonomischen, sozialen und politischen Einflussfaktoren im

231 Vgl. das Interview von Christoph Stolzenberg mit dem Parteienforscher Frank Bösch „Exklusives

Verhältnis von Kirche und CDU ist passé“ abgerufen unter http://www.sueddeutsche.de/

politik/cdu-und-christentum- exklusives-verhaeltnis-von-kirche-und- cdu-ist-passe-1.424356

[28.3.2014]

232 Vgl. Kunstmann, Religionspädagogik, S. 51 ff.

233 Johannes Lähnemann, Evangelische Religionspädagogik in interreligiöser Perspektive, Göttingen

1998, S. 100


90 A Theoretischer Teil

Zuge des „Modernisierungsschubes“ hin, welche die Entstehung und das Selbstverständnis

dieses Ansatzes prägten. Knauth spricht von einem „ausgreifenden Umbruchprozess“, der

sich in den Bereichen der traditionellen Orientierungssysteme, der Kultur, der Bildung

und Erziehungstheorien sowie in der Theologie und Religionspädagogik widerspiegelte.

Insgesamt ist bezüglich der „Richtung und Qualität dieser Modernisierungsbewegung“

eine kontroverse und ambivalente Bewertung zu verzeichnen: 234

„In der Mitte der sechziger Jahre war also der ambivalente Verlauf der gesellschaftlichen

Modernisierung durch eine funktional-instrumentelle und eine emanzipative Seite bestimmt.

Funktionale Modernisierung bedeutete Orientierung an wirtschaftlich induzierten Kriterien

und Leitbildern in einer internationalen Wettbewerbssituation. Sie bedeutete Erneuerung

im Sinne einer Optimierung vorhandener Leistungspotentiale, um mit einer dynamischen

Entwicklung Schritt halten zu können. In der emanzipatorischen Modernisierung besaßen

Fragen des guten und gerechten Lebens den Primat, und die relevanten gesellschaftlichen

Handlungsbereiche sollten in den Reform- und Veränderungssog der universalisierbaren

Forderungen eines egalitären Zusammenlebens gezogen werden. Wichtige Positionen im

Spektrum problemorientierten Religionsunterrichts suchten den Anschluss an die emanzipatorischen

Diskurse über gesellschaftliche Erneuerung.“ 235

Der problemorientierte Unterricht sollte als Reaktion auf den Umbruchsprozess und im

Zuge des „Reformklimas“ in der Bundesrepublik konzeptionell den Bibel- und den hermeneutischen

Religionsunterricht mit dem Anspruch ablösen, die religiösen Lerninhalte

stärker auf die Lebensrealität der Schüler/innen als politisch-gesellschaftliche Akteure mit

all den damit einhergehenden Herausforderungen und Verantwortungen auszurichten.

Dieser Perspektivenwechsel in der Religionspädagogik ist auch damit begründet, dass die

starken Abmeldezahlen vom Religionsunterricht zum Ende der 1960er-Jahre als „Widerstand

gegen Institutionen und Traditionen“ verstanden wurden: 236

„Man wollte sich nicht mehr die Antworten auf bedrängende Fragen vorschreiben lassen,

man wollte die überlieferten Normen nicht mehr fraglos akzeptieren. Die religiöse Erziehung

im Elternhaus, die praktizierte Religion in Kirche und Gesellschaft galten als überkommene

Gestalten des Glaubens. Sie wurden zu sehr mit der satten Idylle der Nachkriegskonsumgesellschaft

verbunden. Die Schüler und Schülerinnen wollten keinen Religionsunterricht mehr,

in dem die Beschäftigung mit Bibel und Gesangbuch, die Einübung vom Gebet und liturgischem

Vollzug der individuellen geistlichen und sittlichen Erbauung diente; sie empfanden

auch einen Religionsunterricht als lebensfern, der versuchte, mit dem Handwerkszeug der

Exegese, biblische Texte über den ‚garstigen hermeneutischen Graben‘ in den individuellen

Verstehenshorizont zu holen. Diese Generation zeichnete aus, dass sie die Orientierung an

materiellen Werten überwinden wollte. […] Man wollte Politik nicht den Experten in den

Gremien überlassen, das Politikverständnis war außerparlamentarisch und basisdemokratisch.

234 Vgl. Thorsten Knauth, Problemorientierter Religionsunterricht. Eine kritische Rekonstruktion,

Göttingen 2003, S, 51 f.

235 A. a. O., S. 53; Hervorhebungen im Original.

236 Vgl. Rainer Bolle/Thorsten Knauth, Einleitung: Problemorientierter Religionsunterricht, in:

Dies./ Wolfram Weiße, Hauptströmungen Evangelischer Religionspädagogik im 20. Jahrhundert.

Ein Quellen- und Arbeitsbuch, Münster 2002, S. 222


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 91

In der Pädagogik war der Umbruch von der geisteswissenschaftlichen zu einer sozialwissenschaftlichen

Pädagogik im vollen Gange. Man diskutierte das Verhältnis von Erziehung und

Emanzipation und erforschte, wie sich gesellschaftliche Strukturen der Ungleichheit über

Sozialisation und Erziehung umsetzten und reproduzierten.“ 237

Michael Fricke zeigt in diesem Kontext, dass zu den Hauptvertretern der evangelische

Religionspädagoge Hans Bernhard Kaufmann zählt, dessen 1966 gehaltener Vortrag

Muß die Bibel im Mittelpunkt des Religionsunterrichts stehen? eine kritische Diskussion

hinsichtlich der starken Bibelorientierung des Religionsunterrichts initiierte. Fricke führt

dabei die zentrale These von Kaufmann auf eine Zitation zurück, in der er diesen starken

Bibelbezug als „weder theologisch noch didaktisch gerechtfertigt“ betrachtet und daher von

einem „Selbstmissverständnis“ spricht. Insgesamt kritisiert Kaufmann die eindimensionale

Ausrichtung des Unterrichts: Erstens basiere dieses „Missverständnis“ des Unterrichts

auf einem „materialen Bildungsbegriff“, dessen Entsprechung sich in der Auffassung, die

Schrift der Bibel sei das „Wort Gottes“, wiederfinde und somit die „Auslegung“ als primäres

Ziel des Unterrichts auffasse, zweitens führt Kaufmann dieses „Missverständnis“ auf die

„traditionsgeleitete Orientierung theologischen und kirchlichen Denkens“ zurück. Die

Konsequenz dieser Orientierung sei hinsichtlich gegenwartsbezogener Herausforderungen,

dass „Fragestellungen“ nach den „Überlieferungen“ deduziert und „Entscheidungen“

aus der „Tradition“ begründet werden; daher postuliert er einen „Religionsunterricht im

Lebenskontext und Dialog“. 238

Für die religionspädagogischen Entwicklungen in den 1980er-Jahre stellen Rainer Bolle

und Wolfram Weiße in der Praxis eine „Konsolidierung des Problemunterrichts“ fest, die

sie auf die etablierten Lehrpläne sowie auf die „Rückwirkungen der Einflussnahme der

Studienseminare“ zur Zeit der „Masseneinstellung von Lehramtsanwärtern“ während der

1970er-Jahre zurückführen. Parallel entwickelten sich auf der theoretischen Ebene neue

Ansätze in kritischer Auseinandersetzung mit dem problemorientierten Religionsunterricht.

Hier heben die Autoren unter anderem die Symboldidaktik und die Bibeldidaktik sowie das

ökumenische Lernen hervor; 239 insbesondere der symboldidaktische Religionsunterricht

habe die religionspädagogischen Diskussionen begleitet. Der Ansatz geht davon aus, dass

die „Symbole weit besser als Zugang zur Religion geeignet“ seien „als die abstrakte dogmatisch-lehrhafte

systematische Theologie“ 240 . Boschki weist in diesem Zusammenhang

darauf hin, dass die Symboldidaktik wie die anderen religionspädagogischen Ansätze auf

„humanwissenschaftliche[n], (zeichen- und symbol-)theoretische[n], anthropologische[n]

und theologische[n] Grundlagen“ basieren, und zudem durch unterschiedlichste Strömungen

charakterisiert ist. 241 Um trotz dieser Binnendifferenzierung die gemeinsamen Merkmale

aufzuzeigen, zitiert er Anke Edelbrock, die diesen didaktischen Ansatz folgendermaßen

zusammenfasst:

237 Ebd.

238 Vgl. Michael Fricke, „Schwierige“ Bibeltexte im Religionsunterricht: theoretische und empirische

Elemente einer alttestamentlichen Bibeldidaktik für die Primarstufe, Göttingen 2005, S. 62 f.

239 Vgl. Bolle/Weiße, Einleitung, S. 277

240 Vgl. Joachim Kunstmann, Religionspädagogik. Eine Einführung, Tübingen 2004, S. 184 f.

241 Vgl. Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, S. 141


92 A Theoretischer Teil

„Die verschiedenen Ansätze der Symboldidaktik haben ein gemeinsames Anliegen. Sie wollen

nicht nur den Verstand, sondern auch die ästhetische und emotionale Wahrnehmung

ansprechen. Symbole werden als Sinnbilder verstanden, die auf einen tieferliegenden Sinn

weisen und für den die Kinder und Jugendlichen sensibilisiert werden sollen.“ 242

Zu den prominenten Vertretern des symboldidaktischen Ansatzes zählen unter anderem

die Theologen und Religionspädagogen Hubertus Halbfas (katholisch) und Peter Biehl

(evangelisch), die die beiden konfessionellen Richtungen des Religionsunterrichts prägten.

Thorsten Knauth hebt in der Analyse der Symboldidaktik besonders die Pionierarbeit von

Halbfas hervor, da dieser nicht nur ein in sich geschlossenes Theoriekonstrukt entworfen

habe, sondern durch eine didaktische Konkretisierung auch die Praxis berücksichtige.

Anders als Ansätze, die eher eine „Glaubenslehre aufzubauen“ versuchten, zeichneten sich

Halbfas Leistungen darin aus, dass er (religiöse) Symbole „im Sinne einer elementaren

Sensibilisierung für religiöse Sprache und Wahrnehmung“ einsetze und mit seiner Didaktik

„auf die Schulung hermeneutischer Auffassungs- und Erfahrungskategorien“ abziele. 243 Im

Gegensatz zu Biehl betrachtet Halbfas die Symbole, die ein Tiefenverständnis der Religion

ermöglichen sollen, als eine apriorische und unveränderbare Größe. 244 Die Symbole werden

als „verdichtete Kristallisationspunkte allgemein menschlicher wie spezifisch religiöser

Erfahrung für den Brückenschlag zwischen Glauben und Leben“ eingeordnet. 245 Im Religionsunterricht

soll dieser Ansatz als Reaktion „auf die Tradierungskrise des christlichen

Glauben“ den Schülern und unter Berücksichtigung ihrer subjektiven Lebenswelt die

Freilegung sowie die Einübung der christlichen „Symbolwelt“ ermöglichen. 246

Wie die bisher dargestellten religionspädagogischen Konzeptionen sah sich auch die

Symboldidaktik einer kritischen Diskussion ausgesetzt, in deren Folge sich das Konzept

weiterentwickeln sollte. Eine zentrale Frage konzentrierte sich auf die Rolle der Symbole

in ihrer Vermittlungsfunktion „zwischen Subjekt und Außenwelt oder zwischen Subjekt

und unbewußter Innenwelt“ 247 . Vor diesem Hintergrund zieht Ingrid Wiedenroth-Gabler

aus der religionspädagogischen Diskussion um die symboldidaktischen Konzepte – insbesondere

unter Berücksichtigung von Biehls Ansatz und seiner Betonung der Funktion der

Symbolhandlung (Abendmahl) – in dieser kritisch-konstruktiven Phase folgendes Fazit:

242 Anke Edelbrock zitiert nach Boschki, ebd.

243 Vgl. Thorsten Knauth, Religionsunterricht im Dialog, Religionsunterricht und Dialog. Empirische

Untersuchungen, systematische Überlegungen und didaktische Perspektiven eines

Religionsunterrichts im Horizont religiöser und kultureller Pluralisierung, Münster 1996,

S. 311 f.

244 Vgl. Burkhard Möring-Plath, Das Symbol und die unterrichtete Religion. Eine Grundlegung

für ein religionspädagogisches Symbolkonzept, Münster 2001, S. 54 ff.

245 Vgl. Heinz Mendl, Religion erleben: Ein Arbeitsbuch für den Religionsunterricht, München

2008, S. 48

246 Vgl. a. a. O., S. 24 ff.

247 Vgl. Holger Saal, Das Symbol als Leitmodell für religiöses Verstehen: Tiefenpsychologische

Theoriemodelle und ihre Konsequenzen in didaktischen Vermittlungsprozessen, Göttingen

1995, S. 229


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 93

„Zum einen hat die Einbeziehung von Symbolhandlungen durch BIEHL darauf verwiesen,

dass Religion handlungs- und gestaltungsorientierten Charakter haben muss. Zum anderen

erscheint die Diskrepanz zwischen einem semiotischen Zeichenverständnis, das sich auf die

subjektive Symbolisierungstätigkeit bezieht und einem ontologischen Symbolverständnis, das

sich auf die durch den Mythos gegebene Selbstmächtigkeit bezieht, faktisch unüberwindbar.

Jedoch zeigen sich gegen Ende der 90er Jahre Integrationstendenzen, um zwischen subjektiven

Aneignungsprozessen und dem Gehalt der biblischen Tradition anhand der virulenten

Wahrheitsfrage und dem Spezifikum der Gotteserfahrung als Ereignis zu vermitteln.“ 248

Egon Spiegel plädiert im Zusammenhang mit der Frage eines religionspädagogischen Paradigmenwechsels

unter den aktuellen Rahmenbedingungen (zahlreiche Lebensdeutungen)

für eine in den interdisziplinären Diskurs involvierte Theologie, die sich induktiv oder

„aufstiegstheologisch“ auszurichten habe und existenzielle Fragen nicht rein deduktiv ableiten

könne. Spiegel erinnert an den Transformationsprozess der religionspädagogischen

Konzeptionen als „Hilfen zur Lebensbewältigung“ – vom kerygmatischen Ansatz über die

Konzeptionen einer hermeneutischen und an den Schülern orientierten Didaktik bis hin

zur Symbol- und Korrelationsdidaktik –, deren Entwicklung lediglich den gesellschaftlichen

Wandel und den kritischen Diskurs widerspiegeln. 249 Aufgrund der „gegenwärtigen

unterrichtlichen wie katechetischen Vermittlungsbedingungen“ erkennt Spiegel – trotz

der Kritik an dieser Konzeption – die korrelative Symboldidaktik als einen alternativlosen

religionspädagogischen Ansatz, der „im Rahmen einer aufstiegstheologisch ausgerichteten,

d. h. erfahrungsbezogen, induktiv praktischen Didaktik Gott begegnet […] als der immer

wieder neu […] und religionspädagogisch mühsam zu [E]rschließende“. 250 Die Zusammenführung

beider didaktischen Ansätze begründet er dabei wie folgt:

„Dabei hat bisher keine andere Didaktik das Ineinander von Immanenz bzw. Evidenz auf

der einen Seite und Transzendenz auf der anderen Seite so überzeugend veranschaulichen

können wie die Symboldidaktik und keine andere Didaktik aktuelle Erfahrungen einerseits

und tradierte Erfahrungen andererseits so produktiv miteinander ins Gespräch bringen

können wie die Korrelationsdidaktik. Wie keine andere Didaktikkonzeption […] entspricht

die Konzeption einer Korrelativen Symboldidaktik der Notwendigkeit, Welt kommunikativ

und kooperativ zu deuten und zu gestalten, und bringt dies durch das didaktische Spezifikum

der Korrelation zum Ausdruck. Gemeint ist hier der Austausch von aktuellen und tradierten

Erfahrungen, die Menschen mit Gegenständen bzw. Vorgängen (diese verstanden als

Symbol) machen bzw. machen konnten, sowie die Entdeckung ihrer Tiefendimension, eines

ihnen inhärenten Überschusses und Mehr (verstanden als das Symbolisierte). Unterstrichen

wird dabei, dass der Mensch nicht Individuum ist, sondern Akteur, dass er Welt nicht als

Monade bewältigt und gestaltet, sondern dialogisch in Interaktion, hier im Austausch mit

den in biblischen Überlieferungen begegnenden Menschen. Korrelation ist dabei nicht (wie

gewöhnlich erklärt) der Versuch, Glaube und Leben einander zuzuführen, sondern durch

248 Ingrid Wiedenroth-Gabler, Religionspädagogische Konzeptentwicklung zwischen Integration

und Pluralität. Exemplarische Untersuchungen zu Peter Biehls Ansatz, Religionspädagogische

Kontexte und Konzepte, Bd. 8, Münster 2003, S. 365

249 Vgl. Egon Spiegel, Induktive Gott-Rede. Skizze einer korrelativen Symboldidaktik, in: KERYKS

(Internationale religionspädagogisch-katechetische Rundschau), 5, Olsztyn 2005, S. 165 f.

250 Vgl. a. a. O., S. 167 f.


94 A Theoretischer Teil

die gezielte Zusammenführung und Verzahnung von Leben und Leben, dem aktuellen und

tradierten, die Erfahrungsbasis der symbolischen Deutung des Lebens und die damit gegebene

Chance einer gegenseitigen Erhellung zu vergrößern.“ 251

Dabei ordnet Spiegel die Korrelationsdidaktik der Symboldidaktik zu, um so eine Optimierung

der Letzteren zu erreichen. Während die Symboldidaktik eine „Gott-Rede an

der empirischen Wirklichkeit“ darstelle, stelle die Korrelationsdidaktik die „empirische

Wirklichkeit“ als gegenwärtige Erfahrungen in Verknüpfung mit biblisch tradierten Erzählungen

zur Verfügung und gewährleiste somit einen konstruktiven Gedankenaustausch.

Die Bibel biete einen reichhaltigen „korrelationsrelevanten Stoff“; allerdings setze die

Erkennung und Didaktisierung dieser Inhalte oder Symbole eine „religionspädagogische

Deutungskompetenz“ voraus. Im Zusammenhang mit der „empirischen Wirklichkeit“ für

die „gegenwärtige und zukünftige Religionspädagogik“ unterstreicht Spiegel schließlich

auch die Offenheit dieses Ansatzes für interkulturelle und interreligiöse 252 Lernprozesse.

253 Mit der Einbeziehung der Erfahrungsdimension der Menschen und somit auch der

existenziellen Fragen im Alltag könne man nach Spiegel eine „Religionspädagogik in der

Mitte des Lebens“ etablieren. 254

Die von Spiegel hervorgehobene Erfahrungsdimension ist heute eine wichtige Kategorie,

auf die Wissenschaftler wie Eugen Paul schon seit spätestens den 1970er-Jahren

hingewiesen haben, um religionspädagogische Fragen und Konzepte nicht ausschließlich

vom Glauben her abzuleiten. 255 Insbesondere hat sich Georg Baudler mit seinem Werk

Korrelationsdidaktik: Leben durch Glauben erschließen intensiv dieser Frage gewidmet,

um den von Paul Tillich eingeführten religionspädagogischen Ansatz 256 auszubauen, und

somit Impulse für weitere Diskurse gesetzt. 257

Wie Franz Trautmann in seinem Ausblick für die Zeit nach 1970 insbesondere für den

schulischen Religionsunterricht aufzeigt, ist aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklungen

von einer deduktiven Glaubensweitergabe abzusehen, um den aktuellen Herausforderungen

251 A. a. O., S. 167; Hervorhebungen im Original.

252 Die Notwendigkeit eines sachlichen Dialogs mit dem Islam auf „Augenhöhe“ wird auch zunehmend

in den Kirchen erkannt, um nicht nur Unterschiede, sondern vor allem die Gemeinsamkeiten

der beiden abrahamischen Weltreligionen zu entdecken. Davon zeugen beispielsweise die

Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz, „Christen und Muslime in Deutschland“, die

als Informationsgrundlage für diese „menschliche Begegnungen“ erstellt wurde; (vgl. Deutsche

Bischofskonferenz (Hrsg.), Christen und Muslime in Deutschland, Arbeitshilfen 172, Bonn

2003).

253 Vgl. Egon Spiegel, Induktive Gott-Rede, S. 168 ff.

254 Vgl. Egon Spiegel, Religionspädagogik in der Mitte des Lebens. Unterrichtskonzeptionelle

Orientierungen für den Religionsunterricht, in: IRP-Impulse, Frühjahr 2011, S. 10 ff.

255 Vgl. Eugen Paul, Wie ist Glauben auf Erfahrung beziehbar?, in: KatBl 98 (1973), S. 699 ff.

256 Vgl. zur Rezeption des Tillichischen Korrelationsbegriffs in der Religionspädagogik: Johannes

Kubik, Paul Tillich und die Religionspädagogik. Religion, Korrelation, Symbol und Protestantisches

Prinzip, Göttingen 2011, S. 99 ff.

257 Georg Baudler (unter Mitarbeit von Marie-Theres Ex), Korrelationsdidaktik: Leben durch

Glauben erschließen, Paderborn 1984


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 95

gerecht zu werden. Dazu zählt eben auch, den „kommunikativen Deutungs- und Erfahrungsprozess“

zu berücksichtigen. 258 Rudolf Englert zeigt hier, dass die Kombination von

Erfahrung und Glauben allerdings nur gelingen kann, wenn mindestens die folgenden

Voraussetzungen gegeben sind:

„Erstens, wenn deutlich wird, was ‚hinter‘ dem überlieferten Glauben steckt bzw. wenn

sich ahnen lässt, welche Erfahrungen Menschen gemacht haben müssen, um zu den im jüdisch-christlichen

Glauben artikulierten Überzeugungen zu gelangen; und zweitens, wenn

erkennbar wird, welche Art von Glauben bzw. von Welt- und Lebensanschauung sich im

zeitgenössischen Bewusstsein der Menschen heute anspricht – und das heißt im Falle des

Religionsunterrichts: in der Art und Weise, wie Schülerinnen und Schüler über ihr Leben und

die großen Fragen dieses Leben denken und urteilen: über Glück, über Gott, über Freundschaft,

über soziale Gerechtigkeit usw.“ 259

Seitdem wird nach Werner H. Ritter versucht, aus der „Erfahrung als Zentrum, Angelpunkt,

Ausgangspunkt und Zielpunkt der Religionspädagogik“ Ansätze zu diskutieren, da der

Fokus auf diese Dimension folgende Möglichkeiten verspricht:

„Einmal ist die Ansprechbarkeit der Kinder und Heranwachsenden gewährleistet, da alle

von Erfahrung(en) herkommen und das, was sie sind, auf Grund von Erfahrungen (einer

Erfahrungsgeschichte) sind. Zum anderen ist die Darstellbarkeit und Vermittelbarkeit des

christlichen Glaubens sichergestellt, weil er anhand vieler (Einzel-)Erfahrungen von Menschen

‚coram Deo – in Welt‘ aufgeschlüsselt und (gebrauchsfähig) elementarisiert werden kann.“ 260

Spiegel begründet also in dieser nach wie vor zentralen Kategorie der Erfahrung die korrelative

Symboldidaktik – trotz der Kritik an diesem Konzept – vor dem Hintergrund der

gegenwärtigen gesellschaftlichen Herausforderungen, zu denen er in seinem Fazit auch die

Notwendigkeit einer interreligiösen und interkulturellen Anschlussfähigkeit des Konzeptes

zählt. In der Tat stellen der Übergang in die 1990er-Jahre und die bis heute anhaltenden

Entwicklungen eine besondere Herausforderung für die Religionspädagogik und für den

Religionsunterricht dar, der auf die gesellschaftliche Heterogenisierung und Ausdifferenzierung

zurückgeführt werden kann. Thorsten Knauth setzt in diesem Zusammenhang

am Jahr 1989 an, welches er als eine Zäsur für den Religionsunterricht bezeichnet. Mit

der Eingliederung der DDR hatte man sich fortan mit der Herausforderung auseinanderzusetzen,

dass sich hinsichtlich der Religion und des Religionsunterrichts ein Traditionsabbruch

abzeichnete – ein vierzigjähriges politisches System, welches „erfolgreich“ eine

ideologische Säkularisierung vorantrieb, wirkte sich negativ auf die religiöse Orientierung

258 Vgl. Franz Trautmann, Religionsunterricht im Wandel. Eine Arbeitshilfe zu seiner konzeptionellen

Entwicklung, Essen 1990, S. 132 f.

259 Rudolf Englert, Religionspädagogische Grundfrage. Anstöße zur Urteilsbildung, Stuttgart

2008, S. 151

260 Werner H. Ritter, Glaube und Erfahrung im religionspädagogischen Kontext, Göttingen 1989,

S. 301


96 A Theoretischer Teil

und Kirchenmitgliedschaft aus. 261 Die Legitimation des Religionsunterrichts war jedoch

auch in den westlichen Bundesländern einer Diskussion ausgesetzt:

„Zum einen nämlich musste – durch empirische Untersuchungen erhärtet – festgestellt werden,

dass der Prozess einer Entfremdung vom Symbol- und Deutungsreservoir der christlichen

Tradition auf Seiten junger Menschen weiter fortgeschritten war. Zum anderen aber traten

nun – auch als Folge von Einwanderungsprozessen – die Herausforderungen einer kulturellen

und religiösen Pluralisierung verschärft in den Aufmerksamkeitshorizont auch der

Religionspädagogik. Die religiöse und kulturelle Pluralisierung setzte den RU in der Schule

einem qualitativ neuen Spannungsverhältnis aus. Die Religionspädagogik stand vor der Herausforderung,

ihre Aufgaben in einem veränderten Bezugsrahmen neu zu bestimmen, der

durch tradierte (christliche und nichtchristliche) Religionen und durch neue Formen einer

aus den tradierten Symbolwelten ausgewanderten Religiosität abgesteckt war.“ 262

Der oben erwähnte „Prozess einer Entfremdung“ hinsichtlich der christlichen Tradition

war infolge der atheistischen Erziehungsdiktatur in den neuen Bundesländern viel weiter

vorangeschritten als in den alten. Die Reaktionen auf die Einführung waren nach Uta

Hildebrandt vor dem Hintergrund der gesellschaftlich-politischen Ausgangssituation unterschiedlich:

Zum einen war dieser Prozess begleitet von Protesten seitens der Eltern, die

im Religionsunterricht – gewissermaßen als Ersatz für das Fach „Staatsbürgerkunde“ – eine

neue Form der Indoktrination befürchteten, zum anderen auch begleitet vom Protest der

Kirchen(-gemeinden), die an der bisherigen Christenlehre festhalten wollten, weil sie der

Kooperation mit dem Staat hinsichtlich des Religionsunterricht misstrauisch gegenüber

standen. 263 Das kritische Verhältnis zum Religionsunterricht unter staatlicher Aufsicht war

zurückzuführen auf die Erfahrung mit der religionsfeindlichen DDR-Regierung. Hierzu

Wilhelm Gräb und Thomas Thieme:

„Ein weiteres Problem war der innerkirchliche Widerstand gegen den Religionsunterricht

an der Schule. In der DDR hatte sich die Christenlehre als ein genuin christlicher, von der

Ortsgemeinde getragener Gegenentwurf zum staatlichen Bildungsmonopol entwickelt. Man

sah darin einen Fortschritt gegenüber der Vermischung von Staat und Kirche. Dem stand

man aufgrund der negativen Erfahrungen mit dem DDR-Staat skeptisch gegenüber.“ 264

Die Kirchengemeinden waren nach Dieter Reiher in der Diskussion um die Einführung

eines ordentlichen Unterrichtsfaches ‚Religion‘ zunächst gespalten. Ebenso hatten säkulare

Kräfte die Befürchtung, dass der Einfluss der Kirchen auf die Schulen mit dem

261 Vgl. Thorsten Knauth, Einleitung: Zwischen Säkularisierung und religiöser Pluralisierung.

Die Entwicklung in den neunziger Jahren, in: Rainer Bolle/Thorsten Knauth/Wolfram Weiße,

Hauptströmungen Evangelischer Religionspädagogik im 20. Jahrhundert. Ein Quellen- und

Arbeitsbuch, Münster 2002, S. 341

262 Ebd.

263 Vgl. Uta Hildebrandt, Das Grundrecht auf Religionsunterricht: Eine Untersuchung zum subjektiven

Rechtsgehalt des Art. 7 Abs. 3 GG, Tübingen 2000 , S. 5 f.

264 Wilhelm Gräb/Thomas Thieme, Religion oder Ethik. Die Auseinandersetzung um den Ethikund

Religionsunterricht in Berlin, Göttingen 2011, S. 41


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 97

Religionsunterricht zunehmen könnte. Im Zuge dieser Atmosphäre wurde schließlich

vor dem Schuljahr 1991/1992 in den Schulgesetzen aller neuen Bundesländer – bis auf

Brandenburg mit seinem Pflichtfach ‚Lebensgestaltung/Ethik/ Religionskunde‘ und Berlin/

Ost mit seinem Wahlfach ‚Religionsunterricht‘ mit dem Anschluss an Berlin/West – der

schulische Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 GG. verabschiedet. Die Skepsis seitens

religionskritischer Kräfte an den Schulen, die weiterhin den Verdacht der Missionierung

und Christianisierung schürten, sollte zwar bleiben, doch wurde der Religionsunterricht

schrittweise eingeführt. Eine große Herausforderung war es, infolge der hohen

Konfessionslosigkeit innerhalb der ehemaligen DDR-Bevölkerung und des Mangels an

religiöser Bildung, unter den Schülern die Akzeptanz zu gewinnen und die Isolation des

Unterrichtsfachs an der Schule durch Kooperationsbemühungen mit anderen Fächern wie

Ethik und Philosophie zu verhindern sowie die Religion, die zu Zeiten der DDR im Sinne

einer marxistisch-leninistischen Sichtweise nicht als Themenfeld der Allgemeinbildung

verstanden und somit abgewertet wurde, zu verstehen. 265

Seit seiner Einführung blickt nun der Religionsunterricht in den neuen Bundesländern

auf eine bereits längere Geschichte zurück. Nach den anfänglichen Debatten konnte er sich

weitgehend als ordentliches Fach etablieren. Es geht gegenwärtig auch nicht mehr primär

um die Frage, ob die Religion als Inhalt einer Allgemeinbildung überhaupt thematisiert

wird, sondern vielmehr um die Frage, wie man dieses Phänomen behandeln soll, also in

Form eines ordentlichen Religionsunterrichts, eines überkonfessionellen Unterrichts, eines

Ethikunterrichts oder einer Religionskunde. Der Traditionsbruch mit Deutschland und

die aktive jahrzehntelange Bekämpfung der Religion vonseiten der SED-Regierung auf

der einen Seite sowie der ohnehin „freiwillige Säkularisierungsprozess“ sowie die Individualisierungstendenzen

auf der anderen Seite sollten dazu führen, dass die Schülerzahlen

trotz der Anknüpfung an die westdeutsche Tradition des Religionsunterrichts nach Art.

7 Abs. 3 GG immer stärker zurückgehen und die Legitimationsfrage gegenwärtig eine

Rolle spielt. Diese Diskussionen über die Legitimation des Religionsunterrichts werden

vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Realitäten auch in den alten Bundesländern

geführt. Zugleich stehe nach Ingrid Schoberth die Religionspädagogik infolge der Marginalisierung

der „fremden christlichen Religion“ in der Öffentlichkeit und den geringen

Bildungskenntnissen der Schüler und Schülerinnen, die weder in ihrer Sozialisation

über derartige Kenntnisse verfügen noch über eine geistige Beheimatung in einer Kirche

aufweisen, vor neuen Herausforderungen. 266 Die Christenlehre in der ehemaligen DDR

gelte in einer Atmosphäre der Marginalisierung als eine Plattform zum Erlernen und zur

Tradierung des Christentums und fungiere daher als ein Beispiel für den Lernprozess

einer Minorität, allerdings sei „sie selbst wiederum nicht auf die spezifische Aufgabe des

Religionsunterricht an öffentlichen Schulen vorbereitet gewesen, um dem Phänomen des

Fremdseins christlicher Religion unterrichtlich zu entsprechen.“ 267 Vor diesem Hintergrund

betont Schoberth die Notwendigkeit der Reflexion religionspädagogischer Grundlagen,

265 Vgl. Dieter Reiher, Versuche, in der Wendezeit der DDR die religiöse Bildung in die Allgemeinbildung

zu holen, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 10 (2011), H.2, S. 232 ff.

266 Vgl. Ingrid Schoberth, Diskursive Religionspädagogik, Göttingen 2009, S. 73

267 Ebd.


98 A Theoretischer Teil

um die „Fremdheit der christlichen Religion“ als Ausgangspunkt für gegenwartsbezogene

Konzeptionen zu berücksichtigen. 268 Aufgrund der zunehmenden Pluralisierung der

Gesellschaft kann die Religionspädagogik in der Berücksichtigung dieser Vielfalt zur

Legitimation des Religionsunterrichts im Bildungssystem beitragen, indem sich ihre Konzepte

mit Fragen des Umgangs mit den „Anderen“ auseinandersetzen, denn unter diesen

gesellschaftlichen Bedingungen ist von der Beheimatung einerseits, aber auch von der

Fremdheit aller Religionen andererseits auszugehen. Johannes Lähnemann formuliert in

diesem Zusammenhang zentrale Thesen, die sowohl für den Religionsunterricht als auch

für das Schulleben insgesamt eine Relevanz haben:

„These 1: Es gilt, die religiös-plurale Gegenwartssituation wahrzunehmen und ernst zu nehmen.

These 2: Die verschiedenen Religionen sind in ihren spezifischen historischen und gegenwärtigen

Strukturen und Kontexten, aber auch in ihren Beziehungen zueinander in den

Blick zu nehmen.

These 3: Für eine dialogische Weltreligionen-Didaktik ist es wichtig, sich die eigenen religiösen

Traditionen für die Begegnung differenziert zu vergegenwärtigen.

These 4: Dialogisches Lernen ist vor allem ein Lernen in der Begegnung und durch die

Begegnung.“ 269

Spiegels Plädoyer für den Religionsunterricht an heutigen öffentlichen Schulen knüpft

insofern an Lähnemanns Forderungen an, als dass er auf das Ziel „der Ausbildung einer

(vornehmlich auf prosoziales Handeln bezogenen) explizit religiösen Kompetenz in einer

interaktiven Lebens- und Weltgestaltung im Vertrauen auf ein Drittes“ 270 hinweist, um

sich auf dieser Grundlage das „Gotten“ als die Kompetenz der Soziotheologie anzueignen.

Nach der Soziotheologie erschließt sich Gott dem Menschen in zwischenmenschlichen

Beziehungen. 271 Dieser Ansatz stelle die Basis „jeder Friedenspädagogik“ dar. 272 Dieser

Perspektivenwechsel zeigt sich nach Spiegel sowohl in der Theologie, wenn von einem

„pluralistischen Religionsverständnis“ die Rede ist, als auch in der Religionspädagogik,

in der die didaktische Grundorientierung, die „Gemeinsamkeiten und Besonderheiten“

für das interreligiöse Lernen, hervorgehoben werden. 273 Diese Grundorientierung geht

weit über den klassischen interreligiösen Dialog hinaus, wie Spiegel auf den Punkt bringt:

268 Vgl. ebd.

269 Johannes Lähnemann, Religionsbegegnung als Perspektive für den Unterricht – Einleitende

Thesen, in: Werner Haußmann/Johannes Lähnemann (Hrsg.), Dein Glaube – mein Glaube.

Interreligiöses Lernen in Schule und Gemeinde, Göttingen 2005, S. 10 ff.

270 Egon Spiegel, Religion bildet. Das Profil des Religionsunterrichts, in: KERYKS (Religionspädagogisches

Forum international – interkulturell – interdisziplinär) 10 (2011), S. 168

271 Vgl. Egon Spiegel, Soziotheologie, in: Tobias Kläden/Judith Könemann/Dagmar Stoltmann

(Hrsg.), Kommunikation des Evangeliums. Festsschrift für Udo F. Schmälzle, Berlin 2008, S. 183 ff.

272 Vgl. Spiegel, Religion bildet., S. 168 f.

273 Vgl. Egon Spiegel, Vom „multi“ zum „inter“: interreligiöses Lernen im multikulturellen Kontext,

in: Hermann von Laier (Hrsg.), Multi-Kulti am Ende? Perspektiven in einer heterogenen

Gesellschaft, Münster 2012, S. 46 f.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 99

„Die Didaktik der Gemeinsamkeiten und Besonderheiten zielt darauf, dass die Vertreterin

bzw. der Vertreter einer Religion nicht nur andere Religionen hinsichtlich ihrer Glaubensinhalte,

ihrer kultischen Handlungen usw. nachvollziehen können, indem sie sich über diese

Informationen beschaffen, sondern Angehörige anderer Religionen in ihrer Andersgläubigkeit

tolerieren, ja mehr noch und darüber hinaus akzeptieren. In einem Stufenmodell der

Verhältnisbestimmung ist aber auch diese noch nicht der Endpunkt. Eigentliche Zielstufe

des interreligiösen Lernens ist die gegenseitige Wertschätzung.“ 274

1.2.3 Die Verhältnisbestimmung der Gemeindekatechese

beziehungsweise -pädagogik zum christlichen

Religionsunterricht

Anders als beispielsweise in Polen, wo die Richtung der Katechese durch diverse Dokumente

vorgegeben wurde, sollten in Deutschland Synodenbeschlüsse nicht nur die Inhalte und

Ziele der Katechese, sondern auch das Verhältnis des schulischen Religionsunterrichts

zur kirchlichen Katechese bestimmen. Seit der Nachkriegszeit wird parallel zu den gesellschaftlichen

Entwicklungen über die didaktische Orientierung des Religionsunterrichts

diskutiert. Entkirchlichung, Enttraditionalisierung, Individualisierung und soziale

Heterogenisierungsprozesse haben Kirchen und Religionspädagogen dazu gezwungen,

über die Konzeptionen ihrer Zeit zu reflektieren und zeitgemäße Antworten zu liefern.

Wie am Beispiel Polens im nächsten Gliederungspunkt noch zu zeigen sein wird, ist

seitens konservativer Kräfte innerhalb der Kirche, die trotz der religionspädagogischen

Herausforderungen am Status quo festhalten möchten, nicht immer mit einer rationalen

Reaktion auf den zeitlichen Wandel zu rechnen. In der historischen Entwicklung des Religionsunterrichts

in Deutschland konnte aufgezeigt werden, dass in der Nachkriegszeit

zunächst die Vorstellung von der „Kirche in der Schule“ dominierte, die jedoch im Zuge

der religionspädagogischen Diskussionen um die inhaltliche Ausrichtung des Religionsunterrichts

aufgegeben wurde.

Reinhold Boschki macht im Zusammenhang des Verhältnisses von „Religionspädagogik

und Katechese“ auf die Notwendigkeit aufmerksam, dass die Religionspädagogik

in Deutschland den Fokus nicht ausschließlich auf den Religionsunterricht richten dürfe,

sondern auch die Gemeinde als Handlungsfeld berücksichtigen müsse. Im evangelischen

Kontext habe sich daher als Gegenbewegung in den 1960er- und 1970er-Jahren die Terminologie

‚Gemeindepädagogik‘ durchgesetzt, die sich als Teilbereich der Religionspädagogik

mit eigenen Begriffen und Konzepten der „christlichen Gemeinde als Lernort und

Lernprozess“ widmet und somit vom schulischen Religionsunterricht unterscheidet. 275 Die

Diskussionen über die gesellschaftlichen sowie bildungspolitischen Herausforderungen

am Ende der 1960er-Jahre erfassten auch die Kirchen – die selbst infolge ihrer starren

Strukturen und bedrohtem Instabilität mit den Folgen dieser gesamtgesellschaftlichen

Rahmenbedingungen konfrontiert waren –, sodass auch die mangelnden pädagogischen

und theologischen Qualifikationen der Pfarrerinnen und Pfarrer zur Debatte gestellt

274 A. a. O., S. 53

275 Vgl. Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, S. 101


100 A Theoretischer Teil

wurden. So wurde ein Diskurs über die Funktion und Inhalte der Gemeindepädagogik

über ihre „Dimension kirchlichen Handelns“, die Erweiterung der Handlungsfelder aus

der Gemeinde hinaus sowie ihre Beziehung zur praktischen Theologie initiiert, bei dem zu

Beginn unterschiedliche Vorstellungen, wie die Konsolidierung der sinkenden Gemeindemitglieder,

die Hilfestellung, um „überkommene Gemeindestrukturen“ zu überwinden,

oder bei der „Weitergabe des Glaubens“ zu erhalten usw., projiziert wurden. 276 Im Zuge

dieser Diskussionen wurden ab den 1990er-Jahren die „gemeindepädagogische Theorieund

Konzeptionsbildung“ um die Lebensweltorientierung erweitert:

„Dies ist vor allem ein Verdienst des 1991 gegründeten wissenschaftlichen Arbeitskreises

Gemeindepädagogik e. V. Trotz vieler positiver Ansätze stand Gemeindepädagogik bisher in

der Gefahr, als Durchsetzungsstrategie überlieferter Glaubensaussagen und vorgefertigter

Kirchbilder – sei es konservativ oder progressiver Prägung – missverstanden zu werden.

Jetzt steht der Alltag als Ort christlicher Existenz und das einzelne Subjekt mit je eigenen

Lebensdeutungen und Gestaltungsversuchen im Zentrum des Interesses. […] Nicht zeitlos

gültige Wahrheiten sind zu vermitteln, vielmehr wird in wechselseitiger Verständigung danach

gefragt, wie Evangelium in Worten, Ritualen und Handlungen im alltäglichen Leben

der einzelnen Beteiligten Gestalt gewinnen kann. Diese Bereitschaft für offene Lernprozesse

ist doppelt bedingt: Pädagogisch liegt es nahe, die jeweiligen Gegenüber als Subjekt ernst zu

nehmen, sie in Gespräche einzubeziehen und sie zum Handeln anzuregen, ohne ihnen etwas

vorschreiben zu wollen. Theologisch ist bedeutsam, dass das Evangelium nur dort relevant

wird, wo es ‚inkarniert‘, wo es Gestalt gewinnt, indem es in konkrete Situationen ein- und

in ihnen aufgeht.“ 277

Mit dem Fokus auf der Lebenswirklichkeit der Zielgruppe einer Gemeindepädagogik

wurde auf der Basis der Sozialstrukturanalyse der Blick auf die Milieus und Lebensstile

erweitert, um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der kirchlichen Arbeit in ihrer

Gesamtheit zu berücksichtigen. Damit sollten vor allem die Voraussetzungen der heterogenen

Kirchenmitglieder berücksichtigt und die Bildungsangebote bedarfsorientiert

konzipiert werden. 278 Mit der zunehmenden Profilierung der Gemeindepädagogik wurde

parallel dazu das Verhältnis zur schulischen Religionspädagogik diskutiert und wie bei

Peter Bubmann für eine partnerschaftliche Beziehung dieser Disziplinen infolge „neuerer

bildungsortübergreifender Herausforderungen“ plädiert. 279 So listet in diesem Zusammenhang

der evangelische Religionspädagoge Karl Nipkow in seiner Stellungnahme zum

Verhältnis von Religionspädagogik und Gemeindepädagogik auf die ihm gestellte Frage „Vor

welchen gemeinsamen theologischen, pädagogischen und fachpolitischen Herausforderungen

stehen heute die Religionspädagogik und die Gemeindepädagogik?“ gemeinsame

276 Vgl. Karl Foitzik, Gemeindepädagogik, in: Gottfried Bitter et al. (Hrsg.), Neues Handbuch

religionspädagogischer Grundbegriffe, 2. Auflage, München 2006, S. 323 ff.

277 A. a. O., S. 326

278 Vgl. Claudia Schulz, Kirchliche und gemeindliche Bildungsarbeit zwischen Milieuorientierung

und „Einheitsbildung“, in: Peter Bubmann et al. (Hrsg.), Gemeindepädagogik, Göttingen 2012,

S. 235 ff.

279 Vgl. Peter Bubmann, Gemeindepädagogik und schulische Religionspädagogik. Plädoyer für

eine neue Partnerschaft, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 9 (2010), H.2


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 101

Herausforderungen und Bereiche in dieser Partnerschaft auf, die zusammengefasst wie

folgt aussehen:

„gemeinsame theoretische Grundlagen“: Denken und Handeln in beiden Lernorten sind

theologisch und pädagogisch zu verantworten und verfügen über einen „gemeinsamen

normativen Erfahrungshorizont“;

„gemeinsamer Gegenstandsbereich“: „gemeinsamer inhaltlicher Bezugshorizont“ durch

die „Erschließung der christlichen Glaubenslehre“;

„übergreifende gemeinsame Glaubenskrise“: primär in Bezug auf die Glaubenslehre

als die „Krise des Tradierten“ und sekundär hinsichtlich der didaktisch-methodischen

Vermittlung, die Nipkow insgesamt als „übergreifende Erschütterung der Akzeptanz

im Geltungshorizont“ bezeichnet;

„übergreifende gemeinsame Ausweichreaktionen“: an beiden Lernorten werde die

„Wahrheitsfrage bezüglich der Glaubensinhalte“ sowie die „Metareflexion“ als die Frage

nach dem Wort „wahr“ ausgeblendet; 280

„Auswahl, Neuinterpretation und neue Themen als pädagogisch zeitgemäße und biblisch-theologische

Notwendigkeit in mehrdimensionaler ‚Elementarisierung‘“: zum

Beispiel durch „Ausklammerung“ irrelevanter, unverständlicher Stellen für Lernende

und in Ergänzung hierzu die neue Erfahrung mit anderen biblischen Überlieferungen;

durch die Einführung des historisch-kritischen Zugangs zur Bibel; durch die „dialogische

Behandlung nichtchristlicher Lehren“; theologisch begründete Ablehnung der

„Verabsolutierung“ von Wahrheitsansprüchen die er als „insgesamt zustimmungsfähige

Aufbrüche im Rezeptionshorizont“ bezeichnet,

„Perspektivenwechsel zum Einzelnen als Subjekt des Lernens“: Ausgang vom Alltag, von

den Erfahrungen und der Lebenswelt beziehungsweise der Lebenslage der Kinder und

Jugendlichen und die Konfrontation dieser „Empirie mit der überkommenen Dogmatik“;

„Lernen als Selbstorganisation und Grenzen des Lehrens“: Berücksichtigung von aktuellen

lerntheoretischen und neurowissenschaftlichen Erkenntnissen für erfolgreiche

und realistische Lernprozesse, 281

„Gemeindepädagogik und Religionspädagogik gemeinsam vor der Qualitätsfrage“:

Nipkow diskutiert die „fachpolitischen Herausforderungen“ unter diesem Punkt auf

unterschiedlichen Ebenen, wie etwa die Nicht-Vergleichbarkeit in der Praxisqualifizierung

der Lehrkräfte der beiden Disziplinen oder die „verschiedenen existenziellen

Berufsentscheidungen“ – schwerpunktmäßig Gottesdienste, Predigten und Seelsorge

auf der einen und Unterrichten auf der anderen Seite –, die zu berücksichtigen sind usw.,

„‚Gemeindepädagogik‘ (GP), ‚Religionspädagogik‘ (RP), ‚Evangelische Erwachsenenbildung‘

(EB) am dritten Ort und ‚Gemeindebildungsarbeit‘ mit Erwachsenen vor einer

übergreifenden gemeinsamen Theoriebildung“: Unter diesem Punkt weist Nipkow auf

die Verständigung der EKD-Synode im Jahr 1990 auf einen „bildungstheoretischen

280 Vgl. Karl Ernst Nipkow, Stellungnahme zum Verhältnis von Religionspädagogik und Gemeindepädagogik,

in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 9 (2010), H. 2, S. 214 f.

281 Vgl. a. a. O., S. 215 f.


102 A Theoretischer Teil

Rahmen mit dem übergreifenden Leitbegriff der ‚Bildungsverantwortung‘ der Kirche“

hin, die „nach zwei Seiten zu entfalten“ sei: 282

„1. mit anderen Verantwortungsträgern geteilte pädagogische Verantwortung für die menschliche

Qualität von Erziehung und Bildung im öffentlichen Bildungssystem“ (‚Bildungsmitverantwortung‘)

2. und als ungeteilte Verantwortung für die Erschließung und Weitergabe der christlichen

Glaubensüberlieferung im Generationenzusammenhang.“ 283

Während im evangelischen Kontext mit dem Begriff ‚Gemeindepädagogik‘ als „gemeindeorientierte

Reflexion und Praxis religiösen Lernens“ die bewusste Abgrenzung zum

Begriff ‚Katechese‘ als einem in der Tradition „kirchlicher, vermittlungsorientierter Instruktion

und Vereinnahmung der Glaubenden“ stehenden Ansatz verbunden ist, wurde

in der katholischen Religionspädagogik an dieser Terminologie festgehalten. Allerdings

ist dies nicht mit einem starren Festhalten an überkommenen Traditionen zu verstehen,

da auch die Katechese – vor allem durch die Impulse seitens des II. Vatikanischen Konzils

sowie der Beschlüsse der Würzburger Synode von 1974 – konzeptionell weitergedacht und

-entwickelt wurde. 284 Auf das „missionarisch-katechetische Konzept“ des Religionsunterrichts

sollte zugunsten eines „diakonischen Ansatz“ verzichtet werden, um in einem

„selbstlosen Dienst“ zur „Identititätsfindung junger Menschen“ sowie zur „Humanisierung

der Schule“ beizutragen 285 :

„Die anthropologische und gesellschaftsbezogene Wende wird bereits im Aufbau des Dokuments

deutlich; die Ausführungen beginnen nicht mit einer theologischen Zielangabe,

sondern mit einer differenzierten Darstellung der beteiligten Personen im Bildungsgeschehen

(Schüler, Lehrer, Eltern) und mit einer gesellschaftlichen Situationsanalyse. Im Zentrum steht

eine doppelte Begründung für das schulische Unterrichtsfach: Man begnügt sich nicht mit

einer theologischen Argumentationsreihe, sondern reflektiert auch pädagogische Leitlinien.

Dass der Religionsunterricht aus beiden Perspektiven (= Konvergenzmodell) heraus sinnvoll

ist, wird über drei Ebenen – kulturgeschichtlich, anthropologisch und gesellschaftlich –

durchbuchstabiert.“ 286

Vorausgegangen waren im deutschen Raum intensive Debatten über das Verhältnis von

schulischem Religionsunterricht und Katechese sowie über ihre jeweiligen inhaltlichen

Ausrichtungen. Der 1973 erschienene Sammelband Schulischer Religionsunterricht und

kirchliche Katechese gibt die kontrovers geführten Diskussionen über die schwierige

Frage wieder. Auslöser waren unter anderem die Krise des Religionsunterrichts sowie

die Reformen des Schulsystems, die zu einem Umdenken führten. Exemplarisch für die

unterschiedlichen Positionen hinsichtlich des Verhältnisses eines schulischen Religions-

282 Vgl. a. a. O., S. 217 f.

283 A. a. O., S. 218

284 Vgl. Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, S. 101 f.

285 Vgl. Baudel, Religionsdidaktik kompakt, S. 57

286 A. a. O., S. 57


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 103

unterrichts und einer Katechese steht der folgende, zusammengefasste Disput zwischen

Georg Baudler und Franz Xaver Bantle:

Der katholische Theologe Georg Baudler versucht, die Trennung soziologisch, pädagogisch

und theologisch zu begründen. Aus soziologischer Hinsicht weist er auf die

Unzufriedenheit und Ablehnung der Schüler des Religionsunterrichts mit seinem katechetischen

Charakter hin, welcher nicht die gegenwärtige gesellschaftliche Situation einer

Pluralisierung und ebenso wenig die Individualität der jungen Menschen berücksichtige,

da der Staat aufgrund seiner grundgesetzlichen Verpflichtung einer weltanschaulichen

Neutralität den jungen Menschen weder eine „positivistische und indifferentistische

Weltanschauung“ aufzwingen noch eine „selbstverständliche“ Ausrichtung des Schülers

nach einem „Leben in christlicher Entscheidung“ mit entsprechender Einführung in

deren „Wesen“ sowie „ihren religiös-kultistischen Ausdruck“ unterstellen könne. Daher

fordert Baudler vom Staat eine Unterscheidung zwischen der „kirchlichen Katechese“

und der „religiöse[n] Welt- und Lebensdeutung“. 287 Pädagogisch begründet er diese

Unterscheidung mit der Kritik an den Zielsetzungen des skizzierten Menschenbildes im

1970 konzipierten Strukturplan der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates. Er

moniert die „Betonung des einseitig Rationalen“ in der Neukonzeption und weist auf die

Anfälligkeit dieser Ausrichtung für Ideologien und Irrationalismen hin. Überdies werde

die „konkupiszente“ Eigenschaft des Menschen ausgeblendet. Um diese Defizite in den

schulischen Zielsetzungen zu überwinden, spricht er von einem „von der Katechese klar

unterschiedene[n], problemorientierte[n] Religionsunterricht“, der als „regulative Instanz“

fungieren könne. 288 In seiner theologischen Begründung akzentuiert Baudler zunächst

die Wichtigkeit der Differenzierung der Aufgabenbereiche für die Kirche, um eine „neue,

sachgerechte und fruchtbare Korrelation“ zu gewährleisten, und zwar

„[…] die Korrelation von Frage und Verheißung von Antwort. Erst wenn das Dasein (von

der christlichen Tradition her) als Frage erschlossen ist, kann der Mensch (und sei es nur

ansatzweise) sich glaubend, hoffend und liebend der Verheißung öffnen, in der ihm eine

absolute Antwort (nämlich Gott selbst) auf diese seine Frage zugesagt wird. Umgekehrt hat

auch die Katechese eine fruchtbare und notwendige Rückwirkung auf den schulischen Religionsunterricht.

Denn nur wenn an diesem Unterricht Menschen teilnehmen, die durch einen

reflektierten Glauben (oder als Kinder durch die einfache Erfahrung des Glaubensvollzugs

und durch dessen kindgemäße Deutung) in der religiösen Dimension engagiert sind (d. h.

sich an der Katechese beteiligen), vermag in der schulischen Welt- und Lebensdeutung jede

sprachliche und gruppendynamische Bewegung zu entstehen, in der allein die Sinnfrage

in ihrer ganzen religiösen Tiefe erschlossen und pädagogisch fruchtbar werden kann. Vor

allem bedarf es einer solchen Rückwirkung der Katechese auf den Religionsunterricht auch

deshalb, weil die christliche Tradition nur dann wirklich als lebendige hermeneutische Basis

für den Prozeß der Welt- und Lebensdeutung fungieren kann, wenn wenigstens einige in der

287 Vgl. Georg Baudler, Die Spannung von Religionsunterricht und Katechese. In soziologischer,

pädagogischer und theologischer Sicht, in: Ders. (Hrsg.), Schulischer Religionsunterricht und

kirchliche Katechese, Düsseldorf 1973, S. 17 ff.

288 Vgl. a. a. O., S. 21 ff.


104 A Theoretischer Teil

Gruppe diese Tradition nicht nur als methodische Basis akzeptieren, sondern vom konkreten,

religiös bestimmten Lebensvollzug her in ihr stehen.“ 289

Franz Xaver Bantle setzt sich kritisch mit der soziologisch, pädagogisch und theologisch

begründeten inhaltlichen und schulorganisatorischen Unterscheidung Baudlers auseinander.

Hinsichtlich der soziologischen Begründung dieser Differenzierung widerspricht er

aus seinem „Erfahrungsbereich“ zunächst Baudlers Analyse, dass die Schüler/innen zwar

„eine Offenheit gegenüber religiösen Fragen und Fragen der Welt- und Lebensdeutung“

mitbrächten, allerdings an „katechetisch-kirchliche[n] Aspekten“ nicht interessiert seien.

Zum einen sei es der Verdienst der Religionslehrkräfte, das Interesse an solchen existenziellen

Fragen erst zu wecken, zum anderen interessierten sich die Schüler/innen danach auch

für katechetische Elemente wie Gottesdienst und Liturgie. Darüber hinaus widerspricht

Bantle Baudlers Interpretation, der Staat sei „weltanschaulich-neutral“, und verweist beispielhaft

auf die Verfassung von Baden-Württemberg mit ihrer eindeutigen christlichen

Ausrichtung, wie „Erfüllung des christlichen Sittengesetzes“, „Ehrfurcht vor Gott“, Respekt

vor „christliche[n] und abendländliche[n] Bildungs- und Kulturwerte[n]“ usw. 290 Hinsichtlich

Baudlers pädagogischer Begründung stimmt Bantle grundsätzlich mit ihm überein,

dass der „konkupiszente Mensch“ eine „Gefahr“ darstelle und die „Schule infolge ihrer

Betonung des einseitig Rationalen für Ideologien und Irrationalismen“ gegenüber einer

ideologischen Instrumentalisierung nicht immun sei; allerdings liege nicht die Lösung in

dem von der „Katechese klar unterschiedenen“ problemorientierten Religionsunterricht.

Ein Unterricht, der zwar die Möglichkeit „der bloßen rational gestellten Frage nach dem

Sinn des Lebens“ biete, ohne jedoch darauf rationale Antworten liefern zu können, sei

wenig befriedigend, und der Unterricht in dieser Form verliere an Anziehungskraft. Eine

rein rationale, auf Sinnfragen reduzierte didaktische Ausrichtung des Unterrichts sei „viel

besser und sachgemäßer in einem guten Philosophieunterricht aufgehoben“ 291 . In seiner

theologischen Gegenposition knüpft Bantle schließlich wieder auf die Bedeutung der

rationalen Sinnfrage in Baudlers Konzept der Trennung von Katechese und schulischem

Religionsunterricht an. Die zentrale Bedeutung einer rationalen Sinnfragestellung sei im

Ansatz für den Religionsunterricht verfehlt, weil sich die christliche Theologie gerade

wegen der Unmöglichkeit der ratio, auf diese letzte Wahrheiten eine Antwort zu finden,

auf die Offenbarung berufe. 292

„Die Kirche als die vom Heiligen Geist geleitete Hüterin und Auslegerin des Vermächtnisses

Jesu wird es nicht erstlich als ihre Aufgabe ansehen können, sich in einem Religionsunterricht

zu engagieren, der die rational einsichtige Frage nach dem Sinn des Lebens und der Welt

zum Thema hat. Sie wird aber jederzeit bereit sein, von Jesus her die Frage nach dem Sinn

des Lebens und der Welt zur Sprache zu bringen, und dies aus der Glaubensüberzeugung

289 A. a. O., S. 31

290 Vgl. Franz Xaver Bantle, Trennung von Religionsunterricht und Katechese? Diskussionsbeitrag

zu Baudlers Unterscheidung, in: Georg Baudler (Hrsg.), Schulischer Religionsunterricht und

kirchliche Katechese, Düsseldorf 1973, S. 37 ff.

291 Vgl. a. a. O., S. 40 ff.

292 Vgl. a. a. O., S. 42 f.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 105

heraus, daß die von Jesus her gestellte Frage nach dem Lebenssinn, wie es von nirgendwo

her geschehen könnte, den Menschen heilsam zu beunruhigen und ihn aus einem selbstgenügsamen,

zukunftsverschlossenen Integralismus aufzuschrecken vermag. Wo die Kirche

indes von Jesus her nach dem Sinn unseres Lebens und unserer Welt fragt, wird sie auch die

befreiende Antwort zu geben haben, die ihr Jesus mit auf den Weg gegeben hat und die sie

der Heilige Geist in die jeweilige Situation hinein auslegen will.“ 293

Während diese Diskussionen unter Theologen und Religionspädagogen anhielten, wurde

historisch mit den Beschlüssen der Würzburger Synode von 1974 nicht nur eine Wende

in den Inhalten und Zielen der Katechese in Gang gesetzt, sondern auch das Verhältnis

zum schulischen Religionsunterricht neu definiert. So heißt es im Beschlusstext Religionsunterricht

in der Schule der Synode von 1974, dass infolge der „fortschreitenden Entkirchlichung

der Gesellschaft“ sowie der fehlenden religiösen Sozialisation in Familien

im Sinne einer Herstellung einer „lebendigen Beziehung zum christlichen Glauben und

zur konkreten Gemeinde“ den Kindern und Jugendlichen „der notwendige Erfahrungsund

Verständigungshorizont für einen Religionsunterricht, der sich als Einübung in den

Glauben versteht“, fehle. Dieser Horizont könnte auch nicht am Lernort ‚Schule‘ durch

den Religionsunterricht erweitert werden. Zwar handele es sich bei der Zielgruppe um

überwiegend christlich getaufte Jugendliche, jedoch brächten diese aufgrund ihrer heterogenen,

pluralen Konstellation „verschiedenartige Vorverständnisse im Bereich des

Glaubens mit“ 294 . Aufgrund dieser unterschiedlichen Voraussetzungen der Schülerschaft

stehe der Religionsunterricht vor großen Herausforderungen:

„Ein Religionsunterricht, der diese Lage berücksichtigt, steht vor einer Schwierigkeit: einerseits

soll er solche Schüler ansprechen, die bereits eine lebensmäßige Beziehung zu Glaube,

Evangelium und Kirche haben oder diese wenigstens wünschen, andererseits soll er auch

solchen Schülern gerecht werden, die diese lebensmäßige Beziehung nicht haben bzw. sie

nicht wollen. Letztere können im Religionsunterricht nicht einfach wie ‚Glaubensschüler‘ in

die Lebensvollzüge der Kirche eingeübt werden. Daher sollte man den Erfolg des Unterrichts

nicht an einer nachprüfbaren Glaubenspraxis der Schüler messen wollen. Außerdem verliert

der Religionsunterricht die unmittelbare Verbindung mit dem Leben der kirchlichen Gemeinde,

je mehr die Schüler – schulorganisatorisch bedingt – aus verschiedenen Gemeinden

kommen. In dieser Situation ist neben dem Religionsunterricht in der Schule mehr als bisher

Katechese in der Gemeinde erforderlich.“ 295

Vor diesem Hintergrund differenzierte die Synode zwischen dem schulischen Religionsunterricht

sowie der Gemeindekatechese hinsichtlich ihrer sich „nur zum Teil“ deckenden

Ziele sowie Inhalte und wies bereits auf eine Hinführung zu einer möglichen „organisatorischen

Trennung“ in der Zukunft hin. Im Kontext der Funktion und der Aufgaben einer

zeitgemäßen Katechese wird daher auf das Kommissionspapier der Synode Das katechetische

293 A. a. O., S. 44

294 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofkonferenz (Hrsg.), Der Religionsunterricht in der Schule.

Ein Beschluß der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland,

Heftreihe Synodenbeschlüsse Nr.4, Bonn 1974, S. 20

295 Ebd.


106 A Theoretischer Teil

Wirken der Kirche hingewiesen, in der die katholische Kirche einen Perspektivenwechsel

vornimmt. 296 In der Einleitung dieses Dokuments wird auf die bereits immer existierende

„Aufgabenverteilung zwischen dem schulischen Religionsunterricht und der außerschulischen

Glaubensunterweisung“ hingewiesen, allerdings mit dem Hinweis, dass infolge der

Pluralisierung und Säkularisierung der außerschulische Lernort „wichtiger geworden“ sei.

Gegenwärtig gehe es bei der außerschulischen Unterweisung „um Hilfen und Anregungen

für das Glaubensleben aller Altersstufen“. Hierbei wird auch kritisch auf den Begriff ‚Katechese‘

in seinem bisherigen Verständnis „als Hinführung von Unmündigen zur Kirche“, der

sich für die gegenwärtigen Herausforderungen als „zu begrenzt erwies“, eingegangen. Trotz

dieser kritischen Hinterfragung wird der Begriff ‚Katechese‘ beibehalten, erfährt jedoch

eine inhaltliche Erweiterung. 297 So wird zunächst im Kapitel ‚Allgemeine Orientierung‘

noch einmal auf die gesellschaftlichen Transformationsprozesse hingewiesen und somit

auch auf den Wandel im Selbstverständnis von Kirche und Gemeinde, die vor folgenden

Herausforderungen stehen:

„Die Eingliederung des Einzelnen in die Kirche verläuft heute gewöhnlich viel weniger gradlinig

als früher. Das bringt besondere Schwierigkeiten mit sich. In der Vergangenheit boten

der Sonntagsgottesdienst und die häusliche religiöse Praxis eine ausreichende Grundlage

sowohl für die Ersteinführung in den Glauben als auch für die nachfolgende Bekräftigung

des Glaubens (reinforcement). Es gab noch genügend andere Faktoren innerhalb des Lebensmilieus,

die diese Vorgänge unterstützten. Heute ist dagegen eine immer wieder neue

Auseinandersetzung mit den Fragen des Glaubens notwendig geworden. Man muß damit

rechnen, daß bei vielen Gläubigen im Laufe ihres Lebens die Identifikation mit der Kirche

in mancher Hinsicht variiert.“ 298

Bei der Darstellung der Aufgaben und Ziele der Katechese wird die Hinwendung zum

Individuum dann deutlich, wenn als „oberstes Ziel“ zu lesen ist, „dem Menschen zu

helfen, daß sein Leben gelingt“. Boschki folgert auf der Grundlage der Rezeption zahlreicher

wissenschaftlicher Abhandlungen zu diesem Papier, welches er als „Trendwende“

bezeichnet, Folgendes:

„Katechese ist keine Maßnahme zur Rekrutierung und Instruktion von Mitgliedern der Kirche,

sondern eine Hilfe für Menschen, ihren eigenen Weg im Glauben zu finden. Katechese ist ein

kommunikativer, dialogischer Prozess und wird in der Religionspädagogik heute ebenso wie

die weiteren Felder religiöser Bildung subjektorientiert und bildungsorientiert verstanden.“ 299

Ebenso erkennt Boschki in der gut 30 Jahre später publizierten Erklärung der Deutschen

Bischofskonferenz Katechese in veränderter Zeit nach wie vor die Subjektorientierung der

Würzburger Synode, wenn es in der Definition der Katechese heißt:

296 Vgl. a. a. O., S. 21

297 Vgl. Karl Lehmann, Einleitung, in: Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.): Das katechetische

Wirken der Kirche. Ein Arbeitspapier der Kommission der Gemeinsamen Synode der Bistümer

in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1974, S. 31 ff.

298 A. a. O., S. 39

299 Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, S. 102


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 107

„Die Bemühungen, Menschen in den Glauben einzuführen, ihnen darin Heimat anzubieten und

so die Kirche aufzubauen, werden in der kirchlichen Tradition seit jeher Katechese genannt.

Mit ihrem katechetischen Wirken begleitet und unterstützt die Kirche den Glaubensweg der

Menschen, die von Gott berufen sind und mit denen er seine je ganz persönliche Geschichte

hat. Die Katechese setzt also etwas voraus, das sie selbst nicht bewirken kann.

So ist die Katechese der kirchliche Dienst am Glauben der Menschen, der sich dem Wirken des

Heiligen Geistes verdankt. Dieser Dienst besteht in der notwendigen Einführung, Vertiefung

und Vergewisserung im Glauben.“ 300

Tabelle 1

Geschichtliche Entwicklungen des Verhältnisses der beiden Lernorte

Historischer Überblick über das Verhältnis von Schule und Kirche

Mittelalter Schule für Klerus und Gewerbetreibende

Reformationszeit Konfessionsschulen

Aufklärung allgemeine Schulpflicht; Sonn- und Feiertagsschulpflicht; staatliche Schulaufsicht;

Volkschulbereich: geistliche Schulaufsicht, Konfessionsschulen

Kulturkampf aus „Pfarrschulen“ werden „Gemeindeschulen“; Forderung nach Simultanschulen

(Lehrer wie Schüler konfessionell gemischt) statt Konfessionsschulen

Weimarer christliche Simultanschule/Gemeinschaftsschule mit Religion als Pflichtfach als

Republik Regelschule; daneben bekenntnisfreie (weltliche) Schulen (Art. 149 der Weimarer

Reichsverfassung 1919); endgültige Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht

Drittes Reich Schließung von Klosterschulen; Entlassung kirchlicher Lehrer, Verbot des

Schulbudgets; Entfernung von Kreuzen aus dem Klassenzimmer; aus „Bekenntnisschulen“

werden „Deutsche Gemeinschaftsschulen“

Bundesrepublik GG Art. 7: Religionsunterricht ordentliches Lehrfach, in Übereinstimmung mit

den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften; Bekenntnisschule als Regelschule;

Gemeinschaftsschule als regionale Möglichkeit

Ende der

1960er-Jahre

Würzburger

Synode

Volksentscheid 1968: Ende der Konfessionsschulen; Volksschulen als christliche

Gemeinschaftsschulen; „nach den Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse“

(BayVerf Art. 135); kirchliche Privatschulen

diakonischer Ansatz: Religionsunterricht als Dienst der Kirche in der pluralen

Schule; Unterscheidung Religionsunterricht – Gemeindekatechse

Quelle: Hans Mendl, Religionsdidaktik Kompakt, München 2012, S. 26

Trotz der über 30-jährigen Geschichte der Beschlüsse halten die kritischen Diskussionen

über die mangelnde Umsetzung der Synodenbeschlüsse bis heute an. Georg Baudler hat

beispielsweise bereits zu Beginn der 1980er Jahre auf die Notwendigkeit der „begrifflichen

Schärfe“ in dem Arbeitspapier „Das katechetische Wirken der Kirche“ hingewiesen, weil

die Zuschreibungen der Inhalte und Adressaten der beiden Lernorte nicht immer eindeutig

formuliert seien. 301 Mit seiner Publikation Was macht die Kirche in der Schule zieht Stefan

Schmitz ein Fazit der bisherigen Umsetzung der Beschlüsse und sieht einen „konzeptionellen

Nachholbedarf“ für den schulischen Religionsunterricht, denn damals wie heute sei die

300 Deutsche Bischofskonferenz 2004 zit. nach Boschki, ebd.

301 Vgl. Georg Baudler (unter Mitarbeit von Marie-Theres Ex), Korrelationsdidaktik: Leben durch

Glauben erschließen, Paderborn 1984, S. 248


108 A Theoretischer Teil

Akzeptanz der Kirche in der Schule und in der Gesellschaft nicht „selbstverständlich“. 302

Schmitz würdigt in seiner Analyse der Beschlüsse zunächst die pragmatischen Situationsdarstellungen

über die kontroversen, polarisierenden Diskussionen hinsichtlich der

Legitimation des Religionsunterrichts in einer pluralen Gesellschaft und insbesondere über

das „Spannungsverhältnis“ des Religionsunterrichts an einer weltanschaulich-neutralen

Schule und einer Katechese, welche „gläubige oder glaubenswillige Schüler“ voraussetze.

Er zieht in dem Vergleich dieser Analyse des Religionsunterrichts unter den damaligen

gesellschaftspolitischen Bedingungen sowie im „veränderten Verhältnis von Kirche und

Gesellschaft“ nicht nur Parallelen zur aktuellen Situation, sondern erkennt zugleich eine

Intensivierung. Um diese Verschärfung vor Augen zu führen, greift Schmitz auf die Ergebnisse

der im Jahr 2002 durchgeführten Allensbacher Studie zurück, wonach nur 7 % der

unter 30-jährigen Katholiken eine enge Verbundenheit und 15 % lediglich eine kritische

Verbundenheit mit der Kirche aufwiesen, sodass sich die „Minderheitensituation“ der

Christen seit der Synode verschärft habe. 303 Daher sieht er in der Synode eine wesentliche

Errungenschaft, wenn zum einen von einem wissenschaftlichen Religionsunterricht

als ordentliches Lehrfach nach GG Art. 7 Abs. 3 und zum anderen von einer Katechese

gesprochen werde. Allerdings verdeutlicht Schmitz anhand verschiedener Publikationen,

dass die unterschiedlichen Positionen trotz der „nüchtern“ formulierten Beschlüsse weiter

anhalten: Auf der einen Seite stünden diejenigen, die den Charakter des Religionsunterrichts

als ordentliches Schulfach mit seinen katechetischen Projektionen auf diesen entfremden,

wenn sie im Sinne einer „vor-Würzburger Vorstellung“ „eine in den Raum der (öffentlichen)

Schule verlegte kirchliche Pastoral“ beziehungsweise „kirchliche Mission“ suggerieren, 304

auf der anderen Seite seien diejenigen religionspädagogischen Konzeptionen zu erkennen,

die gegen die geforderte Verfassungskonformität des schulischen Religionsunterrichts als

einem „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaft“ erteilten

zuwiderhandeln, wenn „religionspädagogische Entwürfe vom schulischen RU es zunehmend

zu ihrem Hauptanliegen machen, nicht mehr das Christentum und seine Objektivationen

unterrichtlich zu vermitteln, sondern die ‚subjektive Religiosität‘ der Schüler/innen zu

entdecken, zu reflektieren und zu pflegen.“ 305

Die Debatten um das Verhältnis von schulischem Religionsunterricht und Kirche

haben in den letzten Jahrzehnten zugleich zur Weiterentwicklung in der Frage der wissenschaftsorganisatorischen

Etablierung der Katechese und der Gemeindepädagogik sowie

zu theoretischen und praxisorientierten Fragen ihrer Konzeption geführt. Vergleicht

man im Rahmen dieser Fortschritte die Lehr- und Lernmaterialien der Katechese und

Gemeindepädagogik, so werden die Tendenzen hin zur Öffnung für gesellschaftliche

Entwicklungen, die Berücksichtigung der Lebenswelt des Menschen als Subjekt im Prozess

der Glaubensaneignung und die Akzentuierung des Bildungscharakters sowie die

Erweiterung des räumlichen Aktionsradius der Gemeinde (Definition und Neukonzeption

302 Vgl. Stefan Schmitz, Was macht die Kirche in der Schule? Religionsunterricht und Schulpastoral

30 Jahre nach dem Würzburger Synodenbeschluss, Münster 2004, S. 2 f.

303 Vgl. a. a. O., S. 8 ff.

304 Vgl. ebd.

305 A. a. O., S. 15


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 109

von Gemeinde) deutlich. Das didaktische Profil wird zunehmend geschärft, Kriterien für

Kompetenzen und Qualifikationen für ehrenamtliche Mitarbeiter werden konkretisiert

und neue Dimensionen des Lernens wie biografisches und kultursensibles Lernen werden

erprobt. 306 Durch empirische Studien werden zentrale Herausforderungen – wie etwa zum

Konfirmandenunterricht – für die Gemeindearbeit identifiziert, indem die Attraktivität des

Gottesdienste für junge Menschen und die Effizienz der Kommunikation (Inhalte, Themen,

Methoden) der kirchlichen Botschaft erhoben werden, um entsprechend gemeindepädagogisch

zu reflektieren und zu intervenieren. Ebenso wird die mangelnde interreligiöse

Anschlussfähigkeit der kirchlichen Bildungsarbeit thematisiert, wenn beispielsweise auf

die fehlende Berücksichtigung der vier Millionen Muslime hingewiesen wird. Immer geht

es um die Frage der Koordination der „kirchlichen Angebote“ mit den „individuellen

Bildungsbedürfnissen“ der jungen Menschen. 307

Tabelle 2 Verhältnis von Religionsunterricht und Gemeindekatechese

Lernort Gemeinde und Lernort Schule – eine Gegenüberstellung

Gemeindekatechese

Schulischer Religionsunterricht

Verantwortung Angebot der kirchlichen

Gemeinde, res ecclesia

ordentliches Schulfach; res

mixta (Kirche und Staat)

Adressaten Freiwillige, Gläubige differenzierte Schülerschaft

(Gläubige – Suchende – Zweifelnde –

Ungläubige)

Ziel

(zumindest zeitweilige)

Eingliederung in die Gemeinde der

Christen, Abschluss der sakramentalen

Initation

„Verantwortliches Denken und Verhalten

im Hinblick auf Religion und

Glaube“

(Würzburger Synode 2.5.1)

Verbindlichkeitsgrad

(zumindest zeitweilige)

Kirchenbindung und Beheimatung

in Kirche und

Gemeinde; freiwillige

Bindung

Formal: Pflichtfach; inhaltlich: diakonisches

Angebot als Beitrag zur Humanisierung

des Schullebens und zur

Identitätsfindung junger Menschen

Zeitkontinuum punktuelle Begegnung kontinuierliches Arbeiten

Lernmodalitäten Kreativ, spielerisch, erfahrungsund

handlungsorientiert,

Unter den Vorzeichen eines

schulischen Unterrichtsfaches

kommunikativ

Professionals Hauptamtliche und Freiwillige,

z. T. Jugendliche

Lehrer

Quelle: Hans Mendl, Religionsdidaktik Kompakt, S. 243

306 Vgl. Angela Kaupp/Stephan Leimgruber/Monika Scheideler (Hrsg.), Handbuch der Katechese.

Für Studium und Praxis, Freiburg im Breisgau 2011

307 Vgl. Friedrich Schweitzer, Individuelle Bildungsbedürfnisse und kirchliche Angebote im

Wandel der Zeit – am Beispiel des Konfirmandenunterrichts, in: Peter Bubmann et al. (Hrsg.),

Gemeindepädagogik, Berlin 2012, S. 198 ff.


110 A Theoretischer Teil

Die Gemeinde wird ihre Bedeutung beibehalten, auch wenn sie im „Ranking“ hinsichtlich

der Lernorte – wie die Familie auch – hinter der Schule bleibt. Zwar ist im Zuge des

Säkularisierungsprozesses eine massive quantitative Abnahme der Kirchenbesucher und

-mitglieder zu verzeichnen, doch bietet dieser Wandel zugleich auch neue Chancen für

die Gemeinden, da mit einer bewussten Mitgliedschaft auch ein höheres Engagement der

Mitglieder einhergehen kann. 308

1.3 Exkurs: Cultural Time Lag – Zeitversetzte Entwicklungen am

Beispiel der Einführung des Religionsunterrichts in Polen

1.3 Exkurs: Cultural Time Lag – Zeitversetzte Entwicklungen

Im Kontext der cultural time lag-These wird der Blick auch in einem Exkurs auf das

katholische Polen gerichtet, da dort seit den 1990er-Jahren ähnliche Erfahrungen wie in

der deutschen Nachkriegszeit – allerdings mit einer über 40-jährigen zeitlichen Distanz

– gemacht werden. Der Vergleich mit dem katholisch geprägten Nachbarland Polen ist

vor dem Hintergrund der Einführung des Religionsunterrichts – trotz unterschiedlicher

„Effekte der historischen Pfadabhängigkeit der Säkularisierung“ 309 – interessant, weil sich

ähnliche Prozesse wie in Deutschland abzeichnen und in der späteren Diskussion um den

islamischen Religionsunterricht antizipative Hinweise liefern können. Die Entwicklung

des Religionsunterrichts in Deutschland im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklungen

brachte die Kirchen seit den kritischen Diskussionen in den 1960er-Jahren unter einen

Legitimationsdruck, dem sie bis heute ausgesetzt sind. Gesellschaftspolitische Entwicklungen,

theologische und religionspädagogische Debatten sowie didaktische Realisierungen

entsprechender Konzepte verliefen in den diversen Phasen parallel zueinander. Für den

Religionsunterricht hatten diese Entwicklungen Einfluss auf die Transformation ihrer

Ziele, die Inhalte, die Rolle der Religionslehrer sowie der Schülerschaft und auch auf das

Verständnis der religiösen Quellen. Mit diesem Prozess wurde auch die Diskussion um das

Verhältnis von Kirche und Schule, von Katechese und Religionsunterricht diskutiert. Mit

dem politischen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik wiederholten sich die Debatten

um die Legitimation sowie um die Ziele und Inhalte eines Religionsunterrichts infolge der

fortgeschrittenen Säkularisierung. Trotz unterschiedlicher historischer und politischer

Entwicklungen sowie im Säkularisierungsgrad in den neuen und alten Bundesländern

zwingen die neuen gesellschaftlichen Realitäten zur Reflexion über den Religionsunterricht.

Der Religionsunterricht in Polen wurde erst 1990 unter kontroversen Umständen eingeführt

und erhielt im Zuge der Debatten von 1997 einen verfassungsrechtlichen Status,

wobei er gleichzeitig auch auf die Kindergärten ausgeweitet wurde. Schließlich wurde im

Rahmen der Regelungen des Verhältnisses von Staat und Religion im Jahr 1998 ein Konkordat

abgeschlossen, welches die Ausgleichung staatlicher und religiöser Interessen auf

308 Vgl. Klaus Hock, Einführung in die Religionswissenschaft, S. 106

309 Gert Pickel, Religionssoziologie, a. a. O., S. 160


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 111

vertraglicher Grundlage besiegelte. 310 Bei der Kirchlichkeit und der Religiosität kann die

Struktur in Polen mit der Situation in der deutschen Nachkriegsgesellschaft verglichen

werden. Dazu die polnische Religionswissenschaftlerin Irena Borowik:

„Die Zahl der, die sich selbst als religiös bezeichnen, ist seit Jahrzehnten stabil: Acht von zehn

Polen geben in repräsentativen Erhebungen an, dass sie religiös oder sehr religiös sind. Etwa

95 % der erwachsenen Polen identifizieren sich mit dem Katholizismus; das Klischee „Pole

= Katholik“ trifft noch immer zu. Trotz des wachsenden Interesses an anderen religiösen

Traditionen – insbesondere das Interesses [sic!] jüngerer Menschen am Buddhismus nimmt

zu – gehören der empirischen Forschung zufolge nicht mehr als drei Prozent der Bevölkerung

einer Minderheit an.“ 311

Eine nach wie vor starke Rolle spielt die katholische Kirche, die infolge ihres Widerstandes

gegen den Kommunismus und ihres Beitrages im politischen Wechsel zur Demokratie

sowie in der Entwicklung für das katholisch geprägte Nationalbewusstsein einen starken

gesellschaftlichen Rückhalt genießt. In der post-kommunistischen Phase hat die katholische

Kirche – wie auch in anderen Ländern in Ostmittel- und Osteuropa – wesentlich

zur Konstruktion einer nationalen beziehungsweise staatlichen Identität beigetragen. 312

Die oft beschworene „Einheit von Kirche und Nation“ wird zwar in den gegenwärtigen

kontroversen Debatten um ein „national geprägtes traditionelles“ Kirchenverständnis

und einem im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils dialogisch und pluralistisch

orientierten „offenen Katholizismus“ infrage gestellt, dennoch konnte sie aufgrund dieser

politischen Verflechtung vor allem in den 1990er-Jahren einen Einfluss auf die Politik

ausüben, wie es das Beispiel der Einführung des in der kommunistischen Ära verbotenen

Religionsunterrichts zeigt: 313

„Dies geschah fast heimlich: Weder die Kirche noch die Regierung informierten die Öffentlichkeit

im Vorhinein, um keine Diskussionen über diese Problematik anzustoßen. Der

Religionsunterricht wurde einfach mit der Anweisung des Bildungsministers vom 3. August

1990 (also kurz vor dem offiziellen Beginn des Schuljahres am 1. September) wieder in den

öffentlichen Schulen eingeführt.“ 314

Wie Cyprian Rogowski in seiner Beschreibung des Prozesses der Institutionalisierung des

Religionsunterrichts als Wahlpflichtfach in Polen darlegt, entfachte dieser eine polarisierende

Diskussion auf der Grundlage der Erfahrungen mit dem Kommunismus und dem

autoritären Regime über die neue Rolle der Kirche in der Öffentlichkeit, ihren Einfluss auf

310 Vgl. Thomas Bremer/Jennifer Wasmuth, Gott und die Welt. Kirche und Religion in Osteuropa,

in: Osteuropa, 59. Jahrgang/Heft 6/Juni 2009, S. 18

311 Irena Borowik, Religion und Politik in Polen, in: Dossier Polen, abgerufen unter: http://www.

bpb.de/internationales/europa/polen/40758/religion-und-politik [19.03.2013]

312 Vgl. Bremer/ Wasmuth, Gott und die Welt, S. 7 ff.

313 Vgl. Theo Mechtenberg, Analyse: Die Lage der katholischen Kirche in Polen, in: Dossier

Polen, abgerufen unter: http://www.bpb.de/internationales/europa/polen/155024/analyse-dielage-der-katholischen-kirche-in-polen?p=all

[22.03.2012]

314 Irena Borowik, Religion und Politik in Polen, o. S. [19.03.2013]


112 A Theoretischer Teil

Politik und Bildung sowie hinsichtlich der Inhalte und Ziele des neuen Unterrichts. Mit

dem Diktat der UDSSR wurde wie in der DDR die marxistisch-leninistische „Religion“

als Bildungsziel verfolgt und somit ein Bruch mit der christlichen Geschichte und Kultur

des Landes vollzogen. Ähnlich wie in der ehemaligen DDR war der Religionsunterricht

von 1961 bis 1990 aus den Schulen verbannt worden, sodass sich die Kirche in diesen drei

Jahrzehnten auf die Katechese konzentrierte und ihre Konzeption dementsprechend auf

die Gemeinden ausrichtete. Vor diesem Hintergrund wurde mit der Wiedereinführung

des Religionsunterrichts dieser als ein Akt des Anschlusses an die eigene „tausendjährige

Tradition“ Polens aufgefasst. 315 Dieser Schritt stieß auch auf die Gegenwehr von Kritikern,

die – aufgrund der sehr engen Kooperation von Staat und Kirche – mit der Einführung

des Unterrichts die Entwicklung einer „sozial-politischen Klerikalisierung“ befürchteten.

Andere wiederum argumentierten im Interesse der Religion, da gerade mit der Abschaffung

des Religionsunterrichts in den Schulen im Kommunismus die Religiosität zugenommen

habe. Mit der staatlich initiierten Wiedereinführung werde die Religiosität wieder abnehmen.

Die Befürworter führten dagegen die Legitimation des Religionsunterrichts auf die

Menschenrechte mit ihren Elementen der Religionsfreiheit, dem Recht auf religiöse Ausbildung

sowie das Erziehungsrecht der Eltern entsprechend ihrer religiösen Orientierung

zurück. Zugleich wurde die Bevormundung durch die katholische Kirche bestritten. 316

Schließlich wurde in der neuen Verfassung von 1997 der Religionsunterricht durch

das Bildungsministerium nochmals rechtlich bekräftigt und besiegelt. So ist in dieser

neuen Verfassung im Art. 24 zunächst das staatliche Verhältnis zu den Kirchen und

Religionsgemeinschaften geregelt, wobei mit der Akzentuierung der Gleichberechtigung

von Kirchen und Glaubensgemeinschaften explizit auf das Verhältnis der Republik Polen

und der katholischen Kirche und dem Heiligen Stuhl auf der Basis von völkerrechtlichen

Abkommen und Gesetzen hingewiesen wird. 317 Im Kontext des Religionsunterrichts ist

im Art. 53 zu lesen:

„(1) Gewissens- und Religionsfreiheit wird jedem gewährleistet.

(2) Die Religionsfreiheit umfaßt die Freiheit, die Religion eigener Wahl anzunehmen oder

zu bekennen sowie die Freiheit, die eigene Religion individuell oder mit anderen Personen,

öffentlich oder privat durch das Bezeigen von Verehrung, Gebet, die Teilnahme an

religiösen Handlungen, Praktizieren und Lehren auszudrücken. Die Religionsfreiheit

umfaßt auch den Besitz von Tempeln und anderen den Bedürfnissen der Gläubigen

entsprechenden Orten sowie das Recht der Gläubigen, religiöse Hilfe am Aufenthaltsort

in Anspruch zu nehmen.

(3) Die Eltern haben das Recht, die moralische und religiöse Erziehung und Unterrichtung

ihrer Kindern gemäß ihren Anschauungen sicherzustellen. Die Vorschrift des Art. 48

findet entsprechende Anwendung.

315 Vgl. Cyprian Rogowski, Die katechetische Unterweisung in Polen nach dem II. Vatikanischen

Konzil, Paderborn 1997, S. 170 ff.

316 Vgl. a. a. O., S. 175 ff.

317 Verfassung der Polnischen Republik vom 2. April 1997 (Gesetzblatt für die Republik Polen

Nr. 78 S. 483) berichtigt durch Erlaß des Ministerrates vom 26. März 2001 (GBl. Nr. 28 S. 319)

abgerufen unter: http://www.verfassungen.eu/pl/verf97-i.htm [19.03.2013]


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 113

(4) Die Religion einer Kirche oder einer anderen rechtlich anerkannten Glaubensgemeinschaft

darf in der Schule unterrichtet werden, wobei die Gewissens- und Religionsfreiheit

anderer Personen nicht berührt werden darf.

(5) Die Freiheit, die Religion auszudrücken, kann nur auf dem Gesetzeswege eingeschränkt

werden, wenn die Einschränkung zum Schutz der Sicherheit des Staates, der öffentlichen

Ordnung, der Gesundheit, der Moral oder der Freiheiten und Rechte eines anderen

notwendig ist.

(6) Niemand darf gezwungen werden, an religiösen Praktiken teilzunehmen. Niemand darf

an der Teilnahme gehindert werden.

(7) Niemand darf durch die öffentliche Gewalt verpflichtet werden, seine Weltanschauung,

seine religiösen Anschauungen oder seine Konfession zu offenbaren.“

Nimmt man an dieser Stelle auf der Basis von Rogowskis Analysen einen zeitlichen Vergleich

mit Deutschland hinsichtlich der religionsdidaktischen Modelle vor, so kann man für den

Religionsunterricht in Polen tendenziell eine katechetische Unterweisung – inspiriert nach

den nachkonziliaren katechetischen Unterrichtskonzepten („biblisch-liturgisch“, „anthropologisch-existenziell“,

„didaktisch-pädagogisch“ sowie „integral“) 318 – im Sinne eines

materialkerygmatischen Ansatzes feststellen. Liest man Rogowskis Ausführungen zu den

Zielen und elementaren Aspekten zum polnischen Religionsunterricht, wie „Erweiterung

und Vertiefung religiöser Sozialisation“, „Reifung der Glaubenshaltung“, komplementäre

christliche Unterweisung in Pfarreien, Einführung in die Liturgie, Vermittlung usw.

von Kirchlichkeit, Aufrechterhaltung familiärer und kirchlicher Werte, dann wird der

katechetische Charakter des Unterrichts – der übrigens durchweg als ‚Katechese‘ tituliert

wird – sehr deutlich. Die Lernenden sollen also in ihrem kirchlichen Glauben eingeführt

und verstärkt werden. Eine gewisse Dynamik und Offenheit gegenüber den didaktischen

Entwicklungen infolge der Säkularisierungs- und Modernisierungsprozesse wird betont,

doch die katechetischen Grundzüge bleiben dennoch unberührt. 319 Eine der großen Herausforderung,

die seit der Einführung des Religionsunterrichts – für die in Polen auch

tatsächlich der Begriff schulischen Katechese Verwendung findet – ist die Konzeption von

Schulbücher und –materialien. Wie Piotr Mazurkiewcz und Rogowski zeigen, wurden

zunächst ältere Unterrichtsmaterialien aus dem Jahr 1971 verwertet, die von Religionslehrern

meist „provisorisch modifiziert“ umgesetzt wurden. Die Notwendigkeit zeitgemäßer

religionspädagogischer Konzeptionen in Theorie und Praxis führte in Polen dazu, dass

neue Unterrichtsmaterialien entwickelt wurden, die nach Mazurkiewcz und Rogowski –

318 Diese unterschiedlichen katechetischen Konzeptionen werden von Rogowski in seinem Fazit

folgendermaßen – stark zusammengefasst – charakterisiert: Der biblisch-liturgische Ansatz legt

den Schwerpunkt auf eine zeitgemäße Interpretation unter besonderer Berücksichtigung der

Tradition und der Erfahrung der Gläubigen sowie auf die Akzentuierung der Ausrichtung der

Verkündung hin auf die Liturgie; der anthropologisch-existenzielle Ansatz richtet die Katechese

nach dem Wesen des Menschen und seinen artspezifischen, existenziellen Erfahrungen aus;

der didaktisch-pädagogische Ansatz betont eine Gleichheit von profaner und katechetischer

Didaktik hinsichtlich der angewandten Prinzipien in den Lehr- und Lernprozessen und hebt

zudem in der Katechetik die Partizipation an den kirchlichen Sakramenten hervor; die integrale

Tendenz dagegen ist in ihrem Ansatz mit der Korrelationsdidaktik vergleichbar (vgl. a. a. O.,

S. 191 ff.).

319 Vgl. Cyprian Rogowski, Die katechetische Unterweisung in Polen, S. 183 ff.


114 A Theoretischer Teil

neben „dem Bewußtsein der Zugehörigkeit zur Kirche und zur Gemeinschaft“ – ebenso

„interdisziplinäre Bildungswege“ sowie die stärkere Vernetzung mit den anderen Schulfächern

berücksichtigen sollen. 320

Zwar ist im Vergleich zu Deutschland die Identifizierung mit dem Katholizismus

sowie mit der Kirche größer, doch auch in Polen zeigen sich im Sinne des cultural time

lag zunehmend die Spuren des Säkularisierungsprozesses, die mittelfristig zu ähnlichen

Entwicklungen wie in Deutschland führen werden. Diese schreiten infolge der Geschichte

Polens zwar langsamer voran als in Deutschland, allerdings sind vor allem in Großstädten

bei der Gruppe der jüngeren Menschen sowie in höheren Bildungsgruppen Merkmale einer

Entkirchlichung und Enttraditionalisierung zu beobachten, 321 welche die entsprechenden

Reaktionen seitens der Kirche nach sich zogen:

„Die Säkularisierungsdebatte tritt verschärft auf, weil die Trennung von Kirche und Staat

– Prozesse, die in den west- und südeuropäischen Staaten über viele Jahrzehnte in demokratischen

Systemen verliefen – die stark traditionalistisch orientierte katholische Kirche in

Polen nach der raschen Demokratisierung schockartig vor eine für sie völlig neue Situation

der Pluralisierung des gesellschaftlichen Lebens stellte. […] Aber gerade diejenigen, die ein

Sinken von Einfluss und Ansehen der Kirche besonders befürchteten, die Bischöfe und der

Klerus, haben durch eine Negativauswahl ihres Personals, vor allem auch in Bischofsämtern,

durch zunehmende innere Zerrissenheit und wachsende Auseinandersetzungen um den Kurs

der Kirche dazu beigetragen, dass sich nunmehr immer mehr Menschen von ihr enttäuscht

und befremdet abwenden.“ 322

Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Transformationsprozesse entsteht eine Kluft

zwischen dem formalen Bekenntnis zur katholischen Kirche sowie der Alltagsreligiosität,

die durch eine Pluralisierung der Lebensstile und Milieus gekennzeichnet ist. Wie oben

erwähnt führen diese Entwicklungen auch zu einer Debatte zum Selbstverständnis der

Kirche zwischen den Vertretern eines nationalorientierten Traditionalismus und eines

„offenen Katholizismus“. Aus dem obigen Zitat von Dieter Bingen wird deutlich, dass

gerade die Traditionalisten versuchen, mit defensiven, sich allerdings kontraproduktiv

auswirkenden Reaktionen, wie etwa mittels selektiver Einstellung ihres Personals, einen

Einfluss auf diesen Wandel auszuüben. Diese Entwicklungen tangieren sowohl die Katechese

in den Gemeinden als auch den Einfluss der Kirchen auf den Religionsunterricht an den

Schulen. Im Kontext der Schulen zeigt Rogowski die Probleme für den Religionsunterricht,

vor allem hinsichtlich der „ekklesialen, sakramentalen und liturgischen Dimension“, die

zu einem Umdenken der katechetischen Ausrichtung zwingt, auf:

„Die Schule, in der sich Menschen mit verschiedenen weltanschaulichen und religiösen

Orientierungen treffen, kann man nicht mehr im engen Sinne als kirchliche Gemeinschaften

sehen. Die meisten Probleme hängen mit der initiierenden Katechese zusammen, die in der

320 Vgl. Piotr Mazurkiewcz/Cyprian Rogowski, Polen, in: Karl Graf Ballestrem/Sergio Belardinelli/

Thomas Cornides (Hrsg.), Kirche und Erziehung in Europa, Wiesbaden 2005, S. 241 ff.

321 Vgl. Dieter Bingen, Gesellschaftliche Strukturen, in: Polen. Informationen zur politischen

Bildung, 311, 2/2011, S. 42

322 Ebd.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 115

Schule nicht gänzlich durchgeführt werden kann. Die Praxis, daß sich die Kinder für eine

gewisse Zeit zur Vorbereitung der Sakramente: Buße, Eucharistie und Firmung in den Pfarreien

treffen, befriedigt niemanden; denn hier werden mehr die technischen Sachverhalte als

gänzliches, vertieftes Verständnis akzentuiert für das, was die kirchliche Gemeinschaft, ihre

Ziele, Aufgaben und was für sie Sakramente und Liturgie überhaupt bedeuten. Die Erfahrung

der sakramental-liturgischen Dimension der Katechese ist eng mit dem Gemeindeleben

verbunden und nicht mit der Schule. Theoretisch kann sie das Verständnis dieser Werte

vorbereiten, aber ein volles Erlebnis derer ist nicht möglich. Somit scheint es ein Problem zu

sein: Was bedeutet überhaupt religiöse Unterweisung in der Schule? In diesem Kontext muß

eine konkrete Frage gestellt werden, und zwar, inwieweit die Beibehaltung des katechetischen

Charakters dieser Unterweisung noch einen Sinn hat. Vielleicht sollte man für eine solche

Konzeption plädieren, die die Realien der Schule, ihre Ziele und Aufgaben berücksichtigt?“ 323

Die weitere Zwangslage für die Kirche resultiert nach Rogowski aus der Tatsache, dass

mit der Einführung des Religionsunterrichts an Schulen die Zahlen der Kinder und Jugendlichen

im Gemeindeleben zurückgegangen seien. Dies hänge unter anderem mit der

didaktischen Orientierung einer Kirchlichkeit an den Schulen zusammen, die sozusagen

die Kirche und das Gemeindeleben für die jungen Menschen als nicht mehr notwendig

erscheinen lässt und die Mobilisierung dieser Zielgruppe für das Gemeindeleben erschwert.

Diese Abstinenz vom Gemeindeleben führe auch dazu, dass fortan „Elemente“ fehlten,

die diese jungen Menschen vor der Wiedereinführung des Religionsunterrichts mit den

Pfarreien assoziierten. Rogowski warnt aufgrund dieser ausschließlichen Fokussierung

auf den Religionsunterricht und der Vernachlässigung des Gemeindelebens vor negativen

Konsequenzen sowie vor einer Beschleunigung des Prozesses der Entchristianisierung.

Diese von ihm skizzierten Herausforderungen führten in Polen zu Diskussionen über

die unterschiedlichen Aufgaben der Schulen und Gemeinden hinsichtlich der religiösen

Unterweisung beziehungsweise Glaubensvermittlung, über die religionspädagogischen

Qualifikationen der Katecheten sowie Religionslehrer/innen entsprechend der zeitgemäßen

Herausforderungen, über die Qualität des Unterrichts in Gemeinden und an Schulen sowie

in diesem Zusammenhang über Fragen nach neuen Arbeitsmaterialien und Konzeptionen. 324

Zugleich kämpfen die Kirchen mit der Herausforderung, dass die „soziale Legitimationsgrundlage“

des Religionsunterrichts zunehmend wegfällt. Der Religionsunterricht wird in

Polen als Wahlpflichtfach angeboten, sodass die Eltern gesetzlich eine Wahl zwischen Ethik

und Religion treffen können. Allerdings ist diese Wahl infolge der mangelnden Angebote

des Ethikunterrichts an den polnischen Schulen derart eingeschränkt, dass in der Realität

nur die unfreiwillige Teilnahme am Religionsunterricht infrage kommt. In diesem Zusammenhang

förderte eine repräsentative Studie des Meinungsforschungsinstituts Homo

Homini zutage, dass mehr als die Hälfte der polnischen Population – wenn die Teilnahme

freiwillig wäre – ihre Kinder nicht zum Religionsunterricht anmelden würden. 325

Zusammengefasst zeigen die polnischen Entwicklungen, dass die Diskussion um die

Position der Kirche und ihr Einfluss auf die Politik, die strukturelle Zwangssituation zur

323 Cyprian Rogowski, Die katechetische Unterweisung, S. 188

324 Vgl. a. a. O., S. 187 ff.

325 Vgl. Arik Platzek, Polen: Mehrheit lehnt Religionsunterricht ab, abgerufen unter: http://www.

wissenrockt.de/2010/09/13/mehrheit-in-polen-lehnt-religionsunterricht-ab-9903/ [25.03.2013]


116 A Theoretischer Teil

Teilnahme am Religionsunterricht, der eher didaktische Charakter mit dem zentralen Ziel

der Stärkung des kirchlichen Glaubens sowie die Klärung der Rollenverteilung hinsichtlich

der Religionsvermittlung an Schulen und Gemeinden weiterhin anhalten wird. Je weiter der

Säkularisierungs- und Modernisierungsprozess in der polnischen Gesellschaft fortschreiten

und je mehr der „katholische Konformitätsdruck“ auf die Bevölkerung abnehmen wird,

desto mehr wird wahrscheinlich die Kirche im Sinne des cultural time lag hinsichtlich einer

zeitgemäßen religionspädagogischen Konzeption des Religionsunterrichts – im Unterschied

zu den Inhalten und Zielen einer Gemeindekatechese – unter Handlungszwang kommen.

Detlef Pollack zeigt in diesem Kontext, dass die Kirchen vor dem Fall des Eisernen Vorhanges

auch in anderen kommunistischen Ländern, wie etwa der Tschechoslowakei, eine

Opposition ausübten und somit infolge dieser Funktion eine Gegenmacht zum repressiven

Staat stellten. Aufgrund der Sympathie der Bevölkerung mit den Kirchen und den sehr hohen

Zahlen der Kirchenmitgliedschaften ist man nach dem Ende des Staatssozialismus davon

ausgegangen, dass eine noch stärkere Vitalität eintreten werde. 326 Doch, wie Pollack ferner

aufführt, sollten diese Erwartungen aufgrund von „Umstellungsproblemen“ in den neuen

politischen Systemen sowie der „nachholenden Modernisierung“ nicht in Erfüllung gehen:

„Diese Probleme resultierten nicht nur daraus, dass die in den Kirchen arbeitenden Priester

vielfach sehr alt und oft nicht gut ausgebildet waren, dass die Kirchen den Anschluss an

neuere theologische Entwicklungen verpasst hatten, dass ihre Mitarbeiter durch die Kämpfe,

die sie in der Zeit des Staatsozialismus durchzustehen hatten, teilweise physisch erschöpft

und geistig ausgebrannt waren und dass nicht wenige durch die Kompromisse, die sie in

der Vergangenheit eingegangen waren, politisch belastet und kompromittiert waren. Vielen

Kirchen fiel es erstaunlich schwer, sich auf die großteils doch gewünschten und angestrebten

gesellschaftlichen Verhältnisse, auf Demokratie und Marktwirtschaft, auf kulturellen und

weltanschaulichen Pluralismus und religiösen Individualismus einzustellen.“ 327

In Polen habe die Kirche, gestärkt durch die Rolle im Kommunismus versucht, ihren „moralisch-geistigen

Führungsanspruch“ weiter zu spielen und sich sogar in das Wahlverhalten

in Form von Empfehlungen für kirchennahe Parteien einzumischen sowie Einfluss auf die

Regierungspolitik auszuüben. Mit dem Übergang zur Demokratie und einer „nachholenden

Modernisierung“ sollte das Gefälle zwischen den Vorstellungen der katholischen Kirche

hinsichtlich Lebensführung, Wahlverhalten, Sexualität usw. und den Vorstellungen der

Bevölkerung größer werden. Ein weiteres Problem der katholischen Kirche in der Demokratie

und im Pluralismus sollte nach Pollack die Bedrohung ihrer Monopolstellung durch

neue, attraktive Religionsgemeinschaften aus Westeuropa oder aus den USA darstellen. 328

Doch wie Pollack an anderer Stelle in der Auswertung verschiedener Studien zur Frage

der Kirchenzugehörigkeit, des Engagements am Gemeindeleben sowie dem Gottesglauben

im Kontext von Säkularisierungs- und Individualisierungsprozessen in Ostmittel- und

Osteuropa nachzeichnet, spielt der Faktor ‚ökonomischer Wohlstand‘ – gemessen an der

Industrialisierung und am Bruttosozialprodukt – eine ausschlaggebende Rolle. Je höher

326 Vgl. Pollack, Rückkehr des Religiösen? S. 105 f.

327 A. a. O., S. 106 f.

328 Vgl. Pollack, Rückkehr des Religiösen?, S. 107 f.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 117

dieser Wohlstand ausfällt, desto stärker sind die Prozesse der Entkirchlichung. 329 Eine

ähnliche Entwicklung ist für Polen zu erwarten, je weiter diese Modernisierungsprozesse

voranschreiten. Die uneinsichtigen Versuche, diese historisch-traditionell verwurzelte

Rolle und Funktion unter neuen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen weiter

beizubehalten und die eigene Sonderstellung gegenüber konkurrierenden neuen religiösen

Gemeinschaften und Strömungen sogar mit nationalen Argumenten zu bekräftigen, seien

dabei sehr kontraproduktiv:

„Das Bemühen um die Sicherung des institutionellen Bestandes, um rechtliche und finanzielle

Privilegien sowie der Anspruch auf geistige Meinungsführerschaft rufen andererseits aber

auch wieder antiklerikale Meinungen hervor, die sich gegen die vermeintliche Übermacht

der Kirchen zu Wehr setzen und die Kirche als Herrschaftsinstitution bekämpfen. Gerade

in Ländern, wo die Kirche stark ist, etwa in Polen oder in Ungarn, lassen sich solche antiklerikalen

Bewegungen beobachten.“ 330

Je früher also die Zeichen der Zeit erkannt werden, desto eher kann das Selbstverständnis

des Religionsunterrichts – im Interesse der Zielgruppe und ebenso der katholischen Kirche

– unter den neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen neu definiert und dementsprechend

wissenschaftlich begründet werden. Zwar ist der Transformationsprozess in Polen

noch relativ jung, allerdings sind erste Anzeichen für den Säkularisierungsprozess – mit

Berücksichtigung der oben akzentuierten historischen Pfadabhängigkeiten – erkennbar,

wie der Religionssoziologe Janusz Marianski konstatiert und prognostiziert:

„In der polnischen Gesellschaft vollziehen sich ohne Zweifel Prozesse der Säkularisierung.

Diese Tatsache lässt aber verschiedene Interpretationen zu. Die Religion und die katholische

Kirche in Polen können ihre bisherige dominierende Position auf dem modernen Markt der

Weltanschauungen nicht mehr behaupten. Manche Denk- und Handlungsweisen werden aus

der religiös-kirchlichen Sphäre auswandern. Vermutlich zeichnen sich im 21. Jahrhundert

‚kriechende‘, also verlangsamte Säkularisierungsprozesse ab, die den in den hochentwickelten

pluralistischen Gesellschaften vollzogenen Vorgängen ähnlich, aber nicht mit ihnen

identisch sind. Andere als zu Zeiten des real existierenden Sozialismus wirkende Faktoren

werden dann für die Initiierung und Förderung von Säkularisierungsprozessen relevant sein,

etwa ein Unglaube oder religiöser Indifferentismus, die den Voraussetzungen der liberalen

Ideologie entstammen. Die Religiosität wird nicht nur durch soziokulturelle Verschiebungen,

sondern auch durch verschiedenartige ideologische Offensiven gegen das Christentum

bedroht. Der polnische Katholizismus bildet ähnlich wie die polnische Familie ein Bollwerk

oder eine Festung mit vielen Rissen und Spalten. Seine künftige, keinesfalls deterministisch

vorbestimmte Entwicklung hängt von vielen Faktoren ab und bleibt daher bis zu einem

gewissen Grad unbekannt.“ 331

329 Vgl. Detlef Pollack, Renaissance des Religiösen? Erkenntnisse der Sozialforschung, in: Osteuropa,

59. Jahrgang/Heft 6/Juni 2009, S. 29 ff.

330 Pollack, Rückkehr des Religiösen?, S. 108

331 Janusz Marianski, Entwicklungstendenzen der katholischen Religiosität in Polen, in: Michael

Hainz et al. (Hrsg.), Zwischen Säkularisierung und religiöser Vitalisierung. Religiosität in

Deutschland und Polen im Vergleich, Wiesbaden 2014, S. 41; Hervorhebung im Original.


118 A Theoretischer Teil

Ein Indiz für die von Marianski genannten „Risse“ ist in Bezug auf die kirchliche Religiosität

erkenn, da die Kluft zwischen der offiziellen Glaubenslehre der katholischen Kirche und

der Alltagsreligiosität allmählich größer wird. Denn allein die nominelle Kirchenzugehörigkeit

ist kein Garant dafür, dass die Kirchenlehre die innere religiöse Überzeugung sowie

die Alltagspraxis der Mitglieder bestimmt. 332 Grundsätzlich ist Marianski zuzustimmen,

wenn er davon spricht, dass der Säkularisierungsprozess nicht identisch sein muss wie in

den anderen „hochentwickelten pluralistischen Gesellschaften“. Zudem ist der Transformationsprozess

in Polen noch relativ jung, allerdings deuten die Phänomene hinsichtlich

der organisierten Religiosität, dass eine ähnliche Entwicklung wie in Deutschland ab der

1960er Jahre stattfinden könnte. Einige „Frühindikatoren“ hierfür könnten nach Michael

Hainz auch die „rückläufigen Zahlen der Ordens- und Priesterberufung“ liefern. 333 Ebenso

die Abnahme der Beziehungen junger Menschen zur ihrer Pfarrgemeinde:

„Die Verlegung der Katechese aus den Pfarrsälen in die Schulen stellt, trotz einer beträchtlichen

Zunahme der Teilnehmerfrequenz am Religionsunterricht, auch eine ernsthafte Herausforderung

auf dem Gebiet der Organisation der Kinder- und Jugendpastoral dar. Früher waren die

Schüler daran gewöhnt, ihre Pfarrkirche mehrmals in der Woche zu besuchen. Heute hat ein

großer Teil von ihnen höchstens noch am Sonntag Kontakt zur eigenen Pfarrgemeinde. Auch

die Teilnehmerfrequenz an der Sonntagsmesse geht zurück. Die Verlegung des Religionsunterrichts

aus den Pfarreien in die Schulen verursachte eine Veränderung seines Charakters

sowie der Zusammensetzung der katechisierten Gruppe. Zwar nehmen heute mehr Kinder

und Jugendliche am Religionsunterricht teil als früher. Das bedeutet, dass auch diejenigen

kommen, die aufgrund geringeren Interesses an der religiösen Thematik früher nicht in die

Pfarrei gekommen sind. Aber auch gegenwärtig nimmt ein Teil dieser Gruppe trotzt Teilnahme

am Religionsunterricht die Sakramente der Kirche nicht in Anspruch. Man versucht,

diesen Schwierigkeiten abzuhelfen, indem die Pfarrkirche wieder als der angemessene Ort

der Sakramentenkatechese (Erstkommunion, Firmung) verstanden wird.“ 334

Parallel hierzu zeichnen sich auch ambivalente Entwicklungen ab, die wiederum der

spezifischen polnischen Situation zuzurechnen sind. So weist Witold Zdaniewcz in einer

empirischen Untersuchung nach, dass einerseits die Kirchengänge rückläufig sind, andererseits

aber der Kommunionsempfang beständig zunimmt. Auf der Basis dieser Daten

folgert sie, dass die Religiosität in Polen eine andere, „neue Qualität“ gewinne sowie eine

„zunehmende Vertiefung“ erfahre. 335 Zwar eröffnet diese Hypothese von Zdaniewcz neue

Forschungsperspektiven, insbesondere in der Frage der qualitativen Transformations-

332 Vgl. Wojciech Pięciak, Religiosität und Säkularisierung, in: Hubert Orlowski/Andreas La-waty

(Hrsg.), Deutsche und Polen. Geschichte – Kultur – Politik, München 2006, S. 414

333 Michael Hainz, Ein deutscher Kommentar zum religiösen Wandel in Polen, in: Ders. et al.

(Hrsg.), Zwischen Säkularisierung und religiöser Vitalisierung. Religiosität in Deutschland

und Polen im Vergleich, Wiesbaden 2014, S. 49 f.

334 Piotr Mazurkiewcz/Cyprian Rogowski, Polen, S. 246

335 Vgl. Witold Zdaniewcz, Wandlungsprozesse religiöser Praktiken in Polen von 1980 bis 2010

im Licht der Indikatoren Kirchgang und Kommunionsempfang, in: in: Michael Hainz et al.

(Hrsg.), Zwischen Säkularisierung und religiöser Vitalisierung. Religiosität in Deutschland

und Polen im Vergleich, Wiesbaden 2014, S. 109ff.


1 Säkularisierungs- und Individualisierungprozesse und cultural time lag 119

prozessen bezüglich der Religiosität, doch weisen die quantativen Entwicklungen auf den

Prozess des cultural time lag hin, da die organisierte Religiosität im Sinne einer kirchlichen

Christlichkeit abzunehmen scheint. Um diese These des cultural time lag zu verfestigen,

bedarf es jedoch weiterer Studien, welche die mittel- und langfristigen Auswirkungen der

Säkularisierung erfassen.


Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer

religiösen Erziehung in den Familien, einer

Moscheekatechese und eines islamischen

Religionsunterrichts im Migrationskontext

2

2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung

Mit der Akzentuierung der Bedeutung der islamisch-religiösen Bildung für den Integrationsprozess

in Deutschland wurde ein neues religionspädagogisches Lern- und

Handlungsfeld erschlossen. Die Zielgruppe dieser bildungs- und integrationspolitischen

Maßnahme bilden muslimische Kinder und Jugendliche, die eine besondere Gruppierung

hinsichtlich der gesamtgesellschaftlichen Bedingungen ihrer Sozialisation darstellen.

Zum einen sind die im Kapitel 1 skizzierten Auswirkungen der Säkularisierungs- und

Individualisierungsprozesse auf die islamischen Institutionen anzuführen, die auch für

die muslimischen Kinder und Jugendliche eine Relevanz haben, zum anderen kommen

Einflussfaktoren für die islamisch-religiöse Bildung zusammen, die unter anderem aufgrund

der Migrationssituation nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Die Berücksichtigung

dieser Rahmenbedingungen in der persönlichen Entwicklung dieser Minderheitengruppe

ist vor allem im Zusammenhang religionspädagogischer Konzeptionen – sowohl für die

muslimischen Gemeinden als auch für den islamischen Religionsunterricht – unverzichtbar.

Informationen über Lebenslagen und Lebenswelten sind für die Lehrplanentwicklungen in

Moscheen und Schulen relevant, um die Kinder „dort abzuholen, wo sie stehen.“ Hierbei

muss zwischen internen und externen Einflussfaktoren unterschieden werden. Als interner

Faktor zählt im religiösen Kontext zunächst die Sozialisation in der Familie, die als soziales

System zwar nicht isoliert von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und Einflüssen

besteht, jedoch besondere Spezifika aufweist. Externe Einflussfaktoren beziehen sich auf

alle außerfamiliären Kriterien, vom Elementarbereich über schulische Lernprozesse bis

hin zu medialen Diskursen über diese Zielgruppe.

Die Berücksichtigung der genannten Rahmenbedingungen und Handlungsfelder sind

nach Reinhold Boschki ist eine wichtige Voraussetzung, um religiöse Bildungsprozesse

besser nachzuvollziehen sowie Lehr-Lern-Prozesse effektiver zu planen und zu steuern.

Er unterscheidet dabei die Vermittlungs-, Aneignungs- und Beziehungshermeneutik, die

jeweils die Ebene des Subjekts, der Inhalte sowie der Kommunikation widerspiegeln. Die

Ebene der Vermittlung bezieht sich auf die Reflexion Inhalte und Glaubenstraditionen wie

etwa von biblischen Geschichten oder liturgischen Traditionen. Die Ebene der Aneignung

umfasst alle Lernbedingungen des Subjektes, die für seinen Bildungsprozess entscheidend

R. Ceylan, Cultural Time Lag, DOI 10.1007/978-3-658-06050-3_3,

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014


122 A Theoretischer Teil

sind. Hier fließen Erkenntnisse aus der Soziologie und (Entwicklungs-)Psychologie mit ein,

um beispielsweise die soziale Herkunft oder die Milieuherkunft des lernenden Subjekts

zu berücksichtigen. Auf der Ebene der Beziehung werden nach Boschki die „vielfältigen

Kommunikations- und Beziehungsaspekte“ des religiösen Lehr-Lern-Prozesses wie

etwa die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden oder die Gottesbeziehung des

lernenden Subjektes bedacht. Erst durch das Zusammenspiel dieser drei Faktoren könne

man ein umfassendes Bild der religiösen Bildungsprozesse skizzieren, die sowohl für die

religionspädagogische Theoriebildung als auch für die religionspädagogische Praxis von

entscheidender Bedeutung seien. Die ganzheitliche, multidimensionale „Bildungs(-Wirklichkeit)“

wird somit durch theologische und sozialwissenschaftliche Zugänge zur Mikrobis

zur Makroebene rekonstruiert. 336

Abb. 2 Religiöses Lernen und religiöse Bildung im Schnittfeld von Vermittlung, Aneignung und

Überlieferung nach Boschki

Quelle: Boschki, Religionspädagogik, S. 108

336 Vgl. Boschki, Einführung in die Religionspädagogik, S. 108 f.


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 123

In diesem Kapitel werden daher ausgewählte zentrale Einflussfaktoren für das Aufwachsen

muslimischer Kinder und Jugendliche im Migrationskontext unter besonderer Berücksichtigung

der religiösen Sozialisation herausgearbeitet, um bildungs- und integrationspolitische

sowie gemeindepädagogische Herausforderungen für die Moscheekatechese

und den islamischen Religionsunterricht zu verdeutlichen. Es sollte durch das Modell von

Boschki deutlich geworden seien, wie komplex die Ermittlung der oben genannten Ebenen

ist. Daher sind die Ausführungen zu den Rahmenbedingungen der religiösen Bildungsprozesse

muslimische Kinder und Jugendlichen nur in diesem Kapitel nur fragmentarisch

zu verstehen, da nicht alle theologischen und sozialwissenschaftlichen Erträge zu dieser

Zielgruppe zusammengetragen werden können. Lediglich selektive Handlungsfelder aus

den unterschiedlichen Ebenen werden analysiert, um die besonderen Herausforderungen

der religiösen Bildungsprozesse für muslimische Kinder und Jugendlichen vor Augen zu

führen. Zugleich sollen damit die Rahmenbedingungen bezüglich der Lernvoraussetzungen

in den Moscheegemeinden verdeutlicht werden. Ein besonderes Augenmerk liegt vor allem

in der Vermittlung religiöser Inhalte in muslimischen Familien, die nach den islamischen

Quellen traditionell, wie im Katholizismus, den ersten Lernort darstellen. Sowohl im Koran

als auch in den Ḥadīṭen – als zweite theologische Quelle – sind die Verantwortung und

die Inhalte der Glaubensvermittlung für Eltern und religiöse Lehrer dokumentiert sowie

in zahlreichen Schriften von muslimischen Gelehrten bis in die Gegenwart als Legitimationsgrundlage

für Konzepte des religiöses Lehrens und Lernens angeführt. Bevor zunächst

die Felder der (religiösen) Sozialisation und die historischen Hintergründe der Entstehung

einer islamischen Katechese im Einzelnen beleuchtet werden, werden allgemeine statistische

Informationen sowie Definitionen im Kontext der Zielgruppe der muslimischen Kinder

und Jugendlichen behandelt.

2.1 Daten und Fakten: Muslime in Deutschland

2.1 Daten und Fakten: Muslime in Deutschland

Die Definition der muslimischen Kinder und Jugendlichen ist, wie bei allen Kategorisierungen

für statistische Erhebungen, mit der Frage konfrontiert, welche Kriterien für die

Bildung dieser Gruppe angelegt werden sollen. Während sich die Erfassung der Gruppe

von „Nicht-Deutschen“ oder mit „Migrationshintergrund“ – trotz der Kontroversen

hinsichtlich der Bildung einer Sonderkategorie – von objektiven Merkmalen, wie der

Staatsangehörigkeit oder dem Aufenthaltsstatus oder Geburtsort der Eltern, ableiten lässt,

erfordert die Erfassung der Religionszugehörigkeit ein explizites Bekenntnis seitens der

Befragten zum Islam. Die Zugehörigkeit zur evangelischen oder katholischen Konfession

– auch wenn diese Erfassung nicht die tatsächliche religiöse Praxis oder Religiosität

ausdrücken muss – können Untersuchungen anhand der amtlichen Kirchenzugehörigkeit

erfassen; dagegen existiert im Islam keine zentrale Institution zur Registrierung der

Mitgliedschaft. Die Muslime sind eine sehr heterogene Gruppierung, die sich nicht nur

anhand ethnisch-kultureller und konfessioneller Besonderheiten auszeichnet, sondern

auch aufgrund unterschiedlicher religiöser Orientierungen. Ebenso könnte die Erfassung

der Zugehörigkeit zu einer der Rechtsschulen der 4,2 Millionen Muslime nicht allein über


124 A Theoretischer Teil

die Mitgliedschaft der zahlreichen lokalen Moscheegemeinden erfolgen, die wiederum

den übergeordneten Landes- und Bundesverbänden angeschlossen sind. Die tatsächliche

Reichweite der religiösen Dienstleistungen der muslimischen Gemeinden ist bis heute

nicht erfasst. 337

Der politische, gesellschaftliche und mediale Blick auf die Gruppierung der muslimischen

Kinder und Jugendlichen fand in den letzten Jahrzehnten anhand unterschiedlicher

Zuschreibungen statt, die zugleich die aktuellen Diskurse und integrationspolitischen Entwicklungen

ihrer Zeit widerspiegeln. Historisch wurden sie zunächst als Sonderkategorie

‚Gastarbeiterkinder‘ oder ‚ausländische‘ Kinder und Jugendliche ohne Akzentuierung der

religiösen Bekenntnisse und Bedürfnisse wahrgenommen. Zudem wurde in den Debatten

– wenn es sich denn tatsächlich um islamspezifische Themen handelte, wie etwa bei der

Diskussion um die Grauen Wölfe – primär die ethnische Gruppe der Türken hervorgehoben.

Diese Assoziation „Türke und Muslim“ ist noch bis Ende der 1990er-Jahre anhand der

Studie Verlockender Fundamentalismus zur Erfassung der islamisch-fundamentalistischen

Orientierungen von ca. 1200 befragten türkischstämmigen Jugendlichen wirksam. 338 Die

Folge und der Effekt dieser Studie waren nicht nur die kontroversen Debatten in Leitmedien

oder Sicherheitsbehörden über die Methodik sowie die Ergebnisse, 339 sondern vielmehr die

Konstruktion und Verfestigung des Bildes türkischstämmiger Jugendlicher als (problematisierte)

Muslime mit antidemokratischen Tendenzen. Wenn in Deutschland über den Islam

gesprochen wurde und wird, dann meistens stellvertretend über die türkischstämmigen

Menschen hierzulande. Neben den historisch tradierten Bildern in der Erinnerungskultur

im Bezug zum Osmanischen Reich ist die quantitative Präsenz von ca. drei Millionen aus

der Türkei stammenden Einwohnern ein entscheidender Faktor für diese Wahrnehmung.

Insgesamt ist zu konstatieren, dass die Erfassung der Muslime lange Zeit meist aufgrund des

Merkmals ‚Herkunftskontext‘ erfolgte. Damit wurde man aber dieser heterogenen Gruppe

nicht gerecht, zumal sich die Migranten aus islamisch geprägten Ländern im Laufe der

Jahrzehnte in zahlreiche Milieus und Lebensstile von sogenannten „Kultur-Muslimen“ bis

hin zu praktizierenden Muslimen und ebenso nichtmuslimischen Migranten ausdifferenzieren.

Diese ethnisierten und „islamisierten“ Bilder haben eine hohe Persistenz und sind

noch heute infolge von Zuschreibungs- und Ethnisierungsprozessen wirksam.

Da dieser pauschale Blick dem „muslimischen Mosaik“ in Deutschland nicht gerecht wird,

ist der Versuch einer differenzierteren Erfassung in der Migrations- und Islamforschung

337 In der Regel wird die Mitgliedschaft einer muslimischen Familie über den Vater registriert;

die Anzahl der Familienmitglieder wird nicht berücksichtigt. Ebenso sind die regelmäßigen

Nutzer dieser religiösen Strukturen nicht erfasst, die zwar über keine Mitgliedschaft aufweisen,

jedoch durch unverbindliche Spenden diese Strukturen finanziell unterstützen. In dieser Untersuchung

werden zum ersten Mal für den deutschen Kontext für Niedersachsen die Zahlen

der Mitglieder (plus Familien) sowie den Besuchern des Freitagsgebets ermittelt. Zwar basieren

diese Angaben auf den plausiblen Aussagen der Experten, geben aber eine Orientierungsgröße

an, die man empirisch überprüfen müsste.

338 Vgl. Heitmeyer, Wilhelm/Müller, Joachim/Schröder, Helmut, Verlockender Fundamentalismus.

Türkische Jugendliche in Deutschland, Frankfurt/M., 1997

339 Vgl. z. B. „Rechtfertigung zum Töten“, abgerufen unter: http://www.spiegel.de/spiegel/

print/d-8776473.html [28.01.2013]


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 125

zu beobachten. Neue (kontroverse) Kategorien, wie etwa der Migrationshintergrund, zur

Erfassung der tatsächlichen Präsenz von Menschen mit eigener Zuwanderungsgeschichte

oder der ihrer Eltern sowie ihres Integrationsbedarfs im strukturellen Bereich von Bildung

und Arbeitsmarkt traten hinzu. Die Art der zu bewertenden Konnotationen der

soziologischen oder politischen Kategorisierungen hängt dabei nicht nur von differenzierteren

Typologisierungsversuchen ab, sondern ebenso vom gesellschaftlichen Diskurs

über diese definierte Gruppe, die, wie im Fall ‚Migrationshintergrund‘, nach wie vor eher

unter negativen Vorzeichen erfolgt. Parallel wurden in der Erfassung der religiösen Zugehörigkeit

der Menschen mit Migrationshintergrund, wie in der aktuelleren Studie des

Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, diverse statistische Erhebungen initiiert, um

die tatsächliche quantitative Dimension der Muslime infolge der Ausweitung relevanter

Herkunftsländer nach den eigenen Angaben der Befragten sowie deren Angehörigen zu

erfassen. 340 Die aktuellen Zahlen gehen vor diesem Hintergrund von einer Minimalzahl

von 3,8 und Maximalzahl von 4,3 Millionen Muslime (mit Migrationshintergrund) 341 aus.

Teilt man diese Gruppe der Muslime nach ihrem staatsrechtlichen Status in Eingebürgerte

und Ausländer auf, so ergibt diese Differenzierung eine Relation von etwa 45 % zu 55 %.

Hinsichtlich der quantitativen Verteilung anhand des Kriteriums ‚Herkunftskontext‘ ergeben

sich – unabhängig vom rechtlichen Aufenthaltsstatus – eine Aufteilung in folgende

zentrale Kategorien: Türkei (mit 63 % die größte Gruppe der Muslime), 342 Südosteuropa

(etwa 14 % Bosnien, Bulgarien 343 und Albanien), Naher Osten (ca. 8 %), Nordafrika (etwa

7 %, mit dem höchsten Anteil aus Marokko) und sonstige Herkunftsländer (zusammen

340 Die differenzierte Erfassung der Islamzugehörigkeit zeigt in der zitierten Studie des Bundesamtes

für Migration und Flüchtlinge beispielsweise, warum allein die monokausale Ableitung

‚Herkunftsland gleich Muslim‘ verzerrend ist. So gaben in dieser Studie rund 40 % der iranischstämmigen

Befragten an, weder der islamischen noch einer sonstigen Religionsgemeinschaft

anzugehören. Eine mögliche Begründung dafür ist, dass es sich um Exil-Iraner handeln könnte,

die negative Erfahrungen mit einem politisierten Islam im Herkunftsland hatten, unter Repressalien

litten und somit insgesamt eine kritische Distanz zur Religion aufweisen.

341 Die Zahl der Konvertiten dagegen ist nach wie vor eine Dunkelzone, wobei nur Schätzungen

vorliegen, die nicht auf verlässlichen und nachvollziehbaren Angaben basieren.

342 Die Gruppe der kurdischen Muslime wird in der gesamten Studie nicht gesondert berücksichtigt.

Gerade infolge der Re-Ethnisierungsprozesse seit den 1990er-Jahren der Kurden in der

Türkei und infolge aktueller Entwicklungen im Nordirak oder in Syrien ist die Gruppe der

kurdischstämmigen jungen Muslime eine wichtige Zielgruppe für integrationspolitische und

religionspädagogische Überlegungen.

343 Zu den muslimischen Bulgaren zählen nicht nur die türkischsprachigen Minderheiten, sondern

auch die muslimischen Sinti und Roma. Letztere sind – neben den Ausgrenzungen durch die

Mehrheitsgesellschaft – auch massiven Diskriminierungen seitens der Muslime ausgesetzt,

sodass in Deutschland zunehmend eigene religiöse Strukturen aufgebaut werden. Die Zahl

dieser muslimischen Gruppierungen nahm in den letzten Jahren infolge der Kettenmigrationsprozesse

stark zu. Während in den integrationspolitischen Diskussionen diese Gruppierung

wahrgenommen wird, werden sie in den religionspädagogischen Debatten ausgeblendet (vgl.

hierzu Rauf Ceylan, „Muslimische Zigeuner“: Etablierten-Außenseiter-Figuration in einem

multikulturellen Stadtteil – am Beispiel von türkeistämmigen Migranten, West-Thrakien-Türken

und türkischsprachigen Roma, in: Jörg Pohlan et al. (Hrsg.), Jahrbuch StadtRegion 2011/12.

Schwerpunkt: Stadt und Religion, Berlin/Toronto 2012).


126 A Theoretischer Teil

etwa 8 % aus Gebieten wie Zentralasien/GUS, Iran oder Süd-/Südostasien). Mit 72 % stellen

zudem die Sunniten die größte Konfession, gefolgt von den Aleviten (13 %) und den

Schiiten (7 %). Bei den restlichen Personen handelt es sich um absolute Randgruppen, wie

die Ahmadiyya oder die Ibaditen. 344

Hinsichtlich der Anzahl der ca. sechs- 345 bis etwa 16-jährigen Kinder und Jugendlichen

346 als für die vorliegende Studie hinsichtlich einer Moscheekatechese sowie eines

islamischen Religionsunterrichts relevante Zielgruppe liegen dagegen unterschiedliche

Zahlen vor. 347 Anhand von Statistiken zu Familien mit Migrationshintergrund sowie

einzelnen Angaben von Bundesländern im Zuge der Schulversuche zur Einführung eines

islamischen Religionsunterrichts kann lediglich eine Einschätzung vorgenommen werden.

So gibt das Statistische Bundesamt für das Jahr 2010 an, dass es von 8,1 Millionen Familien

in Deutschland sich bei 2,3 Millionen um Migrantenfamilien – mit mindestens einem

ausländischen Elternteil – mit Kindern unter 18 Jahren handelt. Mit einem Anteil von 21 %

sind Familien mit mindestens einem türkischstämmigen Elternteil am meisten vertreten;

dabei wird ferner darauf hingewiesen, dass wiederum die traditionelle Familienform mit

80 % am stärksten anzutreffen sei. In Familien mit Migrationshintergrund leben zudem

mehr minderjährige Kinder. 348 Insgesamt wird die Zahl der Kinder und Jugendlichen aus

Familien mit einem Migrationshintergrund mit 5,2 Millionen beziffert. 349 Über die Zahl

der muslimischen Kinder und Jugendlichen im schulpflichtigen Alter existiert kein Konsens;

sie wird – je nach Quelle – mit 650 000 350 , 700 000 351 oder 900 000 352 angegeben. Wie

344 Vgl. Haug/Müssig/Stichs: Muslimisches Leben in Deutschland, S. 57 ff.

345 Der religiöse Unterricht in der Moschee beginnt in der Regel ab dem sechsten Lebensalter.

Zwar ist in den letzten Jahren in Moscheegemeinden auch eine Tendenz zur Einrichtung hortähnlicher

Strukturen zu verzeichnen, allerdings sind diese quantitativ (noch) nicht relevant.

346 Die Katechese für Erwachsene hängt nicht unbedingt mit dem Alter, sondern mit dem Lernfortschritt

zusammen. So ist es in Moscheegemeinden nicht unüblich, dass auch Jugendliche

gemeinsam mit Erwachsenen am Unterricht teilnehmen – als Schüler/in oder als Hilfskraft

für den Imam.

347 In der Studie des BAMF wurden Befragte erst ab 16 Jahre einbezogen.

348 Vgl. Anja Galster/Thomas Haustein, Familien mit Migrationshintergrund: Traditionelle Werte

zählen, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2012, S. 1 ff.

349 Vgl. Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (Hrsg.),

9. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration

über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Berlin 2012, S. 20

350 Vgl. Anja Stichs/Susanne Kappe, Schülerpotenzial für islamischen und alevitischen Religionsunterricht,

abgerufen unter: http://www.deutsche-islamkonferenz.de/DIK/DE/DIK/StandpunkteErgebnisse/UnterrichtSchule/ReligionBildung/Schuelerpotenzial/schuelerpotenzial-node.

html [28.01.2013]

351 Vgl. Thomas de Maizière, Islamischer Religionsunterricht in Deutschland: ein wertvoller Beitrag

zur Integration, in: Deutsche Islam Konferenz (Hrsg.), Islamischer Religionsunterricht.

Perspektiven und Herausforderungen, Dokumentation: Tagung der Deutschen Islamkonferenz

13. bis 14. Februar 2011, S. 14

352 o. V. „Professor Ucar bildet Lehrer für islamischen Religionsunterricht aus“, abgerufen unter:

http://www.deutsche-islam-konferenz.de/DIK/DE/Magazin/IslamSchule/Ucar/ucar-interview-node.html

[28.01.2013]


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 127

Haci-Halil Uslucan zu Recht bemerkt, ist bereits 2001 bei Peter Müller die Zahl 750 000

zu lesen, sodass man im Grunde von einer Zunahme in den letzten zehn Jahren – infolge

der demografischen Entwicklungen in Migrantenfamilien – ausgehen muss. 353 Auch

wenn man lediglich diese Minimalzahl zugrunde legt nimmt, tut das ihrer quantitativen

Bedeutung keinen Abbruch.

2.2 Von der „Ausländerpädagogik“ zur „Muslimpädagogik“?

Nachholende Integrationspolitik und „Islamisierung“ der

neuen Integrationsdebatten

2.2 Von der „Ausländerpädagogik“ zur „Muslimpädagogik“?

Wie in der Einleitung erwähnt, stehen seit der Familienzusammenführung in den 1970er-Jahren

muslimische Kinder und Jugendliche im Fokus der Integrations- und Betreuungsmaßnahmen.

In dieses Diskurs- und Praxisfeld sind zahlreiche Akteure involviert, die seit

dieser Phase die Entwicklung und Dynamik der Eingliederungsversuche mitbestimmen.

Hierzu zählen die Politik, staatliche Institutionen, wie die Bildungseinrichtungen, die

Wissenschaft, die Eltern dieser Zielgruppe sowie Migrantenorganisationen, insbesondere

religiöse Vereine und Verbände. Zwar wird eine Integrationspolitik primär von der Politik

formuliert und von staatlichen Organen umgesetzt, das Zusammenspiel der genannten

Akteure und Strukturen hat allerdings ebenso Einfluss auf politische Entscheidungen

sowie die Entwicklungsrichtung erwünschter Eingliederungsmaßnahmen. Die Analyse

der Phasen in diesem Prozess zeugt von den wechselseitigen Beziehungen in diesem „Experimentierfeld“.

2.2.1 Muslimische Immigration und Betreuungsmaßnahmen für

Migrantenkinder

Muslimische Gastarbeiter(-familien) reisten ab 1961 mit temporären Aufenthaltsabsichten

nach Deutschland ein und haben im Zuge der Auseinandersetzungen mit politischen,

wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen Niederlassungsprozesse initiiert, mit

der Folge, dass sie sich aufenthaltsrechtlich von „Ausländern“ weitgehend zu „Deutschen“

entwickelten. Somit wurden sie – wie Karin Hunn bezeichnet – „Einwanderer wider Willen“

und Deutschland zum einem „Einwanderungsland wider Willen“. 354

Auf der Mesoebene nahmen unter anderem Migrantenselbstorganisationen – ebenfalls

keine isolierten Einflussfaktoren – eine ambivalente Funktion in diesem Transformationsprozess

ein. Zum einen lenkten sie aufgrund der Rückkehrabsichten ihrer Mitglieder die

353 Vgl. Haci-Halil Uslucan, Islamischer Religionsunterricht – Erwartungen und Vorbehalte, in:

Deutsche Islam Konferenz/Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.), Islamischer

Religionsunterricht. Perspektiven und Herausforderungen, Dokumentation: Tagung der

Deutschen Islam Konferenz: 13.–14. Februar 2011, Nürnberg 2011, S. 28

354 Vgl. Karin Hunn, „Nächstes Jahr kehren wir zurück …“. Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“

in der Bundesrepublik, Göttingen 2005, S. 343 ff.


128 A Theoretischer Teil

Aufmerksamkeit immer auf den Herkunftskontext, andererseits boten sie von Beginn an

eine Orientierungs- und Schutzfunktion und sorgten für eine Binnenintegration. Zudem

haben sie sich als lernfähiges System bewährt, indem ihre idealistischen Ziele zugunsten

der Herausforderungen der Realitäten, wie der Niederlassung und den damit einhergehenden

sozialen Fragen ihrer Mitglieder, wie Bildung, Armut oder Gleichberechtigung, die

allesamt pragmatischer Lösungsansätze bedurften, zurückgenommen wurden. Ein Beispiel

hierfür stellen die islamischen Verbände und deren lokale Moscheegemeinden dar, die sich

stärker auf die Bedürfnisse ihrer Mitglieder hierzulande einlassen und gegenwärtig für

die Anerkennung als gleichberechtigte Körperschaften des öffentlichen Rechts kämpfen.

Damit sind sie längst keine „Ausländerorganisationen“ mehr. 355

Auf der Makroebene sind zunächst einzelne Wissenschaften, wie die Pädagogik und

die Migrationsforschung, anzuführen. Ebenfalls in dieses skizzierte Beziehungsgeflecht

involviert, hat beispielsweise die interkulturelle Pädagogik in der Auseinandersetzung mit

den Akteuren und Strukturen einer Integrationspolitik eine phasenweise Entwicklung

erlebt. So zeigt Wolfgang Nieke in seinem „Sechs-Phasen-Modell“ sehr plastisch, wie die

pädagogischen Konzepte hinsichtlich der Betreuung der Migrantenkinder seit der Familienzusammenführung

in den 1970er-Jahren immer den Zeitgeist der jeweiligen Phase

widerspiegelten und sich durch kritische Diskurse innerhalb der Disziplin sowie in der

Auseinandersetzung mit den Lebensrealitäten der Zielgruppe modifizierten. So wurde für

die „Gastarbeiterkinder“ zunächst das defizitorientierte Konzept der „Ausländerpädagogik“

entwickelt, um diese „Sondergruppe“ als „Problemgruppe“ ohne die Berücksichtigung

einer primär an der Schule durchzuführenden Ursachenforschung zu integrieren. Infolge

gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen sowie der in diesem Zusammenhang

geführten wissenschaftlichen Diskurse nahm in den 1980er-Jahren die Kritik an dieser

Problematisierung der Zielgruppe in der Pädagogik zu, sodass Konsequenzen gezogen

wurden. Im Laufe dieses kritischen Diskurses wurden begriffliche und inhaltliche Erweiterungen

– auch hinsichtlich der Definition der Zielgruppe –, vorgenommen und das

Konzept der interkulturellen Erziehung wurde als „Bestandteil der Allgemeinbildung“

als adäquate Antwort auf die immer stärker plural werdende Gesellschaft eingeführt. 356

Die differenzierte Bilanz zur 30-jährigen Geschichte der ‚Interkulturellen Pädagogik‘

von Georg Auernheimer zeigt, wie dieses Fach durch Öffnungsprozesse eine interdisziplinäre

Anschlussfähigkeit gewonnen und wie sein „Konstruktcharakter“ durch kritische

Beleuchtung zentraler – häufig essentialistisch und statisch verstandener – Begriffe und

Kategorien, wie Kultur, Identität und Differenz, offengelegt wurde. 357 Ebenso bereits etablierte

und scheinbar positiv konnotierte Terminologien, wie ‚Interkulturelle Kompetenz‘

wurden, wie bei Paul Mecheril, einer kritischen Analyse unterzogen und dem Begriff

‚Kompetenzlosigkeitskompetenz‘ entgegengesetzt:

355 Vgl. Rauf Ceylan, Ethnische Kolonien. Entstehung, Funktion und Wandel am Beispiel türkischer

Moscheen und Cafés, Wiesbaden 2006, S. 23 ff.

356 Vgl. Wolfgang Nieke, Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierungen im Alltag,

3., aktualisierte Auflage, Wiesbaden 2008, S. 14 ff.

357 Vgl. Georg Auernheimer, Drei Jahrzehnte Interkulturelle Pädagogik – eine Bilanz, in: Yasemin

Karakasoglu/Julian Lüddecke (Hrsg.), Migrationsforschung und Interkulturelle Pädagogik.

Aktuelle Entwicklungen in Theorie, Empirie und Praxis, Münster 2004, S. 21 ff.


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 129

„Der Begriff der interkulturellen Kompetenz reagiert auf letztlich nur gesamtgesellschaftlich

verstehbare Versäumnisse und Weigerungen der letzten Jahrzehnte, sich auf das Thema

kulturell-ethnischer Differenz und Pluralität einzulassen. Nun, da ein Mangel auf der Ebene

insbesondere professioneller Handlungsfähigkeit festgestellt wird, setzt das Bemühen ein, auf

die perfomativen Effekte des Handelns einzelner Einfluss zu nehmen. Genau diesem Bemühen

kommt in der Nachfrage nach interkultureller Kompetenz zum Ausdruck. Man kann dies

als eine disziplinierende Einforderung verstehen. Dass diese (schnelle) Disziplinierung aber

nur auf der Ebene des Perfomativen möglich ist, wird an der Technologizität ersichtlich, die

die Ansätze interkultureller Kompetenz im pädagogischen Bereich charakterisiert. ‚Kompetenzlosigkeitskompetenz‘

ist in diesem anwendungsbezogenen, instrumentellen Sinne nicht

erwerbbar und damit auch nicht individuell einforderbar. Als eine Art habituelle Dimension

stellt ‚Kompetenzlosigkeitskompetenz‘ vielmehr ein Phänomen dar, das in reflektierten,

Zeit beanspruchenden Prozessen gebildet wird und sich bildet. Dem hier angesprochenen

habituellen Vermögen korrespondieren also Bildungsprozesse.“ 358

Die Folge dieser kritisch-reflexiven Diskussionen sowie der Integration neuer Ansätze in

der Geschichte dieser Disziplin ist es, dass nach Arnd-Michael Nohl die drei grundlegenden

Konzeptionen „Assimilationspädagogik“ (defizitorientierter und kompensatorischer

Ansatz in der Anfangsphase) sowie „klassische interkulturelle Pädagogik (Akzentuierung

der kulturellen Differenz und Postulat der Gleichwertigkeit), „Antidiskriminierungspädagogik“

(kritischer Hinweis auf Kultur als Konstruktion sowie auf Ethnisierungs- und

Diskriminierungsprozesse in Bildungseinrichtungen) zu dem Konzept der „Pädagogik

kollektiver Zugehörigkeiten“ geführt haben. Letztere geht von einem erweiterten Verständnis

der gesellschaftlichen Vielfalt aus, indem zwar ethnisch-kulturelle Merkmale

sowie institutionelle Diskriminierungen weiterhin beachtet, doch zugleich alle Milieus

und Lebensstile aufgenommen werden. Mit diesen neuen Entwürfen werden zum einen

alle kritischen Diskussionen der vorangegangenen Ansätze beachtet und zugleich eine

neue Perspektive auf gesellschaftliche Pluralität ausgedrückt. 359 Neue Perspektiven fordert

auch der Pädagoge Franz Hamburger, der mit seinem kritischen Buchtitel Abschied von

der Interkulturellen Pädagogik neue Kategorisierungen wie der „Migrationshintergrund“

kritisiert, weil mit einer polarisierenden Akzentuierung der „kulturellen Differenz“ als

„formierende Definition“ in Wirklichkeit die sozioökonomischen Ungleichheiten verschleiert

würden. Menschen mit Migrationsgeschichte seien doppelt so stark von Armut

und Arbeitslosigkeit betroffen als die Mehrheitsgesellschaft. Diese sozialen – und nicht

die kulturellen – Merkmale würden den Zugang zu allen wichtigen gesellschaftlichen

Bereichen wie Bildung und Arbeitsmarkt verhindern. Hamburger plädiert daher für eine

„Ent-Kategorisierung“ zur Überwindung der Perpetuierung von Stereotypen und fordert

einen von „Personenmerkmalen“ unabhängigen Fokus auf die wirklichen Mechanismen

358 Paul Mecheril, „Kompetenzlosigkeitskompetenz“. Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen,

in: Georg Auernheimer (Hrsg.), Interkulturelle Kompetenz und pädagogische

Professionalität, 3. Auflage, Wiesbaden 2010, S. 33

359 Vgl. Arnd-Michael Nohl, Konzepte interkultureller Pädagogik. Eine systematische Einführung,

Bad Heilbrunn 2010, S. 17 ff.


130 A Theoretischer Teil

der Diskriminierung und der sozialen Deprivation. 360 Bestätigung erhält Hamburger aus

der Empirie, da die Auswertung statistischer Analysen eindeutig die Mechanismen der

institutionellen Diskriminierung infolge ethnischer, kultureller und religiöser Stereotypen

– vor allem bezüglich der Muslime – belegen. 361

2.2.2 „Neo-Assimilationismus“ und „Islamisierung“:

Islamophobie und Parallelen zum anti-katholischen Diskurs

Dass die „wissenschaftliche Evolution“ jedoch nicht immer einen linearen, sozusagen

telelogischen Prozess mit dem Übergang zu immer neueren, progressiveren Stufen des

Diskurses darstellen muss, zeigt Nieke in der kritischen Kommentierung des gegenwärtigen

geistigen Klimas eines „Neo-Assimilationismus“, der sich bei den politischen Eliten,

aber auch in den Wissenschaften als Folge der Terroranschläge vom 11. September 2001

herauskristallisierte. Die Wahrnehmung des Fremden, des Migranten, scheint seitdem

verschoben zu sein auf die Weltreligion des Islam und dessen Anhänger in Deutschland.

Die Muslime würden seit diesem Datum unter Generalverdacht gestellt und die Akzeptanz

einer multikulturellen, pluralen Gesellschaft scheint – ähnlich wie die einseitigen Anpassungsanforderungen

an „Ausländer“ in den 1970er-Jahren – zurückzugehen:

„Sie fordern von den Zuwanderern eine Anpassung, die über funktionale Kompetenzen und

eine Loyalität zum Staatssystem hinausgeht und auch die zentralen Grundüberzeugungen

der Mehrheitskultur mit einschließt Diese Akkulturationsforderung an die Zuwanderer ist

historisch nicht neu; sie wurde vor 1980, vor dem Beginn des Diskurses über die Anerkennung

kultureller Vielfalt als gleichwertig in einer dauerhaft multikulturellen Gesellschaft, bereits

einmal erhoben. Im Zuge dieser Umorientierung wird die Anerkennung kultureller Besonderheiten

aus dem Diskurs über die gebotene Anerkennung von Diversität in Lebenslagen

und Lebenslagen – die sich auf die Diversität der Geschlechter, der sexuellen Orientierungen,

der Behinderung und Nichtbehinderung bezieht – herausgenommen. […] Die pädagogischen

Bemühungen wenden sich zunehmend von der interkulturellen Erziehung und Bildung ab

und hin zu einer Integrationsförderung mit Akkulturationsunterstützung.“ 362

Die gleichen ambivalenten Erfahrungen weist auch die Integrationspolitik als größerer

Rahmen in diesem Feld auf, die ebenfalls infolge der Ereignisse des 11. September den

Diskurs über den Islam nicht nur intensiviert, sondern die gesamte Migrationsdebatte

zunehmend islamisiert und die muslimischen Kinder und Jugendlichen infolge der Zuschreibungsprozesse

auf ihre religiöse Identität reduziert hat. Alle Ängste und Vorurteile

aus dem historisch-kollektiven Gedächtnis scheinen wieder reaktiviert und das „alte Bild“

des Orientalismus durch Politik und Medien immer wieder von neuem produziert und

360 Vgl. Franz Hamburger, Abschied von der interkulturellen Pädagogik. Plädoyer für einen Wandel

sozialpädagogischer Konzepte, 2. Auflage, Weinheim/Basel 2012, S. 187 ff.

361 Vgl. Mario Peucker, Islamfeindlichkeit – die empirischen Grundlagen, in: Thorsten Gerald

Schneiders (Hrsg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden

2010, S. 160 ff.

362 Nieke, Interkulturelle Erziehung und Bildung, S. 21


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 131

reproduziert worden zu sein. 363 Im alten Orientalismus waren es nach Edward Said die

Orientalisten, die aufgrund ihrer Position diese Rolle der „Übersetzung“ und „Interpretation“

des Orients für europäische Gesellschaften übernahmen:

„For decades the Orientalists had spoken about the Orient, they had translated texts, they

had explained civilizations, religions, dynasties, cultures, mentalities – as academic objects,

screened off from Europe by virtue of their inimitable foreignness. The Orientalists was an

expert, like Renan or Lane, whose job in society was to interpret the Orient for his compatriots.

The relation between Orientalists and Orient was essentially hermeneutical: standing before a

distant, barely intelligible civilization or cultural monument, the Orientalist scholar reduced

the obscurity by translating, sympathetically portraying, inwardly grasping the hard-to-reach

object. Yet the Orientalist remained outside the Orient, which, however much it was made to

appear intelligible, remained beyond the Occident. This cultural, temporal, and geographical

distance was expressed in metaphors of depth, secrecy, and sexual promise: phrases like „the

veils of an Eastern bride“ or „the inscrutable Orient“ passed into the common language.“ 364

Dieser „verschleierte“ und „rätselhafte“ Orient ist zwar nicht mehr räumlich distanziert,

aber diese „geistige Distanz“ scheint geblieben zu sein. So belegen unterschiedliche Studien

zur Xenophobie, dass die Islamophobie in der Mehrheitsgesellschaft in den letzten Jahren

stark zugenommen hat. 365 Wie der Religionssoziologe José Casanova in diesem Kontext

zeigt, weist der gegenwärtige antimuslimische Diskurs viele Parallelen zum antikatholischen

in den angelsächsischen protestantischen Gesellschaften auf, die er auf der Basis von vier

Prämissen vergleichend begründet:

„(a) Eine theologisch-politische Unterscheidung zwischen ‚zivilisatorischen‘ und ‚barbarischen‘

Religionen, d. h. zwischen Religionen, die mit den Prinzipien der Aufklärung und liberal-demokratischer

Politik im Einklang stehen, und Religionen, die in Traditionen verwurzelt sind,

die den progressiven Ansprüchen der aufklärerischen Geschichtsphilosophie, dem Liberalismus

und dem Säkularismus widerstanden; (b) eine nativistische gegen Immigranten gerichtete

Haltung, die die Nichtassimilierbarkeit fremder Einwanderer aufgrund ihrer unzivilisierten

sozialen Bräuche und Gewohnheiten behauptete; (c) Transnationale Bindungen und Loyalitäten,

entweder zu einer fremden Autorität (z. B. dem Papst), oder zu einer transnationalen

Gemeinschaft (z. B. die Ummah), die unvereinbar mit staatsbürgerlichen Prinzipien und den

exklusiven Ansprüchen des modernen Nationalstaates schienen; (d) bestimmte moralische

Ansprüche gegenüber der Verunglimpfung von Frauen in religiösen Patriarchaten im Gegensatz

zu ihrer höheren Wertschätzung durch den Protestantismus.“ 366

Das historisch-kollektive Gedächtnis in Bezug zu alten konfessionellen Debatten scheint

somit reaktualisiert zu sein und sich diesmal auf die „neuen Katholiken“ zu beziehen. Vor

363 Vgl. Rauf Ceylan, Die Diskussion um „Parallelgesellschaften“, in: Bülent Ucar (Hrsg.), Die

Religion im Integrationsprozess. Die deutsche Islamdebatte, Frankfurt/M. 2010, S. 336 f.

364 Edward Said, Orientalism, London 2003, S. 222

365 Vgl. Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände, Bd. 9, Berlin 2009; Oliver Decker (et al.),

Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, Studie im Auftrag

der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2010

366 José Casanova, Europas Angst vor der Religion, Berlin 2009, S. 31 f.


132 A Theoretischer Teil

diesem Hintergrund wurden in der ersten Phase der Arbeitsmigration die Zuwanderer

zunächst in der Kategorie ‚Gastarbeiter‘ wahrgenommen. Später trat der Begriff ‚Ausländer‘

stärker als Zuschreibungskategorie in Erscheinung, wobei mit der quantitativen Zunahme

der türkischstämmigen Migranten vor allem von einer „Türkenfrage“ gesprochen wurde. 367

Diese Wahrnehmung sollte bis in die 1980er-Jahre hinein fortdauern, wobei es mit der

Zunahme von Asylanträgen, Armuts- und Kriegsflüchtlingen (z. B. Jugoslawien-Krieg)

sowie den Aussiedlern zu einer Verwischung der unterschiedlichen rechtlichen Aufenthaltshintergründe

der Migranten kommen sollte und nunmehr der Terminus ‚Fremde‘ als

Sammelbegriff, als Konglomerat unterschiedlichster Migrationstypen, fungieren sollte.

Parallel zu dieser Sicht auf die zu integrierende Zielgruppe ist hinsichtlich einer Integrationspolitik

festzustellen, dass ab dem Ende der 1990er-Jahre ernsthafte Konzeptionen

und Bestrebungen vorgelegt wurden, die dann in den 2000er-Jahren intensiviert wurden.

Die Lücken in den bisherigen „destruktiven Integrationsmaßnahmen“ wurden kritischer

diskutiert. So spricht Der Spiegel im Jahr 2006 von „gescheiterter Integrationspolitik“ als

Resümee der Integrationspolitik der letzten 30 Jahre. 368 Der führende Migrations- und

Integrationsforscher Klaus Bade beklagt die „versäumten Integrationschancen“ und stellt

im Kontext einer „nachholenden Integrationspolitik“ auf der Basis sachlicher und pragmatischer

Grundlagen Postulate, wie zum Beispiel kontinuierliche Bedarfsanalysen und

Sicherstellung der Annahme formulierter Angebote (unter anderem mithilfe von Multiplikatoren

mit Migrationshintergrund), Anknüpfung an bewährte Integrationskonzepte

(unter Involvierung praxiserfahrener Verbände und Vereine), gezielte Qualifizierung

des Personals in Behörden der Migrations- und Integrationsarbeit, Förderung im Vorschulbereich

und Überwindung der Selektionsmechanismen nach sozialer Herkunft im

mehrgliedrigen Schulsystem mit dem Ziel zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen,

Überwindung der Deprivation und Diskriminierung bei der Suche bei Ausbildungsplätzen

und qualifizierten Berufsausbildungen sowie die Einforderung von „Brückenschlägen“

zwischen Schulen und Hochschulen und beruflicher Ausbildung zur Garantierung von

Chancengleichheit auf. 369 Sollten die durch die versäumten Integrationsbemühungen der

Vergangenheit entstandenen Defizite, wie beispielsweise soziale Benachteiligungen, nicht

kompensiert werden, so wird von Bade – mit dem Hinweis auf die französischen Banlieus

– vor größeren sozialen Folgen gewarnt:

„Wenn bei wachsender, von den Betroffenen zunehmend als sozial diskriminierend empfundener

und offen beklagter Benachteiligung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund

nicht bald durch umfassende Konzepte zur gezielten Weiterbildung, Nach- bzw. Weiterqualifizierung

im Kontext nachholender Integrationspolitik der verspätete Durchbruch noch

gelingt – dann ist nicht auszuschließen, dass jedenfalls einzelne soziale Brennpunkte auch

367 Vgl. Hunn, „Nächstes Jahr kehren wir zurück …“, S. 345 ff.

368 Anna Reimann, Gescheiterte Integrationspolitik: 30 verlorene Jahre, abgerufen unter: http://www.

spiegel.de/politik/deutschland/gescheiterte-integrationspolitik-30-verlorene-jahre-a-452367.

html [29.01.2013]

369 Vgl. Klaus J. Bade, Versäumte Integrationschancen und nachholende Integrationspolitik, in:

Ders./ Hans-Georg Hiesserich (Hrsg.), Nachholende Integrationspolitik und Gestaltungsperspektiven

der Integrationspraxis, Göttingen 2007, S. 83 ff.


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 133

in Deutschland einmal ‚französisches Feuer‘ fangen. Insgesamt gilt auch hier die Mahnung

des ‚Manifests der 60: Deutschland und die Einwanderung‘ aus dem Jahr 1994: je verspäteter

die schon seinerzeit lange überfälligen Reformen, desto einschneidender, kostspieliger und

möglicherweise auch ergebnisärmer ihre Wirkungen.“ 370

Vor diesem Hintergrund ist für die intensivere Auseinandersetzung mit den staatlichen

Integrationsbemühungen der 2006 unter der Federführung von Bundeskanzlerin Angela

Merkel eingeführte Integrationsgipfel charakteristisch. In Kooperation mit ausgewählten

Vertretern von Migrantenselbstorganisationen, Gewerkschaften, Journalisten, Verbänden,

Behörden und Politik wurde gemeinsam in Arbeitsgruppen und Dialogforen zunächst ein

Nationaler Integrationsplan mit zentralen Themenfeldern, wie Integrationskurse, Sprachförderung,

Bildung/Ausbildung, also vor allem in Bereichen der strukturellen Integration,

vorgelegt. 371 Nach einer ersten Zwischenbilanz 372 über die Effizienz der gesetzten Ziele sollte

dann schließlich der Nationale Aktionsplan Integration als Erweiterung der Themenfelder

(interkulturelle Öffnung der Behörden und des öffentlichen Dienstes, Anerkennung ausländischer

Abschlüsse usw.) sowie als Konkretisierung vorheriger Maßnahmen konzipiert

werden. 373 Konkretisierung heißt in der gegenwärtigen Integrationsphase vor allem die

Quantifizierung von Integrationserfolgen in Themenfeldern des Nationalen Integrationsplans

anhand von Indikatoren und auf der Grundlage einer größeren Datenbasis. 374

Dieser Trend ist ebenfalls in Kommunen zu verzeichnen, die mit der Etablierung von

Integrationsreferaten und der Ernennung von Integrationsbeauftragten die Integration

vor Ort anhand indikatorengestützter Untersuchungen messbar machen möchten, um

auf dieser Basis Erfolge sowie Misserfolge zu dokumentieren und entsprechende gezielte

Maßnahmen zu formulieren. 375

So wurden also seit über zehn Jahren auf der Ebene des Bundes, der Länder und der

Kommunen wichtige Schritte durch die Einrichtung von Integrationskonferenzen, Integrationsministerien

sowie Integrationsbeauftragten unternommen, um die „versäumte

Integration“ zur strukturellen Chancengleichheit nachzuholen. Des Weiteren wurden

als symbolische Maßnahme Migranten in höhere integrationspolitische Posten bei der

CDU und der SPD berufen. Allerdings formuliert der Migrationspädagoge Paul Mecheril

in diesem Zusammenhang in der Auseinandersetzung mit dem als „Negativnarrative“

entlarvten, diffusen Begriff ‚Integration‘ sowie den Quantifizierungsversuchen von Integrationserfolgen

infolge einseitiger Erwartungen von Anpassungsleistungen aufseiten der

370 Bade, Versäumte Integrationschancen, S. 91 f.

371 Vgl. Die Bundesregierung (Hrsg.), Der Nationale Integrationsplan. Neue Wege – Neue Chancen,

Berlin 2007

372 Vgl. Bundesregierung (Hrsg.), Nationaler Integrationsplan. Erster Fortschrittsbericht, Berlin

2008

373 Vgl. Bundesregierung (Hrsg.), Nationaler Aktionsplan Integration. Zusammenhalt stärken,

Teilhabe verwirklichen, Berlin 2011

374 Vgl. Dietrich Engels al., Zweiter Integrationsindikatorenbericht erstellt für die Beauftragte der

Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Köln/Berlin 2011

375 Vgl. Stefan Böckler et al., Integration zwischen Distanz und Annäherung. Die Ergebnisse der

Ersten Duisburger Integrationsbefragung, Duisburg 2009


134 A Theoretischer Teil

Mehrheitsgesellschaft – welche die Definitionsmacht in diesem Prozess für sich beansprucht

– eine Fundamentalkritik der gesamten Debatte:

„‚Integration‘ ist hier eine Anpassungsleistung, die als ‚Migranten‘ geltende Personen zu

erbringen haben. ‚Integration‘ ist zugleich ein Sanktionssystem, da bei nicht erbrachter

‚Integration‘ symbolische und ökonomische Strafen drohen. ‚Integration‘ bestätigt die

Zuschreibung von Fremdheit, da die Vokabel nahezu ausschließlich benutzt wird, um über

sogenannte Menschen mit Migrationshintergrund (MmM) zu sprechen. Indem sie als MmM

bezeichnet werden, werden sie – selbst wenn sie in Deutschland geboren und aufgewachsen

sind und hier ihren Lebensmittelpunkt haben – als ‚fremde Elemente‘, die zu integrieren

seien, konstruiert. […] Insofern kann der Integrationsdiskurs, das unausgesetzte öffentliche

Reden über ‚Integration‘, als Versuch interpretiert werden, durch die Rede über ‚die Anderen‘

und die Notwendigkeit, diese in ein vermeintlich bestehendes Ganzes zu integrieren, ‚die

Gesellschaft‘ und ‚das gesellschaftliche Wir‘ zu beschwören. Problematisch ist, dass es sich

permanent zu entziehen droht. ‚Wir‘, die wir im Sprechen erst entstehen, sprechen so viel

über die (Integration der) Anderen, damit wir wissen, wer wir sind.“ 376

Das „Wir“ scheint jedoch seit der Intensivierung der Islamdebatten in der letzten Dekade

innenpolitisch über den „Integrationsbegriff“ in Abgrenzung zu muslimischen Migranten

konstruiert zu werden. Das historisch-kollektive Gedächtnis über den Islam sowie die

perpetuierten Bilder über Politik und Medien, wie etwa in der Frage der Zugehörigkeit des

Islam zu Europa oder zu Deutschland, verstärken diese Demarkationslinien zwischen dem

„Wir“ und dem neuen „Ihr“. 377 Als Hindernisse für eine „aufgeklärte Diskussionskultur“

zum Islam – der aufgrund seiner gesellschaftlichen Relevanz ohne Zweifel thematisiert

werden sollte – werden von Heiner Bielefeldt die „monokausale[n] Erklärungen“, die

„kulturessentialistischen Vorstellungen von einem zeitlosen Wesen des Islam“ sowie die

verzerrte Annahme einer abgeschlossenen Aufklärung, obwohl diese eigentlich einen

„unabgeschlossenen Lernprozess“ darstelle, angeführt. 378

376 Paul Mecheril, Wirklichkeit schaffen: Integration als Dispositiv, in: Aus Politik und Zeitgeschichte,

50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei, 61. Jahrgang, 43/2011, Bonn 2011, S. 51

u. S. 54; Hervorhebungen im Original.

377 Charakteristisch sind die polarisierenden politischen Debatten über die Zugehörigkeit des Islam,

die mit dem Bekenntnis „Die Muslime bzw. der Islam gehöre zu Deutschland“ des ehemaligen

Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble initiiert und vom ehemaligen Bundespräsidenten

Christian Wulff in der Rede zur Deutschen Einheit bekräftigt wurde. Sowohl der ehemalige

Bundesinnenminister Friedrichs als auch Bundespräsident Joachim Gauck haben mit ihren Aussagen

dem widersprochen und damit die Kontroverse wiederbelebt. Diese ablehnende Botschaft

von höchster politischer Stelle forciert die paradoxe Situation von Muslimen, die sich einerseits

zunehmend als Deutsche verstehen und zugleich ihre historisch-religiösen Wurzeln mit dem

Hinweis auf das griechisch-römische sowie jüdisch-christliche Erbe Europas nicht anerkannt

sehen. Vgl. zu den Debatten beispielsweise: o. V. „Gauck stellt die Integrationsdebatte auf die

Füße“ abgerufen unter: http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-06/gauck-islam-presseschau

[04.02.2013]

378 Vgl. Heiner Bielefeldt, Das Islambild in Deutschland. Zum öffentlichen Umgang mit der Angst

vor dem Islam, in: Thomas Gerald Schneiders (Hrsg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen

der Kritik verschwimmen, Wiesbaden 2010, S. 177 ff.


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 135

Auch in den außenpolitischen Debatten spiegelt sich diese Ablehnung wider, etwa in

der Frage der gesteuerten Einwanderung qualifizierter Fachkräfte, wie das Postulat konservativer

Politiker zum „Zuwanderungsstopp“ aus islamischen Ländern – primär von

Türken und Arabern – belegt. 379 In diesem integrationspolitischen Zusammenhang der

Konstruktion des „muslimischen Anderen“ konstatiert Casanova:

„Dies bringt die Überlagerung verschiedener Dimensionen des ‚Anderen‘ mit sich und

verschärft so Fragen der Abgrenzung, Anpassung und Eingliederung. Der Einwanderer, der

religiös, der ethnisch und der sozio-ökonomisch benachteiligte ‚Andere‘, sie alle tendieren

dazu in eins zu fallen. Darüber hinaus werden all diese Dimensionen von ‚Andersartigkeit‘

nun dem Islam übergestülpt, so dass der Islam zum gänzlich ‚Anderen“ wird.“ 380

Die im Jahr 2006 vom ehemaligen Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble einberufene

Deutsche Islam Konferenz, um spezifisch muslimische Themen im integrationspolitischen

Kontext mit ausgewählten Vertretern der muslimischen Gemeinde sowie Politik zu behandeln,

zeugt ebenso von der größeren Aufmerksamkeit für die Gruppe der Muslime.

Aus den Statements führender Politiker sowie aus den Medien wird im Kontext der Themenfelder

‚Imamausbildung‘ oder ‚Einführung eines islamischen Religionsunterrichts‘

deutlich, dass die integrative Wirkung dieser organisatorischen Zusammenkunft und

die Umsetzung der Ergebnisse in den jeweiligen Arbeitsgruppen im Vordergrund stehen.

Kritisiert werden von führenden Migrations- und Islamforschern wie Werner Schiffauer,

der im Vergleich zu den Kirchen nicht gleichberechtigte Dialog auf Augenhöhe sowie die

Heranführungsversuche der muslimischen Gemeinden an die „deutsche Leitkultur“. Vor

dem Hintergrund dieser asymmetrischen Kommunikationsstruktur hätte die Zielsetzung

den Charakter von „disziplinierenden Maßnahmen.“ 381

2.3 (Religiöse) Sozialisation, religiöse Bildung und muslimische

Identitäten

2.3 (Religiöse) Sozialisation, religiöse Bildung und muslimische Identitäten

Die religiösen Sozialisationsbedingungen muslimischer Kinder und Jugendlicher können

nicht unabhängig von dem skizzierten öffentlichen Diskurs und den Zuschreibungsprozessen

über den Islam und zu Muslimen gedacht und analysiert werden. Mit Zuschreibungen ist

diese Zielgruppe in unterschiedlichsten Feldern, wie Elementarbereich, (Grund-)Schule

und soziokulturelles Umfeld (Medien usw.), konfrontiert. Während sich die Muslime

infolge aufenthaltsrechtlicher Regelungen sowie durch wirtschaftliche, politische und

379 o. V. „Seehofer gegen Zuwanderung aus ‚fremden Kulturkreisen‘“ abgerufen unter: http://www.

zeit.de/politik/deutschland/2010-10/seehofer-integration-zuwanderer/seite-1 [30.01.2013]

380 José Casanova, Europas Angst vor der Religion, S. 61, Hervorhebungen im Original.

381 Vgl. o. V. „Es geht nicht um einen Dialog. Integrationsgipfel, Islamkonferenz und Anti-Islamismus“.

Werner Schiffauer und Manuela Bojadzijev im Gespräch, in: Sabine Hess/Jana Binder/

Johannes Moser (Hrsg.), No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte

in Europa, Bielefeld 2009, S. 171 ff.


136 A Theoretischer Teil

soziale Partizipation sukzessiv als fester Bestandteil dieser Gesellschaft entwickeln, wird

zugleich die Religion des Islam durch die Konstruktion eines neuen „Eisernen Vorhanges“

zwischen der „islamischen Welt“ und dem „Westen“ als nicht nach Deutschland zugehörig

definiert. Zum einen spielt hinsichtlich der Identifikationskonzepte in der Sozialisation der

muslimischen Jugendlichen auch der Islam als Identitätsanker eine Rolle, zum anderen

werden mit der Heraufbeschwörung, der Islam sei eine „Ausländerreligion“, Diskrepanzen,

Paradoxien und „mentale Hürden“ zur hiesigen Gesellschaft geschaffen. Einerseits

wird also die Zugehörigkeit der muslimischen Kinder und Jugendlichen als Teil dieser

Gesellschaft akzentuiert, andererseits scheint ein wesentlicher Teil ihrer Identität doch

nicht hierher zu gehören. Vor diesem Hintergrund müssen diese Gesamtbedingungen

für die „Moscheekatechese“ sowie für den islamischen Religionsunterricht berücksichtigt

werden, weshalb im Folgenden der Fokus auf die zentralen Sozialisationsfelder 382 ‚Familie‘,

‚Kindergarten‘, ‚Schule‘ und das soziokulturelle Umfeld durch Peergroups und Medien gerichtet

wird. Alle diese Instanzen erfüllen nach Margit Stein unterschiedliche Funktionen

in der Sozialisation, die sie folgendermaßen definiert:

„Sozialisation ist ein lebenslanger, bidirektionaler Prozess, der die Persönlichkeitswerdung

des Menschen in produktiver Auseinandersetzung mit seiner Umwelt und die Rückwirkungen

des Menschen auf seine Umwelt beinhaltet. Das Ziel ist die vollständig entwickelte Identität

des Einzelnen und die Entwicklung einer gemeinsamen Handlungspraxis.“ 383

Die Familie als Instanz der primären Sozialisation ist für den Prozess der „Soziabilisierung“

zuständig. Damit ist gemeint, dass der Mensch „in die basalen Grundfertigkeiten“ eingeführt

wird und sich in der Eltern-Kind-Interaktion ein Urvertrauen bildet. Die sekundäre Sozialisation

findet als Prozess der Enkulturation in der Schule statt, um sich dort „grundlegende

Kulturtechniken“, „Normen und Werte“ sowie offizielle und inoffizielle Umgangsformen

(in Peergroups) anzueignen. Schließlich kommen als tertiäre Sozialisation die Instanzen

‚Arbeitswelt‘ und ‚Universität‘, zur Sprache, welche im Prozess der Individuation eine Rolle

spielen, also für den „lebenslangen Prozess der Menschwerdung“ ihren Beitrag leisten, 384

und die unter besonderer Berücksichtigung der religiösen Sozialisation oder Religiosität

diskutiert werden. Diese Erkenntnisse werden im empirischen Teil wieder aufgegriffen,

wenn die befragten Experten aus den muslimischen Gemeinden über die gesellschaftlichen

Erfahrungen der muslimischen Kinder und Jugendlichen, wie etwa Ethnisierungs- und

Islamisierungsprozesse oder die religiöse Sozialisation in muslimischen Familien, berichten.

2.3.1 (Religiöse) Sozialisation und islamische Erziehung

in muslimischen Familien

Die Familie als erste Sozialisationsinstanz galt in der Religionspädagogik lange Zeit

zugleich als erster Lernort hinsichtlich der Glaubensvermittlung. Als Familie wurde

382 Die religiöse Sozialisation in muslimischen Familien wird gesondert im behandelt.

383 Margit Stein, Allgemeine Pädagogik, München 2013, S. 21

384 Vgl. a. a. O., S. 23


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 137

vor allem die traditionelle Form der heterosexuellen, monogamen Partnerschaft auf der

Grundlage religiöser und rechtlicher Vereinbarungen sowie der Nachwuchs als weitere

Mitglieder dieser kleinsten gesellschaftlichen Keimzelle definiert. Die familienrechtliche

Definition auf der Basis der islamischen Quellen entspricht überwiegend diesem traditionell

orientierten Familienkonzept. Aus einer islamisch-geschichtlichen Perspektive

bildete zwar diese Zelle den Kern einer Familie, konnte und kann jedoch oft in Form von

Großfamilien (Mehr-Generationen-Haushalte) sowie auch mit Polygamie einhergehen. 385

Diese auf Blutsverwandtschaft basierenden Beziehungen brachten zum einen materielle

Verpflichtungen mit sich, wie die Versorgung der Familienmitglieder und die Weitergabe

des Familienvermögens, da nach islamischem Erbrecht primär die Blutsverwandten und

die Ehepartner als Erbe auftreten. Zu den immateriellen Verpflichtungen zählen neben

den emotional-sozialen Hinwendungen vor allem die Vermittlung islamischer Glaubensgrundlagen

und die Förderung der Glaubenspraxis. Da der Prophet Muhammad selbst

Ehemann und Familienvater war, wird das religiöse Lehren und Lernen auch an seinem

Beispiel und seinen Aussagen hinsichtlich dieser immateriellen Pflicht ausgelegt. Ebenso

finden sich in der Hauptquelle, dem Koran, Hinweise dafür, dass die religiösen Erfahrungen

muslimischer Kinder in dieser gesellschaftlichen Keimzelle zu beginnen haben.

2.3.1.1 „Iqrā“ – Rolle der religiösen Bildung in den islamischen

Primärquellen unter besonderer Berücksichtigung der sūra

Luqmān und die elterliche Pflicht zur Glaubensvermittlung

Aus historischen Überlieferungen wird nach Mehmet Bahaüddin Varol deutlich, dass

Häuser als Lernorte in der islamischen Erziehung seit der Verkündung des Islam im 7.

Jahrhundert – trotz der Institutionalisierung der religiösen Bildung im Laufe der islamischen

Historie – eine zentrale Rolle einnahmen. Der Unterricht in der frühislamischen

Zeit in den Privaträumen hatte neben der Vermittlung von Grundlagenwissen auch eine

komplementäre Funktion im Sinne einer Vertiefung des Erlernten durch bestimmte

Gefährten Muhammads. Letztere initiierten aus einem Verantwortungsgefühl heraus

Lerngruppen, um vor allem neue Muslime zu unterweisen. 386 Die religiöse Bildung in der

frühislamischen Gemeinde in Mekka fand also durch Unterweisungen in Privaträumen

und in Familien sowie durch die geografische Expansion des Islam statt und wurde infolge

der zunehmenden Urbanisierung und Institutionalisierung in stetig zunehmenden

Moscheen weitergeführt. Die Häuser haben jedoch ihre Funktion als Orte für die religiöse

385 Diese monogamen oder polygamen Familienkonzepte sind – je nach Modernisierungsprozess

und Einfluss von Frauenbewegungen – in islamisch geprägten Ländern in unterschiedlicher

Quantität anzutreffen (vgl. Monika Tworuschka/Udo Tworuschka, Die Welt der Religionen,

Gütersloh/München 2006, S. 258 ff). In Deutschland ist die häufigste Form die Monogamie,

allerdings sind polygame Ehen – vor allem in kurdischen oder arabischen Familien – nicht

auszuschließen. Statistische Erhebungen hierzu existieren nicht, sodass es lediglich Hinweise

auf der Grundlage von Einzelschicksalen in medialen, populistischen Berichterstattungen gibt.

386 Vgl. Mehmet Bahaüddin Varol, Hulefa-i Rasidin Dönemi Egitim ve Ögretim Faaliyetlerine genel

bir bakis, in: Eğitim-Öğretimi Yapılan İlim Dalları ve İlim Merkezleri, S.Ü. İlâhiyat Fakültesi

Dergisi, Sayı:10, Konya 2000, S. 158 ff.


138 A Theoretischer Teil

Bildung noch über Jahrhunderte aufgrund der elterlichen Pflicht zur Vermittlung von

Glaubensinhalten an die eigenen Kinder beibehalten.

In der innerislamischen Diskussion zur Frage der religiösen Bildung wird nahezu von

allen Gelehrten die Bedeutung von Wissen insgesamt betont, die in der ersten theologischen

Quelle, dem Koran, zahlreich Erwähnung findet. Hierbei weisen klassische und

zeitgenössische Gelehrte auf die ersten fünf offenbarten Verse der 96. sūra im Jahre 610 n.

Chr. hin, mit der die Botschaft des Islam beginnt, sowie auf den ersten Vers der 68. sūra:

„Lies im Namen deines Erhalters, der erschaffen hat – den Menschen erschaffen hat aus einer

Keimzelle! Lies – denn dein Erhalter ist der Huldreichste, 4 der (den Menschen) den Gebrauch

der Schreibfeder gelehrt hat – den Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste.“

„Nun. Betrachte die Schreibfeder und alles, was sie (damit) schreiben.“

Muhammad Asad greift die Symbolik der Schreibfeder auf und erkennt darin zum einen

die Fähigkeit der menschlichen Spezies zum Schreiben und zum anderen zu geistigen

Leistungen hinsichtlich schriftlich fixierten, kumulierten Wissens. Aufgrund der Funktionalisierung

dieser Verse in der muslimischen Debatte zu religiöser und weltlicher Bildung

wird an dieser Stelle Asads Interpretation ein größerer Raum gegeben:

„Die einzigartige Fähigkeit des Menschen mit Hilfe schriftlicher Aufzeichnungen seine Gedanken,

Erfahrungen und Einsichten von Individuum zu Individuum, Generation zu Generation

und einer kulturellen Umgebung zur anderen weiterzugeben, versieht alles menschliche

Wissen mit einem kumulativen Charakter; und da, dank dieser von Gott gegebenen Fähigkeit,

jeder Mensch auf die eine oder andere Weise an der fortwährenden Wissensakkumulation

der Menschheit teilhat, wird vom Menschen gesagt, daß „Gott ihn“ Dinge „lehrt“, die der

einzelne Mensch nicht von sich aus weiß – und in der Tat nicht wissen kann. (Diese doppelte

Betonung der völligen Abhängigkeit des Menschen von Gott, der ihn als biologische Wesenheit

erschafft und ihm den Willen und die Fähigkeit des Menschen einpflanzt, Wissen zu erwerben,

erhält ihren sozusagen abschließenden Akzent in den nächsten drei Versen). Darüber

hinaus bedeutet das „Lehren“ des Menschen durch Gott auch den Akt Seines Offenbarens

von spirituellen Wahrheiten und moralischen Maßstäben durch die Propheten, die durch

menschliche Erfahrung und Denken allein nicht eindeutig festgelegt werden können: und

so umschreibt es das Phänomen der göttlichen Offenbarung als solches.“ 387

In der Vergangenheit und vor allem in den gegenwärtigen Debatten wird die 96. als

Beweis dafür angeführt, dass der Islam dem Lernen und der Wissenschaft einen hohen

Wert beimisst. Im folgenden Zitat von Ibrahim Bajunid wird auf die Interdependenz der

beiden Terminologien ‘aql und ‘ilm hingewiesen, die in der idealisierten islamischen

Erziehungstradition den Gläubigen vermittelt wurden und auch heute zum Prozess der

„Islamisierung des Wissens“ führen:

„The Islamic educational tradition in its ideal state exhorts a believer to be also mindful,

using ‘aql (mind) in quest of ‘ilm (knowledge). In order to do this there is a need to rethink

ideas about society and education, particularly in times of rapid change. Current rethinking

in the Islamic world has led to the ‚Islamization of Knowledge‘ agenda. Notwithstanding

387 Muhammad Asad, Die Botschaft des Koran, FN 3, S. 1175; Hervorhebungen im Original.


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 139

such agendas, within the Islamic intellectual and philosophical traditions there is ongoing

rethinking regarding the nature of man, the nature of knowledge and the nature of mind,

politics and education. While there are numerous articles on the role of teachers in the noble

profession, there is little study of professionalism and religion.“ 388

Bildung beginnt mit der Erkenntnis Gottes als Grundlage für den religiösen und weltlichen

Wissenserwerb. Daher wird vor ‘aql und ‘ilm auf die fiṭra, die natürliche Veranlagung des

Menschen, hingewiesen, die im Zusammenspiel von Vernunft und Instinkt aufgrund des

„inneren Potentials“ zu Gott führen kann. 389 In Übereinstimmung mit der Dekadenztheorie

von Wilhelm Schmidt vertritt der Islam die These eines Ur-Monotheismus. 390 Die natürliche

Veranlagung des Menschen in Korrespondenz zu Naturphänomen zu entfalten, um

den Schöpfungsakt zu erkennen, ist im Grunde ein sehr individueller Akt, der nur schwer

von außen, also von Lehrenden, erzwungen werden kann. In der Literatur zur islamischen

Erziehung wird zur Betonung der Individualität der Gotteserkenntnis auf die Erzählung

von dem in der sumerischen Gesellschaft sozialisierten Abraham hingewiesen, welcher

in sehr jungen Jahren die Religion seines Vaters und seines sozialen Umfeldes kritisch

hinterfragte und in sich einen Reflexionsprozess auslöste. In der 6. sūra wird in den Versen

75-79 dieser geistige Erkenntnisprozess geschildert:

‚Und also gaben wir Abraham (seine erste) Einsicht in (Gottes) mächtige Herrschaft über

die Himmel und die Erde – und (dies) zu dem Zweck, dass er einer von denen werden möge,

die innerlich gewiß sind.‘

‚Dann, als die Nacht ihn mit ihrer Finsternis überschattete, erblickte er einen Stern; (und)

er rief aus: ‚Das ist mein Erhalter!‘ – aber als er unterging, sagt er: ‚Ich liebe nicht die Dinge,

die untergehen.‘

‚Dann, als er den Mond aufgehen sah, sagte er: ‚Dies ist mein Erhalter!‘ – aber als er unterging,

sagte er: ‚Fürwahr, wenn mein Erhalter mich nicht rechtleitet, werde ich ganz gewiß einer

von den Leuten werden, die irregehen!‘

‚Dann, als er die Sonne aufgehen sah, sagte er: ‚Dies ist mein Erhalter! Dies ist das größte

(von allen)!‘ – aber als (auch) sie unterging, rief er aus: ‚O mein Volk! Siehe, fern sei es von

mir, etwas anderem neben Gott, wie ihr es tut, Göttlichkeit zuzuschreiben.‘

‚Siehe, Ihm, der die Himmel und die Erde ins Dasein brachte, habe ich mein Gesicht zugewandt,

indem ich mich von allem, was falsch ist, abwandte; und ich bin nicht einer jener, die

etwas anderem neben Ihm Göttlichkeit zuschreiben.‘

388 Ibrahim Bajunid, Rethinking the Work of Teachers and School Leaders in an Age of Change,

in: Christopher Day et al. (Hrsg.), The Life and Work of Teachers. International Perspectives

in Changing Times, London 2005, S. 175

389 Eine Parallele kann man zur theologischen Anthropologie Friedrich Schleiermachers ziehen,

wenn er davon ausgeht, dass dem Menschen die Gottesbegabung beziehungsweise -fähigkeit

innewohnt. Diese Prämisse hat dann Konsequenzen für seine Pädagogik, da das Ziel von (religiösen)

Bildungsprozessen es sein muss, durch entsprechende „Stimulationen“ dieses Potenzial

des Individuums zu entfalten (vgl. Akira Takamori, Anthropologie Schleiermachers, in: Niels

Jørgen Cappelørn et al. (Hrsg.), Schleiermacher und Kierkegaard. Subjektivität und Wahrheit.

Akten des Schleiermacher-Kierkegard-Kongresses in Kopenhagen Oktober 2003, Berlin 2006,

S. 538 ff).

390 Vgl. Klaus Hock, Einführung in die Religionswissenschaft, 3. Auflage, Darmstadt 2008, S. 42


140 A Theoretischer Teil

Dieser individuelle Prozess der Gotteserkenntnis ist somit die Grundlage für die Nutzung

von ‘aql durch die Rezeption der āyat – als Zeichen Gottes –, die sowohl die Hinweise in der

Natur für die Gottesexistenz als auch die Koran-Verse meinen, um sich ‘ilm anzueignen. 391

Während also im Koran die grundsätzliche Veranlagung des Menschen vorausgesetzt

wird, auf der Basis der Beobachtung der Naturphänomene die Fähigkeit zu besitzen, die

Gottesexistenz zu erkennen, sieht der Islam die Notwendigkeit der waḥiy (Offenbarung)

an die rasāl oder nabī (Gesandte Gottes) als weitere Voraussetzung, um Abrahams Religion

zu folgen. Damit sind neben den gottesdienstlichen Handlungen und der Orthopraxie,

insbesondere die von Asad erwähnte „spirituelle Wahrheit“ und „moralischen Maßstäbe“

gemeint, die nach islamischer Auffassung nicht allein durch philosophische Denkleistungen

und -systeme zu erkennen sind, sondern die Kommunikation Gottes mit auserwählten

Gesandten voraussetzen. Wesentlich für das Gottes- und Menschenbild (Mensch als

Erbe auf der Erde und seine Verantwortung dort Gottes Willen umzusetzen) sowie der

Bedeutung der Offenbarung als „Rechtleitung“ ist in diesem Zusammenhang die folgende

Szene auf der „metaphysischen Bühne“, die in der 2. sūra im Koran in den Versen 30-39

aufgeführt wird:

‚UND SIEHE! Dein Erhalter sagte zu den Engeln: ‚Seht, ich bin dabei, auf Erden einen einzusetzen,

der sie erben wird.‘ Sie sagten: ‚Willst Du auf ihr einen solchen einsetzen, der darauf

Verderbnis verbreiten und Blut vergießen wird – während wir es sind, die Deinen grenzenlosen

Ruhm lobpreisen und Dich preisen und Deinen Namen heiligen?‘

Und Er lehrte Adam die Namen aller Dinge; dann brachte Er sie in die Kenntnis der Engel

und sagte: ‚Nennt mir die Namen dieser (Dinge), wenn, was ihr sagt, wahr ist.‘

Sie erwiderten: ‚Grenzenlos bist Du in Deinem Ruhm! Kein Wissen haben wir außer dem,

das Du uns gelehrt hast. Wahrlich, Du allein bist allwissend, wahrhaft weise.‘

Er sagte: ‚O Adam, teile ihnen die Namen dieser (Dinge) mit.‘

Und sobald (Adam) ihnen ihre Namen mitgeteilt hatte, sagte (Gott): ‚Sagte Ich euch nicht:

‚Wahrlich Ich allein kenne die verborgene Wirklichkeit der Himmel und der Erde und weiß

alles, was ihr offenlegt, und alles was ihr verbergen möchtet?‘

Und als Wir den Engel sagten: ‚Werft euch nieder vor Adam!‘ – warfen sich alle nieder, außer

Iblis, der sich weigerte und in seinem Hochmut schwelgte: und also wurde er einer von jenen,

welche die Wahrheit leugnen.

Und wir sagten: ‚O Adam, wohne du und deine Frau in diesem Garten, und eßt freizügig

davon, alle beide, was immer ihr möchtet; aber naht nicht diesem eien Baum, sonst werdet

ihr Übeltäter.‘ Aber Satan ließ sie beide darin straucheln und bewirkte so den Verlust ihres

einstigen Zustands. Und so sagten Wir: ‚Hinunter mit euch, (und seid hinfort) einander

Feinde; und ihr sollt auf Erden eure Bleibe und euren Lebensunterhalt für eine Weile haben.‘

Daraufhin empfing Adam Worte (der Rechtleitung) von seinem Erhalter, und Er nahm seine

Reue an: denn, wahrlich, Er allein ist der Reue annehmende, der Gnadenspender.

(Denn obwohl) Wir sagten: ‚Hinunter mit euch allen von diesem (Zustand)‘, wird dennoch

ganz gewiß Rechtleitung von Mir zu euch kommen: und jene, die Meiner Rechtleitung folgen,

brauchen keine Furcht zu haben, noch sollen sie bekümmert sein; aber jene, die darauf aus

sind, die Wahrheit zu leugnen und Unsere Botschaft der Lüge zu zeihen – sie sind für das

Feuer bestimmt, und darin werden sie verbleiben.

391 Vgl. Murad Hofmann, Koran, München 2002, S. 44


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 141

Als weitere Kategorie in diesem Lernprozess tritt qalp hinzu. Damit ist gemeint, dass nicht

allein die ratio für die religiöse Bildung und die Erfassung der Religion in ihrer Gesamtheit

ausreicht, sondern dazu auch qalp erforderlich ist. Qalp wird in der Regel mit ‚Herz‘

übersetzt, doch greift diese ungefähre Bedeutung zu kurz. In der traditionellen islamischen

Lehre wird neben den fünf Sinnesorganen das Herz als ein weiteres Wahrnehmungsorgan

verstanden, mit dem man die Grenzen der Rationalität überschreiten kann, um eine

andere Art von Gotteserfahrung zu erleben. Daher wird qalp auch als das Zentrum der

Spiritualität begriffen. Die beiden Funktionen des Herzens zur absoluten Erfassung der

Wahrheit sind sama‘ und baṣar. Mit sama‘ ist im koranischen Kontext in seiner weiten

Definition das Hören mit den Ohren gemeint. Im Zusammenhang mit qalb ist jedoch

nicht ausschließlich eine akustische Wahrnehmung von Schallschwingungen, sondern

die inhaltliche und geistige Erfassung des Absoluten gemeint. Baṣar wird zum einen als

Sehen in der Form der Wahrnehmung von Lichtreizen aufgefasst und zum anderen als

Funktion des Herzens zum Erkennen der Wahrheit – als komplementäre Eigenschaft zu

sama‘ – begriffen. 392 Die Harmonie dieser genannten Kategorien soll insgesamt dazu dienen,

die Aufgabe des Menschen als h˘

alīfa – als Statthalter Gottes auf Erden – zu erfüllen

sowie das Gute zu vollbringen und dem Schlechten zu wehren.

Da Menschen in sozialen Zusammenhängen leben, bringt der individuelle Akt der

Glaubensaneignung auf der Grundlage der subjektiven Suche die soziale Verantwortung

der Weitervermittlung des Wissens sowie der eigenen spirituellen Erfahrungen mit sich.

Imam Ghazali – das muslimische Pendant zu Thomas von Aquin – setzt sich in seinem

Opus magnum Iḥyā’ ‘Ulūm ad-Dīn ausführlich mit der Rolle des religiösen Wissens

sowie der Verpflichtung des Gläubigen zu lehren auseinander. Ebenso zeichnet Ghazali

die Verbindlichkeit zur Weitervermittlung religiösen Wissens über Gott und den Islam

anhand außerkoranischer Quellen nach. Im Jenseits sind entsprechend der Weitergabe

oder Unterlassung sowohl positive als auch negative Sanktionen vorgesehen. 393 Ghazalis

pädagogische Wirken wird in einem weiteren, sehr populären Werk „Ayyuha‘l-Walad“

(O Sohn) deutlich, wenn er an seinen Schüler theologische und ethische Empfehlungen

formuliert, um ein frommes Leben zu führen. Dieses (religions-)pädagogische Werk behandelt

alle zentralen Themen der religiösen Erziehung in einer sehr kompromittierten

Form, die von Gottesbeziehung bis hin zu Fragen des zwischenmenschlichen Lebens

reichen. Dabei wird von Ghazali – der nicht nur als Lehrer, sondern mit väterlicher Liebe

spricht – der fiktive Schüler als sein Sohn und Kind angesprochen. Die Parallele zum dem

unten zitierten koranischen Dialog zwischen Luqmān und seinem Sohn ist dabei sehr

deutlich. Das Werk wird bis heute als religionspädagogische Grundlage in den islamisch

geprägten Ländern rezipiert.

Primär wird in den islamischen Quellen auf die Pflicht der Familie als kleinster Baustein

der Gesellschaft hingewiesen, diese Verantwortung zu übernehmen und den nächsten

Generationen zu vermitteln, wie folgende ausgewählte sunnitische und schiitische, außerkoranische

Überlieferungen verdeutlichen:

392 Vgl. Ali Ünal, Kur’an’da temel kavramlar, Istanbul1998, 227 ff.

393 Vgl. Imam Gazali, Iḥyā’ ‘Ulūm ad-Dīn, 1. Cilt, Istanbul 1985, S. 76 ff.


142 A Theoretischer Teil

• „Das schönste Erbe, was man den eigenen Kindern hinterlassen kann, ist das (immaterielle)

Erbe der tarbiyya (Erziehung), das zur Glückseligkeit im Diesseits und Jenseits führt“ 394

• „Das erste Wort, das man beim Spracherwerb den eigenen Kindern beibringen sollte, ist

lā ilāha illa llāh (Es gibt keine Gottheit außer dem einen Gott)“ 395

• „Bei der Erziehung sollte der Vater kindgerecht lehren.“ 396

• „Beharrt nicht darauf, eure Kinder nach den Traditionen eurer Zeit zu erziehen, denn sie

(die Kinder) sind für eine andere Zeit als eure geschaffen.“ 397

• „Luqmān empfahl seinem Sohn: ‚Mein Sohn, reserviere immer einen Teil des Tages zum

Bücherlesen und zum Lernen von Wissen, ansonsten – wenn du das Lesen vernachlässigst

– wird dein Wissen verlorengehen.“ 398

Hinsichtlich der religiösen Erziehung und Bildung sowie der Religiosität sind über den

gesamten Koran verteilt unterschiedliche historische Persönlichkeiten aufgeführt, die

in ihrem Handeln, ihren Dialogen und Biografien als Modelle für muslimische Eltern

fungieren. In diesem Kontext wird oft auf den im Koran geführten Dialog zwischen dem

oben zitierten Luqmān und seinem Sohn zurückgegriffen, und aus diesem Gespräch

werden zentrale Erziehungsinhalte abgeleitet, die noch heute zur Orientierung und als

Referenzrahmen dienen:

„13 Und siehe!, Luqmān sprach also zu seinem Sohn, ihn ermahnend: ‚O mein lieber Sohn!

Schreibe nicht etwas anderem neben Gott göttliche Kräfte zu: denn, siehe, solch (ein falsches)

Zuschreiben von Göttlichkeit ist fürwahr ein schreckliches Unrecht!

14 Und (Gott sagt) ‚Wir haben dem Menschen Güte gegen seine Eltern aufgetragen: seine

Mutter trug ihn, indem sie Anstrengung über Anstrengung ertrug, und seine völlige Abhängigkeit

von ihr dauerte zwei Jahre: (darum, o Mensch) sei Mir und deinen Eltern dankbar,

(und gedenke, daß) bei Mir aller Reisen Ende ist.

15 (Ehre deine Eltern;) doch sollten sie sich bemühen, dich etwas, das dein Geist nicht (als

göttlich) annehmen kann, Seite an Seite mit Mir Göttlichkeit zuschreiben zu lassen, gehorche

ihnen nicht; aber (selbst dann) leiste ihnen mit Güte Gesellschaft im Leben dieser Welt und

folge dem Pfad jener, die sich zu Mir wenden. Am Ende müßt ihr alle zu Mir zurückkehren; und

daraufhin werde Ich euch all das (wahrhaft) verstehen lassen, was ihr (im Leben) getan habt.

16 O mein lieber Sohn, (fuhr Luqmān fort) wahrlich, wenn da etwas nur vom Gewicht eines

Senfkorns wäre und wenn es in einem Felsen (verborgen) wäre oder in den Himmeln oder

in der Erde, Gott wird es ans Licht bringen: denn, siehe, Gott ist unergründlich (in Seiner

Weisheit), allgewahr.

394 Übersetzt nach at-Tirmiḏī abgerufen unter: http://www.hayrat.com.tr/icerik/sayfalar/cocuk-yayinlari-2.aspx

[25.12.2012]

395 Eigene Übersetzung aus dem Türkischen nach al-Hakim, abgerufen unter: http://selatuselam.

com/islam-aile-hayati/hadis-lerle-cocuk-egitimi-4234/ [25.12.2012]

396 Eigene Übersetzung aus dem Türkischen nach Imam Ali, abgerufen unter: http://www.ehli-beyt.

org/ehlibeyt/cocuk-egitimi-hakkinda-kirk-hadis.html [25.12.2012]

397 Eigene Übersetzung aus dem Türkischen nach Imam Ali, abgerufen unter: http://www.ehli-beyt.

org/ehlibeyt/cocuk-egitimi-hakkinda-kirk-hadis.html [25.12.2012]

398 Eigene Übersetzung aus dem Türkischen nach Imam Ğa‘far aṣ-Ṣādiq abgerufen unter: http://

www.ehli-beyt.org/ehlibeyt/cocuk-egitimi-hakkinda-kirk-hadis.html [25.12.2012]


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 143

17 O mein lieber Sohn! Verrichte beständig das Gebet und gebiete das Tun dessen, was recht ist,

und verbiete das Tun dessen, was unrecht ist, und ertrage in Geduld, was immer (Schlechtes)

dich treffen mag: dies, siehe, ist etwas, sein Herz daran zu hängen!

18 Und wende deine Wange nicht in (falschem) Stolz von den Leuten ab und wandle nicht

überheblich auf Erden: denn, siehe, Gott liebt keinen, der aus Eigendünkel auf prahlerische

Weise handelt.

19 Darum sei bescheiden in deinem Betragen und senke deine Stimme: denn, siehe, die

scheußlichste aller Stimmen ist die (laute) Stimme der Esel …“

Im Vers 13 wird auf den zentralen Lerninhalt in der islamisch-religiösen Bildung hingewiesen,

den tawḥīd als Glaubensgrundlage im Islam. Der tawḥīd bezeichnet die Glaubensformel

lā ilāha illa llāh und heißt übersetzt: Es gibt keine Gottheit außer dem einen Gott. Indem

Luqmān – der symbolisch die Vaterrolle aller Muslime einnimmt und somit als Modellperson

in der religiösen Erziehung fungiert – die tawḥīd als erste Mahnung an seinen Sohn

ausspricht, akzentuiert er die Prioritätensetzung in der Reihenfolge der religiösen Inhalte.

Insgesamt werden Gott beziehungsweise das Gottesbild – da Muslime eine theologia negativa

vertreten – eher mit seinen Eigenschaften wie Barmherzigkeit oder Beschützer in

der Erziehung vermittelt als dass sein Wesen erklärt wird. Die negative Theologie wird wie

bei Thomas von Aquin so verstanden, dass man zwar Gottes Wesen nicht begreifen und

beschreiben, sondern seine Existenz gerade in seiner Unbegreiflichkeit durch verneinende

Aussagen bejahen kann. Hinweise hierfür finden sich im Alten Testament, konkret in den

Zehn Geboten durch das Verbot, sich „ein Gottesbild zu machen“, wie auch im Neuen

Testament. 399 Im Koran ist es die kurze 112. sūra mit ihren vier Versen, die diese Theologie

hervorhebt und daher – wie Muhammad Asad in seiner Exegese erörtert – aufgrund

ihrer prägnanten, jedoch zentralen Botschaft des Islam vom Propheten Muhammad selbst

„einem Drittel des ganzen Qur’an“ gleichgesetzt wurde: 400

„1 Sag: „Er ist der Eine Gott: 2 Gott der Ewige, die Unverursachte Ursache all dessen, was

existiert,

3 Er zeugt nicht, und Er ist auch nicht gezeugt; 4 und es gibt nichts, das mit Ihm verglichen

werden könnte.“

Der letzte Vers fügt sich dem Ansatz der theologia negativa besonders ein, da die Gegebenheit

der Einzigkeit und Einheit Gottes

„[…] ihr logisches Korrelat in der Aussage ‚es gibt nichts, das mit Ihm verglichen werden

könnte‘ – damit jede Möglichkeit ausschließend, Ihn zu beschreiben (hat) […]. Folglich ist

die Beschaffenheit Seines Wesens jenseits der Reichweite der menschlichen Verstandes- oder

Vorstellungskraft: was auch erklärt, warum jeder Versuch, Gott durch figürliche Abbildungen

oder sogar abstrakte Symbole ‚bildlich darzustellen‘, als blasphemische Leugnung der

Wahrheit bestimmt werden muß.“ 401

399 Vgl. Klaus von Stosch, Einführung in die Systematische Theologie, 2. Auflage, Paderborn 2009,

S. 60 ff.

400 Vgl. Muhammad Asad, Die Botschaft des Koran, S. 1197

401 A. a. O., S. 1197


144 A Theoretischer Teil

Bis heute ist es üblich, dass muslimische Kinder in schon sehr frühen Jahren die Einheit

und Einzigartigkeit Gottes über die Eltern mit Fragen wie „Wie viele Gottheiten gibt es?“

erfahren und bei entsprechend erwünschten Antworten durch operante Konditionierung

– mit entsprechenden materiellen und immateriellen Belohnungen, wie etwa positiven

sozialen Verstärkern, wie Lob oder in die Arme nehmen – zur Verinnerlichung dieser

Glaubensformel motiviert werden. Ebenso trägt das unmittelbare soziale Umfeld, wie

nahe Verwandte und Bekannte, mit ähnlichen Erziehungsmethoden zur (unbewußten)

Internalisierung des tawḥīd bei. Hermann Giesecke weist in seiner Einführung in die Pädagogik

darauf hin, dass sich Menschen Wissen in allen relevanten Gesichtspunkten des

Lebens durch intentionales und funktionales Lernen aneignen. Mit intentionalem Lernen

werden das geplante, organisierte Lernen sowie die bewusste Vermittlung von Inhalten in

unterschiedlichen Lernfeldern wie Schule oder Jugendeinrichtungen bezeichnet. Dagegen

versteht man unter funktionalem Lernen die zahlreichen unbewussten Lernprozesse in

unterschiedlichen Kontexten. 402 Eine feste Demarkationslinie zwischen beiden Lernformen

ist nach Giesecke jedoch nicht zu ziehen,

„[…] denn jede Form von Lernen, das in Institutionen organisiert ist, hat eben dadurch auch

mehr oder weniger große ‚funktionale‘ Anteile; man denke etwa an den schon erwähnten

‚heimlichen Lehrplan‘ der Schule. Andererseits gibt es zum Beispiel im Betrieb, der ja eigentlich

zu den ‚funktionalen Lernfeldern‘ gehört, eine Reihe von Maßnahmen etwa zur

Arbeitsplatzorganisation, die man als ‚intentionale‘ Lernarrangements ansehen könnte –

wenn zum Beispiel die Arbeit in kleinen Gruppen organisiert wird, damit mehr Initiative

und Entscheidungsfreiheit möglich wird. Mit dem Begriff des ‚funktionalen‘ Lernens lassen

sich also das gesamte gesellschaftliche Leben sowie seine einzelnen Teilbereich pädagogisch

betrachten, also daraufhin, was man durch Teilnahme an ihnen lernt bzw. nicht lernt; denn

die erwähnten Lernverbote gibt es auch in diesem Zusammenhang: Jeder gesellschaftliche

Teilbereich fordert zu seiner optimalen Funktion bestimmte Lernleistungen heraus und

weist andere ab.“ 403

Vor diesem Hintergrund lernen muslimische Kinder die tawḥīd auch durch „funktionale“

Setzungen etwa in Form von Bilderverboten in der Wohnung oder im unmittelbaren

sozialen Umfeld des Kindes. Den oben zitierten Koran-Versen ist ferner zu entnehmen,

dass der Dialog von Luqmān mit seinem Sohn durch die eingeschobenen Verse 14 und 15

unterbrochen wird. Es findet ein Perspektivenwechsel statt, indem die Lernenden selbst,

also die Zielgruppe der muslimischen Söhne und Töchter, auf die Voraussetzungen der

Annahme der vermittelten Lehrinhalte seitens ihrer Eltern angesprochen werden. Zum einen

wird an die Lernenden appelliert, die besondere Rolle der Eltern, insbesondere der Mutter

als biologische Spenderin ihres Lebens, ins Bewusstsein zu rufen und zu schätzen. Ähnlich

wie in den Zehn Geboten des Alten Testaments wird also von den Kindern gefordert, die

Eltern zu ehren. Mathias Köckert weist im Kontext der Gefahr einer Instrumentalisierung

dieser Rolle seitens der Eltern in Form einer „repressiven Pädagogik“ darauf hin, dass in

der Historie gerade dieses Gebot die „elterliche Autorität“ zum absoluten Gehorsam der

Kinder und somit zum „Missbrauch“ führte. In seinen Ausführungen geht er der Frage

402 Vgl. Herbert Giesecke, Einführung in die Pädagogik, Weinheim/München 1999, S. 64 f.

403 A. a. O., S. 65; Hervorhebungen im Original.


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 145

nach den wirklichen Adressaten des Dekalogs nach, deren Beantwortung auch Klarheit

für den koranischen Kontext liefern könnte:

„Heranwachsende haben weder Frau noch Kinder oder Sklaven und verfügen in der Regel

nicht über Haus und Hof. Das Gebot kann sich also schwerlich an heranwachsende Kinder

gerichtet haben. Das Gebot gilt zweifellos Kindern, aber Kindern, die selber Eltern sind oder

wenigstens sein könnten. Erwachsene Kinder als Adressaten machen auch die Deutung unwahrscheinlich,

das Gebot fordere Respekt vor der älteren Generation als Vermittlerin der

grundlegenden Traditionen. Wer im Dekalog angeredet wird, bedarf keiner Unterweisung

mehr. Es spricht deshalb immer noch alles für die Deutung, die schon vor hundert Jahren

Caspari vorgeschlagen hat: Das Gebot habe das Verhältnis erwachsener Kinder zu ihren

alten Eltern im Blick.“ 404

In seinen weiteren Ausführungen zu diesem Gebot analysiert Köckert die hebräische

Terminologie kibbed (ehren) anhand anschaulicher Beispiele aus der Bibel. Aufgrund fehlender

konkreter Hinweise gewinne die postulierte Ehrung eher durch die gegensätzlichen,

positiven Verhaltensweisen, die man aus den explizit negativen Illustrationen der Bibel

in Form eines „Fehlverhaltens erwachsener Kinder“ gegenüber ihren gealterten Eltern

ableiten könne, an Kontur. In der Auseinandersetzung mit der jüdischen und altorientalischen

Literatur konstatiert Köckert schließlich, dass es sich vor allem um die Fürsorge

und Pflege der hochbetagten Eltern handeln muss. Daher soll dieses Gebot die eigene

spätere Lebensphase – gedanklich vorwegnehmend – ins Bewusstsein rufen, wenn man

in der Zukunft selbst auf die Hilfe der eigenen Kinder angewiesen sein wird. Im Grunde

geht es also um Empathie: einerseits sich die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, indem

man selbst als hilfloses Kleinkind durch die Eltern versorgt wurde, andererseits sich als

bedürftiger Greis vorzustellen, der auf die Pflege durch die eigenen Kinder angewiesen

sein wird. Dementsprechend seien sowohl Kinder – die ihre Eltern ja im Umgang mit

älteren Menschen erleben – auch als auch Erwachsene selbst Adressaten des Dekalogs. 405

Der Koran stellt zu dem biblischen Gebot des Gehorsams gegenüber den Eltern ergänzend

die Bedingung auf, keine dem tawḥīd widersprechende Anweisung der Eltern auszuführen

oder die „Zuschreibung von Göttlichkeit“ an andere Dinge und Subjekte anzunehmen.

In den Versen 17–19 folgt schließlich auf der Basis von tawḥīd die ‘amal, der Rat seitens

Luqmān zur praktischen Umsetzung des Gottesglaubens. Hierzu zählen die täglichen

Ritualgebete sowie die Aufforderung zu amr bi’l-ma‘rūf wa nahyi ‘ni’l-munkar (das Gute

gebieten und dem Schlechten wehren) als Zeichen der sozialen Verantwortung. Des

Weiteren wird für die Charakterentwicklung die Einübung in Geduld sowie Demut und

Bescheidenheit empfohlen. Da die Inhalte der Glaubenspraxis erfahrungsgemäß eher die

Moscheekatechese aufgreift, werden diese Inhalte intensiver im Kapitel 2.2 behandelt.

404 Mathias Köckert, Die Zehn Gebote, München 2007, S. 73

405 Vgl. a. a. O., S. 73 ff.


146 A Theoretischer Teil

2.3.1.2 Forschungsstand zur religiösen Erziehung und Sozialisation

in muslimischen Familien

Aus den skizzierten Grundlagen der religiösen Erziehung kann man die Inhalte und Methoden

nicht im Sinne eines Automatismus in den muslimischen Familien hierzulande

ableiten. Zahlreiche Faktoren, wie religiöse (mystisch, konservativ, fundamentalistisch,

säkular usw.) und politische (nationalistisch, liberal, konservativ usw.) Orientierungen

sowie soziale und kulturelle (Bildung, Klasse, Milieus usw.) Kriterien geben diesen Inhalten

den entsprechenden Rahmen, die letztlich die (früh)kindlichen religiösen Erfahrungen

prägen. Zieht man vorweg ein Resümee zum Forschungsstand hinsichtlich der muslimischen

Familien in Deutschland, kann man nur ein „Armutszeugnis“ attestieren, weil die

Informationssituation zur religiösen Erziehung in muslimischen Familien sehr defizitär

ist. Zwar trifft man in der Literatur auf Aussagen über das religiöse Innenleben sowie über

die Erziehungsmethoden und -inhalte in den Familien, aber ohne Verweis auf empirische

Quellen. In den meisten Fällen handelt es sich um Ableitungen aus der Theorie islamischer

Erziehung oder auf subjektive Erfahrungen im sozialen und beruflichen Umfeld der Autoren

und Autorinnen, die nicht über die Forschungslücke hinwegtäuschen können. Nur wenige

Untersuchungen, wie die Tübinger Studie zur religiösen Kommunikation, gewähren einen

kleinen Einblick auf der Basis einiger, nicht aber die Grundgesamtheit repräsentierender

befragter Familien, wie aus dem Fazit der Forscher hervorgeht:

„Die (wenigen) in die Untersuchung einbezogenen Familien (Jugendliche und Erwachsene)

lassen ein im Vergleich zum – im weitesten Sinne – christlichen Bereich deutlich anderes

Gepräge erkennen. Bezeichnend sind hier starke Spannungen zwischen der von den Jugendlichen

angeeigneten Religion und der in den Familien tradierten Religion, deren Realisierung

gleichwohl nur auf Zeit abgelehnt bzw. ‚für jetzt‘ noch zurückgestellt wird. Auch das Bild von

einem strafenden Gott tritt hier häufiger hervor. Weiter zu prüfen wäre der Eindruck, dass

die religiöse Kindererziehung im Islam zumindest in Deutschland – wieder im Vergleich zum

Christentum – weit weniger institutionell und also weit mehr allein auf die Familie und die

Familienerziehung angewiesen ist.“ 406

Auf diesen empirischen Missstand weist ebenso Haci-Halil Uslucan in einer aktuelleren

Expertise (Auswertungszeitraum 2006 bis 2007) zur religiösen Erziehung in muslimischen

Familien hin. Informationen zu dieser relevanten Forschungsfrage würden in der Regel

nur „beiläufig“, und zwar im Rahmen von „allgemeinen Erziehungs- und Integrationsfragestellungen“

thematisiert. Aufgrund des fehlenden Datenmaterials begründet er seine

eigene Vorgehensweise folgendermaßen:

„Im Einzelnen wurden für die Expertise Quellen unterschiedlichen Wissenschaftlichkeitsgrades

herangezogen: Zum einen wurden islamische Erziehungsmanuale, aber auch Internetpublikationen,

ausgewertet, die eher das „Ideal“ islamischer Erziehung skizzieren und

406 Albert Biesinger et al.: Forschungsprojekt „Religiosität und Familie“. Wirkungen religiöser

Erziehungen in der Familie aus religionspädagogischer, kinder- und jugendpsychiatrischer und

kriminologischer Sicht. Ergebnisse im Überblick, in: Ders. et al.: Brauchen Kinder Religion?

Neue Erkenntnisse, Praktische Perspektiven Weinheim/Basel 2005, S. 158; Hervorhebungen

im Original.


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 147

dabei sowohl auf den Koran wie auf Vorbilder islamischer Geschichte, beginnend mit dem

Propheten, rekurrieren. Die Frage der Übersetzbarkeit dieser Gebote in die Moderne wird

von diesen Manualen jedoch nur selten thematisiert. Darüber hinaus wurden allgemeine

erziehungswissenschaftliche Artikel sowie Befunde der Migrationsforschung und der Religionspsychologie

herangezogen. Diese wiederum behandeln jedoch häufig die „islamische

Erziehung und Bildung“ in Schulen, selten aber die Erziehung in Familien. Nicht zuletzt hat

der Autor als eine weitere Quellengrundlage eigene psychologische und kulturvergleichende

Forschungen zu den Themen Erziehung in Migrantenfamilien, Akkulturationsbelastungen

sowie Werteauffassungen im interkulturellem Vergleich integriert.“ 407

Vor dem Hintergrund dieses multi-methodischen Zugangs zur Forschungsfrage der Werteerziehung

kommt Uslucan nach Auswertung zentraler Publikationen, wie der von Harry

Harun Behr, hinsichtlich der Inhalte der religiösen Erziehung zu dem Ergebnis, dass diese

unter anderem den Glauben an den Koran, die Glaubenspraxis sowie die islamisch-ethische

Lebensführung repräsentieren. Ferner wird durch die Zitation von Behr im Kontext

einer islamischen Erziehung darauf hingewiesen, dass eine „formal richtige islamische

Lebensweise“ mit der Integration der Elemente ‚Bekenntnis‘, ‚Glaube‘ sowie ‚Handeln‘

bestimmend seien. 408 Mit dem Hinweis auf das mangelnde Bildungsniveau muslimischer

Eltern – auch in Fragen der Religion – sowie die Herausforderung zur Berücksichtigung

der Lebensrealität ihrer Kinder in einer multireligiösen Gesellschaft sei die „fachliche

erzieherische und bildungsmäßige Inkompetenz“ wahrscheinlich der Grund für die Delegation

dieser Aufgabe an die Moscheegemeinden. 409 Abschließend konstatiert Uslucan:

„Anhand der bisherigen Quellen konnte gezeigt werden, dass Gehorsam, elterliche Kontrolle

und (Selbst)Disziplinierung im islamischen Sinne zentrale Elemente in der islamischen

Werteerziehung darstellen. Die Erziehung der eigenen Kinder ist bei muslimischen Eltern

hinaus vielfach angelehnt an ein Muster der eigenen Sozialisation. Dies führt jedoch zu

starken Inkonsistenzen im kindlichen Leben: Besonders Schulkinder müssen enorme

Syntheseleistungen vollbringen und eine äußerst flexible Persönlichkeit ausbilden, wenn

sie in ihrem Alltag beständig mit Ideen, Regelsystemen und Weltdeutungen konfrontiert

sind, die konträr zueinander sind, um weiterhin handlungsfähig zu bleiben. So sind bspw.

Kritikfähigkeit und Eigenständigkeit relevante Werte, die sowohl mit Blick auf schulische

Leistungen als auch Berufserfolg gegenwärtig als zentral zu erachten sind. Herrscht jedoch in

der Familie keine Diskussions- und Streitkultur, wird der Gehorsam darüber hinaus religiös

legitimiert und dadurch die Kritik an Autoritäten zu einem Denktabu erklärt, so lassen sich

diese Kompetenzen bei Kindern nur schwer ausbilden.“ 410

Yasemin Karakasoglu und Halit Öztürk bestätigen in ihrer Untersuchung zu islamischen

Erziehungsidealen ebenfalls, dass speziell zu muslimischen Familien keine ausreichenden

empirischen Daten vorliegen, sodass man sich dieser „Erziehungswirklichkeit“ nur in

Form einer Rekonstruktion durch die Auswertung der unterschiedlichen quantitativen

407 Haci-Halil Uslucan, Religiöse Werteerziehung in islamischen Familien, Berlin 2008, S. 2;

Hervorhebung im Original.

408 Vgl. a. a. O., S. 34

409 Vgl. a. a. O., S. 34 f.

410 A. a. O., S. 51


148 A Theoretischer Teil

und qualitativen Studien primär zu türkischstämmigen Familien annähern kann. Da die

beiden Wissenschaftler das Idealbild einer islamischen Erziehung auf der Basis islamischer

Quellen nachzeichnen, gehen sie der Frage der Erziehungsrealität in türkisch-muslimischen

Familien nach. Vorweg bestätigen sie, dass der Islam, unabhängig von den Erziehungsstilen

in türkisch-muslimischen Familien, nach wie vor einen „hohen identifikatorischen Wert“

besitzt. Die türkisch-muslimischen Eltern messen der Religion also einen hohen Wert

in der Erziehung bei. In Anlehnung an Alacacioglu zeigen die Autoren, dass hierzu das

Erlernen traditioneller Glaubensinhalte, wie das Koranlesen und die Glaubenspraktiken,

sehr zentral sind. Dass diese Erziehung nicht dem vorher skizzierten islamischen Ideal

entspreche, führen sie auf andere Studien zurück, gemäß denen junge Muslime sowohl

ihre wenig qualitative religiöse Bildung in ihrer familiären Sozialisation als auch in den

Moscheegemeinden wie auch die Behandlung des Islam in den Schulfächern monierten,

wenn ein verzerrtes Bild über diese Weltreligion konstruiert werde. Daher poche man

unter anderem auf die Einführung eines schulischen Religionsunterrichts, um diese religiösen

Bildungsdefizite zu kompensieren. Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Auswertung

verschiedener Studien bildet die Tatsache, dass die jungen Muslime die Religiosität und

einen zeitgemäßen Lebensstil in der hiesigen Gesellschaft nicht als zwei sich ausschließende

Kategorien betrachten. 411

Zwar sind die oben aufgeführten Ergebnisse sehr hilfreich und zeigen wichtige Forschungsansätze

in Form überprüfbarer Thesen, allerdings können sie die Defizite in der

wichtigen religionspädagogischen Frage der religiösen Erziehung nicht beantworten.

Viele Fragen, wie die konkrete Vermittlung des Gottesglaubens und -bildes, die Hinführung

zur Glaubenspraxis, die konkreten Methoden und Materialien und anderes bleiben

unbeantwortet. Darüber hinaus ist der Fokus primär auf türkischstämmigen Familien

gerichtet, sodass die anderen muslimischen Gruppierungen nicht erfasst werden können.

Des Weiteren geben die Studien keine Informationen über die Gemeindegebundenheit

der Interviewpartner, was vor allem im Kontext der Moscheekatechese eine wichtige

Informationsgrundlage liefern könnte.

Anders als beispielsweise Uslucan, der zwar selbst keine empirischen Erhebungen

durchführt, sich dafür aber anhand unterschiedlicher Quellen der facettenreichen Thematik

interdisziplinär annähert, beschränken sich die meisten Hinweise auf die religiöse

Sozialisation auf Annahmen sowie subjektive Erfahrungen. Es handelt sich vielmehr

um eine „Black Box“, deren Oberfläche zwar angeleuchtet, aber nicht wirklich be- und

durchleuchtet oder gar durchdrungen wird. Exemplarisch für diese Vorgehensweise sei auf

zahlreiche muslimische und nicht-muslimische Autoren verwiesen. So ist zu lesen, dass

die rigorosen Erziehungsinhalte – die als Disposition schon vorausgesetzt werden, obwohl

keine Erkenntnisse hierzu vorliegen – bei den muslimischen Kindern und Jugendlichen

eher auf unreflektierte Inhalte und Imitation bis hin zu „islamisch-fundamentalistische[n]

411 Vgl. Yasemin Karakasoglu/Halit Öztürk, Erziehung und Aufwachsen junger Muslime in Deutschland.

Islamisches Erziehungsideal und empirische Wirklichkeit in der Migrationsgesellschaft,

in: Hans-Jürgen von Wensierski/Claudia Lübecke (Hrsg.), Junge Muslime in Deutschland.

Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen, Opladen/Famington Hills 2007, S. 157 ff.


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 149

Orientierungsmuster[n]“ 412 und zu einem die Gewaltbereitschaft 413 steigernden Verhalten

führen, also zu Selbstausgrenzung und Abwertung der Mehrheitsgesellschaft. Ebenso gehen

die in den aktuellen Debatten zur Etablierung des Fachs ‚islamische Religion‘ sowie zur

Einführung eines Islamischen Religionsunterrichts nicht über Annahmen über den Lernort

Familie hinaus. Die erste Bilanz fällt also so aus, dass ohne ausreichende empirische

Daten eher ein negatives, defizitäres Bild skizziert wird. Indem diese Annahmen rezipiert

und immer wieder zitiert wurden, hat sich dieses Bild verfestigt, und es hat vielmehr den

Anschein, dass man nach wie vor von der rural geprägten und oral tradierten Religiosität

der ersten und zum Teil der zweiten Generation der Eltern – die erst als Jugendliche nach

Deutschland einreisten – Schlussfolgerungen auf die religiöse Sozialisation muslimischer

Kinder zieht, ohne dabei die sozio-ökonomischen und kulturellen Entwicklungen vor

allem der letzten beiden Jahrzehnte mit einzubeziehen.

2.3.2 Sozialisationsfeld ‚Kindergarten‘ und ‚Kindertagesstätte‘

Nach der Familie spielt für die außerfamiliäre Sozialisation der muslimischen Kinder der

vorschulische Bereich, konkret Kindergärten oder Kindertagesstätten, für die weltliche und

religiöse Bildung eine wichtige Rolle. Der Bildungsforscher Harmut Hacker zeigt in diesem

Zusammenhang, dass die Bildungserwartungen an die Kindergärten und -tagesstätten als

Sozialisationsinstanz in den letzten beiden Jahrzehnten zugenommen haben, sodass zur

besseren Vorbereitung auf die Grundschule zunehmend neue Bildungsaufgaben, wie etwa

Sprachbildung oder Förderung in Bereichen der Mathematik und Naturwissenschaften,

in ihre Angebote aufgenommen wurden. Studien hierzu belegen, dass diese Einrichtungen

im Vergleich zu den Erziehungs- und Bildungsanstrengungen in den Familien eine

eher qualitativ bessere Vorbereitung auf den Schuleinstieg leisten. Hierbei sind auch die

Professionalität und die Kompetenzen der jeweiligen Fachkräfte in diesen vorschulischen

Einrichtungen entscheidend, die auf die Lernqualität einen großen Einfluss ausüben,

weswegen in den aktuellen Debatten deren Optimierung durch bessere Ausbildungswege

postuliert wird. Die schrittweise Reglementierung in Form von Lehrplaneinführungen

zeugt von den Bestrebungen, den Vorschulbereich stärker als einen wichtigen Baustein im

Prozess des „lebenslangen Lernens“ zu begreifen. 414 Allerdings muss aufgrund der stärkeren

Wahrnehmung der Rolle einer Bildungseinrichtung deren bildungstheoretische Ausrichtung

erörtert werden. Diese Ansätze und Kriterien sind wiederum für die Qualifizierung

und die Rolle der Pädagogen bestimmend. 415

412 Wilhelm Heitmeyer/Joachim Müller/Helmut Schröder, Verlockender Fundamentalismus.

Türkische Jugendliche in Deutschland, Frankfurt/M. 1997, S. 156

413 Vgl. Dirk Baier et al., Kinder und Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration,

Medienkonsum, Zweiter Bericht zum gemeinsamen Forschungsprojekt des Bundesinnenministeriums

des Innern und dem KFN, Hannover 2010, S. 129

414 Vgl. Hartmut Hacker, Bildungswege vom Kindergarten zur Grundschule, 3. Auflage, Kempten

2008, S. 52

415 Vgl. Annegert Hemmerling, Der Kindergarten als Bildungsinstitution. Hintergründe und

Perspektiven, Wiesbaden 2007, S. 248 f.


150 A Theoretischer Teil

Wie am Beispiel des Orientierungsplans des Landes Baden-Württemberg für die Kindergärten/-tagesstätten

deutlich wird, wird neben den aufgeführten Bildungszielen, wie

Mathematik oder Naturwissenschaften, auch das Bildungs- und Entwicklungsfeld ‚Sinn,

Werte und Religion‘ hervorgehoben. Als Zielsetzungen für die Kinder werden dabei formuliert:

„• entwickeln Vertrauen in das Leben auf der Basis lebensbejahender religiöser bzw. weltanschaulicher

Grundüberzeugungen und werden in der Hoffnung auf eine lebenswerte

Zukunft gestärkt.

• kennen unterschiedliche Zugänge zum Leben (religiös-weltanschaulich, technisch-naturwissenschaftlich,

künstlerisch u. a.) und vielfältige religiöse und weltanschauliche

Orientierungen.

• kennen und verstehen die christliche Prägung unserer Kultur.

• kennen die Wirkung sakraler Räume, Rituale und Symbole, die die Erfahrung von Geborgenheit,

Gemeinschaft, Stille, Konzentration ermöglichen.

• können in ihrem Philosophieren und/oder Theologisieren über das Leben und die Welt

verständnisvolle Partner finden.

• erleben unterschiedliche Weisen, nach Sinn zu fragen und Werte zu leben und kommunizieren

darüber.

• kennen ihre religiösen bzw. weltanschaulichen Wurzeln.

• bringen sich zusammen mit anderen in die nachhaltige Gestaltung ihres sozialen und

ökologischen Umfeldes ein.

• tragen zu einem gelingenden Zusammenleben in der Gruppe bei.

• sind in der Kindertageseinrichtung angenommen und geborgen – auch mit ihren religiösen

bzw. weltanschaulichen Prägungen, Haltungen und Meinungen.“ 416

Die oben definierten Bildungsaufgaben im Kontext von Sprachbildung und anderem haben

vor allem für die strukturelle Integration muslimischer Kinder eine besondere Relevanz,

während die im Bildungs- und Entwicklungsfeld ‚Sinn, Werte und Religion‘ aufgezählten

Ziele vor allem für die religiöse Identitätsbildung und Identifikation mit der hiesigen

Gesellschaft von Bedeutung sind. Die Akzeptanz der religiösen Grundüberzeugungen,

die Artikulation und Kommunikation über die eigene muslimische Lebenswelt und die

Fähigkeit zu „theologisieren“ setzen das Wissen über die eigenen „religiösen und weltanschaulichen

Wurzeln“ voraus. Dies heißt konkret, dass muslimische Kinder in den Familien

gewisse Grundlagen, Symbole, Sakralräume ihrer Religion kennen und diese zugleich

auch – und das ist ein wesentlicher Punkt – in deutscher Sprache ihren Mitmenschen im

Sozialisationsfeld ‚Kindergarten/-tagesstätten‘ mitteilen können.

Die zweite, zentrale Voraussetzung erfordert die interreligiöse/interkulturelle Ausrichtung

des vorschulischen Bereichs. Damit sich muslimische Kinder angenommen und

geborgen fühlen können, Vertrauen in die eigenen Glaubensüberzeugungen entwickeln und

zugleich ein positives Verhältnis zu den institutionellen Sozialisationsinstanzen erbringen

können, muss ihre religiös-kulturelle Lebenswelt Anerkennung finden. Dies gilt auch für

die pluralen Lebenslagen. Beide Punkte werden in den folgenden Abschnitten kurz erörtert.

416 Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg (Hrsg.), Orientierungsplan

für Bildung und Forschung in baden-württembergischen Kindergärten und weiteren Kindertageseinrichtungen.

Fassung vom 15. März 2011, S. 45


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 151

2.3.2.1 Interkulturelle Öffnung der sekundären Sozialisationsinstanz

In den Diskussionen zur Optimierung des Qualifikationsweges der Pädagogen für den

Vorschulbereich sowie in der Frage der interkulturellen Angebotsstruktur müssen vor

allem die sozio-demografischen Entwicklungen berücksichtigt werden. Zudem müssen

diese Einrichtungen – je nach der Situierung des sozialräumlichen Standortes – in ihren

Betreuungsangeboten eine Flexibilität bezüglich lokaler Besonderheiten wie Armut

beziehungsweise Bildungsarmut aufbringen, denn diese Einrichtungen sind die ersten

außerfamiliären Instanzen, in denen sich die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen

niederschlagen. Die soziale Entwicklung zeigt sich insbesondere in der multikulturellen

Zusammensetzung der Kinder zwischen drei und sechs Jahren. Vor allem in Großstädten,

und hier wiederum in bestimmten Stadtteilen, können die Quoten weit über 50 % betragen.

So weisen beispielsweise bei den Kindern für den Vorschulbereich in der Ruhrgebietsstadt

Duisburg fast 50 % einen Migrationshintergrund auf. Die Prognosen gehen davon

aus, dass diese in einigen Jahren der Mehrheit stellen werden, was bereits jetzt in einigen

Bezirken der Fall ist. 417 Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil dieser Kinder aus

muslimischen Familien stammt. Aufgrund dieser Heterogenisierung wurde bereits vor

Jahren die Debatte um die interkulturelle Öffnung des öffentlichen Dienstes für Pädagogen

und Verwaltungsmitarbeiter initiiert. Neben der interkulturellen Zusammensetzung

des Personals richtet sich das Postulat auch an die Strukturen in der Verwaltung sowie

der (vor-)schulischen und anderer Einrichtungen, um bedarfsorientierter zu handeln. 418

Durch einen „chancengleiche[n] Zugang“ und eine „gleichwertige Versorgungsqualität“

soll die „Integration durch interkulturelle Öffnung“ erzielt werden. 419 Im Kontext der vorschulischen

Einrichtungen wurden die Bemühungen zur Einstellung von Erziehern und

Erzieherinnen mit Migrationshintergrund, die Berücksichtigung der diversen Kulturen

der Kinder sowie integrative Angebote, wie zur Sprachförderung, intensiviert. Hinsichtlich

der Zielsetzung wurden also bereits wichtige Schritte eingeleitet; allerdings existieren über

deren Umsetzung in der alltäglichen Praxis kaum Untersuchungen.

2.3.2.2 Berücksichtigung der religiösen Lebenswelten muslimischer Kinder

Im Zusammenhang der interkulturellen Öffnung wurden auch religionspädagogische

Diskussionen über die Rolle der Religion in den vorschulischen Einrichtungen angeregt.

Sie betreffen zum einen die Frage, inwieweit sich die religiösen Lebenswelten insbesondere

der muslimischen Kinder in den Kindergärten oder Kindertageseinrichtungen widerspiegeln,

und zum anderen den Themenblock, wie die interreligiöse Bildung als Vorbereitung

der Kinder auf die multireligiöse Gesellschaft erfolgt. Hierzu gab es zwar bereits

zu Beginn der 2000er-Jahre Literatur in Form von Praxishilfen, um die Erzieher/innen in

417 Vgl. Sozialbericht Duisburg 2008, S. 92 u. S. 182

418 Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 9. Bericht der

Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage

der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland (Stand 2012), Berlin S. 294 ff.

419 Vgl. Frank Gesemann, Berlin: Einwanderungsstadt ‚under construction‘. Von der Beauftragtenpolitik

zur strategischen Steuerung, in: Ders./Roth, Roland (Hrsg.), Lokale Integrationspolitik

in der Einwanderungsgesellschaft, Wiesbaden 2009, S. 318


152 A Theoretischer Teil

den Kindergärten über die Arbeit und den Dialog mit muslimischen Eltern und Kindern

zu informieren oder sie weiterzubilden, 420 allerdings zeigen aktuelle Studien wie die der

Tübinger Religionspädagogen, dass zwar christliche Traditionen in den konfessionellen

Einrichtungen aufgegriffen werden, jedoch in staatlichen Einrichtungen kaum eine Rolle

spielen. Dagegen wird die Religion der muslimischen Kinder weder in den konfessionellen

(evangelisch, katholisch) noch in den staatlichen Einrichtungen ausreichend beachtet:

„Die rund 5000 muslimischen Kinder, die in den von uns befragten Einrichtungen betreut

werden, erhalten so gut wie keine religiöse Begleitung. Das Verständnis ihrer Religion wird

fast nicht gefördert. Zugleich erhalten die in der gleichen Einrichtung anwesenden Kinder

ohne Bekenntnis ebenfalls nur wenige Informationen über den Islam.“ 421

Im Alltag bedeutet dies, dass, wenn muslimische Kinder beispielsweise Feiertage wie ‘īd

al-Fitr (Ramadan-Fest) oder ‘īd al-ad. h.ā (Opferfest) – von der Zeremonie und Bedeutung

her äqual zum christlichen Weihnachten – begehen, diese nicht nur bei Stuhlkreisen oder

sonstigen spielerischen Aktionen aufgegriffen werden. Die Konsequenz dieser Ausblendung

der muslimischen Lebenswelten dürfen die bereits in frühen Jahren aufgebaute Distanz

und die „mentalen Hürden“ zu den gesellschaftlichen Institutionen sein. Wenn in der

vorschulischen Erziehung und Bildung im Kontext von Religion in Kindergärten der

Aspekt der „Atmosphäre des Anerkannt- und Geborgenseins“ hervorgehoben wird, dann

deshalb, damit die Kinder eine indirekte Erfahrung mit ihrem Glauben machen können

und somit die Grundlagen für eine spätere explizitere Auseinandersetzung mit religiösen

Fragen gelegt werden. Diese Atmosphäre ist deswegen wichtig, weil Kinder auch religiöse

Erfahrungen aus den Familien mit in diese Institutionen bringen und die Erzieher/innen

entsprechend auch Fragen aus der religiös-spirituellen Dimension aufgreifen müssen. 422

Im Kontext der religiösen Sozialisation stehen christlichen Kindern Alternativen zur

Verfügung, da sie auf die zahlreichen Angebote evangelischer und katholischer vorschulischer

Einrichtungen zurückgreifen können, die ihre gesamte Pädagogik entsprechend ihrem

konfessionellen Leitbild ausrichten. Zudem spiegeln sich die christlichen Lebenswelten auch

in den staatlichen Einrichtungen ohne religiösen Bildungsauftrag wider, weil zumindest

gewisse Traditionen – auch wenn oft der religiöse Bezug nicht konkret hergestellt wird

und sie insofern „säkularisiert“ angeboten werden – wie Ostern, Weihnachten oder der

Martinstag aufgegriffen werden. Muslimische Kinder können dagegen kaum auf ähnliche

konfessionelle vorschulische Strukturen zurückgreifen, da im gesamten Bundesgebiet

hierfür nur vereinzelte Angebote existieren. Ebenso werden, wie oben dargestellt, ihre

420 Dazu auch Barbara Huber-Rudolf, Muslimische Kinder im Kindergarten. Eine Praxishilfe für

alltägliche Begegnungen, München 2002

421 Albert Biesinger/Friedrich Schweitzer/Anke Edelbrock, Neue empirische Befunde. Ergebnisse

des Forschungsprojekts ‚interkulturelle und interreligiöse Bildung in Kindertagesstätten‘ im

Überblick, in: Dies. (Hrsg.): Mein Gott – Dein Gott. Interkulturelle und Interreligiöse Bildung

in Kindertagesstätten, 2., unveränderte Auflage, Weinheim und Basel: 2009, S. 25

422 Vgl. Rainer Möller, „Muss ich als Erzieherin auch religionspädagogisch qualifiziert sein?“

Berufsrolle und religiöse Identität, in: Ders./Reinmar Tschirch (Hrsg.), Arbeitsbuch Religionspädagogik

für ErzieherInnen, Stuttgart 2009, S. 20ff.


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 153

religiösen Traditionen in Form von Festen kaum in staatlichen vorschulischen Einrichtungen

wahrgenommen. Die stärkere religiös-kulturelle Benachteiligung im Vergleich zu

christlichen Kindern ist offensichtlich.

Wie die Autoren der Tübinger Studie ferner im Hinblick auf diese interreligiösen Defizite

hinweisen, ist zwar die Kindertageseinrichtung als Teilsystem der Gesellschaft nicht isoliert

zu betrachten, doch sehen sie eine „Schlüsselstellung“ bei den Erziehern und Erzieherinnen.

Hindernisse stellen deren religionspädagogische Defizite in der Kompetenz zur Gestaltung

interreligiöser Bildungsprozesse sowie auch in der Motivation und Bereitschaft dar. Als

übergeordneter Kontext seien die Ursachen für ein mangelndes Interesse hinsichtlich der

religiösen Bildung bei den nichtkonfessionellen Trägern zu suchen. Bei den konfessionellen

Trägern sei dagegen zwar das Interesse für religiöse Bildung größer, eine systematische

Unterstützung hinsichtlich einer interreligiösen Bildung ließen sie aber vermissen. 423 Wie

der evangelische Religionspädagoge Friedrich Schweitzer anführt, wurden in den letzten

Jahren „Orientierungs- und Lehrpläne“ für den Elementarbereich konzipiert und auch

hinsichtlich einer frühkindlichen Förderung Maßnahmen, zum Beispiel Sprachförderung,

eingeführt, allerdings wird der Faktor ‚Religion‘ nach wie vor vernachlässigt. Das Postulat

einer „religiös anregenden Umwelt“ – nicht nur in Familien und Schulen – müsse daher

parallel mit der Unterstützung zur Konzeption von Materialien und Modellen zur Aus- und

Fortbildung, sowohl für den Elementarbereich als auch für den Übergang in die nächste

Bildungsstufe einhergehen, 424 denn

„Erzieherinnen brauchen auch religionspädagogische Kompetenzen, ohne die eine umfassende

Förderung der kindlichen Entwicklung nicht möglich ist. Abgesehen vom Religionsunterricht

hat sich auch die Grundschule der religiösen Pluralität bisher kaum gestellt. Es fehlt an Modellen

für eine pluralitätsfähige Bildung, für die sich die Schulen insgesamt verantwortlich

fühlen und fühlen sollten.“ 425

Auf dieser Grundlage entwarfen die Autoren dieser Studie ein Praxishandbuch für die

Kindergärten, um die interkulturelle und interreligiöse Öffnung erfolgreich umzusetzen.

Dabei nehmen die Wissenschaftler die Träger der vorschulischen Einrichtungen zunächst

in die Verantwortung, damit in Richtung der Erzieher/innen signalisiert wird, dass die

interkulturelle/interreligiöse Ausrichtung erwünscht ist. Neben Empfehlungen für die

(Bildungs-)politik und für die Konzeption der Orientierungs- und Bildungspläne weisen

sie auch darauf hin, dass sich die Wissenschaften in der Thematisierung von Kindheit,

Religion und Multireligiosität nicht wie bisher ausblenden dürfen. 426

423 Vgl. a. a. O., S. 226 f.

424 Vgl. Friedrich Schweitzer, Den Anfang schon verpasst? Religiöse Bildung in der Kindheit, in:

Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.): Religion und Bildung. Orte, Medien und Experten religiöser

Bildung, Gütersloh 2008, S. 26 f.

425 A. a. O., S. 27

426 Vgl. Anke Edelbrock/Albert Biesinger/Friedrich Schweitzer (Hrsg.), Religiöse Vielfalt in der

Kita. So gelingt interreligiöse und interkulturelle Bildung in der Praxis, Berlin 2012


154 A Theoretischer Teil

2.3.3 Religion und Bildung in der Schule

Das Zitat von Schweitzer leitet zur Grundschule über und suggeriert bereits, dass sich die

ungenügende interkulturelle Öffnung im Kontext der religiösen Pluralität und Bildung

auch durch diese Bildungsinstitutionen hindurch zieht. Wie bereits angemerkt, sind schätzungsweise

700 000 bis 900 000 muslimische Schülerinnen und Schüler im Bildungssystem

vertreten. Die Herausforderung einer Bildungsförderung sowie die Pflege der bisher wenig

beachteten Zweisprachigkeit als Potenzial sind ebenso wie die religiöse Förderung für die

kognitive, kommunikative sowie emotionale Entwicklung entscheidend.

2.3.3.1 Interkulturelle Ausrichtung und Chancengleichheit

Seit dem Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.1996 zur „Interkulturellen

Bildung und Erziehung“ werden die Grundsätze, die Inhalte, die Ziele sowie die didaktisch-methodische

Realisierung offengelegt. Vor diesem Hintergrund werden folgende

Schwerpunkte hervorgehoben:

„• Wesentliche Merkmale und Entwicklungen eigener und fremder Kulturen

• Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Kulturen und ihre gegenseitige Beeinflussung

• Menschenrechte in universaler Gültigkeit und die Frage ihrer kulturellen Bedingtheit

• Entstehung und Bedeutung von Vorurteilen

• Ursachen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit

• Hintergründe und Folgen naturräumlicher, wirtschaftlicher, sozialer und demographischer

Ungleichheiten

• Ursachen und Wirkungen von Migrationsbewegungen in Gegenwart und Vergangenheit

• Internationale Bemühungen zur Regelung religiöser, ethnischer und politischer Konflikte

• Möglichkeiten des Zusammenlebens von Minderheiten und Mehrheiten in multikulturellen

Gesellschaften.“ 427

Auf dieser Grundlage wurden diverse Konzepte entwickelt, um die interkulturellen

Zielsetzungen an Grund- und weiterführenden Schulen umzusetzen. Wie Annegret

Eickhorst in der Auseinandersetzung mit Zielsetzungen, Konzeptionen sowie Materialien

eines interkulturellen Lernens in der Grundschule aufzeigt, beinhalten die Schwerpunkte

„soziales Lernen“, „Begegnung und Austausch“ sowie „Schulwissen und die Perspektive

der ‚anderen‘ Kultur“. Information, Empathie sowie Handlungskompetenz gehen Hand in

Hand; zudem liegt ein besonderer Akzent auf der Sprachförderung. 428 So wird in diesem

Rahmen von Institutionen, wie der Regionalen Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern

und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien (RAA), in Nordrhein-Westfalen jährlich Sprachstandtests

vor der Einschulung durchgeführt, um Sprachdefizite früh genug zu erkennen

427 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik

Deutschland, Empfehlung Interkulturelle Bildung und Erziehung“, Beschluss der Kultusministerkonferenz

vom 25.10.1996, S. 8 f.

428 Vgl. Annegret Eickhorst, Interkulturelles Lernen in der Grundschule. Ziele – Konzepte – Materialien,

Bad Heilbrunn, S. 45 ff.


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 155

und somit die Bildungschancen zu verbessern. 429 Im Rahmen der interkulturellen Öffnung

als Querschnittsaufgabe werden zudem verstärkt Lehrer/innen mit Migrationshintergrund

eingestellt. Diese haben sich sogar in Netzwerken organisiert, um sich den spezifischen

Anforderungen zu stellen. Insgesamt zielen also diese Öffnungsprozesse darauf ab, die

kulturelle Vielfalt der Schülerschaft in allen Bereichen der Schule zu beachten, den Kindern

die Selbstverständlichkeit der multikulturellen Gesellschaft zu vermitteln und somit die

Ambiguitätstoleranz einzuüben sowie die Chancengleichheit zu gewährleisten. Dass die

Einsicht in die Notwendigkeit der interkulturellen Öffnung sowie die Formulierung von

Maßnahmen noch nicht einer erfolgreichen Implementierung seit den Beschlüssen der

Kultusministerkonferenz gleichkommen, attestieren hinsichtlich der Bildungschancen

die IGLU- und PISA-Studien. Auch andere Erhebungen zeigen, dass Schüler/innen mit

Migrationshintergrund aufgrund der Selektionsmechanismen nach ethnischen und sozialen

Kriterien benachteiligt sind. Ebenso bleibt die Realisierung der anderen Zielsetzung noch

aus. So kommt Ulf Over nach der Auswertung zahlreicher Studien zum interkulturellen

Lehren und Lernen an Schulen zu der Schlussfolgerung:

„Der konstruktive Umgang mit Heterogenität in multikulturellen Lernumgebungen scheint,

folgt man den hier vorgestellten Studien, bislang noch nicht zur alltäglichen pädagogischen

Professionalität aller Lehrkräfte zu gehören. Zwar weisen einige Untersuchungen explizit auf

Positivbeispiele interkulturell kompetenten Handelns hin […], in denen es beispielsweise um

Anerkennung und Verständnisorientierung in Bezug auf Vielfalt geht, und wo Lehrkräfte

eigene Deutungs- und Wahrnehmungsmuster einerseits und schulische Normen und Werte

andererseits reflektieren, dennoch weisen die Mehrzahl der Studien auf Defizite unterschiedlicher

Ausprägung im Umgang mit Heterogenität hin. Marginalisierende Haltungen von

Lehrkräften gegenüber Schülern mit Migrationshintergrund […], unreflektierte Übernahmen

vorherrschender Schulregeln und damit einhergehend eine generelle Assimilationsforderung

an die Schüler […], die fehlende Reflexion von eigenkulturellen Deutungs- und Wahrnehmungsmustern

und der eigenen Beteiligung an der Entstehung interkultureller Konflikte […]

tragen dazu bei, das ein konstruktiver Umgang mit Vielfalt im Unterricht und im Schulalltag

selten stattfindet.“ 430

2.3.3.2 Der Islam in der Schule

Im Zusammenhang mit dem Zielthema der Moscheekatechese sowie des islamischen

Religionsunterrichts ist vor allem die Frage relevant, inwieweit der Islam Eingang in die

Schulfächer und schulischen Strukturen gefunden hat. Bisher hatte der Islam im Zuge der

interkulturellen Öffnung der Bildungseinrichtungen eine eher untergeordnete Rolle gespielt.

Nicht nur das Vakuum in der religiösen Unterweisung in den letzten vierzig Jahren – als

versäumtes äquivalentes Angebot zum katholischen und evangelischen Religionsunterricht

–, sondern auch die historische, soziale und kulturelle Dimension des muslimischen

429 Siehe beispielsweise Regionale Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus

Zuwandererfamilien: Simpl. Sprachförderung als gemeinsame Aufgabe von Kindern, Eltern,

Tageseinrichtung und Grundschule, Gelsenkirchen o. J.

430 Ulf Over, Die interkulturell kompetente Schule. Eine empirische Studie zur sozialen Konstruktion

eines Entwicklungsziels, Münster 2012, S. 52


156 A Theoretischer Teil

Lebens in Deutschland wurden nur selektiv aufgegriffen. Die Thematisierung der Historie

der muslimischen Gastarbeiter, deren Glaubenstraditionen und die Vielfalt muslimischer

Strömungen hierzulande fand im Unterricht und in Schulbüchern nur partiell statt. In

diesem Zusammenhang ergab die Auswertung der etwa 600 Schulbücher zwischen 1979

bis 1988 zu Geschichte, Geografie, evangelischem und katholischem Religionsunterricht

in einem Projekt unter der Leitung des Religionswissenschaftlers Udo Tworuschka und

des muslimischen Theologen Abduljavad Falaturi, dass den Schülern aus einem eurozentrischen

Blickwinkel heraus ein sehr verzerrtes Islambild vermittelt wird. Die Konsequenz

ist, dass nicht-muslimische Schüler/innen über ihre Mitschüler – als Träger der islamischen

Kultur – eine sehr reduktionistische und verkürzte Wahrnehmung erfahren. 431 Die Auswirkungen

auf den muslimischen Schülerteil sind zwar nicht empirisch erhoben, allerdings

ist anzunehmen, dass diese eher eine ausgrenzende Wirkung zeigen. Eine Folge dieser

kritischen und umfangreichen Analyse der Schulbücher war zum einen die Ausweitung

der Untersuchungen auf weitere europäische Länder und zum anderen die Publikation

von Lehrmaterialien zum Abbau von Vorurteilen, in denen die herausgearbeiteten Informationen

zum Islam, wie Gottesbild, Menschenbild, Koran, Muhammad, Stellung der

Frau, Scharia und Dschihad, unter den Kategorien „sachgemäß“ und „unsachgemäß“

differenziert dargestellt werden. 432 Dass einseitige und reduktionistische Bilder über den

Islam und die Muslime in den Schulbüchern nach wie vor verbreitet sind, belegen aktuelle

Forschungen. 433 Gerade durch die immerwährenden Debatten um den Islam in Politik

und Medien sollte im Grunde die Schule als „Integrationsmaschine“ eine differenzierte

Sichtweise über die 4,2 Millionen Muslime vermitteln.

Nach dem Elementarbereich scheint die völlige Ausblendung oder selektive Darstellung

des Islam in den Bildungseinrichtungen offensichtlich systemisch verankert zu sein. In

diesem Zusammenhang ist der Blick gesondert auf die muslimischen Jugendlichen zu

richten, die sich – außerhalb der Bildungseinrichtungen – zudem stärker und bewusster

mit den ähnlichen Mechanismen in ihrem soziokulturellen Umfeld, insbesondere den

Medien, konfrontiert sehen. Hier werden nicht nur ihre Religion, sondern vor allem sie

gezielt thematisiert.

2.3.4 Soziokulturelles Umfeld: muslimische Jugendliche, Religiosität

und gesellschaftlicher Umgang

Nach der Definition des Jugendschutzgesetzes (§ 1 Artikel 2 ) sind als Jugendliche solche

zu zählen, die bereits 14 Jahre alt sind, jedoch das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht haben.

Wie Klaus Hurrelmann zeigt, muss die juristische Definition der „Jugend als eigenständige

431 Im Zusammenhang mit der empirischen Befragung werden auch die Schulerfahrungen der

muslimischen Interviewpartner ermittelt.

432 Vgl. Abduljavad Falaturi/Udo Tworuschka, Der Islam im Unterricht. Beiträge zur interkulturellen

Erziehung in Europa, 2. Auflage, Braunschweig 1992

433 Vgl. hierzu das Zeit-Interview mit der Studienleiterin Susanne Kröhnert-Othman: „In Schulbüchern

wird der Islam zu rückwärtsgewandt dargestellt“ abgerufen unter: http://www.zeit.

de/gesellschaft/schule/2011-10/schulbuecher-islam-studie [02.02.2013]


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 157

Phase im menschlichen Lebenslauf“, die im Laufe der letzten Jahrzehnte eine „zeitliche

Ausdehnung“ erfuhr, neben den biologischen Faktoren zahlreiche Einflussfaktoren, wie

soziale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklungen, berücksichtigen, die ein früheres

Eintreten in diese Phase und zugleich einen späteren Eintritt in das Erwachsenenalter

bedeuten. Insgesamt zielt diese Phase, die trotz kollektiver Gemeinsamkeiten auch immer

eine individuelle Komponente aufweist, auf die Ablösung vom Elternhaus als „Prozess der

Individuation“ hinaus. 434 Hierbei identifiziert Hurrelmann vier „zentrale Entwicklungsaufgaben“

in folgenden Bereichen:

„1. Entwicklung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz, um selbstverantwortlich schulischen

und anschließend beruflichen Anforderungen nachzukommen, mit dem Ziel, eine

berufliche Erwerbsarbeit aufzunehmen und dadurch die eigene ökonomische Basis für

die selbstständige Existenz als Erwachsene zu sichern.

2. Entwicklung des inneren Bildes von der Geschlechtszugehörigkeit, Akzeptieren der veränderten

körperlichen Erscheinung, Aufbau einer sozialen Bindung zu Gleichaltrigen des

eigenen und des anderen Geschlechts, Aufbau einer heterosexuellen (oder auch homosexuellen)

Partnerbeziehung, welche potenziell die Basis für eine Familiengründung und

die Geburt und Erziehung eigener Kinder bilden kann.

3. Entwicklung selbständiger Handlungsmuster für die Nutzung des Konsummarktes einschließlich

der Medien und Fähigkeit zum Umgang mit Geld mit dem Ziel, einen eigenen

Lebensstil zu entwickeln und zu einem kontrollierten und bedürfnisorientierten Umgang

mit den „Freizeit“-Angeboten zu kommen.

4. Entwicklung eines Werte- und Normsystems und eines ethischen und politischen Bewusstseins,

das mit dem eigenen Verhalten und Handeln in Übereinstimmung steht, sodass

die verantwortliche Übernahme von gesellschaftlichen Partizipationsrollen als Bürger

im kulturellen und politischen Raum möglich wird.“ 435

In die Entwicklung hin zum einem vollwertigen, gleichberechtigten Mitglied der Gesellschaft

sind demnach zahlreiche Akteure und Felder involviert, die für eine erfolgreiche Bewältigung

der aufgelisteten Entwicklungsaufgaben mitbestimmend sind. Wie der Soziologe

Ulrich Beck bereits in seinem Werk Risikogesellschaft darlegte, gibt es eine zunehmende

Diskrepanz zwischen der individuellen Erfüllung von beispielsweise schulischen oder

beruflichen Erwartungen durch den Erwerb von Qualifikationen und der gesellschaftlichen

Nicht-Erfüllung von Pflichten wie etwa des Zugangs zum Arbeitsleben. Durch die

Entstehung von Dichotomien würden systematisch Verunsicherungen aufgebaut. 436 Im

Kontext der muslimischen Jugendlichen werden in der vorliegenden Studie die Entwicklungsaufgaben

1 und 4 – auch wenn alle genannten Aufgaben und Bereiche miteinander

zusammenhängen – gesondert diskutiert. Diese betreffen den Bereich sowohl der strukturellen

als auch der kognitiven Integration.

434 Vgl. Klaus Hurrelmann, Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche

Jugendforschung, 9., aktualisierte Auflage, Weinheim/München 2007, S. 13 ff.

435 Hurrelmann, Lebensphase Jugend, S. 27 f., Hervorhebungen im Original.

436 Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986


158 A Theoretischer Teil

2.3.4.1 Soziale und strukturelle Anerkennungsprozesse:

der Prozess der Individuation und die Frage der medialen

Konstruktion des „muslimischen Jugendlichen“

Die Darstellung des Forschungsstandes zu den Bildungschancen anhand der IGLU- und

PISA-Studien hat gezeigt, dass infolge der „institutionelle[n] Diskriminierung“ muslimische

Kinder und Jugendliche – wie auch deutschstämmige aus sozial schwachen Familien

– benachteiligt werden. Die Mechanismen der Selektion und Diskriminierung beginnen

bereits bei der Einschulung und ziehen sich über die gesamte Schulkarriere hin. 437 Trotz

der Identifikation dieser systematisch bedingten Produktion sowie Re-Produktion von

Chancengleichheit und trotz Interventionsvorschlägen wurden die Defizite bisher kaum

kompensiert. Zwar ist in den letzten Jahren ein Anstieg hinsichtlich qualifizierter Bildungsabschlüsse

wie (Fach-)Abitur zu verzeichnen, doch im Vergleich zu den autochthonen

Schülern ist weiterhin eine deutliche Diskrepanz der Bildungsabschlüsse zu verzeichnen. 438

Diese Ungleichheiten setzen sich auf dem Arbeitsmarkt fort. 439

Die negativen Auswirkungen dieser Bildungskarrieren auf die Entwicklung einer intellektuellen

und sozialen Kompetenz zur Gewährleistung einer selbstständigen Existenz

werden den Migrantenkindern aus muslimischen Familien zunehmend in der Jugendphase,

vor allem in der Phase der Übergänge zum Ausbildungsmarkt oder bei höheren Bildungswünschen

(Hochschulreife), bewusst. Diese strukturelle Deprivation trifft zudem auf eine

stärkere Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Positionierung im Kontext von Diskursen

über diese Gruppierung. Wie oben aufgezeigt, werden in diesem Diskurs bei muslimischen

Jugendlichen symbolische Differenzlinien zwischen „Wir“ und „Ihr“ gezogen und wird

mit ethnisch oder religiös aufgeladenen Zuschreibungsmerkmalen gearbeitet. Diese Zielgruppe

wird als Migranten wahrgenommen, mal ethnisiert als Türken oder Araber oder

eben muslimisiert. So zeigt Isabell Diehm in Anlehnung an Yasemin Karakasoglu sowie an

postkoloniale Theorieperspektiven, wie diese Konstruktion seit den Terroranschlägen vom

11. September stärker in der Kategorie „muslimisch“ stattfindet, die sich in der Diskussion

aller Dimensionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens widerspiegele:

„Dieses scheint, Denk- und Interpretationsweisen mehr und mehr zu beeinflussen. Dabei

sieht es ganz so aus, als mache die Unterscheidung nach religiöser Zugehörigkeit – ob als

Selbst- und Fremdzuschreibung – im Kontext der deutschen Einwanderungsgesellschaft jener

anderen sozial äußerst wirksamen – vielfach jedoch kritisch bewerteten, weil häufig allzu

pauschal verwendeten – Unterscheidung nach Kultur zunehmend Konkurrenz. Hat in den

europäischen Einwanderungsgesellschaften vor allem das Merkmal Kulturdifferenz – zumeist

in einer Verkürzung als National-Kultur – die bislang dominante Rolle gespielt, wenn es um

die Beschreibung des jeweiligen gesellschaftlichen Mehr- und Minderheitsverhältnisses ging,

437 Vgl. Mechthild Gomolla/Frank-Olaf Radtke, Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung

ethnischer Differenz in der Schule, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2007,

S. 265 ff.

438 Vgl. 9. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung über die Lage der Ausländerinnen und

Ausländer in Deutschland, S. 159 ff.

439 Siehe hierzu die OECD-Studie: Thomas Liebig, The Labour Market Integration of Immigrants

in Germany, OECD Social, Employment and Migration Working Papers, No. 47, 2007


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 159

so hat die Kategorie Religionszugehörigkeit zum Islam spätestens seit dem September 2011

an sozialer Relevanz gewonnen.“ 440

Trotz der Heterogenität dieser Gruppierung sowie auch der juristischen Gleichstellung

mit autochthonen Jugendlichen werden also Unterscheidungsmerkmale produziert, die

dann mit problematisierten Eigenschaften wie „desintegrativ“, „kriminell“ oder „gewalttätig“

versehen werden. Die Forschungen in der Sozialpsychologie zeigen in diesem

Zusammenhang, wie Vorurteile durch derartige „soziale Kategorisierungen (Wir vs. Sie)“,

„Eigengruppenbevorzugungen“ sowie „Fremdgruppenhomogenität“ entstehen können. Mit

einfachen Mechanismen der positiven Bewertung der Eigengruppe wird das Selbstwertgefühl

gestärkt, insbesondere in Abgrenzung zu einer Fremdgruppe, die durch Homogenisierungen

auf bestimmte Merkmale reduziert wird. Aufgrund des Zusammenspiels affektiver

und kognitiver Gesichtspunkte in den vorurteilsbeladenen Einstellungen sind rationale

Argumentationen für eine differenzierte Betrachtungsweise nur sehr schwer vermittelbar. 441

Nach der „Etablierten-Außenseiter-Figuration“ von Norbert Elias, gemäß der das soziale

Alter – unabhängig von ethnisch-kulturellen oder religiösen Merkmalen – für die

Akzeptanz zur „Eigengruppe“ entscheidend ist, müssten im Grunde Muslime nach ihrer

50-jährigen Migrationsgeschichte dieses zeitliche Kriterium für die Akzeptanz erfüllt

haben und neue Zuwanderergruppen nun die Rolle der „Außenseiter“ einnehmen. 442 Auf

lokaler Ebene, in segregierten Stadtteilen, ist dieser Statuswechsel, infolge der Zuwanderung

rumänischer und bulgarischer Zuwanderer auch zu beobachten. 443 Auf gesamtgesellschaftlicher

Ebene dagegen scheint das soziale Alter der muslimischen Migranten

infolge neuer Kategorisierungen sowie der Re-Aktualisierung historischer Bilder über

diese Religionsgruppe relativiert worden zu sein. Mit der Definitionsmacht können diese

Konstruktionen dann mittels verschiedener Informations- und Kommunikationskanäle

transportiert und kommuniziert werden, die derartige Bilder über muslimische Jugendliche

anhand von „Framing“ konstruieren. 444 Populistische Thematisierungen von Studien über

die jungen Muslime, wie „jung, muslimisch, brutal“ 445 , verfestigen diese nur. Anhand der

Medienrezeption junger Menschen sowie der Thematisierung dieser negativen Berichterstattungen

auch in Bildungs- und Jugendeinrichtungen gehen diese Diskussionen an

jungen Muslimen nicht vorbei.

440 Vgl. Isabell Diehm, Religion ist im Spiel – oder virulent. Diskursive und interaktive Inszenierungen

ethnischer Differenz, in: Christine Hunner-Kreisel/Sabine Andresen (Hrsg.), Kindheit

und Jugend in muslimischen Lebenswelten. Aufwachsen und Bildung in deutscher und internationaler

Perspektive, 1. Auflage, Wiesbaden 2010, S. 60

441 Vgl. Eliot Aronson/Timothy D. Wilson/Robin M. Akert, Sozialpsychologie, 6., aktualisierte

Auflage, München 2008, S. 430 ff.

442 Norbert Elias/John L. Scotson: Etablierte und Außenseiter, Frankfurt/M. 1993

443 Rauf Ceylan, „Muslimische Zigeuner“

444 Vgl. Constantin Wagner, Diskriminierende Darstellungen von MuslimInnen in deutschen

Medien, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Rassismus & Diskriminierung in Deutschland,

Dossier, Berlin 2010

445 o. V. „Kriminologische Studie: Jung, muslimisch, brutal“, abgerufen unter: http://www.spiegel.

de/panorama/justiz/kriminologische-studie-jung-muslimisch-brutal-a-698948.html [13.01.2014]


160 A Theoretischer Teil

2.3.4.2 Muslimische Jugendliche und religiöse Identität

Über die negativen Konsequenzen dieser Zuschreibungsprozesse existieren zwar keine

empirischen Untersuchungen, allerdings ist anzunehmen, dass sich dadurch Ausgrenzungsund

Selbstausgrenzungsprozesse verstärken und eine Eigendynamik einnehmen können.

Auch kann nicht eindeutig festgestellt werden, welche Wirkung die bisher geschilderten

Bedingungen auf die von Hurrelmann definierte Entwicklungsaufgabe hinsichtlich einer

„Entwicklung eines Werte- und Normsystems und eines ethischen und politischen Bewusstseins“

446 vor allem in Bezug auf eine religiöse Orientierung haben. Die Thematisierung

von Religion und Religiosität haben, wie mehrfach in dieser Abhandlung erwähnt, in der

Migrationsforschung eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Allein seit der Publikation

der Studie Verlockender Fundamentalismus wurden zahlreiche qualitative und quantitative

Studien initiiert, um die Religiosität und die religiöse Praxis zu ermitteln. Die Möglichkeit

zur Erfassung der Kategorie ‚Religiosität‘ oder ‚spiritueller Erfahrungen‘ ist nicht unumstritten.

447 So wurden in der Diskussion um die Erfassung von Religiosität verschiedene

Ansätze, wie die von den Forschern Charles Glock, Rodney Stark, Ninian Smart oder Ursula

Boos-Nünning, jeweils konzipiert oder weiterentwickelt, die dieses Forschungsziel anhand

unterschiedlicher Dimensionen – mit unterschiedlicher Akzentuierung, Weglassung oder

Erweiterung – ideologisch, ritualistisch, intellektuell, Erfahrung, Gemeindebindung –,

operationalisieren wollten. 448 Insgesamt handelt es sich jedoch immer um die subjektive

Selbsteinschätzung seitens der Befragten.

Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Fragestellung zeigen zahlreiche Forschungen,

wie etwa die Shell-Jugendstudie, dass die subjektiven Angaben zur Religiosität bei

muslimischen Jugendlichen hoch ausfallen. 449 Ebenso in der Studie Muslimisches Leben in

Deutschland, in der etwa 36 % angeben, stark gläubig zu sein, und weitere 50 % beschreiben

sich als eher gläubig. Zudem sei die hohe Religiosität vor allem für aus der Türkei kommende

Muslime charakteristisch. 450 Nimmt man eine Gesamtauswertung dieser Studien vor, kann

man mit Sicherheit ein positives Verhältnis der jungen Menschen zum Islam, unabhängig

von einem eher säkularen, hedonistischen oder konservativen Lebensstil und von der

alltäglichen religiösen Praxis, ableiten. Religion scheint vor allem als „Identitätsanker“ in

seiner Orientierungsfunktion zu fungieren. Diese Identifikation kann religiös motiviert

oder symbolisch sein; in jedem Fall könnte der oben skizzierten negative Diskurs über den

Islam und die muslimischen Jugendlichen für eine Funktionalisierung ausreichen, um die

446 Hurrelmann, Lebensphase Jugend, S. 27

447 Vgl. Norbert Ammermann, Religiosität und Kontingenzbewältigung. Empirische und konstrukttheoretische

Umsetzungen für Religionspädagogik und Seelsorge, Münster 2000, S. 346

ff.

448 Vgl. Klaus Hock, Einführung in die Religionswissenschaft, S. 19

449 Mathias Albert/Klaus Hurrelmann/Gudrun Quenzel, Jugend 2010. 16. Shell-Jugendstudie: Eine

pragmatische Generation behauptet sich, Frankfurt/Main 2010

450 Die Studie Muslimisches Leben in Deutschland erhebt nicht nur eigene Daten, sondern gibt

zudem einen bewertenden Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu Muslimen und

zur Religiosität der Muslime auf der Basis der Studien in den 2000er-Jahren (vgl. Haug/Müssig/

Stichs: Muslimisches Leben in Deutschland, S. 24 ff. und S. 134 ff.).


2 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen einer religiösen Erziehung 161

eigene Identität zu stärken und somit einen Einfluss auf das eigene Werte- und Normsystem

sowie auf die ethische und politische Orientierung nehmen. Eine entsprechende Möglichkeit

zur systematischen, strukturierten sowie reflektierten Glaubensaneignung oder -auseinandersetzung

ist vor dem Hintergrund der besonderen Situation dieser Zielgruppe sowohl

in Gemeinden als auch an Schulen förderlich. Dies könnte jungen Menschen zur Fähigkeit

verhelfen, zum einen verantwortungsvoll und bewusst mit dieser Identität umzugehen,

zum anderen jedoch eine kontraproduktive Funktionalisierung verhindern.


Lernort ‚Gemeinde‘:

Historische Grundlagen und gegenwärtige

Praxis in Deutschland hinsichtlich einer

islamischen Katechese

3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis

3

Die Gesamtdarstellung relevanter gesellschaftlicher Entwicklungen sowie die Sozialisationsfelder

für muslimische Kinder und Jugendliche im Verlauf von Säkularisierungs- und

Individualisierungsprozessen und die religiöse Erziehung in Familien, Kindertagesstätten

sowie Schulen bilden die Rahmenbedingungen für die über 2300 Moscheegemeinden in

ihrer täglichen gemeindepädagogischen Arbeit. Als multifunktionale Zentren nehmen

diese Moscheegemeinden in der Diaspora zugleich zahlreiche profane und sakrale Aufgaben

wahr, die für Gotteshäuser – unabhängig von konfessionellen Unterschieden – ein

typisches Merkmal infolge der Integrationsanforderungen in der Fremde sind. 451 Die

Funktion der Moschee als Ort der Integration wird auch von muslimischen Vertretern

in der Öffentlichkeit offensiv und selbstbewusst kommuniziert, und gleichzeitig wird die

Anerkennung ihres gesellschaftlichen Beitrags untermauert. 452 Der weltliche und religiöse

Charakter dieser Gebetshäuser wird von Bärbel Beinhauer-Köhler und Claus Leggewie

durch die prägnante Beschreibung der Funktion und des Binnenlebens bereits im muslimischen

Herkunftskontext deutlich beschrieben:

„Nach islamisch-theologischer Deutung sind Moscheen nicht „heilig“ oder „geweiht“, ebenso

wenig wie etwa evangelische Kirchen. Moscheen sind Orte der gemeinschaftlichen und individuellen

Hinwendung zu Gott im Gebet oder der persönlichen Kontemplation. Sie stehen

gemeinhin diversen weiteren Aktivitäten offen und können sowohl als Vortragsraum als auch

als Übernachtungsgelegenheit dienen. Im Orient ist immer wieder zu erleben, dass Moscheen

für eine kleine Verschnaufpause beim Einkaufsbummel genutzt werden oder dass Kinder

dort lautstark Fangen spielen. Begründet ist dieses unkomplizierte Verhalten in bekannten

Überlieferungen über den Propheten. Dieser soll beispielweise ein Kind, das während seines

Gebets auf ihm herumturnte, jeweils abgesetzt haben, wenn er sich niederbeugte, und wieder

auf den Arm genommen haben, wenn er sich aufsetzte. Ein Aura des „Sakralen“, wie sie im

451 Rauf Ceylan, Ethnische Kolonien, S. 123 ff.

452 Vgl. Erol Pürlü, Moschee als Ort der Integration, in: Bülent Ucar (Hrsg.), Islam im europäischen

Kontext. Selbstwahrnehmungen und Außensichten, Frankfurt/M. 2013, S. 95 ff.

R. Ceylan, Cultural Time Lag, DOI 10.1007/978-3-658-06050-3_4,

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014


164 A Theoretischer Teil

Christentum über das andächtige Verhalten der Kirchenbesucher entsteht, ist in Moscheen

somit weniger zu erschließen.“ 453

In Deutschland kommt diesen Gotteshäusern seit den 1970er-Jahren neben alltäglichen

Gottesdiensten und soziokulturellen Funktionen vor allem eine Exklusivität hinsichtlich

der religiösen Unterweisungsangebote für muslimische Kinder und Jugendliche zu. Zwar

wurden bis heute die Teilnehmerzahlen an den Wochenenden sowie in den Schulferien nicht

quantitativ erfasst, doch kann man gegenwärtig bei über 2000 Gemeinden hierzulande von

einigen Tausend Schülern ausgehen. 454 Der Wochenendunterricht, der sich vom Vormittag

bis in den Nachmittag hineinzieht, wird von einem Imam mit der Unterstützung seiner

Frau oder einer hauptamtlichen Predigerin (für den Mädchen- und Frauenunterricht) und

dem ehrenamtlichen – religiösen Betreuungspersonal übernommen. Zu Letzterem zählen

weibliche und männliche Personen, die zwar über keine institutionellen Qualifikationen,

aber über ein ausreichendes Grundlagenwissen verfügen. 455 Die erste Untersuchung geht

auf Hasan Alacacioglu zurück, der 1999 die „Koranschulen“ 456 hinsichtlich ihrer Inhalte,

Ziele, Methoden sowie ihrer Einstellung zum Religionsunterricht untersuchte. 457 Seine

Dissertation bildet allerdings mehr eine Bestandsaufnahme denn eine wissenschaftliche

Studie, da die Untersuchung nicht auf einer theoretischen Konzeption im Sinne von

Ursache-Wirkungs-Beziehungen basiert. Vielmehr ist sie wie ein Gutachten konzipiert,

welches die unterschiedlichen Lehrpläne der türkisch-muslimischen Verbände miteinander

vergleicht. Des Weiteren liegt die Untersuchung nunmehr 15 Jahre zurück, sodass alle

nachfolgenden Entwicklungen in den 2000er-Jahren zum islamischen Religionsunterricht,

wie die zahlreichen Schulversuche in den einzelnen Bundesländern sowie die Etablierung

der Institute und Zentren für islamische Studien beziehungsweise Theologien, eine erneute

453 Bärbel Beinhauer-Köhler/Claus Leggewie, Moscheen in Deutschland. Religiöse Heimat und

gesellschaftliche Herausforderung, München 2009, S. 41; Hervorhebungen im Original.

454 Für Niedersachsen werden die Schülerzahlen im empirischen Teil anhand eigener quantitativer

Erhebungen ermittelt. Diese basieren zwar auf den Unterlagen der Moscheegemeinden, geben

jedoch eine erste Orientierungsgröße.

455 Zum Teil handelt es sich bei den Ehrenamtlichen um Absolventen religiöser Gymnasien, die als

Heiratsmigranten nach Deutschland eingereist sind, oder um in Deutschland geborene Kinder,

die von ihren Eltern für eine bestimmte Zeit zur religiösen Weiterbildung in das islamische

Herkunftsland gesendet wurden. Zu diesen Re-Migranten zählen auch Kinder und Jugendliche,

die wegen einer erhofften besseren Schulbildung im Herkunftskontext ihre Bildungskarriere

(nach der Grundschule) fortsetzten, um das deutsche Bildungssystem zu umgehen. Diese Entscheidung

der Eltern führt zu Brüchen in der Biografie, weil der erwartete Effekt einer besseren

(religiösen/weltlichen) Bildung nicht immer eintritt.

456 Dieser Begriff ist nicht korrekt, weil es sich beim Unterricht in den deutschen Moscheegemeinden

nicht um die klassische „Koranschule“ wie in islamisch geprägten Ländern handelt, wo

das Ziel nicht nur das Erlernen der Rezitation, sondern die Ausbildung zu einem Hafiz (Hüter

des Koran) ist. In der Regel erfordert die Erlangung dieses Titels eine jahrelange Ausbildung

in einem religiösen Internat.

457 Vgl. Hasan Alacacioglu, Außerschulischer Religionsunterricht für muslimische Kinder und

Jugendliche türkischer Nationalität in NRW. Eine empirische Studie zu Koranschulen in türkisch-muslimischen

Gemeinden, Münster 1999


3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis 165

Erhebung in den Moscheegemeinden erforderlich machen. Schließlich hatte diese Studie

zudem nur eine ethnisch-kulturelle Gruppierung, und zwar die türkischstämmigen

Muslime, im Blick.

Die zweite, weit kleinere Studie im Rahmen einer eigentlich diskursiv ausgelegten Arbeit

bildet die hierzu durchgeführte teilnehmende Beobachtung des Verfassers an Wochenenden

in Duisburger Moscheegemeinden und kann, da sie eine kleinere Reichweite hat, die

Studie von Alacacioglu insofern nur ergänzen, weil lediglich die Teilnehmerzahlen der

Moscheekatechese erhoben wurden. Diese zeigten bereits die Resonanz des Wochenendkurse

in Moscheen. 458 Eine weitere Arbeit des Verfassers setzt sich mit der Rolle und der

Funktion der Imame in Deutschland auseinander. Anhand von über 200 Gesprächen mit

türkischen Imamen in der Türkei im Rahmen von Weiterbildungsprogrammen sowie von

40 Tiefeninterviews mit Imamen in Deutschland wurden Typologien gebildet. In dieser

Pionierarbeit wurden erstmalig die religiöse Orientierung und die Einstellung dieser

Autoritäten sowie deren Alltag in den Moscheen beleuchtet. Das Fazit dieser Studie war

das Postulat des Verfassers, Imame nicht mehr aus dem Ausland zu importieren, sondern

hierzulande auszubilden; dieser Empfehlung lagen sprachliche, pädagogische und integrationspolitische

Begründungen zugrunde. 459

Schon in der frühislamischen Zeit übernahmen religiös kompetente Personen aus einem

Verantwortungsgefühl heraus – entweder in ihren eigenen Häusern oder in Gemeinden –

freiwillig diese Aufgabe. Aufgrund dieser Lehr- und Lerntradition übernahmen im Kontext

der Arbeitsmigration nach Deutschland – als hierzulande noch keine Imame tätig waren

– Gastarbeiter aus einem Pflichtgefühl heraus die religiöse Weiterbildung ihrer Landsleute

und die Organisation und die Leitung der Gottesdienste. 460 Die Weitergabe des Glaubens

in den Gemeinden ist inhaltlich nicht konsensual festgelegt und formuliert, wie etwa

beim Katechismus der Katholischen Kirche, den Papst Johannes Paul II. als einheitlichen

Bezugstext veröffentlichen ließ. Ebenso existieren keine internationalen katechetischen

Kongresse wie bei der katholischen Kirche, um über die Inhalte und Ziele zu diskutieren

und ein Kompendium für die Gläubigen zu erstellen. 461 Im Laufe der islamischen Lehrund

Lerngeschichte haben sich vielmehr die zentralen Inhalte der Glaubensweitergabe

etabliert, die in zahlreichen Schriften dokumentiert und als Tradition an außerfamiliären

Orten praktiziert wurden. Zwar gibt es keine zentrale Institution, die über die Inhalte

der Glaubensvermittlung entscheidet, doch hat sich ein kleinster gemeinsamer Nenner

herauskristallisiert.

458 Rauf Ceylan, Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen. Ein sozialwissenschaftlicher

Vergleich der Ausgangslage, Lehre und Ziele unter besonderer Berücksichtigung

der Auswirkungen auf den Integrationsprozess der muslimischen Kinder und Jugendlichen

in Deutschland, Hamburg 2008

459 Rauf Ceylan, Prediger des Islam. Imame – wer sie sind und was sie wirklich wollen, Freiburg

im Breisgau 2010

460 Vgl. a. a. O., S. 52 ff.

461 Vgl. Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.): Katechismus der Katholischen Kirche, München

2005, S. 15 f.


166 A Theoretischer Teil

3.1 Religiöses Lehren und Lernen in außerfamiliären

Institutionen in der islamischen Historie

3.1 Religiöses Lehren und Lernen in außerfamiliären Institutionen

Bereits in der Gründungs- und Formierungsphase der frühislamischen Gemeinde nahm

das erste Gotteshaus in Medina (gegründet ca. 622) eine zentrale Funktion in der religiösen

Weiterbildung ein. Dabei hat sich zugleich eine muslimische Katechese entwickelt, die bis

heute in den Moscheegemeinden im Wesentlichen beibehalten wurde. Dazu John L. Esposito:

„Mosques provides two types of religious education: ta‘līm, or instructions in the Qur’an,

hadith, and sometimes law; and tarbiyah, or the buildung of a moral personality. Historically,

scripture and law were taught by individual shayks, jurists, or ulama (religious scholars) to

students assembled in circles around them according to their own choice. […] For the urban

upper classes and the ulama, mosque education provided access to important positions in the

judiciary, state administration, and religious education. […] In modern times mosques have

continued to serve as centers of religious instruction, inquiry, discussion, and debate, but

religious education on the higher levels has been transferred to modern Islamic universities,

institutes, and faculties of Islamic religious studies and schariah.“ 462

In diesem Zitat werden bereits die beiden zentralen Begriffe – ta‘līm und tarbiyya – der

religiösen Glaubensvermittlung in Moscheegemeinden aufgegriffen. Während also im

Laufe der islamischen Geschichte die höhere religiöse Bildung außerhalb der Moscheen

institutionalisiert wurde, sollte die ta‘līm als Einführung in den Koran sowie in die Glaubensgrundlagen

und die tarbiyah zur Entfaltung einer ethisch-moralischen, islamkonformen

Lebensweise in den Gemeinden beitragen. Diese handlungsbestimmenden ethischen und

moralischen Grundsätze sowie die ihnen diametral entgegengesetzten Beispiel werden

in der Regel primär aus dem Koran abgeleitet, um sie für den Alltag der Kinder und Jugendlichen

fruchtbar zu machen. Da der Prophet Muhammad als Verkünder des Koran

sowie als Modellperson im Hinblick auf die Praxis der ethisch-moralischen Vorgaben

fungiert, wird zugleich seine Biografie in der Glaubensweitergabe mitberücksichtigt. 463

Die Glaubensvermittlung ist zwar nicht auf die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen

beschränkt, allerdings sollte, wie bereits dargestellt, die Förderung des Glaubens und seiner

Praxis schon im Kindesalter beginnen. In diesem Kontext kann man die Definition und

Ziele der Moscheekatechese folgendermaßen formulieren:

Moscheekatechese als mündliche wie schriftliche Vermittlung der islamischen Botschaft

in Gemeinden soll – auf der Grundlage der taqwā (Gottesbewusstsein) und der waḥiy (als

Gottesbeziehung durch den Koran) – zur Internalisierung der Glaubensartikel und zur

Praktizierung derselben verhelfen und eine ethische Lebensführung sowie Integration

in die umma (muslimische Gemeinschaft) als Trägerin der abrahamischen Tradition des

tawḥīd fördern, um das Heil im ahirat (Jenseits) zu erlangen. Ihre Methoden sind das

462 John L. Esposito, The Oxford Dictionary of Islam, Oxford/New York 2003, S. 207 f.

463 Vgl. Bülent Ucar/Yasar Sarikaya, Moralisches Handeln aus der Perspektive des Koran, in:

Bülent Ucar/Ismail Yavuzcan (Hrsg.), Die islamischen Wissenschaften aus Sicht muslimischer

Theologen. Quellen, ihre Erfassung und neue Zugänge im Kontext kultureller Differenzen,

Frankfurt/M. 2010, S. 51 ff.


3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis 167

Memorieren, das Rezitieren und die Praxisanleitung. Ihre Lehrpersonen sind Imame,

Predigerinnen sowie das ehrenamtliche Betreuungspersonal.

Während etwa in der katholischen Kirche eine sehr ausdifferenzierte Katechese, wie

die Familienkatechese, die Sakramentenkatechese oder die Erwachsenenkatechese, existiert,

beschränkt sich die „muslimische Katechese“ primär auf die religiöse Unterweisung

anhand traditioneller Lehrmittel und Lerninhalte in der Gemeinde. Zudem wurde und

werden die Moscheekatechese in islamisch geprägten Ländern nicht als Ergänzung zum

schulischen Religionsunterricht verstanden, sondern je nach dem Bildungsniveau der

Familien eher zur Ergänzung der religiösen Erziehung in der Familie oder stellvertretend

dafür. Bevor jedoch eine systematische Auseinandersetzung mit den konkreten Inhalten

und Materialien der Moscheekatechese sowie den Erziehungsmethoden stattfindet,

werden zunächst ihre historischen Wurzeln und ihre Entwicklungen skizziert, die ihren

Anfang in Privaträumen mit der Verkündung des Islam im 7. Jahrhundert auf der arabischen

Halbinsel haben. Die Urform und die Grundlagen einer „islamischen Katechese“

in ihren Inhalten und Zielen wurden bereits in den islamischen Primärquellen gelegt.

Explizite Zeugnisse mit katechetischer Relevanz finden sich sowohl im Koran als auch in

den ḥadīṭen, den Aussprüchen des Propheten Muhammad. Die Häufigkeit der Gebete, die

Gebetszeiten, die Regelungen für die rituellen Waschungen, die Rahmenbedingungen für

das Fasten usw. sind im Koran genannt, vom Propheten Muhammad vorgelebt und von

seinen Gefährten sowie von nachfolgenden Gelehrten dokumentiert, systematisiert und

elementarisiert, ebenso seine Predigten (Struktur und Inhalte), seine Bittgebete sowie die

Anleitungen für eine ethische Lebensführung und des Weiteren seine Hinweise auf die

ästhetische Dimension des Glaubens.

3.1.1 „Dār al-Arqam“: Beginn der islamischen Botschaft und religiöses

Lernen im Haus des Gefährten Al-Arqam

Nach muslimischem Verständnis beginnt die islamische Offenbarung an Muhammad

in der Höhle Hīra in Mekka im Jahre 610 n. Chr. Muhammad – der seinen Stammbaum

auf den Patriarchen Abraham zurückführte – fühlte sich zur Verkündung der Botschaft

des Monotheismus seines Vorfahren berufen, der den Mekkanern nicht völlig fremd war,

denn in deren historisch-kollektivem Gedächtnis spielte der Bericht im Buch Mose über die

Geschichte von Ismael als Erstgeborenem und seine Ansiedlung als Kleinkind mit seiner

Mutter Hagar eine wichtige Rolle. Demnach hinterließ Abraham seine Familie im dürren,

unbewohnten Tal von Mekka 464 , sodass sich Mutter und Kind mit einer lebensbedrohlichen

Situation infolge von Wasser- und Nahrungsnot konfrontiert sahen. Aus der Erzählung

des Alten Testamentes und auch aus außerkoranischen Überlieferungen geht hervor, dass

am Fußende von Ismael eine Wasserquelle entsprang, sie davon tranken und somit ihre

464 Für Muslime handelt es sich bei der im Alten Testament erwähnten Wüste ‚Beerscheba‘ um

die Landschaft ‚Mekka‘.


168 A Theoretischer Teil

Not gelindert wurde. Dieser Lebensspender sollte als Brunnen zamzam 465 die Nomaden

aus fernen Gebieten zur Ansiedlung im Tal von Mekka veranlassen und sukzessiv dessen

Entwicklung zum Handelszentrum im ḥiğāz forcieren.

Wie Martin Lings in seiner Biografie des islamischen Propheten Muhammad darstellt,

bricht im Alten Testament die Erzählung über Ismael mit einem letzten Hinweis über sein

weiteres Verbleiben in dieser Wüstenlandschaft, seine Fertigkeiten als Schütze sowie mit

der Erwähnung der Heirat Esaus mit Ismaels Tochter Base abrupt ab. Nach Lings ist dieser

Schnitt damit zu erklären, dass die Genesis das Leben des zweitgeborenen Isaak sowie

dessen Nachkommen im Fokus hat. Ismaels Geschichte dagegen sollte in einem anderen

Buch, dem Koran, aufgegriffen und weitererzählt werden. Demnach pflegte Abraham

seine Beziehung zu Ismael und besuchte ihn regelmäßig. Während dieser Aufenthalte in

Mekka sollen schließlich Abraham und sein Sohn Ismael Gottes Auftrag erhalten haben,

neben den Zamzam-Brunnen einen Tempel, die Ka‘ba, zu errichten und die Pilgerfahrt

auszurufen. 466 So berichtet der Koran in den Versen 125–129 der al-Baqara:

„Und Siehe! Wir machten den Tempel zu einem Ziel, zu dem die Leute sich wieder und

wieder begeben mögen, und zu einer heiligen Zufluchtsstätte: nehmt denn die Stätte, auf der

Abraham einst stand, als eure Gebetsstätte.

Und also befahlen Wir Abraham und Ismael: „Reinigt Meinen Tempel für jene, die ihn umschreiten

werden, und jene, die nahe ihm in Andacht verweilen werden, und jene, die sich (im

Gebet) verbeugen und niederwerfen werden.“ Und, siehe, Abraham betete: „O mein Erhalter!

Mache dies zu einem sicheren Land und gewähre seinen Leuten fruchtbare Versorgung –

solchen von ihnen, die an Gott und den Letzten Tag glauben.“ […] Und als Abraham und

Ismael die Grundmauern des Tempels errichteten, (beteten sie:) „Oh unser Erhalter! Nimm

Du dies von uns an: denn wahrlich, Du allein bis allhörend, allwissend! Oh unser Erhalter!

Mache, daß wir uns Dir ergeben, und mache aus unseren Nachkommen eine Gemeinschaft,

die sich Dir ergeben wird, und zeige unsere Weisen der Anbetung, und nimm unsere Reue

an: denn, wahrlich, Du allein bist der Reueannehmende, der Gnadenspender! O unser Erhalter!

Erhebe aus der Mitte unserer Nachkommen einen Gesandten von ihnen selbst, der

ihnen Deine Botschaften übermitteln und sie Offenbarung und Weisheit lehren und sie an

Reinheit wachsen lassen wird: denn, wahrlich, Du allein bist allmächtig, wahrhaft weise!“ 467

Viele Jahrhunderte später wurde nach muslimischer Überzeugung – infolge dieses Bittgebets

von Abraham – der arabische Prophet Muhammad gesandt. Dieser fühlte sich berufen,

Abrahams Ur-Monotheismus zu restaurieren, da über die Zeit hinweg der polytheistische

Kult Eingang in die mekkanische Gesellschaft gefunden und die Ka‘ba ihre ursprüngliche

Funktion als Tempel des einen Gottes verloren hatte. Muhammads Wirken erstreckt

sich dabei über einen Zeitraum von 23 Jahren, wobei zwischen einer mekkanischen und

465 Bis heute bringen Pilger bei der Rückkehr aus Mekka als Souvenir Wasser aus dem Brunnen

Zamzam mit, um die Erinnerung an Hagars und Ismaels Situation lebendig zu erhalten. Daher

wird im Rahmen der gemeinsamen Einnahme des als heilig geltenden Wassers mit den eigenen

Kindern dieser Bericht nacherzählt.

466 Vgl. Martin Lings, Muhammad. Sein Leben nach den frühsten Quellen, Kandern im Schwarzwald

2008, S. 11 ff.

467 Muhammad Asad, Die Botschaft des Koran, Düsseldorf 2009, S. 56 f.


3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis 169

medinensischen Periode unterschieden wird. Muhammads 13-jährige Mission in Mekka

ist gekennzeichnet von einer starken Apathie der mekkanischen Machthaber sowie von

Repressalien gegen die junge abrahamitische Gemeinde, deren Anhänger sich überwiegend

aus jungen sowie sozial benachteiligten Schichten rekrutierten. Die Botschaft des Koran

in dieser Phase akzentuiert vor allem die Einheit Gottes, den Glauben an das Jenseits

und das Jüngste Gericht; zudem wird eine offene Kritik an der Verteilungsgerechtigkeit

geübt. Da die öffentliche Praktizierung islamischer Rituale mit Gefahren verbunden war,

beschränkten sich die Kommunikation und die Praxis auf die Wohnräume der Gefährten

Muhammads. 468

Der erste Raum, der als Treffpunkt für das Erlernen des Koran sowie der gottesdienstlichen

Rituale diente, war das Haus des Gefährten Al-Arqam ibn Abi’l-Arqam. Aufgrund

seiner historischen Bedeutung dient es bis heute nicht nur als Namensgeber für zahlreiche

muslimische Bildungsinstitutionen, sondern fungiert auch als Inspirationsquelle für religiöse

Bildungsbewegungen. William Montgomery Watt gibt in der Biografie Mohammad:

Prophet and Statesman mit dem Hinweis auf den dogmatischen Charakter der historischen

Überlieferungen an, dass es sich bei Al-Arqam wohl um einen jungen und wohlhabenden

Gefährten handelte, dessen Haus sich in der Nähe der Ka‘ba befand. Etwa ab 614 n. Chr.

soll Muhammad dieses Haus als Zentrum seiner Predigten gewählt haben. Bis dato waren

in seiner vierjährigen Verkündungszeit etwa 39 Mekkaner zum Islam übergetreten, die in

diesem Haus in die aktuellen Koran-Offenbarungen eingeweiht wurden und gemeinsam

die obligatorischen Gottesdienste praktizierten. 469 Aufgrund der als Sicherheitsmaßnahme

nicht-öffentlichen Verkündung des Islam nahm das Dār al-Arqam in den ersten Jahren als

sicherer Lehr- und Lernort einen wichtigen Platz für die junge muslimische Gemeinde ein.

Nach muslimischen Überlieferungen hatte Al-Arqam ibn Abi’l-Arqam seine Bekehrung

zum Islam vor den Mekkanern verheimlicht, sodass man gegenüber seinen häufigen muslimischen

Besuchen keinen Verdacht schöpfen konnte. 470 Eine Reihe der engen Gefährten

Muhammads, wie der spätere zweite Kalif ‘Umar, nahmen zudem in diesem Haus den

Islam an. 471 Aus den historischen Szenen wurde zugleich der muslimischen Nachwelt der

Prozess der Konversion dokumentiert, die heute noch in ähnlicher Form ohne eine zeitlich

festgelegte Einführungs- und Vorbereitungsphase erfolgt. Umar wurde als einer der

größten Widersacher des Islam ohne große Zeremonien lediglich durch sein mündliches

Bekenntnis zum einen Gott und durch die Anerkennung Muhammads als Gesandten somit

vom „Saulus zum Paulus“. Von Beginn an gab es also keine spezielle Lehre im Sinne eines

altkirchlichen Katechumenats.

Mit dem Hinweis auf die gegenwärtige Rezitationslehre in der Moscheekatechese kann

aus dieser Phase bereits abgeleitet werden, dass aktuelle Offenbarungen des Koran-Textes

– der seit dem Abschluss der Verkündung im Jahre 632 n. Chr. etwa 6236 Verse umfasst

468 Vgl. Marshall G.S. Hodgson, The Venture of Islam. Volume 1: The Classical Age of Islam, Chicago

1977, S. 158ff.

469 Vgl. William Montgomery Watt, Muhammad: Prophet and Statesman, Oxford/London 1974,

S. 56 f.

470 Vgl. Ali Muhammad As Sallaabee, The Noble Life of the Prophet, Riyadh 2005, S. 175 f.

471 Vgl. Muhammad Ibn Ishaq, Das Leben des Propheten, Kandern im Schwarzwald, S. 71 ff.


170 A Theoretischer Teil

– unter Aufsicht Muhammads von seinen Gefährten memoriert wurden. Da der Koran

als auditiver Wortempfang Muhammads verstanden wurde, der durch eine ästhetische

Rezitation in der oralen Kultur der arabischen Halbinsel mündlich verkündet werden

sollte, wurde der Methode des Auswendiglernens bis in die Gegenwart hinein eine wichtige

Rolle beigemessen. Parallel dazu haben die persönlichen Schreiber Muhammads als

Gedächtnisstütze die Verse auf diversen Materialien schriftlich fixiert. Diese lagen in Form

von losen Blättersammlungen vor, sodass sie zu den ersten historischen Materialien einer

muslimischen Glaubensunterweisung zählen. Durch das Auswendiglernen des Koran seitens

sowohl männlicher als auch weiblicher Gefährten hatte man also bereits von Beginn an

Zugang zum Inhalt des heiligen Textes. Ein Grund für die Verbreitung des Textes in der

Bevölkerung hing mit der religiösen Verpflichtung zusammen, in den gottesdienstlichen

Handlungen Teile aus dem Koran zu rezitieren. Ein anderer Grund war die Nutzung der

Verse für die da’wa.

3.1.2 „Ṣuffa“: Bedeutung der Moscheen als Vorbild für die

außerfamiliäre religiöse Bildung am Beispiel des ersten

katechetischen Zentrums in Medina

Die Lern- und Verkündungsbedingungen in Mekka kann man mit der Situation im frühgeschichtlichen

Christentum bis zum Mailänder Toleranzedikt im Jahre 313 vergleichen,

auch wenn die Verfolgungen nicht die gleichen Ausmaße hatten und es sich um eine zeitlich

kürzere Phase handelte. Mit der Konstantinischen Wende wurde die Religionsfreiheit im

ganzen Reich gewährt, sodass sich der Status des Christentums von einer verfolgten zu

einer geduldeten Religion änderte, die mit dem Dekret des oströmischen Kaisers Theodosius

I. im Jahr 380 zur Staatsreligion erhoben wurde. Fortan konnten die Christen ihre

Lehren frei verkünden, ihre Theologie im Disput weiterentwickeln und systematisieren,

wie etwa in den Fragen der Christologie. 472 Nach Bjarne Hareide kam es mit der quantitativen

Zunahme der christlichen Kirche ebenso zu Erweiterungen und Verschiebungen in

der Katechese, indem „liturgisch-sakramentale Handlungen“ wichtiger wurden und die

„Kinderlehre“ an die Eltern und Paten delegierte. 473

Diese Freiheit sollte den Muslimen im 7. Jahrhundert die Migration – als muslimischer

Exodus – zumindest in die Grenzen der „Stadt des Propheten“ bringen. Aufgrund der sich

verstärkenden physischen und psychischen Gewalt, der die ersten Muslime in Mekka ausgesetzt

waren, wurde die letzte Eskalationsstufe auch infolge eines Mordkomplotts gegen

Muhammad erreicht, sodass die Muslime im Jahre 622 n. Chr. in Gruppen in die etwa

400 km entferne Oasenstadt Medina auswanderten. Aufgrund der Willkommenskultur

und der Sympathien mit den Muslimen – da ein Teil der Bevölkerung schon zum Islam

konvertiert war – begann dort das Gemeindeleben mit der Gründung einer Zentralmo-

472 Vgl. Küng, Das Christentum, S. 218 ff.

473 Vgl. Bjarne Hareide, Die Konfirmation in der Reformationszeit. Eine Untersuchung der lutherischen

Konfirmation in Deutschland 1520–1585, Göttingen 1971, S. 56 f.


3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis 171

schee. 474 Das Gotteshaus in Medina nahm fortan nicht nur die Funktion eines sakralen

Ortes zur Erfüllung der religiösen Bedürfnisse ein, sondern fungierte durch einen weiteren

Aus- und Anbau auch als Lehr- und Lernstätte. In den historischen Quellen wird dieser

als ṣuffa bezeichnete Anbau an die Moschee als ein Ort überliefert, wo Muhammad die

Gefährten in religiösen Themen unterwies. Muhammad Hamidullah zählt zu den wenigen

muslimischen Theologen der Neuzeit, die sich mit der Entstehung einer weltlich-religiösen

Bildung sowie der Rolle Muhammads als Lehrer der frühislamischen Gemeinde intensiv

auseinandersetzten. Dieses Bild von der Funktion der ṣuffa hat das Verständnis von muslimischen

Bildungseinrichtungen bis heute geprägt. Hamidullah geht sogar so weit, die

ṣuffa als „erste Universität“ in der islamischen Geschichte zu bezeichnen. Im Folgenden

werden in Anlehnung an Hamidullah die Funktion der ṣuffa zusammengefasst dargestellt:

Muhammad als Lehrer: Es wird überliefert, dass der islamische Prophet persönlich als

Hauptlehrkraft in der ṣuffa unterrichtete. In diesem Zusammenhang verweist Hamidullah

auf eine Überlieferung des Gelehrten Ibn Mace, in der Muhammad über sich

gesagt haben soll: „Gott hat mich als einen mu’allim (Lehrer) gesandt“.

Einstellung von Lehrkräften: Muhammad wählte persönlich weitere kompetente Lehrer

aus dem Umfeld seiner Anhänger nach dem Kriterium religiöser und weltlicher Bildung

aus, die ihn in der islamischen Unterweisung unterstützten.

Weltliche Bildung: Insbesondere wurden in der ṣuffa Alphabetisierungskurse angeboten,

da ein Großteil der Araber nicht lesen und schreiben konnte. Die Alphabetisierung war

für Muhammad sogar so wichtig, dass er die gefangen genommenen Mekkaner – die

trotz der Auswanderung nach Medina die Muslime weiterhin bekämpften – unter der

Bedingung, zehn Muslimen das Lesen und Schreiben zu lehren, in die Freiheit entließ. 475

Da’wa: Ein auserwählter Kreis wurde zum Verkünder der neuen Religion ausgebildet

und in verschiedene Regionen gesandt.

Spezielle Koran-Lehre: Die offenbarten Koran-Texte wurden neben den allgemeinen

Grundlagen der Religion gesondert behandelt. Sie wurden memoriert, und zugleich

lernte man dort die ästhetische Rezitation des Textes. Hier wurden die Grundlagen für

die Wissenschaft der Koran-Rezitation, ilm al-qirā’a , gelegt. 476

Auslegung und Umsetzung des Koran: Der aktuelle Koran-Text wurde von Muhammad

nach Themen geordnet und für die Gefährten interpretiert. Hamidullah erkennt in

dieser Form der systematischen Auseinandersetzung mit dem Koran bereits Ansätze

einer islamischen Theologie.

474 Vgl. Charles Le Gai Eaton, Der Islam und die Bestimmung des Menschen, 3. Auflage, Kreuzlingen/München

2000, S. 208 ff.

475 Da der Koran in arabischer Sprache offenbart wurde und zugleich die Kanonisierung und

Entwicklung der Grammatik des Hocharabischen prägte, bedeutete die Hinführung zu ihm

zugleich die Vermittlung der Lese- und Schreibfähigkeit.

476 Die Koran-Rezitation stellt eine eigene Wissenschaft innerhalb der islamischen Theologie dar,

die unterschiedliche Rezitationsschulen hervorbrachte. Dies hat auch damit zu tun, dass der

Koran nach unterschiedlichen Dialekten – weil die Vokalisierung im Druck erst später erfolgte

– rezitiert wurde. Die Mehrheit der Koran-Wissenschaftler geht von sieben Lesarten des Textes

(al-aḥruf as-sab‘a) aus.


172 A Theoretischer Teil

Schülerwohnheim: Historische Überlieferungen sprechen davon, dass neben Reisenden,

die sich als Schüler temporär dort aufhielten, auch Muslime aus Medina zu diesem Kreis

der Lernenden zählten. Insbesondere Mittellose konnten die ṣuffa zugleich als Lern- und

Schlafstätte nutzen, wobei die materielle Versorgung dieser Schüler von wohlhabenden

Muslimen übernommen wurde. 477

Wie Mustafa Öcal in seiner historischen Analyse hierzu aufzeigt, hat sich die religiöse

Erziehung und Bildung insbesondere dem Erlernen des Koran gewidmet. Das Erlernen der

oben erwähnten qirā’a des Koran sowie das Memorieren des Gesamttextes wurde jeweils mit

dem Titel qurrā’ und hafiz abgeschlossen. Dadurch erhielt man die iğāza (Lehrerlaubnis),

um diese Tradition institutionell wie auch privat weiter zu vermitteln. Nach dem Vorbild

der Koran-Lehre in der ṣuffa wurde die religiöse Erziehung in Form der ersten, räumlich

von der Moschee unabhängigen Mah˘

rama Ibn Nawfal in Medina weitergeführt, um primär

die verschiedenen Lesarten des Koran gemäß den unterschiedlichen Dialekten zu erlernen.

Öcal weist darauf hin, dass das elementare, traditionelle Bildungsziel zum Erlernen des

heiligen Textes in der islamischen Geschichte neben den Moscheen in eigenständigen

Einrichtungen 478 , wie dār al-Qur’ān und dār al-Ḥuffāẓ, ununterbrochen weitergeführt

wurde. 479 Bis zur Gründung der bekannten Madrasa, der islamischen Bildungsinstitutionen,

die ab dem 11. Jahrhundert sowohl eine sakrale als auch eine profane Funktion

einnahmen, hatten nach Ziya Kazici folgende Einrichtungen und Institutionen neben der

Familie und der Privatwohnungen eine zentrale Rolle in der religiösen Bildung ein, die

primär mündlich erfolgte: 480

kuttāb (in Form von ḥalaqāt (Lese-/Lernzirkel) wurden Kinder im Grundschulalter

von Lehrern oder Imamen und ihren Frauen unterwiesen),

Moscheen (neben der traditionellen Koran-Lehre auch hadīṭe, islamische Normenlehre,

systematische Theologie, aber auch Philosophie),

besondere Bildung für auserwählte Schüler an Höfen oder Residenzen (die Zielgruppe

waren Kinder, die in Zukunft bestimmte politische oder religiöse Ämter bekleiden sollten),

Unterricht in Buchhandlungen (diese konnten als Treffpunkte für Lese-/Lernzirkel

fungieren, in denen auch Persönlichkeiten Vorträge und Vorlesungen hielten),

Häuser von Gelehrten (nach Kazici trugen diese komplementären Lehrveranstaltungen

in den Häusern religiöser Gelehrten wesentlich zur Verbreitung des Wissens in der

islamischen Welt bei),

477 Vgl. Muhammad Hamidullah, Islam Peygamberi. Hayati ve Faaliyeti, Istanbul 1993, S. 758 ff.

478 Die Hygienefrage aufgrund der vielen Kinder, förderten u. a. diese von den Moscheen räumlich

unabhängigen Bildungsinstitutionen (vgl. Cahid Baltaci, XV-XVI asirlar Osmanli medreseleri:

teskilat, tarih, Istanbul 1976, S. 4).

479 Vgl. Mustafa Öcal, Türkiye’de Egitim ve Ögretiminde Görülen Gelismeler ve Bir Icazetname

Örnegi, in: Uludağ Ü. İlahiyat Fakültesi Dergisi, Cilt: 13, Sayı: 2, Bursa 2004, S. 83 ff.

480 Vgl. Ziya Kazici, Islam Egitim Tarihi, Istanbul 1995, S. 19ff.


3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis 173

Literatursalons und Debattierrunden (traditionelle Versammlungen in der Gegenwart

des Sultans, in der über religiöse Fragen wie zur Koran-Exegese diskutiert wurde und

die zugleich Karrieremöglichkeiten für vortragende Gelehrten boten),

ba’diya (als letzten Lernort gibt Kazici die Wüste 481 an, und zwar für Kinder und Erwachsene,

um sich die arabische Sprache vorrangig durch die Beduinen anzueignen,

deren Sprache im Vergleich zu den Stadtbewohnern als „ordentlicher und „reiner“ galt). 482

3.1.3 Waḥiy 483 und hadīṭ: Gotteswort und Prophetentradition als

Quellen einer islamischen Katechese

Aus dem Koran kann man bereits zentrale Inhalte einer islamischen Katechese, wie Glaubensbedingungen,

Glaubenspraxis und Gottesdienst sowie die ethische Lebensführung,

ableiten. Während Muhammad unter den Gefährten weilte, konnte er bei diesen Themen

als Interpret Klarheit und einen Konsens in der muslimischen Gemeinde schaffen. So ist

im Vers 21 der 33. über seine Vorbildfunktion zu lesen:

„Wahrlich, im Gesandten Gottes habt ihr ein gutes Beispiel für jeden, der (mit Hoffnung und

Ehrfurcht) dem Letzten Tag entgegensieht und unaufhörlich Gottes gedenkt.“

Durch Begegnungen, Gespräche und direkte Erfahrungen mit Muhammad sowie parallel

zur Institutionalisierung des Islam mit den Moscheegründungen im Stadtstaat von Medina

wurden die Grundlagen für die spätere muslimische Katechese gelegt. Eine religiöse

Autorität waren auch die nachfolgenden Kalifen, da sie ebenfalls in religiösen Fragen

konsultiert wurden. Insbesondere die ersten vier Kalifen sollten als die Rechtgeleiteten

(hulafā‘ ar-rašidūn) in das historisch-kollektive Gedächtnis der Muslime Eingang finden.

In ihre Zeit fällt auch die Sammlung und Kanonisierung des Koran als erste Quelle einer

religiösen Unterweisung. Der Koran selbst kann dabei in folgende, übergeordnete zent-

481 Noch im 20. Jahrhundert ist von einem der bekanntesten europäischen Islamgelehrten, Muhammad

Asad, in seiner Einleitung zu seiner Exegese vor dem Hintergrund seines langjährigen

Aufenthaltes bei den Beduinen der arabischen Halbinsel zu lesen, dass allein ein akademisches

Studium zur Durchdringung der Sprache des Koran nicht ausreiche. Denn: „Es war die Sprache

der arabischen Halbinsel: die Sprache eines Volkes, versehen mit jener besonderen Schlagfertigkeit,

welche die Wüste und ihr Gefühl von weiter, zeitloser Ausdehnung ihren Kindern erteilt:

die Sprache von Menschen, deren geistige Bilder mühelos von Assoziationen zu Assoziation

fließen, einander in raschem Fortschreiten folgen und oft intermediäre – sozusagen ‚sich von

selbst verstehende‘ – Gedankenfolgen elliptisch überspringen hin zu der Idee, die sie zu empfangen

oder auszudrücken anstreben. Diese Elliptik (von den arabischen Philologen idschaz

genannt) ist ein integrales Merkmal des arabischen Idioms und daher der Sprache des Qur’an

– in einem solchen Maß, daß es unmöglich ist, seine Methode und seine innere Bedeutung

zu verstehen, ohne selbst fähig zu sein, in sich selbst instinktiv etwas von derselben Qualität

elliptischen, assoziativen Denkens zu reproduzieren.“ (Muhammad Asad, Die Botschaft des

Koran, S. 13)

482 Vgl. zu der folgenden Ausführung: Kazici, Islam Egitim Tarihi, S. 19 ff.

483 Arab.: Offenbarung


174 A Theoretischer Teil

rale Themenschwerpunkte eingeteilt werden: Moral, Ethik, Familie(nleben), Gott, Gottes

Eigenschaften, andere Religionen (wahre und unwahre Pfade), Gottesdienst, Fragen der

Wirtschaft und wirtschaftliche Beziehungen, Wissen, Vernunft, Kontemplation, Lehre/

Ermahnungen, über die Natur des Menschen und das soziale Leben, Naturphänomene/

Kosmologie, über den Koran selbst, vorkoranische, göttliche Offenbarungen, über den

Glauben, Tod und Jenseits, über Muhammad, biblische Propheten und ihre Völker,

Kriegsethik und gesellschaftliche Ordnung. 484

Hans Küng zeigt in diesem Kontext, dass im urislamischen Gemeindeparadigma sowie

im arabischen Reichsparadigma zunächst keine theologische Orthodoxie festzustellen

ist. In den ersten Jahrzehnten (bis 661 n. Chr.) seien nur „Ansätze zu einer Theologie“ zu

verzeichnen, jedoch kristallisierten sich bereits in der zweiten Epoche (bis 750 n. Chr.)

„explizite und unter sich recht verschiedene Theologien“ heraus, allerdings ohne einen

Anspruch der jeweiligen Denkansätze, sich in Abgrenzung zu anderen als allgemeine

Orientierungsgröße oder als die Orthodoxie auszugeben. Im Gegensatz zu Abgrenzungsprozessen

und zur Identifikationsbildungen im urislamischen Gemeindeparadigma, die

eher in der Auseinandersetzung mit Juden, Christen und anderen religiösen Strömungen

erfolgten, seien jedoch in der zweiten Paradigma-Epoche schon theologisch begründete

Demarkationslinien innerhalb der Muslime identifizierbar. 485 Mit dem Übergang zum

klassisch-islamischen Weltreligionsparadigma (750–1258 n. Chr.) – der Expansion des

islamischen Reichs und dem Aufstieg des Islam zur Weltreligion und Universalität – kommt

es nach Küng zu folgenden Entwicklungen:

„• zur Ausgestaltung der spezifisch islamischen Kultur: Sie ist begründet auf dem klassischen

Arabisch, auf persischer Lebensart und hellenistischer Wissenschaft;

• zur Ausformung des islamischen Rechts (fiqh): Es bilden sich die vier bis heute bestehenden

Rechtsschulen;

• zur Ausformung der islamischen Theologie (kalam): Es entsteht eine Art von ‚Scholastik‘,

die sich bis heute im theologisch-systematischen Denken von Muslimen auswirkt.“ 486

In dieser Epoche findet die arabische Kultur eine größere Verbreitung und Etablierung,

das Hocharabische des Koran wird, wie das Latein in der christlichen Welt, als Sakral- und

Kultsprache akzeptiert, in den theologischen Disputen setzt sich das Primat der Offenbarung

(vor der Vernunft) durch, und es werden die Sammlungen der Überlieferungen der

Gründerväter der islamischen Rechtsschulen sowie der kanonischen Ḥadīṭ-Texte angelegt. 487

Bereits nach dem Tode des Kalifen ‘Alī ibn Abī Tālib wurde die schon im ersten Jahrhundert

begonnene schriftliche Fixierung der zweiten Quelle (ḥadīṭe) intensiviert. Alle mündlichen

und schriftlichen Überlieferungen über seine gesamte Lebensweise als Mensch und

Gesandter wurden daher durch Gelehrte wie Muḥammad Ibn Idrīs aš-Šāfi‘ī (767–820 n.

Chr.) in den Stand der zweiten Quelle in der islamischen Rechtsprechung beziehungsweise

484 Vgl. zu einer systematischen Auflistung der koranischen Themen: Ömer Özsoy/Ilhami Güler.

Konulara göre Kur’an Fihristi (Sistematik Kur’an Fihristi), Ankara 1997

485 Vgl. Hans Küng, Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft, München 2006, S. 285 f.

486 A. a. O., S. 317

487 Vgl. a. a. O., S. 318 ff.


3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis 175

der Normenlehre erhoben. Daher entstand mit dieser Sammlung eine umfangreiche, über

Tausende von Überlieferungen umfassende Quelle, aus der sich eine eigene Wissenschaft

entwickeln sollte. Um ein Urteil über die Authenzität (sahih) der Überlieferungen fällen

zu können, wurden die Kriterien isnād (Überliefererkette 488 ) sowie matn (Inhalt der

Überlieferung) angelegt. Es entstanden sechs kanonische Sammlungen mit zahlreichen

ḥadīṭen, wobei die größte Anerkennung die Gelehrten al-Buh˘

ārī (810–870 n. Chr.) und

Muslim (817–875 n. Chr.) genießen; beide sollen aus Hundertausenden von ḥadīṭen sehr

stark selektiert und nur die authentischen Aussprüche des Propheten Muhammad überliefert

haben. Vor diesem Hintergrund wurde der Prophet lebendig gehalten, da man ihn

durch diese Ḥadīṭ-Tradition sozusagen jederzeit „konsultieren“ konnte. 489

Im Zuge der Sammlung, Systematisierung und Kanonisierung der theologischen Quellen

hatten zugleich die mündlich tradierten Lehr- und Lerninhalte des Glaubens eine schriftlich-fixierte

Grundlage erhalten, wenn auch die orale Tradition noch über Jahrhunderte

beibehalten wurde. So sind im Zusammenhang einer islamischen Katechese in der zweiten

theologischen Quelle zahlreiche Überlieferungen enthalten, die für die muslimische Katechese

bestimmend waren. Prägend für diese war vor allem der sogenannte Gabriel-Ḥadīṭ,

in welcher der Erzengel Gabriel in Menschengestalt mit dem Propheten Muhammad – in

Anwesenheit der hinsichtlich der Herkunft des Gesprächspartners ahnungslosen Gefährten

– einen Frage-Antwort-Dialog über die Glaubensbedingungen und Glaubenspraxis im

Islam führte, die man auch als systematisierte Glaubenslehre auffassen kann. Aufgrund

dieser zentralen Bedeutung für die Katechese wird dieser Dialog in der außerkoranischen

Quelle im Folgenden wiedergegeben:

„Während wir eines Tages beim Gesandten Gottes saßen, kam ein Mann auf uns zu, der

sehr weiße Kleider anhatte, dessen Haar sehr schwarz war. Man konnte an ihm keine Spuren

von der Reise erkennen, und niemand von uns kannte ihn. Er setzte sich zum Propheten. Er

stieß seine Knie zu dessen Knie, legte seine Hände auf seine (eigenen) Schenkel und sagte: O

Muhammad, unterrichte mich über den Islam.

Der Gesandte Gottes sagte: Der Islam besteht darin, dass du bezeugst: Es gibt keinen Gott

außer Gott, und Muhammad ist der Gesandte Gottes, dass du das Gebet verrichtest, die

Abgabe entrichtest, den Ramadan fastest, die Wallfahrt zum Bethaus (in Mekka) vollziehst,

wenn du dazu imstande bist.

Er sagte: Du hast die Wahrheit gesagt.

Wir wunderten uns über ihn, dass er ihn fragte und ihm dann bescheinigte, die Wahrheit

gesagt zu haben.

Er sagte: Unterrichte mich über den Glauben.

488 Aufgrund der Bedeutung der Überliefererkette hat sich zudem noch die Biografieforschung als

eigene Wissenschaft entwickelt. Um sich auf bestimmte Personen in dieser Kette verlassen zu

können, sollten alle Informationen zu ihrem Werdegang, Charakter und Religiosität gesammelt

werden. Wurde daher eine Person in dieser Kette als nicht zuverlässig eingestuft (weil man etwa

in ihrem Lebenslauf eine negative Episode, wie Betrug, Vergesslichkeit usw., gefunden hatte),

so galt die Überlieferung als fraglich.

489 Vgl. zur Geschichte und Bedeutung der Ḥadīṭe sowie zu den führenden muslimischen Ḥadīṭ-Überlieferern:

Adel Theodor Khoury, Der Ḥadīṭ. Urkunde der islamischen Tradition, Bd. 1. Der

Glaube, 1. Auflage, Gütersloh 2008, S. 17 ff.


176 A Theoretischer Teil

Er sagte: Dass du an Gott glaubst und an seine Engel, an seine Gesandten und an den Jüngsten

Tag, und dass du an die Vorherbestimmung des Guten und des Bösen glaubst.

Er sagte: Du hast die Wahrheit gesagt.

Dann sagte er: Unterrichte mich über die guten Werke.

Er sagte: Du sollst Gott dienen, als würdest du ihn sehen, denn auch wenn du ihn nicht siehst,

er sieht dich gewiss.

Er sagte: Unterrichte mich über die Stunde (des Gerichts).

Er sagte: Darüber weiß der Befragte nicht mehr als der Fragesteller. […] 490

Die zitierte Überlieferung fasst zum einen die wesentlichen Glaubensbedingungen und die

Glaubenspraxis zusammen, die als 5+6 Formel Eingang in die Lehr- und Lerntradition finden

sollten. Zum anderen wird die ihsan als religiöse Praxis mit dem absoluten Bewusstsein

der Gottesgegenwart akzentuiert. Imān (Glaube), ilm (Wissen) sowie ‘amal (Handlung)

haben als eine zusammenhängende theoretische und praktische Größe somit den Inhalt der

islamischen Katechese mitbestimmt. Zunächst sind in diesem Kontext die arkān al-imān

(Säulen des Glaubens) zu erwähnen, die sich aus sechs Glaubensartikeln zusammensetzen,

welche die Voraussetzung für das Muslimsein bilden und auch im Koran in der 2, Vers

284 und in der 4, Vers 136 Erwähnung finden. Die folgende Auflistung ist allerdings nicht

direkt als eine Hierarchie zu sehen, da jeder Baustein ein unverzichtbarer Bestandteil des

imān darstellt: der Glaube an den einzigen Gott 491 , Glaube an seine Engel 492 , Glaube an seine

Gesandten 493 , Glaube an alle Offenbarungsschriften 494 , Glaube an das Jenseits und Glaube

490 Überliefert nach Umar ibn al-Khattab, übersetzt nach: Adel Theodor Khoury, Der Ḥadīṭ, S. 27

491 Bereits in sehr jungen Jahren wird muslimischen Kindern die Gottesnähe durch Bittgebete

vermittelt. Neben diesem Zeugnis wird ihnen im Elternhaus die erste sūra des Koran – von ihrer

Zentralität bedeutungsgleich dem „Vaterunser“ – die sūra al-Fātiḥa gelehrt: „1 IM NAMEN

GOTTES, DES ALLERGNÄDIGSTEN, DES GNADENSPENDERS: 2 ALLER PREIS gebührt

Gott allein, dem Erhalter aller Welten. 3. dem Allergnädigsten, dem Gnadenspender, 4 dem

Herrn des Tages des Gerichts! 5 Dich allein beten wir an; und zu Dir allein wenden wir uns

um Hilfe. 6 Leite uns den geraden Weg – 7 den Weg jener, denen Du Deine Segnungen erteilt

hast, nicht jener, die (von Dir) verdammt wurden, noch jener, die irregehen.“

492 Engel sind im Islam eine Art Lichtwesen oder geistige Wesen, die unter anderem als Botschafter

Gottes fungieren, wie etwa der Erzengel Gabriel oder Mikail. Eine bildliche Vorstellung über

die Engel ist, wie über die gesamte metaphysische Welt, in der Tradition verpönt. Das Verbot

der bildlichen Wiedergabe der Propheten und der Welt der Metaphysik stellt in der Erarbeitung

religionspädagogischer Materialien für Kinder und Jugendliche insgesamt eine Herausforderung

dar.

493 Der Gläubige ist zur Anerkennung der gesamten Kette der Gesandten Noah, Abraham, Moses,

Jesus und Muhammad aufgerufen. Nach islamischem Verständnis handelt es bei ihnen allen

um Botschaftsträger Gottes, die in verschiedenen Zeiten unterschiedlichen Völkern verkündet

haben. Da der Begriff ‚Muslim‘ nichts weiter als Gottergebene/r bedeutet, werden alle biblischen

Propheten und deren Anhänger, wie etwa die Kinder Israels, als Muslime bezeichnet.

494 Während das Christentum lange Zeit das Verhältnis zum Judentum und zum Alten Testament

kritisch diskutierte, werden heute im theologischen Kontext die positiven Anknüpfungspunkte

hervorgehoben. Eine ähnliche Basis bildet die grundsätzliche Anerkennung des Offenbarungscharakters

der vorhergehenden Schriften, sie eröffnet für die Etablierung der islamischen

Theologie in Deutschland eine interreligiöse Anschlussfähigkeit.


3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis 177

an die Vorherbestimmung 495 . Die Internalisierung dieser Glaubensartikel bildet die Basis

für die Glaubenspraxis, da die Begriffe imān und ‘amal im Koran oft in einer Reihenfolge

erwähnt werden. 496 Charakteristisch hierfür ist die sūra 2, Vers 277:

„Wahrlich, jene, die Glauben erlangt haben und gute Werke tun und beständig das Gebet

verrichten und aus Mildtätigkeit geben – sie werden ihren Lohn bei ihrem Erhalter haben,

und keine Furcht brauchen sie zu haben, noch sollen sie bekümmert sein.“

Aufgrund dieses engen Verhältnisses von Theorie und Praxis werden in der Katechese als

zweiter Teil die arkān al-islām (Säulen des Islam) gelehrt, die, wie aus dem obigen Ḥadīṭ

ableitbar, aus fünf obligatorischen Pfeilern, gottesdienstlichen Handlungen, bestehen.

Erst die Einheit von Glaube und Praxis zeichnet den Muslim als Träger von Abrahams

Erben aus. Dies ist ein Ergebnis der ulama (Gelehrten), die sich mit Orthopraxie als dem

richtigen Handeln in der Religion auseinandersetzten. Wie Reza Aslan treffend formuliert,

haben sich die muslimischen Gelehrten von einer spekulativen Theologie oder Philosophie

distanziert und sich primär der Frage der Orthopraxie gewidmet. So weist Aslan in

Anlehnung an Wilfried Cantwell Smith darauf hin, dass er vorschlug, den Begriff sunnī

daher eher mit orthoprax als mit orthodox zu übersetzen. Aslan führt ferner an, dass die

islamische Praxis für die islamischen Gelehrten nicht weiter als eben der „Ausdruck“ der

islamischen Theologie sei. Fragen der fiqh (Normenlehre beziehungsweise Jurisprudenz)

und kalam (Theologie) bildeten aufgrund der Verwobenheit von Orthodoxie und Orthopraxie

ebenfalls eine zusammenhängende Größe. 497

„Aus diesem Grund verwarfen die Ulama oft die spekulative Theologie als sinnloses Geschwätz

(kalam bedeutet im Wortsinn ‚Rede‘, ‚Äußerung‘, und muslimische Theologen wurden oft

abwertend als ahl al-kalam, ‚Leute der Rede‘, bezeichnet). Mit der Ausbreitung des Islams und

insbesondere mit der sprachlichen und kulturellen Diversifizierung der Umma interessierte

sich die islamische Geistlichkeit nicht so sehr für theologische Disputationen über die Attribute

Gottes […] als vielmehr für die Formalisierung des Rituals als Ausdruck und Äußerung des

Glaubens. Oberstes Anliegen war die Ausarbeitung strenger Kriterien dafür, wer ein Muslim

war und wer nicht. Ergebnis ihrer Bemühungen war die fünf Säulen des Islams.“ 498

495 Zu dieser Frage besteht in der muslimischen Welt nach wie vor kein Konsens. In der islamischen

Ideengeschichte gab es große theologisch-philosophische Kontroversen in der Frage,

ob denn ein deterministischer Ansatz mit Gottes Gerechtigkeit überhaupt zu vereinbaren sei.

Im Volksislam dagegen hat sich eine eher pragmatische Haltung durchgesetzt. Zwar wird das

Schicksal als Bestimmung Gottes akzeptiert, doch im alltäglichen Leben setzt man dennoch

auf den freien Willen.

496 Allerdings ist der Gläubige nach traditionell-islamischer Auffassung auch bei der Unterlassung

der Praxis nach wie vor als Muslim zu bezeichnen. Nur bei radikalen Gruppen zählt auch die

‘amal zu den Voraussetzungen des Glaubens.

497 Vgl. Reza Aslan, Kein Gott außer Gott. Der Glaube der Muslime von Muhammad bis zur

Gegenwart, Bonn 2006, S. 165

498 A. a. O., S. 165 f.; Hervorhebungen im Original.


178 A Theoretischer Teil

Die fünf Säulen – schahada 499 , ṣalā (rituelles Pflichtgebet) 500 , ṣawm (Fasten im Monat

Ramadan), zakāt 501 und ḥağğ (Pilgerfahrt nach Mekka) sind lediglich als Mindestanforderungen

und somit als eine Elementarisierung des Glaubens zu verstehen und fanden

als eine Art „Grundkonsens“ Verbreitung in der islamischen Erziehungslehre. Zahlreiche

Werke zur richtigen und frommen Lebensführung entstanden, um diese dem Volk und

auch den angehenden Gelehrten als Mindestkompetenz zu vermitteln – unabhängig davon,

ob man sich später der höheren weltlichen oder religiösen Bildung widmen wollte. Hierzu

haben vor allem die muslimischen Ulama (Gelehrten) als vonseiten der Bevölkerung hohe

Reputation genießende, „autonome Autoritäten“ beigetragen, die mit ihren sehr volksnahen

Kaderschulen (Rechtsschulen, Theologenschulen) die Verbreitung dieses Grundkonsenses

durch die Ausbildung von Kadis, Imamen und Kanzelpredigern begünstigten. Sie forcierten

die Gemeinschaftsbildungen und bildeten in den gesamten islamischen Gebieten ein

Kommunikationsnetzwerk von Gelehrten. 502

Diese Gelehrten schrieben zahlreiche Werke, die als Quelle nicht nur für die höhere

Bildung, sondern auch für die Katechese mit dem Ziel der religiösen Grundbildung und

Anhebung der Volksfrömmigkeit dienten. Eine zentrale Rolle spielten diese geistlichen

Autoritäten auch bei der Etablierung einer Orthodoxie, wie der zuvor genannte Imam

Ghazali, der mit seinem Opus magnum Iḥyā’ ‘Ulūm ad-Dīn hinsichtlich der Verbreitung

und des Einflusses ein Grundlagenwerk für die Katechese schuf und ein Regelwerk für eine

idealisierte religiöse Bildung, Erziehung und Lebensführung konzipierte; es ist bis heute

aktuell und wird in traditionellen Gemeinden als Basiswerk genutzt. Ebenso wird im akademisch-theologischen

Kontext auf die ontologische Bedeutung der religiösen Erziehung

bei Ghazali, seine Pionierrolle bei der Systematisierung der historischen Grundlagen der

islamischen Erziehung sowie auf die aktuelle Bedeutung seiner Werke hingewiesen. 503

In seinem vierbändigen Werk geht er auf zahlreiche Themen, wie die Bedeutung der Aneignung

von Wissen, die Glaubensgrundlagen und die Glaubenspraxis, Hygienevorschriften,

Gottesdienste und Rituale sowie auf mystische Themen, Gottesfurcht und Gottesgedenken,

Vorbereitung auf die Ehe und Empfehlungen und Pflichten zwischen den Lebenspartnern

499 Die Schahada (das Zeugnis) ist eine zweiteilige Glaubensformel. Spricht eine Person die Formel

ašhadu an lā ilāha illa’llāh wa ašhadu anna Muḥammadan rasūlu’llāh aus, so ist sie – ohne

zusätzliche Wartezeiten oder besondere Rituale – ein Muslim. Im ersten Teil der Formel wird

die Existenz und Einzigkeit Gottes bezeugt und im zweiten Teil Muhammads Rolle als letzter

Gesandter in der Reihe der biblischen Propheten. Damit wird zugleich noch einmal das Bekenntnis

zu den sechs Glaubensartikeln bekräftigt.

500 In den ḥadīṭen ist zur religiösen Erziehung der Kinder zu lesen, dass man sie bereits mit sieben

Jahren schrittweise zur Verrichtung dieser Gottesdienste animieren und ab dreizehn Jahren

verpflichten soll.

501 Die zakāt ist die Pflichtsteuer (etwa 2,5 %), die ein Muslim von seinem Vermögen jährlich

für soziale Zwecke und Bedürftige entrichten muss. Sie ist ein Gottesdienst und daher ist die

Unterlassung dieser finanziellen Brücke zu den Armen sehr verpönt.

502 Vgl. Küng, Der Islam., S. 390 ff.

503 Vgl. hierzu die Dissertation von Bülent Celikel, Gazali’nin Egitim Görüsü, Izmir 2006, abgerufen

unter: http://www.belgeler.com/blg/rsm/gazali-nin-eitim-gr-al-ghazali-s-views-on-education

[19.01.2013]


3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis 179

sowie auf die Rolle der Erziehung ein. 504 In seinen kritischen Schriften distanzierte er

sich von den zeitgenössischen Gelehrten, die der hellenistischen Philosophie zugeneigt

waren, und postulierte die Unterwerfung der ratio unter die Offenbarung. Möglichkeiten

und Grenzen der Wahrheitsfindung seien nur innerhalb der waḥiy möglich, nicht durch

philosophische Systeme. Ein gottesfürchtiges Leben und die Befolgung religiöser Gebote

reichten für ein frommes Leben dementsprechend aus. Die äußeren, formalen Rituale

müssten nach Ghazali in Übereinstimmung mit den inneren, internalisierten religiösen

Werten praktiziert werden. 505 Beim Aufbau einer Gottesbeziehung wird bei Ghazali dabei

auf eine Analogie zum Eltern-Kind-Verhältnis hingewiesen:

„Den Gehorsam gegenüber Gott lernt man demnach besser, wenn man zunächst den Gehorsam

gegenüber den Eltern einübt. Eine lediglich formale Folgeleistung göttlicher Befehle ohne den

emotionalen Unterbau steht nach dieser Erkenntnis auf einer eher schwachen Grundlage.“ 506

Durch die Auswertung zahlreicher Koran-Verse, Prophetentradition, Überlieferungen

zu den Glaubensgrundlagen, zur Glaubenspraxis und Orthopraxie sowie zur frommen

Lebensführung und Ethik versuchte er, eine Synthese zwischen rituell-formalisierten und

spirituell-mystischen Glaubensausübungen herzustellen. Vor und nach Ghazali gab es

zahlreiche Gelehrte, wie etwa Mevlana Celaleddin Rumi oder Yunus Emre, die mit ihren

Werken den Wissenskorpus zur frommen Lebensführung bereicherten; allerdings hatte

keiner von ihnen den gleichen Einfluss und die gleiche Rezeption erfahren:

„In Sunni Islam, Ghazali’s ideas came to dominate Islamic education and its institutions,

right up to the modern period. Ghazali believed that the purpose of knowledge was primarily

connected to happiness in the hereafter. Because religious sciences served this purpose best,

they were at the top of his hierarchy of knowledge.“ 507

Aufgrund der Bedeutung der religiösen Bildung sollte jeder Muslim von Kind an ein bestimmtes

Grundwissen erwerben, was sich in der Moscheekatechese niederschlagen sollte.

Über alle die Jahrhunderte hinweg sollte diese Didaktik trotz unterschiedlicher Herausforderungen

und historisch-kultureller Kontexte eine sehr hohe Persistenz aufweisen. Sie

war immer Kern und Grundlage, auf welcher die höhere Bildung stattfinden sollte. Zwar

differierten in der Historie die Orte und die Zielgruppe einer islamischen Katechese, doch

haben sie gemeinsam, dass die Offenbarung als Grundlage für die direkte Gottesbeziehung

galt. Das Ziel aller Bemühung war die Erreichung des Heils, also der Eintritt in das ewige

Glück im Jenseits.

504 Vgl. Imam Gazali, Iḥyā’ ‘Ulūm ad-Dīn, 1.-4. Cilt, Istanbul 1985

505 Vgl. Hans-Michael Haußig, Der Islam, Bd. 3, in: Karl E. Grözinger (Hrsg.): Religionen und Weltanschauungen.

Werte, Normen in Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus/Buddhismus,

Esoterik und Atheismus, Berlin 2009, S. 110 f.

506 A. a. O., S. 111

507 Abdullah Saaed, Islamic religious education and the debate on its reform post-September 11,

in: Shahram Akbarzadeh (ed.): Islam and the West: Reflections from Australia, Sydney 2005,

S. 65


180 A Theoretischer Teil

3.2 Forschungsstand zu den Lehrinhalten, Lernzielen und

Methoden in den Moscheegemeinden Deutschlands

3.2 Forschungsstand zu den Lehrinhalten, Lernzielen und Methoden

Die kurze historische Skizzierung zeigt bereits, dass die Moscheen neben der Familie stets als

der zentrale Ort für die Glaubensvermittlung und -einübung fungierten. Mit der Hidschra

im Jahr 622 und seit der Gründung der Moschee in Medina entwickelte sich das institutionalisierte

Gemeindeleben und somit auch die außerfamiliäre Glaubensvermittlung. Diese

Tradition wird heute sowohl in den islamisch geprägten Ländern als auch in der Diaspora

weitergeführt. Infolge von Migrationsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg aus islamisch

geprägten Ländern ist die muslimische Diaspora eine neue Erfahrung für die Muslime.

In diesem Zuge entstanden in Nordamerika und Europa zahlreiche Moscheegemeinden,

welche die soziokulturellen Funktionen für die Muslime übernahmen. 508 Zu den ersten

Aufgaben dieser Gotteshäuser im Migrationskontext zählt die Einweisung muslimischer

Kinder und Jugendlicher in den Islam. Während in Deutschland bis in die 1970er-Jahre

hinein die erste Generation der Muslime die Zielgruppe einer religiösen Weiterbildung in

moscheeähnlichen Strukturen – wie etwa in provisorischen Gebetsräumen in Werkswohnungen

– darstellte, sollten die muslimischen Kinder und Jugendlichen ab der Familienzusammenführung

stärker in den Fokus rücken. 509 Daher blicken diese Gemeinden auf

eine über vierzigjährige Erfahrung mit den Moscheekatechesen in Deutschland zurück.

Die Entwicklungen in den letzten vier Jahrzehnten bieten ausreichend akkumuliertes

historisches und pädagogisches Material zur wissenschaftlichen Auswertung. In der

Darstellung zum Forschungsstand der religiösen Sozialisation in muslimischen Familien

konnte bereits gezeigt werden, dass die empirischen Grundlagen sehr defizitär sind. In

diesem Abschnitt wird daher auf den Forschungsstand hinsichtlich der religiösen Erziehung

und Bildung in den Moscheegemeinden eingegangen. Vorweg sei angemerkt, dass auch

hier – trotz der jahrzehntelangen Islamkurse in diesen Einrichtungen – die empirischen

Erhebungen sehr defizitär sind. Über die Funktion und Rolle der Moscheegemeinden

existieren zwar mittlerweile qualitative und quantitative Studien, jedoch nicht über die

konkreten gemeindepädagogischen Inhalte sowie Entwicklungen. Für die Etablierung

eines islamischen Religionsunterrichts in Deutschland bedeuten diese Forschungslücken,

dass bei der Lehrplanentwicklung nicht der religiöse Bildungsstand der heterogenen muslimischen

Schülerschaft berücksichtigt werden kann. Hinsichtlich der Lerninhalte und

Methoden in den Moscheegemeinden existieren in Deutschland bisher die oben genannte

empirische Forschung von Hasan Alacacioglu aus dem Jahr 1999 zu den Koranschulen

in türkisch-islamischen Gemeinden sowie eine weit weniger umfangreichere, eher komplementäre

Untersuchung des Verfassers in Form einer teilnehmenden Beobachtung in

508 Vgl. Rauf Ceylan, Muslime und Diaspora – interdisziplinäre Forschungsfragen im Einwanderungskontext,

in: Ders. (Hrsg.), Islam und Diaspora. Analysen zum muslimischen Leben

in Deutschland aus historischer, rechtlicher sowie migrations- und religionssoziologischer

Perspektive, Frankfurt/M. 2012, S. 12 ff.

509 Vgl. Ceylan, Ethnische Kolonien, S. 131 ff.


3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis 181

Moscheen mit dem Ziel, diese zu den Inhalten des geplanten islamischen Religionsunterrichts

in einen Vergleich zu setzen. 510

In diesem Zusammenhang kommt Alacacioglu auf der Grundlage seiner umfangreicheren

empirischen Studie zu den thematischen Schwerpunkten der religiösen Erziehung

der größten muslimischen Verbänden – Verband Islamischer Kulturzentren, Islamische

Gemeinschaft Milli Görüs, Türkisch-Islamische Union der Anstalten für Religion – zu folgender

Schlussfolgerung:

„Im Religionsunterricht des VIKZ, der IGMG und der DITIB stehen im Mittelpunkt das

Lesen des Korans auf Arabisch, das Memorieren von Korann, das Rezitieren des Koran, die

Glaubensinhalte des Islam sowie die islamischen Rituale und Pflichten wie z. B. das Beten

das Fasten und die Pilgerfahrt nach Mekka. Diese Gemeinden versuchen, die Kinder mit

traditionellen, orthodoxen Themen zu gefestigten Muslimen zu erziehen.“ 511

Des Weiteren erlauben es seine erhobenen Daten, ein Ranking der Themen vorzunehmen,

welches nach den häufigsten Nennungen der Befragten folgendes Bild ergibt: Lektüre des

Koran auf Arabisch, religiöse Rituale, Einführung in den Islam, Katechismusunterricht

sowie Auswendiglernen des Koran. Als traditionell ermittelt er Methoden wie Frontalunterricht,

Auswendiglernen, Ablesen oder Nachsprechen. 512 Diese Ergebnisse konnten

anhand der teilnehmenden Beobachtung des Verfassers weitgehend bestätigt und durch

Hinweise, wie zur Erziehung zum mu’aḏḏin sowie zur Schulung zum Teilzeit-Imam, von

besonders qualifizierten Schülern erweitert werden. 513 Gemeinsam ist diesen Studien

die Erkenntnis, dass das Lesen der heiligen Schrift sowie das Hören im Zentrum einer

Glaubensvermittlung stehen. Der Zugang zu Gott wird primär über die Rezitation des

Koran als seine Verbaloffenbarung gewährleistet. Ästhetik und spirituelles Erleben werden

vermittelt, aber keine Erschließung und Reflexion der Inhalte. Uslucan weist in diesem

Zusammenhang darauf hin, dass die Rolle des Verstehens der Inhalte zugunsten der

„Herstellung einer positiven affektiven und spirituellen Basis zum Glauben“ vernachlässigt

wird, die für die muslimischen Kinder und Jugendlichen weitreichende Konsequenzen für

ihren Alltag haben könnte:

„Aus lerntheoretischer bzw. pädagogisch-psychologischer Perspektive bildet diese Form

des Lernens eine sehr oberflächliche, störanfällige und für praktische Problemsituationen

des Alltages kaum taugliche Methode, weil keine Vertiefung, keine selbstständige kognitive

Elaboration und semantische Durchdringung des Inhaltes erfolgt. Jedoch steht bei dieser

Unterweisung (Präsentieren-Memorieren) eher die Konstitution eines positiven, wohlwollenden

„Habitus“ gegenüber der Religion im Vordergrund; es geht um eine Implementierung

eines affektiven Ankers, an den im Laufe der Sozialisation bestimmte Inhalte angeknüpft

510 Vgl. Rauf Ceylan, Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen. Ein sozialwissenschaftlicher

Vergleich der Ausgangslage, Lehre und Ziele unter besonderer Berücksichtigung

der Auswirkungen auf den Integrationsprozess der muslimischen Kinder und Jugendlichen

in Deutschland, Hamburg 2008

511 Hasan Alacacioglu, Außerschulischer Religionsunterricht, S. 248

512 Vgl. ebd.

513 Vgl. Ceylan, Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen, S. 142 ff.


182 A Theoretischer Teil

werden können. Ähnliche Formen der Hinführung zur Religion lassen sich auch in anderen

Religionen zeigen. Möglicherweise ist diese frühe Etablierung einer affektiven Basis – und

nicht so sehr des rationalen Verstehens – verantwortlich für eine feste Verankerung des religiösen

Systems in der Person. Auswendig lernen bzw. wörtliche Kenntnis der koranischen

Sūras ist eine Voraussetzung religiöser Praxis; es geht nicht in erster Linie um intellektuelle

Durchdringung.“ 514

Die „importierten“ Inhalte und Methoden in den Moscheegemeinden scheinen eine sehr

hohe Persistenz zu haben und die Lebenswirklichkeit der muslimischen Kinder und Jugendlichen

– im Sinne einer Korrelationsdidaktik – nur wenig zu berücksichtigen. Dieser

theologisch-hermeneutisch-didaktische Ansatz nach Paul Tillich hat trotz kritischer Begleitdiskussionen

eine längere Tradition in der katholischen Religionspädagogik. Das Ziel

ist es vor allem, den überlieferten, traditionellen Glauben in Bezug zu den Erfahrungen

und zur Lebenssituation der Lernenden zu setzen. 515 Bezüglich der muslimischen Kinder

und Jugendlichen umfassen diese vielfältigen Erfahrungen das Leben als Minderheit in

einer multireligiösen Gesellschaft, ihre Mediensozialisation und die Lernerfahrungen im

Bildungssystem. Mit dieser Sozialisation geprägt werden sie in den Moscheen mit traditionellen

Lehr- und Lernmethoden konfrontiert, womit ihre Lernbereitschaft herausgefordert

wird. Die Frage für die Zukunft der Moscheekatechese wird sein, inwieweit diese

Methoden evaluiert, reformiert und in Bezug zur Lebenswirklichkeit der Lernenden gesetzt

werden. Maßnahmen zur Veränderungen werden wesentlich von der Bereitschaft und dem

Engagement der muslimischen Multiplikatoren in den Gemeinden abhängen, die aktiv in

den Diskurs zur Einführung eines islamischen Religionsunterrichts involviert sind und

aufgrund der kritischen Reflexion der Inhalte der Moscheekatechese sowie des Verhältnisses

zum islamischen Religionsunterricht Einfluss in ihren Gemeinden ausüben können.

Zur Studie von Alacacioglu ist mit Bezug auf diesen innermuslimischen Diskurs jedoch

anzumerken, dass die Untersuchung fast 15 Jahre zurückliegt. Infolge der zahlreichen

Entwicklungen in der letzten Dekade hinsichtlich der Etablierung von Instituten für Islamische

Theologie und Imam-Fortbildungen sowie den seit 1999 in Bundesländern wie

Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen durchgeführten Schulversuchen sind die Ergebnisse

dieser Untersuchung nur noch teilweise als aktuell zu bewerten. Die theoretische Aufarbeitung

der Historie, der Organisationsstruktur, der Finanzquellen und politischen wie

religiösen Ziele und schließlich des zivilgesellschaftlichen und religionsgemeinschaftlichen

Engagements sind nach wie vor in großen Teilen als aktuell zu bezeichnen. 516 Allerdings

sind die Aussagen und Bewertungen seitens der türkisch-islamischen Gemeinden zur

Rolle und Bedeutung des islamischen Religionsunterrichts im Vergleich zu den Moscheegemeinden

infolge ihrer stärkeren Involvierung in den Prozess der Lehrplanentwicklung

und infolge ihrer Aufwertung als Religionsgemeinschaften – wie durch den Staatsvertrag

514 Uslucan, Religiöse Werteerziehung in islamischen Familien, S. 32 f.; Hervorhebungen im Original.

515 Vgl. Englert, Religionspädagogische Grundfragen, S. 122 ff.

516 Vgl. Alacacioglu, Außerschulischer Religionsunterricht, S. 97 ff.


3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis 183

in Hamburg 517 – nochmals zu überprüfen. 518 Ebenso hat die komplementäre Studie des

Verfassers diese Entwicklungen nicht berücksichtigt und begnügt sich lediglich mit einer

Bestandsaufnahme (ohne die konträren Diskussionen in den Gemeinden), um die Entwicklung

und Bewertung der Katechese sowie die Vorstellungen der unterschiedlichen

Rollen von Gemeinde und Schule bezüglich der religiösen Bildung zu ermitteln.

3.3 Forschungsstand zur Rolle der Imame in den

Moscheegemeinden

3.3 Forschungsstand zur Rolle der Imame in den Moscheegemeinden

Imame sind die theologische Referenz in der Gemeinde und fungieren seit Jahrhunderten

als religöse Lehrkräfte, um vor allem Kinder und Jugendliche in den Glauben einzuführen.

Die Definition ihrer Rolle und Funktion ist dabei historisch begründet und theologisch

festgelegt. Daher übernehmen Imame sowohl in islamisch geprägten Ländern als auch in

der Diaspora in den Moscheegemeinden ähnliche Aufgaben.

3.3.1 Der Imam in der islamischen Geschichte und Theologie

Als erster Imam gilt der Prophet Muhammad, der im Grunde mit seinen religiösen

Ritualen in der Moschee in Medina diese Berufsrolle und die dazugehörigen Aufgaben

geprägt hat. In diesem Zusammenhang verweist der türkische Religionspädagoge Ziya

Kazici darauf, dass der Begriff ‚Imam‘ – im Singular und im Plural – im Koran an sieben

Stellen Erwähnung findet. Primär werde unter einem Imam eine religöse Persönlichkeit

verstanden, die eine geistige Leitungsfunktion habe und als Vorbild fungiere. Dieser Titel

wird nach Kazici auch besonders herausragenden Gelehrten, Führungspersonen von (religiösen)

Bewegungen oder schlicht den Leitern von rituellen Gottesdiensten übertragen.

In der religiösen Tradition unterscheide man besonders zwischen zwei Kategorien von

Imamen, und zwar zwischen einem al-imāma al-kubrā (Staatsoberhaupt) und al-imāma

aṣ-ṣuğrā (Leiter der gemeinschaftlichen Pflichtgebete). 519 Kazici hebt unter Hinweis auf die

Tradition Muhammads die zentrale Imam-Rolle in der muslimischen Gemeinde hervor,

die nach dem Tode des Propheten nur von auserwählten Persönlichkeiten, wie den Kalifen

und später von anderen angesehenen Gelehrten, ausgeübt worden sei. 520 In diesem Kontext

zählt er Kriterien für die Auswahl der Personen für diese Rolle auf:

517 Vgl. o. V. „Religionsgemeinschaften: Hamburg unterzeichnet Staatsvertrag mit Muslimen und

Aleviten“ abgerufen unter:http://www.spiegel.de/politik/deutschland/hamburg-unterzeichnetstaatsvertrag-mit-muslimen-und-aleviten-a-867032.html

[17.02.2013]

518 In der empirischen Untersuchung dieser Abhandlung werden die muslimischen Multiplikatoren

speziell zu dieser Thematik ausführlich befragt.

519 Vgl. Ziya Kazici, Islam Medeniyeti ve Müesseseleri Tarihi, Istanbul: M. Ü. Ilahiyat Vakfi ayinlari,

S. 262 f.

520 Vgl. Kazici, Islam Medeniyeti ve Müesseseleri Tarihi, S. 263


184 A Theoretischer Teil

„Der Imam-Beruf ist eine tugendhafte Aufgabe. Aus diesem Grund zählt dieser aus religiöser

Sicht zu den wohltätigsten und ehrenhaftesten Berufen. Daher dürfen in der Gesellschaft nur

die über eine gewisse Bildung, ethisch-sittlichen Charakter, über Kompetenzen sowie über

Rezitationsqualitäten (des Koran) verfügen, diese Aufgabe übernehmen. So wird gewährleistet,

dass dieser der einflussreichen Rolle, die Muslime in ihrer religiösen Erziehung zu begleiten

und ihnen den richtigen Weg zu zeigen, gerecht wird. Um ein Imam zu werden, muss man

also über besondere Eigenschaften verfügen.“ 521

Aufgrund dieser hohen Erwartungshaltung, wurden in der islamischen Normenlehre

Kriterien für die Erfüllung dieser Rolle entwickelt, die nach Abdurrahim Kozali unter

der Thematik Das Gebet mit der Gemeinde behandelt werden. In der Auseinandersetzung

mit der klassischen Literatur zur Rechtslehre arbeitet Kozali die Funktion des Imam im

Kontext der muslimischen Gemeinde heraus und hebt dessen Rolle als „kompetenste Person“

hervor. 522 Anknüpfend an die idealisierten Anforderungen seitens Kazici sind auch

bei Kozali – in Anlehnung an die Postulate der diversen theologischen Schulen – folgende

Voraussetzungen zu lesen:

„1. das Glaubensbekenntnis zum Islam,

2. seine Zurechnungsfähigkeit (klarer Verstand),

3. Vollendung der Pubertät,

4. Männlichkeit,

5. Reinheit (des Charakters und des äußeren Erscheinungsbildes),

6. eine für das Gebet erforderliche Mindestanzahl von Koranversen auswendig rezitieren

können,

7. Nach der hanbalitischen Schule darf der Imam kein Sünder (Fasiq) (z. B. Alkoholtrinker,

Glücksspieler etc.) sein.“ 523

In der islamischen Geschichte kann man nach Kazici anhand des Osmanischen Reiches

die Bedeutung des Imam über die Moscheen hinaus erkennen. Im städtischen Alltag galt

der Imam als Anlaufstelle für die Bevölkerung bei den unterschiedlichsten sozialen Fragen.

In Wohngebieten wurden Geburten, aber auch Todesfälle von ihm registriert und amtlich

dokumentiert. Bis in das 19. Jahrhundert hinein fungierten Imame – neben ihrer rein religiösen

Funktion – als eine Art Vertreter der kommunalen, administrativen Arbeit. 524 Darüber

hinaus wurde ihnen staatlicherseits die Aufgabe delegiert, als moralische Instanz eine

Sozialkontrolle in ihren jeweiligen Quartieren auszuüben und Personen, die gegen religiöse

Normen und Werte verstießen, von ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen (Wohngebieten,

Stadtteile) fernzuhalten. Kazici zitiert in diesem Zusammenhang Anweisungen aus dem

Jahre 1567 für den Istanbuller Stadtteil Eyyup sowie aus einem Originaldokument aus

521 Eigene Übersetzung nach Ziya Kazici, ebd.

522 Vgl. Abdurrahim Kozali, Anforderungen der islamischen Fiqh-Lehre in Bezug auf die Ausbildung

der Imame und die Bedeutung dieser Ausbildung, in: Michael Borchard/Rauf Ceylan

(Hrsg.), Imame und Frauen in Moscheen im Integrationsprozess. Gemeindepädagogische

Perspektiven, Göttingen 2011, S. 43

523 Kozali, Anforderungen der islamischen Fiqh-Lehre, S. 43 f.

524 Vgl. Kazici, Islam Medeniyeti ve Müesseseleri Tarihi, S. 266 f.


3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis 185

dem Jahr 1717, aus denen hervorgeht, dass Imame dazu aufgefordert wurden, als Helfer

für die Kadis (Richter) gegen Alkoholkonsumenten, Prostuierte und das gesamte „Rotlichtviertel“,

Glücksspielorte und Männer-Cafés vorzugehen. Diese formelle Funktion als

Multiplikator und moralische Kontrollinstanz auf lokaler Ebene sollte biz zum Tanzimat

– dem Reformprozesses zur Modernisierung und zur Neuordnung des Osmanischen

Reiches – weiteregeführt werden. 525

Mit dem Modernisierungsprozess im 19. Jahrhundert und der Gründung der Nationalstaaten

ab dem 20. Jahrhundert wurde die formelle Funktion des Imam unterschiedlich

eingesetzt oder instrumentalisiert. Am Beispiel der Türkei wird deutlich, dass sie ab 1923

mit der Republikgründung – um mit Heiner Bielefeldt zu sprechen – ein „‚postreligiöses‘

laizistisches Staatsideologieverständnis“ 526 entwickelte und diesem entsprechend die Rolle

der Religion und religiösen Lebensweise in der Öffentlichkeit massiv zurückdrängte.

Parallel dazu wurden ab 1924 als laizistischer Staat ein Sonderweg eingeschlagen und die

staatliche Religionsbehörde geschaffen, die stetig expandierte und gegenwärtig über 80 000

Mitarbeiter/innen zählt. Zum einen wurde der historische, räumliche Aktionsradius des

Imams eingeschränkt, zum anderen wurde – indem die religiöse Autorität nur in der

Moschee zu wirken hatte – sein Einfluss instrumentalisiert, um den Gläubigen ein Relgionsverständnis

zu vermitteln, welches mit der nationalistisch-laizistischen Staatsdoktrin

kompatibel war. In islamisch geprägten Länder konnte vor allem daher – je nachdem, ob

die Imame staatlich kontrolliert oder unabhängig waren – insbesondere die Kanzel eine

Plattform dafür sein, um die Bevölkerung zu erreichen. Dazu John L. Esposito:

„In modern times, governments have attempted to control mosque administration, the

appointment of its officials, and the content of its officials, and the content of the khutbah in

order to direct and control the nature of Islamic debate in society. Preachers are considered

to be government employees and are encouraged to discuss religious topics such as fasting,

praying, and respect and obedience to those in authority, rather than current political issues. 527

In contrast, the popular khutbah, which is uncontrolled by the government, is often a highly

emotional and topical speech that combines discussions of mainstream Islamic thought

and history with national problems and crises interpreted in the context of local politics and

international crises related to Muslims.“ 528

Trotz des Verlustes der skizzierten historisch-formellen Funktionalität der Imame hält die

informelle Rolle als Multiplikator in islamisch geprägten Ländern bis heute an. Der Imam

525 Vgl. ebd.

526 Heiner Bielefeldt, Muslime im säkularen Rechtsstaat. Vom Recht der Muslime zur Mitgestaltung

der Gesellschaft, in: Der Interkulturelle Dialog. Schriftenreihe der Ausländerbeauftragten des

Landes Bremen. Heft 2, 1999

527 So belegen im Jahr 2013 erstmals veröffentlichte Dokumente der türkisch-staatlichen Religionsbehörde,

dass diese Anweisungen vom Militär erhalten hatten, den Putsch am 27. Mai 1960

durch Fatwas der Muftis sowie durch die Predigten der Imame in den Moscheen religiös zu

legitimieren und die Sympathien sowie die politische Unterstützung der türkischen Bevölkerung

zu gewinnen; vgl. „Darbecilerin Diyanet oyunu“ abgerufen unter: http://cdncms.zaman.com.

tr/2013/02/01/belge-b.jpg u. http://cdncms.zaman.com.tr/2013/02/01/belge-k.jpg [01.02.2013]

528 Esposito, The Oxford Dictionary of Islam, S. 208


186 A Theoretischer Teil

ist für religiös-orientierte Menschen eine wichtige Instanz, die den Islam repräsentiert,

bei theologischen Fragen aufgesucht und auch bei weltlichen Themen, wie etwa Ehekonflikten,

konsultiert wird. Die informelle Rolle ist ebenso in der Diaspora in Deutschland

festzustellen. Im Laufe der muslimischen Migrationsgeschichte entstand ein Arbeitsmarkt

für geschulte Imame, die seit den 1970er-Jahren aus den Herkunftsländern von den Moscheegemeinden

und islamischen Organisationen angeworben werden.

3.3.2 Imame in Deutschland – empirische Studien zu den religiösen

Autoritäten

In den gesamten integrations- und bildungspolitischen Debatten um muslimische Migranten

wurde bereits über zahlreiche Themen, wie muslimische Organisationen, sozialräumliche

Segregation, Zwangsheirat, Ehrenmorde, Bildungs- und Sprachprobleme muslimischer

Kinder und Jugendlicher, die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts sowie

aktuell über den Salafismus diskutiert. Mittlerweile existieren im Bereich der Muslime diverse

Forschungen, die überwiegend aus sozialwissenschaftlicher Perspektive durchgeführt

wurden. Islamwissenschaftliche Analysen in Deutschland dagegen haben sich kaum mit

gegenwartsbezogenen Themen auseinandergesetzt, sondern sich eher mit philologischen

und historischen Analysen zufriedengestellt, obwohl gerade diese Disziplin – mithilfe

sozialwissenschaftlicher Methoden der Datengewinnung – aufgrund ihrer islamwissenschaftlichen

Komptenz zum Verstehen des untersuchten Phänomens beitragen könnte. So

konstatiert der Islamwissenschaftler Peter Heine in der Thematisierung der quantitativen

und qualitativen Studien seit Anfang der 1990er-Jahre zum Islam in Deutschland:

„Hier haben die Islamwissenschaften ein Forschungsfeld konkurrierenden geisteswissenschaftlichen

Disziplinen ‚kampflos‘ überlassen.“ 529

Ebenso sind im neuen Fach ‚Religionspädagogik‘ empirische Defizite festzustellen. Gerade

bei der Etablierung dieses neuen Fachs sind Grundlagenforschungen und damit auch empirische

Erhebungen unabdingbar. Zu den zahlreichen Forschungsfragen zählen Themen

wie die bereits oben monierte Lücke in der Frage der religiösen Sozialisation muslimischer

Kinder und Jugendlicher, aber auch in den Einstellungen und Orientierungen der

angehenden muslimischen Religionslehrer. Diese Forschungslücke war lange Zeit auch

hinsichtlich der Imame zu attestieren. Trotz der 50-jährigen Migrationsgeschichte und

der etwa 2 300 Moscheegemeinden wurde die Rolle des Imams bis in die 2000er-Jahre

weder in den Integrationsdebatten noch in den religionspädagogischen Überlegungen

berücksichtigt. Lediglich in einigen wenigen Arbeiten, wie in der Dissertationsschrift von

Ahmet Cekin, wurde auf die unterschiedlichen Rollen türkischer Imame in der Türkei

und in Deutschland sowie auf die mangelnden Deutschkenntnisse als Kommunikationshürden

hingewiesen. 530 Erwähnenswert ist auch die Untersuchung von Melanie Kamp, die

529 Peter Heine, Einführung in die Islamwissenschaft, Berlin 2009, S. 140

530 Vgl. Ahmet Cekin, Stellung der Imame. Eine vergleichende Rollenanalyse der Imame in der

Türkei und in Deutschland. Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der


3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis 187

das erweiterte Spektrum der alltäglichen Aufgaben der Imame in Deutschland aufzeigt,

deren besondere Rolle als „Vermittler religiöser Normen und Werte“ aufgreift und die von

Cekin bereits ermittelten Sprachprobleme bestätigt:

„In meinen Gesprächen mit den Imamen kam auch diese Problematik zur Sprache, denn je

nach Zusammensetzung der Gemeinde sind Imame ganz konkret mit dem Sprachproblem

konfrontiert, wenn sie auf Dolmetscher angewiesen sind, um mit den Gläubigen zu kommunizieren.

Außerdem wird in einigen Berliner Moscheen die arabische Freitagspredigt von

Helfern simultan ins Deutsche übersetzt, weil Konvertierte, Muslime und Musliminnen aus

nichtarabischen Ländern und junge arabischstämmige muslimische Gläubige, die hier aufgewachsen

sind, auf die Übersetzung angewiesen sind und die Moscheen auf diesen Bedarf

reagieren müssen.“ 531

In einer 2009 veröffentlichten Studie des Verfassers konnten auf der Basis von 200 Gesprächen

mit Imamen sowie von über 40 Tiefeninterviews die zuvor genannte Transformation

der Imam-Rolle im Migrationskontext sowie die sprachlichen Defizite bestätigt und zugleich

Informationen zu folgenden Themen erhoben werden:

die Funktion: theologische und soziale Funktion der Imame seit der Anwerbung der

muslimischen Gastarbeiter;

die Aufgabenbereiche: Charakterisierung klassischer Aufgabenfelder des Imam sowie

Entstehung neuer Herausforderungen im Migrationskontext;

der Bildungs- und Ausbildungshintergrund: Analyse der unterschiedlichsten Qualifikationen,

die von Autodidakten bis hin zu Akademikern reichen;

das Aufenthalts- und Beschäftigungsverhältnis: Diesbezüglich wurden Pendelimame

mit Touristenvisum bis hin zu unbefristeten Aufenthaltstiteln sowie von ehrenamtlich

bis hin zu unbefristet tätigen Imamen ermittelt. 532

Bezüglich der Heterogenität der Imamgruppe anhand der oben aufgelisteten Faktoren

konnten zusätzlich vier Imam-Typologien auf der Grundlage ihrer religiösen Orientierung

und ihrer Erziehungsziele konstruiert werden:

Traditionell-konservative Imame: Dieser häufigste Imam-Typ zeichnet sich durch

Kriterien wie Verbundheit zur dogmatischen und liturgischen Tradition, traditionellen

Lehrmethoden, konservativen Wertevorstellungen sowie Autoritätsgläubigkeit aus.

Intellektuell-offensive Imame: Dieser eher unter den jüngeren Imamen anzutreffende Typ

steht für einen rationalen Zugang und eine zeitgemäße Interpretation der Quellen sowie

Philosophie der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität, Tübingen

2004

531 Melanie Kamp, Mehr als Vorbeter: Zur Herkunft und Rolle von Imamen in Moscheevereinen.

In: Riem Spielhaus/Alexa Färber (Hrsg.), Islamisches Gemeindeleben in Berlin. Berlin 2008,

Beauftragte des Senats von Berlin für Integration und Migration. S. 40

532 Vgl. Rauf Ceylan, Prediger des Islam. Imame – Wer sie sind und was sie wirklich wollen, Freiburg

2010, S. 20 ff.


188 A Theoretischer Teil

eine offensiv-kritische Auseinandersetzung mit Traditionen und für ein zeitgemäßes

Rollenverständnis des Imam.

Traditionell-defensive Imame: Diese Imame sind durch ihre nationalistische Einstellungen,

ihr streng eschatologisches Weltbild (Endzeitstimmung, Wiederkehr des

Messias usw.) und ihren Glauben an eine Geheimlehre sowie die Praktizierung von

Exorzismus charakterisiert.

Neo-salafistische Imame: Bei dieser Kategorie handelt es sich um Prediger mit allen

typischen Merkmalen fundamentalistischer Gruppen, wie dem Anspruch auf das

Interpretationsmonopol der theologischen Quellen und auf religiöse Authentizität,

ihrem totalitären Weltbild sowie ihrem statischen Religions- und Kulturverständnis. 533

Die beiden ersten Imam-Typen sind in den muslimischen Gemeinden am häufigsten anzutreffen.

Die traditionell-defensiven Imame sind eine Minderheit, deren Bedeutung stark

zurückgeht. Dagegen hat der Einfluss der neo-salafistischen Imame in den letzten Jahren

sehr stark zugenommen und wurde von (religions)pädagogischen Experten kaum wahrgenommen.

Im Gegensatz zu den meisten Imamen sind sie deutschsprachig und nutzen

eine Jugendsprache, mit der sie den Islam in einer populären Form zu predigen wissen. In

Form von Internetauftritten, öffentlichen Veranstaltungen, Seminaren, Moscheekatechese

mit entsprechenden Kanzelreden sowie Streetwork erreichen sie junge Menschen mit und

ohne Migrationshintergrund, Muslime wie Nicht-Muslime. Durch die Vereinfachung religiöser

Inhalte und die gleichzeitige Ausblendung komplexer theologischer Denkansätze

sowie die Vermittlung eines starken Selbstwertgefühls infolge der „Auserwähltheit“, die

„wahre Religion“ zu vertreten, steigt die Attraktivität dieser Gruppierungen. Strategien

zur religionspädagogischen Radikalisierungsprävention sind in Deutschland noch nicht

ausgereift; 534 auch sind die muslimischen Gemeinden diesen Herausforderungen nicht

gewachsen. Nach Angaben des Innenministeriums in Nordrhein-Westfalen soll sich diese

Gruppe in diesem Bundesland von 500 auf 1000 Salafisten verdoppelt haben. 535

Insgesamt kommt die Studie des Verfassers zum Ergebnis, dass die Imame aufgrund

ihrer Sozialisation im Ausland, ihrer fehlenden oder mangelhaften Deutschqualifikation, der

Fokussierung ihrer Aktivitäten auf die Moschee ohne Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft,

ihrer fehlenden und differenzierten Kenntnisse über Deutschland und über die Lebenswelten

junger Muslime, ihrer mangelhaften Kanzelreden (diese gehen an der Lebenswirklichkeit

der muslimischen Gemeinschaft vorbei) und aufgrund eigener Integrationsdefizite und

psychosozialer Belastungen zukünftig in Deutschland ausgebildet werden müssen. 536

Dieses Postulat ist auch mit dem Transformationsprozess der Imamrolle in Deutschland

begründet. Abdelmalik Hibaoui weist darauf hin, dass dies auch mit dem Wegfall der

Übernahme verwandtschaftlicher Verantwortungen zusammenhängt:

533 Vgl. a. a. O., S. 51 ff.

534 Vgl. hierzu Rauf Ceylan/Michael Kiefer, Salafismus – Fundamentalistische Strömungen und

Radikalisierungsprävention, Wiesbaden 2013

535 o. V. „Zahl der Salafisten in NRW hat sich verdoppelt“ abgerufen unter: http://www.derwesten.

de/politik/zahl-der-salafisten-in-nrw-hat-sich-verdoppelt-id7468493.html [17.02.2013]

536 Vgl. Ceylan, Prediger des Islam, S. 173 ff.


3 Lernort ‚Gemeinde‘: Historische Grundlagen und gegenwärtige Praxis 189

„Bei einem Sterbefall eines Muslims in Deutschland ist die Moschee der erste Kontaktort

und der Imam die erste Kontaktperson. Während in den islamischen Ländern die traditionellen

Aufgaben meistens von den Verwandten verrichtet werden, müssen diese Aufgaben

in Deutschland meistens von der Gemeinde und den Imamen übernommen werden. Weil

die Menschen durch die Folgen der Migration häufig verwandtschaftliche Kontakte verloren

haben, erwarten diese Menschen von den Moscheevereinen und ihren Mitgliedern Hilfe und

Unterstützung. Somit ist das Angebot von Hilfe und Diensten bei Bestattungen eine von vielen

wichtigen Leistungen der Gemeindemitglieder und Imame in der Diaspora.“ 537

Des Weiteren werden – infolge der Herausforderungen für die Muslime in Bereichen wie

Seelsorge, Bildung und interreligiöser Dialog – seitens der Gemeinde neue Anforderungen

an die Imam-Rolle herangetragen. Dies geht auch mit einer Forderung zur Verbesserung

der Qualität der Ausbildung einher, wobei diese Herausforderung im Zuge der flächendeckenden

Einführung eines islamischen Religionsunterrichts mit dem Auftreten neuer

Lehrpersonen zunehmen wird. Schließlich hat der Diskurs seit den Empfehlungen des

Wissenschaftsrates dazu beigetragen, dass auch in den Medien und Politik ein Imam-Bild

konstruiert wird, welches nicht den Vorstellungen und Bedürfnissen der muslimischen

Gemeinde entspricht. Imame sollen über die Funktion in den Moscheen hinaus 538 eine formelle

und informelle Funktion in der Gesellschaft sowie im unmittelbaren Lebensumfeld

als eine Art Integrationslotsen übernehmen. 539 Die Kritik seitens von Islamwissenschaftlern

wie Michael Kiefer an einem Konzept eines „multifunktionalen Imam“ zeugt von der

Kontroverse in der Fachdiskussion. Diese Postulate seitens der Politik führt Kiefer auf

islamkritische sowie sicherheitspolitische Diskussionen zurück. 540

Im Jahr 2012 wurden die bisherigen Erkenntnisse zu den Imamen im Rahmen der

quantitativen Untersuchung Islamisches Gemeindeleben in Deutschland über die Angebote

und Strukturen der muslimischen Gemeinden sowie die dort tätigen Religionsbediensteten

bestätigt und ergänzt. So wird die Minimal- und Maximalzahl der Religionsbediensteten –

Imame und Dedes 541 – auf der Grundlage eigener Hochrechnungen mit jeweils 1731 sowie

537 Abdelmalik Hibaoui, Was gehört zum Aufgabengebiet eines Imams?, in: Michael Borchard/

Rauf Ceylan, Imame und Frauen in Moscheen im Integrationsprozess. Gemeindepädagogische

Perspektiven, Göttingen 2011, S. 54

538 Während in säkularisierten Ländern wie in der Türkei die Rolle des Imam auf die Moschee

beschränkt wurde, bedeuten im Grunde diese Forderungen nach einer Funktion über die Moschee

hinaus die Restauration der Imam-Rolle nach dem Vorbild des Osmanischen Reiches,

als der Imam für den Zusammenhalt seines Stadtteils verantwortlich war.

539 Vgl. Rauf Ceylan, Migration, Religion, Transformation – Rollenwandel und Rollenkonflikte

der Imame im Migrationskontext, in: Martin Rothgangel/Ednan Aslan/Martin Jäggle (Hrsg.):

Religion und Gemeinschaft. Die Frage der Integration aus christlicher und muslimischer Perspektive,

Wien 2013, S. 76 ff.

540 Vgl. Michael Kiefer, Zielsetzung einer Imamausbildung in Deutschland – Vom einfachen Vorbeter

zum multifunktionalen Akteur?, in: Bülent Ucar (Hrsg.), Imamausbildung in Deutschland.

Islamische Theologie im europäischen Kontext, Göttingen 2010, S. 187 f.

541 Dede ist die Bezeichnung für die religiösen Autoritäten in der alevitischen Gemeinde, die eine

ähnliche Funktion wie die Imame übernehmen.


190 A Theoretischer Teil

2498 beziffert, wobei die meisten, wie erwartet, aus der Türkei stammen. 542 Wie auch die

Studie des Verfassers, bestätigt diese genannte quantative Studie, dass die Mehrzahl der

religiösen Autoritäten für einen „dialogbereiten Islam“ stünden. Ebenso ist eine grundsätzliche

Offenheit gegenüber der Einführung eines deutschsprachigen Islamunterrichts 543 und

der Ausbildung von Religionslehrern an Universitäten sowie die Bereitschaft zur Teilnahme

an Weiterbildungsprogrammen für Religionsbedienstete zu verzeichen. 544 Allerdings

zeigt die Studie auch, dass die Befragten Defizite in ihren Deutschkenntnissen einräumen,

wobei dies eng mit der Aufenthaltsdauer zusammenhängt, 545 und dass die islamischen

Religionsbediensteten in den Gemeinden nicht nur klassische Aufgaben erfüllen:

„97 Prozent der islamischen Religionsbediensteten übernehmen nicht nur originär religiöse

Aufgaben in ihren Gemeinden, sondern sind auch im sozialen Bereich, in der Öffentlichkeitsund

Vernetzungsarbeit aktiv. Dieser Befund verdeutlicht, dass islamische Religionsbedienstete

nicht nur als religiöse Respektspersonen innerhalb ihrer Gemeinden wirken. Vielmehr füllen

sie, wie vermutet, oftmals die Funktion eines Multiplikators aus und beeinflussen hierdurch

auch die Sicht ihrer Gemeindemitglieder auf integrationsrelevante Themen. Es verwundert

daher nicht, dass gerade im sozialen Bereich ein außerordentlich hohes Interesse an Fortund

Weiterbildungsveranstaltungen geäußert wird. Weiterhin fällt auf, dass insbesondere

Angebote, die die alltägliche Arbeit betreffen, so etwa Kurse zum Thema Jugendarbeit oder

zum Umgang mit familiären Problemen, gegenüber abstrakten Themen, wie etwa Beratungsund

pädagogische Lehrmethoden, bevorzugt werden.“ 546

542 Vgl. Dirk Halm et al., Islamisches Gemeindeleben in Deutschland: Im Auftrag der Deutschen

Islamkonferenz, Forschungsbericht 13: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg

2012, S. 195 ff.

543 Die grundsätzliche Zustimmung zum Religionsunterricht liefert jedoch keine Informationen

darüber, welche Vorstellung die Imame von dessen Inhalten und Zielen haben.

544 Vgl. Halm, Islamisches Gemeindeleben in Deutschland, S. 390 ff. u. S. 453 f.

545 Vgl. a. a. O., S. 283 f.

546 Vgl. a. a. O., S. 454


Der Diskurs über den islamischen

Religionsunterricht

4

4 Der Diskurs über den islamischen Religionsunterricht

Die Exklusivität der Moscheen hinsichtlich der Glaubenseinweisung wird seit den Diskussionen

um die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts nach Artikel 7.3

des Grundgesetzes zunehmend herausgefordert. Zum einen ist dieser Prozess auf die

langjährigen Diskussionen der muslimischen Verbände mit den bildungspolitischen

Institutionen in unterschiedlichen Bundesländern zurückzuführen, zum anderen ist seit

den Empfehlungen des Wissenschaftsrates im Jahr 2010 zur Etablierung von Zentren für

islamische Theologien eine Intensivierung dieser Bemühungen festzustellen. Zukünftig

ist durch die Einführung eines ordentlichen Religionsunterrichts ein Transformationsprozess

bezüglich der Hierarchie in den Säulen der religiösen Bildung Familie, Gemeinde

und Schule zu erwarten. Die religionspädagogischen Herausforderungen, mit denen die

Moscheegemeinden in Zukunft konfrontiert sein werden, könnten durch die vergleichende

Analyse der Erfahrungen der christlichen Kirchen seit den 1960er-Jahren in Deutschland

mit dem Religionsunterricht sowie der Neukonzeption der Katechese und Gemeindepädagogik

im Hinblick auf das Verhältnis zu den Lernorten ‚Schule‘ und ‚Familie‘ ermittelt

werden. Da diese Entwicklungen nicht in einem luftleeren Raum stattfinden, ist der Prozess

der Säkularisierung einzubeziehen, der als übergeordneter Kontext eine permanente

Reflexion aller Religionsgemeinschaften bezüglich ihrer Funktion und Rolle für Kinder

und Jugendliche erfordert.

Die akademische Tradition einer christlichen Religionspädagogik blickt auf eine jahrhundertelange

Tradition zurück, wobei sie ihre Wurzeln in der kirchlichen Katechetik hat.

In der Geschichte der Kirche wurden bereits in sehr frühen Jahren Inhalte und Methoden

der Katechese diskutiert, verschriftlicht und in den Gemeinden umgesetzt. Durch kritische

Reflexionen und Diskussionen sollte die Lehre der Katechese weiterentwickelt werden,

welche die Voraussetzung zur Etablierung der modernen Religionspädagogik darstellen

und durch wissenschaftlich-rationale Reflexion die didaktischen Konzeptionen des schulischen

Religionsunterrichts stellen sollte. Hierzu zählt beispielsweise die im 18. Jahrhundert

R. Ceylan, Cultural Time Lag, DOI 10.1007/978-3-658-06050-3_5,

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014


192 A Theoretischer Teil

zu dem „Auswendiglernen und Katechismusverhör“ hinzugetretene Erweiterung des auf

Verstehen zielenden Gesprächs, das die „Trichterpädagogik“ relativierte. 547

Da die Etablierung einer modernen Religionspädagogik nicht in einem „luftleeren

Raum“ stattfand, haben als weitere Voraussetzungen für die pädagogische Disziplin vor

allem die geistig-kulturellen Entwicklungen in Europa, wie die Aufklärung und die größere

Akzentuierung der „religiösen Mündigkeit“, der Humanismus und die Wertschätzung des

Individuums sowie die wissenschaftlichen Fortschritte, wie die Religionswissenschaft, die

historisch-kritische Bibelwissenschaft, die Religionsphilosophie-/psychologie sowie die

Pädagogik, beigetragen, die anstelle der Dogmatik als Bezugswissenschaften fungieren

sollten. Infolge dieser geistigen Atmosphäre und Modernisierungsschübe konnten sich

eine rein traditionelle, normativ-deduktive Vermittlung der christlichen Lehre sowie eine

Nichtbeachtung der religiösen Mündigkeit der Lernenden nicht mehr halten, sodass ab

dem 20. Jahrhundert die bis dato im schulischen Religionsunterricht didaktisch umgesetzte

„kirchengebundene Katechetik“ von der Religionspädagogik in die Gemeinden zurückgedrängt

wurde. 548 In Korrespondenz zu den gesellschaftlichen Entwicklungen sowie zu den

Entwicklungen in den Bezugswissenschaften wurden schließlich im 20. Jahrhundert – mit

einem Einschnitt im Dritten Reich – im evangelischen und katholischen Raum didaktische

Konzeptionen vorgelegt, um den aktuellen Herausforderungen für die religiöse Erziehung

und Bildung in allen Handlungsfelder der Religionspädagogik gerecht zu werden. 549

Die derzeit in Deutschland eingeführte islamische Religionspädagogik ist ebenfalls nicht

als ein Phänomen zu begreifen, welches sich räumlich und geistig kontextlos entwickeln

wird. Sie steht hierbei vor der Herausforderung, an diese mittlerweile über hundertjährige

Tradition einer christlichen Religionspädagogik, insbesondere an aktuelle didaktische

Konzeptionen, wissenschaftlich anzuknüpfen und diese für die islamische Religionspädagogik

fruchtbar zu machen. Lähnemann fasst die zentralen Fragen zusammen, die dieses

neue Fach in der akademischen Welt in Deutschland beantworten muss:

„1. Wie gelingt eine islamisch-religiöse Bildung, die im Kontext der Pluralität sowie der

geistes- und naturwissenschaftlichen Fächer ihr eigenes Profil gewinnt?

2, Wie gelingt eine Identitätsbildung, die sich offen artikulieren kann und nicht auf Abgrenzung

und Vereinnahmung angewiesen ist?

3. Wie gelingt ein Diskurs, der eine ehrliche Hermeneutik, eine selbstkritische wie eine

wechselseitige kritische Befragung und ein kritisch-geschichtliches Bewusstsein einschließt?

4. Und prioritär: Wie kann es gelingen, dass die islamisch-religiöse Erziehung (im ‚Konzert‘

mit den anderen Fächern der Fächergruppe Religion-Ethik) den Kindern und Jugendlichen

die primären Erfahrungen des Angenommenseins vermittelt?“ 550

547 Vgl. Klaus Wegenast, Geschichte der Religionspädagogik, in: Gottfried Bitter et al. (Hrsg.),

Neues Handbuch religionspädagogischer Grundbegriffe, 2. Auflage, München 2006, S. 40 f.

548 Vgl. a. a. O., S. 41

549 Vgl. a. a. O., S. 41 ff.

550 Johannes Lähnemann, Zum Profil religiöser Bildung, S. 119 f.


4 Der Diskurs über den islamischen Religionsunterricht 193

Da dieser Diskurs auch nicht in den islamisch geprägten Ländern geführt wurde, steht dieser

akademischer Austausch in Deutschland erst am Anfang. Hierbei steht die islamische Religionspädagogik

in Deutschland – neben den im Kap. 1 und 2 skizzierten gesellschaftlichen

Rahmenbedingungen – vor der Herausforderung, sich mit dem Wissensrepertoire einer

islamischen Religionspädagogik aus den islamisch geprägten Ländern auseinanderzusetzen,

um auf dieser Grundlage eine genuin muslimische Disziplin zu etablieren. Daher muss

der Blick auf die akademische Disziplin einer Theologie und IRP sowie auf die Bezugswissenschaften

geworfen werden, um überhaupt die schwierigen Voraussetzungen dieser

Ziele vor Augen zu führen und dann auf dieser Basis die gegenwärtigen Entwicklungen

in Deutschland hinsichtlich einer islamischen Theologie und Religionspädagogik sowie

die aktuellen Entwicklungen in der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts

zu bewerten.

4.1 Religionspädagogik als wissenschaftliche Disziplin in

islamischen Ländern:

Entstehung und Entwicklung von Institutionen höherer

Bildung am Beispiel der Madrasa sowie der theologischen

Fakultäten und die Frage der religionspädagogischen

Bezugswissenschaften – am Beispiel des Osmanischen Reichs

und der türkischen Republik

Wie im oben dargestellt wurde, war die höhere Bildung in der islamischen Geschichte in den

ersten drei Jahrhunderten weit weniger institutionalisiert und formalisiert. Die skizzierten

Bildungsorte und -einrichtungen wurden primär von idealistisch orientierten Personen

geführt, die um sich herum eine Schülerschaft scharten und ihre Freizeit für die Weitergabe

religiösen Wissens zwecks einer frommen Lebensführung nutzten. Mit der Gründung

der madrasa (Orte des Lernens) sollte die Akkumulation von weltlichem und religiösem

Wissen nicht nur in ein höheres Bildungssystem integriert, sondern zugleich in formale

(staatliche) Strukturen (Lehrpläne, Qualifikationskriterien für das Lehramt, Auswahl

der Lehrer, Selektionskriterien für den Studiengang usw.) involviert werden. Neben dem

Bedarf einer Organisation und Formalisierung begünstigten religiös-politische Gründe

diesen Prozess. So versuchten die sunnitischen Seldschuken durch die Intensivierung der

Bauvorhaben an verschiedenen Orten in den islamischen Gebieten den konfessionellen

Einfluss der erstarkenden, schiitisch orientieren Fatimiden zurückzudrängen. Die Sunniten

sollten der schiitischen Welt nicht nur militärisch, sondern auch kulturell und mit religiösem

Wissen entgegentreten. 551 In diesem Zusammenhang expandierten gemäß Hüseyin

Demir ab dem 9. Jahrhundert unter dem Kalifen Kalif Ma‘mūn die bayt al-‘ilm und dār

al-‘ilm (Häuser des Wissens) als von Moscheen unabhängige Bildungseinrichtungen. Mit

ihrem Förderer, dem Wesir niẓām al-Mulk, gewannen schließlich im 11. Jahrhundert diese

551 Vgl. Ahmet Gül, Osmanli Medreselerinde Egitim-Ögretim ve Bunlar Arasinda Daru’l Hadislerin

Yeri, Ankara 1997 S. 4 f.


194 A Theoretischer Teil

Bildungseinrichtungen an neuer Qualität, vor allem durch die Erweiterung der Konzeptionen

als Schülerwohnheime. 552 Demir führt ferner aus, dass diese Schüler in den Genuss

kamen, mit staatlicher Unterstützung kostenlos unterrichtet und verpflegt zu werden.

Die gleichnamige Bildungseinrichtung nach ihrem Förderer al-Madrasa al-Niẓāmiyya

sollte den Bau weiterer Bildungsinstitutionen nach ähnlichem Konzept (Unterrichtsräume,

Gebetsraum, Bücherei, Speisesaal usw.) im gesamten islamischen Herrschaftsgebiet

mit sich bringen. Finanziert wurden sie vor allem durch die waqf (frommen Stiftungen),

die außerdem auch Kunst und Kultur förderten. 553 Mit der Formalisierung des höheren

Bildungssystems wurde zugleich qualifiziertes Lehrpersonal mit regelmäßiger Besoldung

eingestellt. Das Hauptpersonal in diesen Bildungseinrichtungen unterteilte sich nach Ziya

Kazici dabei in die mudarris und in die mu‘īd.

Da die Madrasa mit dem Anspruch entstanden, eine entsprechend höhere Bildung

anzubieten, musste auch das Lehrpersonal eine höhere Qualifikation aufweisen, um die

iğāza (Lehrbefugnis) zu erhalten. Somit wird zum ersten Mal die Erteilung einer theologischen

Lehrerlaubnis eine staatliche Angelegenheit und sollte bis zur Republikgründung

1924 unter der Aufsicht sowie Organisation des sheikhul islam – als oberster religiöser Instanz

– stehen. 554 Daher wurden die sogenannten mudarris eingestellt, deren Titel mit den

heutigen Professoren an Hochschulen vergleichbar ist. Bereits zu Beginn der islamischen

Lehr-Lern-Beziehungen war man der Autodidaktik nicht positiv gestimmt, da man immer

den Bedarf eines Lehrers und eines auf Lehrplänen basierenden, systematisch durchstrukturierten

Lernprozesses postulierte. Daher bildeten sich mit der Zeit Lehrpersonen

für religiöse Bildung für die Grundschulen bis zur höheren Bildung heraus. Die Auswahl

dieser Hochschullehrer erfolgte nach folgenden Kriterien: Reputation, Beherrschung von

Fremdsprachen, Religiosität beziehungsweise religiöse Lebensführung sowie Charakter

(Ernsthaftigkeit, Seriosität). Erfolgte die Berufung dieser Mudassir zunächst durch den

Wezir als Repräsentant des Sultans, so wurde diese Zeremonie später durch den Herrscher

selbst übernommen. 555

Der mu’id war der persönliche Assistent des mudassir und fungierte auch als Mittler

zwischen Hochschullehrern und Schülern. Er hatte vor allem die Aufgabe, die vom Mudassir

angebotenen Seminare nochmals zu wiederholen, um das Verständnis des Lerninhaltes

zu gewährleisten. Aufgrund der persönlicheren Beziehung zum mu’id waren die Hemmschwellen

für Fragen entsprechend niedriger, sodass die ṭalaba (Schüler) diese Seminare

für Nachfragen nutzen konnten. 556 Ebenso wurden mit der Formalisierung des höheren

Bildungssystems Selektionskriterien für Schüler nach Kriterien wie Alter, Eignung oder

Qualifikation sowie körperlicher und psychischer Gesundheit eingeführt. Dabei wurden

ledige Anwerber beziehungsweise Bewerber ohne familiäre Verpflichtungen bevorzugt,

552 Vgl. Hüseyin Demir, Die Osmanischen Medresen. Das Bildungswesen und seine historischen

Wurzeln im Osmanischen Reich von 1331–1600. Leipziger Beiträge zur Orientforschung. Herausgegeben

Hans-Georg Ebert, Band 17, Frankfurt/M. 2005, S. 13 ff.

553 Vgl. a. a. O., S. 19 ff.

554 Vgl. Yasar Sarikaya, Medreseler ve Modernlesme, Istanbul 1997, S. 32 ff.

555 Vgl. ebd.

556 Vgl. Kayici, Islam Medeniyeti ve Müesseseleri Tarihi, S. 378 ff.


4 Der Diskurs über den islamischen Religionsunterricht 195

da diese sich ganz auf ihr Studium konzentrieren konnten. Zugleich wurden hinsichtlich

der Lerneffizienz die Lerngruppen klein gehalten. Das Verhältnis der Schülerzahl in einer

Klasse zu einem mudassir soll im Osmanischen Reich 20:1 betragen haben. 557

Während in den Anfängen dieses Bildungssystems auch die jeweiligen Rechtsschulen

innerhalb der sunnitischen Konfession eine Rolle für die Aufnahme der ṭalaba spielen

konnten, sollte im Osmanischen Reich dieses Kriterium allein durch den Nachweis der

sunnitischen Zugehörigkeit des Schülers erfüllt sein. Historisch ist diese Selektion nach

Rechtsschulen in der Anfangszeit mit den Streitigkeiten innerhalb der sunnitischen Konfession

zu erklären. 558 Nach der Konsolidierungsphase und der gegenseitigen Akzeptanz

der theologischen Vertreter der jeweiligen Rechtsschulen waren diese Aufnahmekriterien

obsolet geworden, denn die Machstabilisierung im Osmanischen Reich sowie die Etablierung

der sunnitischen Konfession als Staatsreligion gab eine gewisse Sicherheit für mehr

Flexibilität und Toleranz. Allerdings gewährte man schiitischen Schüler in Gebieten mit

hohem Anteil der schiitischen Konfession, wie im Irak oder im Libanon, ebenso Zugang

zum höheren Bildungswesen. Weibliche Studierende waren dagegen gänzlich von diesem

Bildungssystem ausgeschlossen. Insgesamt war die Rolle der Frau auf den privaten

Bereich beschränkt, sodass sich die Geschlechtersegregation auch im Bildungssystem

widerspiegelte. 559

Die Lehrpläne in den madrasa wurden auf der Grundlage der Werke der führenden

Gelehrten ihrer Zeit konzipiert und stetig weiterentwickelt. Für das Osmanische Reich

ermittelte Ömer Özyilmaz anhand akribischer Archivforschungen nicht nur die Lerninhalte

und Ausbildungsziele, sondern auch die Pflichtlektüren für die Studierenden.

Die Ergebnisse dieser Recherchen zeigen, dass diese Bildungseinrichtungen je nach Ausbildungsstufen

neben theologischen Fächern wie tafsir (Exegese), ilmihal (Katechese),

fiqh (Normenlehre), ḥadīṭ-Wissenschaften und systematischer Theologie auch Rhetorik,

Logik und naturwissenschaftliche Disziplinen anboten. 560 In diesem Kontext zeigen die

Erfahrungen im muslimischen Spanien (711–1492 n. Chr.), dass man zwischen der Religion

und der Wissenschaft grundsätzlich keinen Widerspruch sah. Wie die Hochburgen

der islamischen Wissenschaften, Kairo und Bagdad, hatte sich auch Cordoba mit seinem

bayt al-hikma (Haus der Weisheit) zum einem Wissenszentrum entwickelt. Um sich als

Wissenschaftler zu etablieren, mussten junge Menschen den Nachweis religiöser Grundbildung

wie in den quttab als religiös-weltliche Grundschulen und der Madrasa-Bildung

erbringen, denn die gesamten naturwissenschaftlichen Analysen beruhten nicht nur auf

der Grundlage griechischer Vordenker, sondern der Koran diente als Referenz und als

Rahmenstruktur für Interpretationen. 561 Hierzu Howard R. Turner:

557 Vgl. a. a. O., S. 381 f.

558 Vgl. Hasan Akgündüz, Klasik Dönem Osmanli Medrese Sistemi. Amac – Yapi – Isleyis, Istanbul

1997, S. 433

559 Vgl. a. a. O., S. 433 f.

560 Vgl. Ömer Özyilmaz, Osmanli Medreselerinin Egitim Programlari, Ankara 2002, S. 59 ff.

561 Vgl. Howard R. Turner, Science in Mediaval Islam. An Illustrated Introduction, Austin/Texas

2002, S. 30 f.


196 A Theoretischer Teil

„The character of Islam’s specialized scientific education can be better understood if one

considers the traditional Islamic concept of knowledge and the ways in which knowledge

and the curriculum were organized and classified in early Islam. Not only was the pursuit of

knowledge exhorted by many hadith, the statements traditionally attributed to Muhammad,

the Qur’an emphasizes the value of knowledge in grasping the nature of the world around us.

As previously noted, Muslim religious doctrine defines the universe as a sign of God’s activity;

therefore, study of that activity is thought to provide knowledge of the right path toward the

proper life on earth and salvation in the life beyond. Muslim religious leaders and educations

devoted considerable time to classifying the sciences and clarifying their specific functions

as they would help each person to acquire knowledge within an intellectual framework that

would serve God’s purpose.“ 562

Die madrasa hatten in ihrer Gründungsphase für die religiösen Disziplinen statische

Prämissen angelegt, die auf die heiligen Quellen zurückgeführt wurden. Die wissenschaftliche

Denkweise und Methodik war scholastisch und basierte primär auf einem

normativ-deduktiven Ansatz. Das Memorieren von Texten spielte eine größere Rolle als

der kritisch-reflektive Zugang. Des Weiteren wurde eine Dogmatisierung religiöser Lehren

aufgrund des Einflusses von griechischen Denkern, wie von Aristoteles, in Physik und

Astronomie forciert, was zu einem statischen Weltbild beitrug. Dieses von festgelegten und

unveränderbaren Wahrheiten ausgehende Vorverständnis wurde auch auf die Naturwissenschaften

angewandt, was infolge einer Dogmatisierung und einen Paradigmenwechsel

in Europa, der unter anderem durch experimentelle Empirie initiiert wurde, fatale Folgen

für den Anschluss an wissenschaftliche Entwicklungen haben sollte. 563 Seit dem Ende 17.

Jahrhunderts machte sich dieses Gefälle spürbar. Das Osmanische Reich musste sich der

Gefahr eines Kollapses im wirtschaftlichen, militärischen und sozialen Bereich stellen und

den Anschluss an den Modernisierungsprozess finden. 564

In seiner Analyse zum Niedergang und Verfall des Medresensystems ab spätestens Anfang

des 17. Jahrhunderts führt Hüseyin Demir weitere Faktoren auf, die parallel mit der

Schwächung des Osmanischen Reichs infolge militärischer Niederlagen, wirtschaftlicher

Misere, demografischer Zunahme und sozialer Probleme eintraten:

„Die Zentralisierung“: Durch das Entstehen des geistigen Zentrums der Madrasa in

Istanbul war die Resonanz auf die höheren Bildungseinrichtung dort groß, weil man die

Qualifikation für die „höchsten Justizorgane“ nur dort erlangen konnte. Der Andrang

auf diese Institutionen führte zu organisatorischen und logistischen Problemen und

brachte zugleich soziale Konflikte mit sich.

„Die Protektion“: bei der Aufnahme von Schülern in die Madrasa, der Erlangung von

Abschlüssen sowie der Vergabe von Posten wurden zunehmend statt der Filterkriterien

‚Qualifikation‘, ‚Wissen‘ und ‚Fähigkeiten‘ die „Begünstigungen“ von gesellschaftlich

privilegierten Personen sowie politische Präferenzen bestimmend.

562 A. a. O., S. 31 f.

563 Vgl. Kenan Yakuboglu, Osmanli Medrese Egitimi ve Felsefesi, Istanbul 2006, S. 243

564 Vgl. Ilbey Ortayli, Ottoman Studies, Istanbul 2004, S. 77 ff.


4 Der Diskurs über den islamischen Religionsunterricht 197

„Die Änderung in den Bildungs- und Unterrichtsmethoden“: Aufgrund des großen

Bedarfs an Verwaltungsbeamten und Richtern ab dem 16. Jahrhundert kam es unter

anderem zu verkürzten Ausbildungszeiten, zur Reduktion der Lehrpläne, zur Überfüllung

der Medresen, zu wissenschaftlichen und pädagogischen Einbußen infolge der Verlegung

der Ausbildung auch in die Moscheen sowie zu intransparenten Vergabemethoden für

Richter- und Lehrerberufe.

„Die Rebellion der Studenten zum Ende des 16. Jahrhunderts“: Durch das Gefälle

innerhalb des Medresensystems und durch die Bevorzugung der höheren Istanbuler

Bildungseinrichtungen und damit ungleicher beruflicher Chancen oder sozialer

Mobilität wuchs die Unzufriedenheit unter den jungen Studenten, was Revolten und

Aufstände begünstigte.

„Die Ablehnung der Naturwissenschaften“: Die negative Haltung gegenüber den modernen

Naturwissenschaften und der Wegfall von Fächern wie der Philosophie aus den

Lehrplänen forcierten den Niedergang des Medresensystems. Gleichzeitig kam es zu

einer Stagnation in der Theologie, wie etwa in der kalam (systematische Theologie), da

auch theologische Fächer eine zunehmend untergeordnete Rolle spielten. Insgesamt

führte dieser Prozess dazu, dass das Bildungsziel, „denkende und forschende Persönlichkeiten“

auszubilden, nicht mehr verfolgt wurde. 565

Die Ursachen für die geistige Stagnation in der Theologie, die bis heute von muslimischen

Denkern beklagt wird, ist auf den übergeordneten, historischen Kontext zurückzuführen,

und zwar auf die Schließung des „Tores des iğtihād“. Mit iğtihād ist „das Prinzip der selbständigen,

individuellen Entscheidung“ 566 auf der Basis der islamischen Primärquellen

gemeint, um anhand der islamischen Theologie oder Jurisprudenz Antworten auf aktuelle

Herausforderungen zu finden. Dieses Prinzip in der Rechtsfindung hatten frühe muslimische

Gelehrte angewandt, um aus dem Wechselspiel von ratio und Quellen Interpretationen

abzuleiten. In diesem Zuge entstanden unterschiedliche Rechtsschulen und zahlreiche

Grundlagen- und Regelwerke. Ab dem 11. Jahrhundert wurden zunehmend Forderungen

laut, dass im Grunde alles „Wichtige“ in der Religion bereits durchdacht und schriftlich

fixiert worden sei, weswegen man nun das „Tor des iğtihād “ verschließen und sich mit

den älteren Werken zufrieden geben sollte. Diese geistige Klima etabliere sich im Zuge

dieser Diskussionen mit der fatalen Folge, dass sich die taqlid (Imitation, Nachahmung)

fortan zuungunsten der individuellen Reflexion durchsetzte. Einer der Kritiker dieser

„Fiktion“ ist der muslimische Intellektuelle Muhammad Iqbal, der in seinem Reformwerk

Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam auf die Bedeutung der „spirituellen

Demokratie“ im Islam hinweist und die „Schließung der Türen des iğtihād “ unter anderem

als ein Produkt der „intellektuellen Faulheit“ entlarvt, die insbesondere „in Zeiten spirituellen

Verfalls große Denker zu Götzen“ erhebe. 567 Die große Wertschätzung der Gelehrten

der Vergangenheit (im Zeitraum vom 8. bis zum 10. Jahrhundert) resultiert gemäß dem

565 Vgl. Demir, Die Osmanischen Medresen, S. 99 ff.

566 Rüdiger Lohlker, Islam. Eine Ideengeschichte, Wien 2008, S. 109

567 Vgl. Muhammad Iqbal, Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam, 2. Auflage, Berlin

2006, S. 206


198 A Theoretischer Teil

Islamwissenschaftler Lutz Berger aus der Überzeugung, dass die zeitliche Distanz zum

Propheten Muhammad und seinen Gefährten – und somit zur glorifizierten „Heilzeit“ –

die selbstständige Rechtsfindung erschwere. 568 Dazu Berger:

„Diese sog. ‚Schließung der Pforten des iğtihād’ ist ein typisches Beispiel für das in vormodernen

Agrargesellschaften generell vorherrschende Geschichtsbild. Der heute in Bereichen wie

Wissenschaft und Technik stets spürbare Fortschritt gehörte nicht zur täglichen Erfahrung

vormoderner Menschen. Macht achtete die Älteren unter den Lebenden und die Vorfahren,

deren Lebensweise, anders als in modernen Industriegesellschaften, nicht durch die rasche

Veränderung der Verhältnisse offenkundig entwertet war. Die Vergangenheit erschien den

Menschen besser als die Gegenwart. Das gilt insbesondere für den Teil der Vergangenheit,

der als religiöse Heilzeit galt.“ 569

Um die Stagnation in der weltlichen und religiösen Bildung zu überwinden, gab es im

Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert Bestrebungen, das Madrasa-System den Erfordernissen

dieser Zeit entsprechend zu modernisieren. Diese Bestrebungen stehen ab 1839

im Kontext der weitreichenden staatlichen Reformbemühungen, der tanzimat, im Sinne

einer Öffnung zum Westen in den Bereichen von Verwaltung, Justiz und Militär sowie

Wirtschaft zusammen, um den Niedergang des Osmanischen Reiches zu stoppen sowie

die Kluft zum modernen, industrialisierten Europa zu verkleinern. Hier fügen sich die

Reformbestrebungen im Bildungssystem ein, wobei es nicht nur um die Anhebung des

Niveaus ging, sondern auch um das Ziel, die soziale Disziplinierung auf der Basis religiös

begründeter Werte durchzusetzen sowie dem Sultan getreue Untertanen zu erziehen. Bereits

in der Vergangenheit wurde – wie oben erwähnt – das Bildungssystem zur Profilierung des

Sunnitentums gegen die „schiitische Gefahr“ aus dem Reich der Safeviten instrumentalisiert.

Allerdings hatten sich die Strukturen in diesen höheren Bildungseinrichtungen über die

Jahrhunderte derart fest etabliert, dass diese staatlichen Bestrebungen nicht erfolgreich

waren. Daher suchte man die Lösung in den neugegründeten maktaba, mit dem Ziel einer

naturwissenschaftlichen Kenntnisvermittlung sowie der Anhebung und Verbreitung

der Allgemeinbildung. 570 Ebenso spielte der Religionsunterricht eine wichtige Rolle. Dort

wurden schwerpunktmäßig Koran-Lehre, Katechese sowie islamische Ethik vermittelt,

wobei das Memorieren eine zentrale Lernmethode war. Insgesamt waren sowohl in der

weltlichen als auch in der religiösen Bildung ähnliche Mängel hinsichtlich des qualifizierten

Lehrpersonals und der ineffizienten Lehrmethoden zu beklagen. So ist daher im ersten

Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts noch zu lesen, dass sich der Erfolg in der Anhebung der

Allgemeinbildung nicht wie erwartet zeige und damit eng verbunden ebenso die religiöse

Bildung sehr defizitär sei. Die traditionellen Bildungseinrichtungen der Medresen dagegen

568 Vgl. Lutz Berger, Islamische Theologie, S. 116

569 Ebd.;Hervorhebungen im Original.

570 Vgl. Selcuk Aksin Somel, Osmanli’da Egitimin modernlesmesi (1839–1908). Islamlasma, Otkrasi

ve Disiplin, 1. Baski, Istanbul 2010, S. 35 ff.


4 Der Diskurs über den islamischen Religionsunterricht 199

konnten die skizzierten Mängel noch weniger überwinden, um qualifiziertes Personal für

akademische Bildung sowie für die Praxis bereitzustellen. 571

Der Erste Weltkrieg brachte insgesamt einen tiefgreifenden Einschnitt mit sich, da

dieser den endgültigen Zerfall des Osmanischen Reichs einleitete und die Entstehung der

muslimischen Nationalstaaten förderte. Entsprechend versuchten die entkolonialisierten,

islamisch geprägten Länder im Laufe des 20. Jahrhunderts ihren politischen Weg zu finden.

Hans Küng zeichnet im Kontext des Paradigmenwechsels hin zu einer Moderne den

säkuralistischen, den islamistischen und den sozialistischen Weg auf, den die islamischen

Länder eingeschlagen haben. Seine Aussage, dass die gegenwärtigen Probleme in den islamisch

geprägten Ländern „mit der Neuordnung der Welt nach 1918“ zusammenhängen, ist

daher gerechtfertigt. Trotz unterschiedlicher Wege wurde in den islamischen Ländern das

neue System von staatlicher Seite der Bevölkerung aufgezwungen – meist durch Diktatoren

oder Einheitsparteiensysteme. So versuchten auch Länder wie die Türkei, die den säkularistischen

Weg eingeschlagen hatten, anders als Europa, wo die Modernisierungsschübe

(naturwissenschaftlich-philosophische, kulturell-theologische, politisch-demokratische

sowie technologisch-industrielle Revolutionen) ein jahrhundertelanger Prozess waren,

oberflächlich, undemokratisch im Sinn einer Erziehungsdiktatur und ohne das entsprechende

geistige Klima der Denkfreiheit, diese Modernisierung sozusagen von oben nach

unten durchzusetzen. 572 Nach dem laizistischen Vorbild von Frankreich begann sich unter

der Führung des ersten Staatspräsidenten der neuen türkischen Republik ab 1923 eine

radikale Säkularisierung durchzusetzen:

„Doch mit stupender Energie und atemberaubender Geschwindigkeit treibt Mustafa Kemal

die Realisierung voran. Es erinnert an die Französische Revolution – und erschreckt die ganze

islamische Welt: Da wagt es in der neuen Hauptstadt Ankara eine ‚Nationalversammlung‘,

1922 das Sultanat und 1924 die religiös-politische Jahrtausendinstitution des Kalifats im

Namen der Volkssouveränität einfach abzuschaffen und die Türkische Republik auszurufen.

Gleichzeitig werden das Amt des obersten Geistlichen, des Scheich ül-Islam, aufgelöst

und die für die Familien- und Erbrecht zuständigen Scharia-Gerichte abgeschafft. […] Im

Zuge der Reformen wird auch die islamische Kleiderordnung aufgehoben und der Fez – als

osmanisches ‚Karnevalstück‘ verspottet – durch den europäischen Hut ersetzt und bis in

die Moscheen hinein vom Militär erzwungen. Doch vielleicht nirgendwo wird der radikale

Paradigmenwechsel zur Moderne so deutlich wie beim Gesetz zur Ersetzung der arabischen

Sprache durch die lateinische Schrift (1928). 80 % der Türken seien Analphabeten, erklärt

Atatürk, weil für sie diese arabischen Zeichen unverständlich seien. […] Arabisch und Persisch

werden aus den Lehrplänen der Schulen gestrichen. Schon wenige Wochen nach dem

Gesetzerlaß werden sämtliche Beamten auf ihre Schriftkenntnis überprüft, und nur einen

Monat später müssen alle Zeitungen und Bücher in lateinischer Schrift erscheinen. Ein

Kulturbruch sondergleichen: Bald können nur noch Spezialgelehrte Bücher lesen, die vor

1929 erschienen sind. Und der arabisch geschriebene Koran, die heilige Schrift der Muslime?

Daran ist Atatürk, Positivist und Atheist, nicht interessiert. Von Religion, die er zunächst

aus strategischen Gründen im Kampf gegen die ‚Ungläubigen‘ instrumentalisiert, hält er

im Grunde nichts. Muhammad ist für ihn ein arabischer Beduine, der Islam eine Religion

571 Vgl. Zeki Salih Zengin, II. Abdülhamit Dönemi Örgün Egitim Kurumlarinda Din Egitimi ve

Ögretimi, Istanbul 2009, S. 53 ff.

572 Vgl. Küng, Der Islam, S. 525 ff.


200 A Theoretischer Teil

geeignet für die Araber, nicht für die Türken. Der Passus, der den Islam zur Staatsreligion

erklärt, wird 1928 aus der Verfassung gestrichen.“ 573

Wie Klaus Kreiser in seiner historischen Analyse dieser Phase aufzeigt, stellte ein für die

institutionelle religiöse Unterweisung weitreichender Schritt das Gesetz „Über die Vereinheitlichung

des Unterrichts“ dar, mit der „das islamische Schulwesen ausgetrocknet

werden“ sollte. In der ganzen Republik sollten staatliche Bildungseinrichtungen die Rolle

der Medresen übernehmen. Lediglich „zwei Nischen“ sollten hinsichtlich der institutionellen

Glaubensvermittlung gelassen werden: zum einen die neugegründeten Imam Hatips zur

Ausbildung von Imamen sowie die Möglichkeit für höhere islamische Studien an einer

Fakultät der Istanbuler Universität. Die Aufsicht über die religiösen Einrichtungen sollte

das umstrittene Präsidium für religiöse Angelegenheiten, die Diyanet İşleri Başkanlığı als

das „kemalistische Staatskirchentum“, übernehmen. 574 Einerseits wurden also eine radikale,

ideologische Säkularisierung der Gesellschaft und die gesellschaftliche Verdrängung des

Islam in die Wege geleitet, andererseits wurde in der 1924 gegründeten und bis heute dem

Ministerpräsidium unterstellten Behörde das Ziel der staatlichen Kontrolle der Religion

verfolgt. Zählte man in der Gründungsphase damals noch etwa 7100 Beschäftigte, sollte

diese Zahl mit der strukturellen Entwicklung, der Konkretisierung und Erweiterung der

Aufgabenfelder sowie der Erlangung einer verfassungsrechtlichen Legitimation – was

zugleich die zunehmende Bedeutung dieser Behörde, vor allem angesichts der politischen

und religiösen Spannungen in der Geschichte der Türkei, vor Augen führt – bis Ende der

2000er-Jahre auf über 80 000 ansteigen. Einen Großteil der Beschäftigten bilden dabei

Imame, die von Anbeginn in den Moscheen einen staatskonformen Islam predigen, die

Gottesdienste leiten sowie die religiöse Erziehung unter staatlicher Aufsicht übernehmen. 575

Für die religiöse Erziehung und Bildung in Familie, Gemeinde und Schulen sowie

Hochschulen stellte die religionsfeindliche Zeit vom Anfang der 1920er- bis zum Ende der

1940er-Jahre trotz der eingeräumten, staatlich gelenkten Nischen insgesamt eine Zäsur

dar. Muslimische Eltern waren in der religiösen Erziehung ihrer Kinder überwiegend sich

selbst überlassen. Berücksichtigt man die damalige hohe Rate der Analphabeten, so kann

man nachvollziehen, dass sich dieses Defizit in der religiösen Bildung der Eltern widerspiegelte.

Da sie selbst die Religion oral vermittelt bekamen, sollten die eigenen Kinder in der

gleichen Weise unterwiesen werden. 576 Auf die religiöse Unterweisung in den Moscheen

konnte man kaum zurückgreifen, da die staatlichen Repressalien die Moscheekatechese

stark einschränkten. Dies zwang viele Imame und Gelehrte, wie den bekannten Süleyman

Hilmi Tunahan, den Islamunterricht im Untergrund zu organisieren und umzusetzen. Im

573 A. a. O., S. 527 f. u. 529 f.

574 Vgl. Klaus Kreiser, Geschichte der Türkei: Atatürk bis in die Gegenwart, München 2012, S. 43

575 Vgl. Aysun Yasar, Das Präsidium für religiöse Angelegenheiten der türkischen Republik: eine

Institution zwischen Staatspolitik und Religion, in: Irene Dingel/Christiane Tietz (Hrsg.), Die

politische Aufgabe der Religion: Perspektiven der drei monotheistischen Religionen, Göttingen

2011, S. 104 ff.

576 Die Kinder, die in dieser Phase unter diesen Bedingungen ihre religiöse Sozialisation durchliefen,

sollten ab Anfang der 1960er-Jahre als Gastarbeiter nach Deutschland einreisen und die

Gründung der muslimischen Infrastruktur forcieren.


4 Der Diskurs über den islamischen Religionsunterricht 201

öffentlichen Bildungssystem wurde dem Religionsunterricht ebenfalls kein Platz eingeräumt;

stattdessen wurde eine Art Ethikunterricht angeboten.

Erst zu Beginn der 1950er-Jahre sollte sich die Atmosphäre entspannen und – wiederum

primär aus politischen Kalkülen heraus – eine religionsfreundlichere Haltung eingenommen

werden. So wurde zum einen die Gründung der Ilahiyat Fakultesi, 577 die Fakultäten für

islamische Theologie, weiterhin gefördert 578 und zugleich die Expansion der Predigerschulen

forciert. Analysiert man in diesem Zusammenhang zunächst die Struktur der Fakultäten,

so erkennt man, dass eine islamische Religionspädagogik nicht angeboten wurde. So ist

auf der Seite der ersten Fakultät für islamische Theologie bezüglich der Historie der islamischen

Religionspädagogik in Ankara zu lesen, dass diese als Wissenschaft erst Jahrzehnte

später in Europa etabliert wurde. Während im Gründungsjahr 1949 die Religionspädagogik

in den Lehrplänen überhaupt nicht erwähnt wird, sollten 1953 für die Studierenden

im Rahmen des Theologiestudiums eine zweistündige Vorlesung zur „Pädagogik“ und

577 Wie dem folgenden Zitat des Wissenschaftsrats zu entnehmen ist, existieren an Hochschulen der

islamischen Welt begriffliche, inhaltliche sowie wissenschaftsorganisatorische Differenzen: „In

islamischen Selbstdarstellungen ist der Begriff „islamische Theologie“ zwar gängig; er bezieht

sich jedoch ursprünglich auf jene islamischen scholastischen Diskurse, welche die Muslime

als kalām (Diskurs) oder ‘ilm ilāhī (Lehnübersetzung aus dem Griechischen, wörtlich „gottbezogene

Wissenschaft“) bezeichnen. Das, was heute unter „islamischer Theologie“ verstanden

wird, heißt – aus dem arabischen Raum kommend – „(arabische) religiöse Wissenschaften“

beziehungsweise „arabische Religionswissenschaften (‘‘ulūm ad-dīn(al-‘arabiya))“. In der Türkei

werden die diesbezüglichen Fakultäten in der Regel „Theologische Fakultät“ (İlahiyat Fakültesi)

genannt. Das Feld des islamischen Wissens wird an führenden akademischen Institutionen

in Ägypten (al-Azhar-Universität in Kairo), in Saudi-Arabien (Umm Al-Qura Universität in

Mekka), im Iran (Azad-Universität Ghom), in der Türkei (Universität Ankara) oder in Pakistan

(International Islamic University Islamabad) sehr unterschiedlich strukturiert. Vielfach

unterscheidet man auf normativer Ebene zwischen islamischer Dogmatik und islamischer

Jurisprudenz. Hinzu kommen Bereiche wie arabische Sprache und Literatur, islamische

Geschichte und Zivilisation sowie vergleichende Religionswissenschaft. Eine international

einheitliche Einteilung islamischer Wissensfelder ist nicht erkennbar. Die Koranwissenschaften,

die sich mit dem Koran und der Tradierung von Offenbarungstexten beschäftigen, sind

oft als Querschnittsfelder allen Fächern zugeordnet, können aber auch – wie in Saudi-Arabien

beispielsweise – als eigenständige Disziplinen institutionalisiert sein. In schiitischen Kontexten

wird zudem Philosophie als integraler Bestandteil des islamischen Wissenschaftskanons

geführt. Bei Neugründungen von Hochschulen gibt es die Tendenz, diese Disziplinen unter der

Überschrift „islamisches Offenbarungswissen und Humanwissenschaften“ zusammenzufassen,

denen soziologische, psychologische, historische und staatswissenschaftliche Disziplinen zugeordnet

sind. Insgesamt zeichnet sich die Tendenz ab, normativ orientierte Disziplinen dieser

Wissenschaftsgruppe in einen Zusammenhang mit historisch-hermeneutischen Disziplinen

zu bringen.“ (Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und

religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, Köln 2010, S. 55 f.).

578 Da der Staat in den letzten drei Jahrzehnten die höhere religiöse Bildung vernachlässigte,

stand man jedoch vor dem Problem, für die theologischen Lehrstühle qualifiziertes Personal

zu rekrutieren. So begann man, auch Professoren zu berufen, die über keine theologischen

Qualifikationen verfügten. Wie noch später in dieser Abhandlung dargestellt wird, sind nach

über 60 Jahren die gleichen Herausforderungen in Deutschland bei der Besetzung der Lehrstühle

für islamische Theologie und Religionspädagogik festzustellen.


202 A Theoretischer Teil

1955/56 im fortgeschrittenen Studium eine einstündige Vorlesung „Erziehungs- und

Lehrmethoden“ angeboten werden. Aufgrund fehlender qualifizierter Pädagogen wurden

wissensorganisatorische Änderungen vorgenommen und die Pädagogik dem Lehrstuhl

für Religionspsychologie und Pädagogik zugewiesen. In den 1960er-Jahren sollte das Fach

temporär der systematischen Philosophie zugeordnet werden, um dann wieder zur Religionspsychologie

zurückgeführt zu werden. Bis zu den 1960er-Jahren erschienen an der

Theologischen Fakultät lediglich zwei Publikationen mit einer pädagogischen Ausrichtung

– eine Dissertationsschrift und eine Monografie mit den Titeln Zur Rolle der Kultur in der

Charakter-/Persönlichkeitsentwicklung (1954) sowie Die Hauptthemen der Erziehungswissenschaft

(1957). Religionspädagogische Studien begannen erst mit Beyza Bilgin, die sich

in den Jahren 1965/66 als wissenschaftliche Assistentin diesen Themen widmete und 1971

die erste akademische Schrift zu einer islamischen Religionspädagogik, ihre Dissertation

mit dem Titel Die Liebe als die Grundlage einer islamischen Erziehung verfasste. Als zweite

Publikation zur islamischen Religionspädagogik folgte Bilgins 1979 veröffentliche Habilitationsschrift

Religiöse Erziehung in der Türkei und Religionsunterricht an Gymnasien. Die

wissenschaftsorganisatorische Entwicklung der Religionspädagogik erhielt schließlich zum

Ende der 1970er-Jahre einen Auftrieb, als eine Kommission an der Theologischen Fakultät

in einem Bericht – infolge der zunehmenden Bedeutung religionspädagogischer Angebote

für das Lehramt – die Gründung eines von den Erziehungswissenschaften unabhängigen

religionspädagogischen Lehrstuhls forderte. Schließlich wurde diese Empfehlung von den

Universitätsgremien positiv bewertet, und am 13.05.1980 wurde der erste Lehrstuhl für

Religionspädagogik etabliert. Im Laufe der 1980er- und insbesondere in den 1990er-Jahren

sollte die Religionspädagogik in der Ausbildung der Lehrer für das Schulfach „Religionsund

Ethik/-Moralkunde“ 579 sowie in der Lehrplanentwicklung eine größere Rolle spielen.

Seit der erfolgreichen Etablierung der Religionspädagogik in Ankara war sie infolge ihrer

Pionierrolle bei der Einführung des Fachs an anderen türkischen Universitäten und ebenso

in Publikationen sowie Materialentwicklungen federführend. 580 Mittlerweile existieren in

der Türkei über 20 Fakultäten für islamische Theologie, wobei an elf von ihnen das Fach

islamische Religionspädagogik angeboten wird.

Die Bewertung der sehr jungen Geschichte der akademischen Disziplin ‚Religionspädagogik‘,

die Analyse religionspädagogischer Publikationen und Materialien sowie der

Handlungsfelder, die Inhalte und Ziele des Schulfachs ‚Religions- und Ethik/-Moralkunde‘

und schließlich die Rolle der Bezugswissenschaften lassen folgende Schlussfolgerung zu,

die zusammengetragen die schwierigen Voraussetzungen für die Etablierung einer islamischen

Religionspädagogik in Deutschland vor Augen führen:

Akademisches Fach ‚Religionspädagogik‘: Die historische Skizzierung an einer der

renommiertesten theologischen Fakultäten der islamischen Welt zeigt, dass das Fach

‚Islamische Religionspädagogik‘ noch in den Kinderschuhen steckt. Dies spiegelt sich

in der Anzahl der Lehrstühle – deren Einführung im gesamten Land nur schrittweise

579 Die Ausbildung dieser Lehrer begann bereits 1953 an nicht-theologischen Instituten.

580 Vgl. „Din Egitimi Anabilim Dali“ abgerufen unter: https://divinity.ankara.edu.tr/anabilimdali.

php?id=31 [06.04.2013]


4 Der Diskurs über den islamischen Religionsunterricht 203

erfolgt –, in der Wissenschaftsvernetzung, im geringen wissenschaftlichen Diskurs –

auch zwischen muslimischen Religionspädagogen aus anderen Ländern – und in den

Lehrplänen wider. Des Weiteren ist eine starke Fokussierung des Handlungsfeldes auf

die Schule und die Vernachlässigung anderer Bereiche, wie Moschee, Familie usw., zu

verzeichnen So ist ein Fach ähnlich der Gemeindepädagogik oder der Katechese an

deutschen Instituten im Fach ‚Praktische Theologie‘ nicht zu finden.

Wissenschaftliche Publikationen: Des Weiteren ist zu monieren, dass zwar die Publikationen

zu religionspädagogischen Themen zugenommen haben, sich diese Diskussionen

allerdings auf allgemeine Grundorientierungen und Prinzipien auf der Basis einer

islamisch-theologischen Anthropologie beschränken. Exemplarisch hierfür ist die

Publikation Islam und islamische Religionspädagogik in einer modernen Gesellschaft,

der sozusagen ersten und führenden Religionspädagogin Beyza Bilgin. Dort werden

zwar die Grundfragen und Grundzüge einer modernen islamischen Religionspädagogik

sowie die Prinzipien einer islamischen Erziehung – die sie primär auf die Liebe zurückführt

– skizziert, doch reichen diese über Ansätze nicht hinaus. Es fehlen Hinweise auf

übergreifende wissenschaftliche Diskussionen zu (unterschiedlichen) Definitionen und

Grundbegriffen einer zeitgemäßen islamischen Religionspädagogik, zum Stand der

kritischen Reflexion und zur systematischen Aufarbeitung des historischen Materials

in der islamischen Erziehung, über Diskussionen hinsichtlich der Methodologie sowie

der wissenschaftstheoretischen Ansätze, über religionsdidaktische Konzeptionen und

deren Realisierung, über die Konkretisierung einer theologischen beziehungsweise

pädagogischen Anthropologie und übergreifende bildungs- und religionspädagogischen

Theorien, über Diskussionen bezüglich der Erweiterungen der Handlungsfelder sowie

über das Verständnis der Religionspädagogik als Verbundwissenschaft. Der Vergleich mit

anderen führenden Religionspädagogen ergibt ein ähnliches Bild, also einen eher katechetischen

Charakter, was sich auch in den entwickelten Schulmaterialien widerspiegelt.

Außeruniversitäre religionspädagogische Zentren: Derartige Zentren existieren als

Beratungsstellen und als Ansprechpartner für die Praxis, für Fortbildungen sowie

religionspädagogische Materialien so gut wie nicht.

„Religions- und Ethik/-Moralkunde“: Dieses seit den 1950er-Jahren angebotene Pflichtfach

an Schulen ist, anders als in Deutschland, nicht ein ordentlicher Religionsunterricht,

dessen Inhalte in Übereinstimmung mit den Religionsgemeinschaften festgelegt

wurde, sondern ein unter staatlicher Aufsicht konzipierter Unterricht über den Islam

sowie über ethische Fragen. Diese Unterrichtsform hat wiederum Einfluss auf die islamische

Religionspädagogik an den Universitäten, die ihr Hauptaugenmerk sich in ihren

Ansätzen auf diese inhaltliche Ausrichtung richten. Nach einem Parlamentsbeschluss

von 2013 soll zusätzlich als freiwilliges Wahlfach „Koran-Unterricht und die Biografie

des Propheten Muhammad“ in Form einer Katechese in der Mittel- und Oberstufe

angeboten werden. 581 Diese Entscheidung wird Rückwirkungen auf die pädagogisch/

didaktische Ausbildung und die religionspädagogischen Ansätzen haben.

581 Vgl. Ugur Becerikli, „Kuran secmeli ders oldu“, abgerufen unter: http://www.sabah.com.tr/

Egitim/2012/03/30/kurani-kerim-ortaokul-ve-lisede-secmeli-ders [07.04.2013]


204 A Theoretischer Teil

Bezugswissenschaften: Die moderne Religionspädagogik fungiert als eine Verbundwissenschaft

und ist daher auf Impulse der Theologie, der Religionswissenschaft – als

Reflexion aus der Außenperspektive –, der Erziehungswissenschaft, der Psychologie

und den Sozialwissenschaften, insbesondere der (Religions-)Soziologie, angewiesen. Die

Qualität der Religionspädagogik hängt eng mit den Fortschritten in diesen akademischen

Disziplinen zusammen. Daher ist für den türkischen Kontext festzustellen, dass

diese Wissenschaften noch nicht die Qualität wie an europäischen Universitäten haben.

So ist im internationalen Diskurs zu diesen Wissenschaften kaum ein muslimischer

Forscher zu finden. Insgesamt wird keine einzige türkische Universität – trotz einiger

Elite-Hochschulen wie den Marmara Universitäten – in den internationalen Rankings

aufgelistet. Ein Problem bis in die Gegenwart stellt die Ideologisierung des Hochschulsystems

dar, das sehr stark kemalistisch orientiert ist. So ist es interessant, dass es in vielen

Studiengängen Pflicht ist, Seminare zu den kemalistischen Revolutionen zu besuchen.

Die oben genannte selektiv und fragmentarisch angelegte Analyse erhebt nicht den Anspruch,

das Phänomen in all seiner Komplexität zu erfassen. Die Entwicklungen am Beispiel

der Türkei sind nicht nur aufgrund der quantitativen Dominanz der türkischstämmigen

Muslime hierzulande zu begründen, sondern auch deshalb, weil das Land innerhalb der

muslimischen Welt zu den fortgeschrittensten zählt. Ebenso zeigen sich die Anzeichen der

Säkularisierung – trotz der ähnlich hohen subjektiven Einschätzung der Religiosität und

Identifikation mit der Religion wie in Polen – mittlerweile in unterschiedlichen gesellschaftlichen

Bereichen. Zwar gibt es kritischere Stimmen, die von einer „De-Säkularisierung“

sprechen, allerdings basiert diese These nicht auf empirischen Daten. Zutreffend ist das

säkulare Gefälle aufgrund ungleicher wirtschaftlicher und sozialer Bedingungen zwischen

der West- und der Osttürkei. Doch ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Säkularisierung

mit ihrer eigenen Prägung, wie es die Unterschiede innerhalb der europäischen Länder

oder im Vergleich zu den USA zeigen, auch in der Osttürkei beginnt. 582 In den westlichen

Großstädten zeigen sich bereits Anzeichen von Enttraditionalisierung, Individualisierung

und Heterogenisierung der Lebensstile. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen müssen

auch die islamische Theologie und Religionspädagogik berücksichtigen und sich der gesellschaftlichen

Realität öffnen. Noch sind die Lehrmaterialien mit sehr katechetischen

und ideologischen Themen versehen, doch Konflikte sind infolge der gesellschaftlichen

Entwicklungen vorprogrammiert. 583 Ebenso wird sich die religionspädagogische Lehrerausbildung

ändern müssen. Doch auch hier besteht bereits ein Mangel an Lehrern, sodass

man auf Lehrer anderer Fächer zurückgreifen muss. 584 Dieser Mangel ist auch bei der

Imamausbildung anzutreffen, wobei man durch monetäre Reize versucht, ihn zu kompensieren.

Allerdings genügt diese Darstellung um aufzuzeigen, dass die zu entwickelnde

582 Eine wesentliche Voraussetzung hierfür ist die Beilegung des Kurdenkonflikts, der seit jahrzehn-ten

diese Region zu einem permanenten Ausnahmezustand führte und somit wichtige

ökonomische, technologische, kulturelle usw. Entwicklungen hemmte.

583 Vgl. Liselerde Din Dersi Eğitimi ve Ders Kitapları“ abgerufen unter: http://www.dinlertarihi.

net/dinler-tarihi/liselerde-din-dersi-egitimi-ve-ders-kitaplari.html am 16.3.2014

584 Vgl. „Din dersine işletmeci, İngilizce’ye ziraatçi“ abgerufen unter: http://www.zaman.com.tr/

gundem_din-dersine-isletmeci-ingilizceye-ziraatci_2051685.html am16.03.2013


4 Der Diskurs über den islamischen Religionsunterricht 205

islamische Religionspädagogik in Deutschland nicht einfach auf eine vergleichende Wissenschaftstradition

zurückgreifen und diese dann in einen Diskurs zu der christlichen

Religionspädagogik sowie den aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen setzen

und somit genuin eigene Theorien und didaktische Konzeptionen entwickeln kann. Die

islamische Religionspädagogik kann auch nicht auf muslimische Erfahrungen in Einwanderungsländern

wie England, den USA oder Kanada zurückgreifen, sondern sie scheint

im Gegenteil seit den Empfehlungen des Wissenschaftsrats im Jahr 2010 zur Gründung

von Zentren für Islamische Studien in Deutschland eine Vorreiterrolle in den westlichen

Ländern eingenommen zu haben. Allerdings befindet sich dieses Fach erst in einem Experimentierfeld,

in dem sich noch eine eigene islamische Religionspädagogik und -didaktik

entwickeln müssen. Die gegenwärtigen Entwicklungen an den Instituten für islamische

Theologie beziehungsweise islamische Studien zeigen zugleich, dass neben Personalproblemen

und infolge der noch nicht ausgereiften Lehrpläne (sowie der Reduktion auf die

beiden Primärquellen Koran und Sunna auf Kosten der – im Sinne einer „Dekulturierung“

– pluralen muslimischen Kultur) in den einzelnen Bundesländern, auch die Frage des

Verhältnisses zwischen einer islamischen Theologie und Pädagogik noch nicht geklärt

ist. 585 Daher ist man gegenwärtig eher dabei, durch die Reflexion der eigenen islamischen

Wissenschaftstradition sowie in der Auseinandersetzung mit der christlichen Pädagogik

allgemeine Prinzipien für das neue Fach zu formulieren. 586

4.2 Ausbildung von Imamen, muslimischen Pädagogen und

Nachwuchswissenschaftlern –

Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Etablierung

von Zentren für islamische Studien in Deutschland und

konzeptionelle Herausforderungen der akademischen

Disziplin ‚Islamische Religionspädagogik‘

Die Rolle der Imame als religiöse und soziale Multiplikatoren für die religiöse Sozialisation im

Integrationsprozess sowie für die hiesigen Muslime wurde zunächst durch das Goethe-Institut

und die Konrad-Adenauer-Stiftung erkannt und entsprechend der Fortbildungsangebote

entwickelt. Vor diesem Hintergrund hat als erste Stiftung das Goethe-Institut im Jahr 2002

damit begonnen, die Imame der Diyanet, die nach einem Rotationsverfahren als Beamte

des türkischen Staates in den fast 900 DITIB-Moscheegemeinden ihren Dienst antreten,

sprachlich und landeskundlich zu schulen. Der Schwerpunkt liegt dabei in mehrwöchigen

585 Vgl. Michael Kiefer, Islamische Religionspädagogik und -didaktik – Offene Fragen zu den

Gegenständen einer neuen wissenschaftlichen Fachrichtung, in: Irka-Christin Mohr/Michael

Kiefer (Hrsg.), Islamunterricht – islamischer Religionsunterricht – Islamkunde. Viele Titel –

ein Fach?, Bielefeld 2009, S. 37 ff.

586 Vgl. Bülent Ucar, Prinzipien einer islamischen Religionspädagogik, in: Ders. (Hrsg.), Islamische

Religionspädagogik zwischen authentischer Selbstverortung und dialogischer Eröffnung.

Perspektiven aus der Wissenschaft und dem Schulalltag der Lehrkräfte, Frankfurt/M. 2011,

S. 117 ff.


206 A Theoretischer Teil

Sprachkursen in der Türkei, wo die Grundlagen der deutschen Sprache auf dem Niveau

von A2 vermittelt werden. 587 Zusätzlich hat das Goethe-Institut in Kooperation mit dem

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und der Türkisch-Islamischen Union von 2009

bis 2012 ein bundesweites Modellprojekt zur Fortbildung von Imamen, die in Deutschland

bereits tätig sind, angeboten. Das Programm basierte auf den Vorbereitungskursen in der

Türkei und zielte daher auf die Vertiefung der Kenntnisse in der deutschen Sprache sowie

im interkulturellen und landeskundlichen Bereich. Diese zusätzliche Maßnahme wird mit

der „Schlüsselrolle der Imame“ in den muslimischen Gemeinden begründet:

„Durch Hospitationen in städtischen Einrichtungen soll der Praxisbezug der Fortbildung

sichergestellt werden. Den Imamen kommt als Vorbeter und Ansprechpartner in religiösen

Fragen eine Schlüsselrolle für die türkischen Migrantinnen und Migranten in Deutschland zu.

Besonders die jüngere Generation der Gemeindemitglieder in Deutschland äußert verstärkt

den Wunsch, dass den Imamen eine stärkere Mittlerrolle zur Mehrheitsgesellschaft zukommt

– eine Aufgabe, die ohne gute Sprach- und Landeskenntnisse kaum zu bewältigen ist.“ 588

Die Konrad-Adenauer-Stiftung bietet in Kooperation mit der Diyanet seit 2006 ein einwöchiges,

intensives Landeskundeseminar 589 mit folgenden Modulen an: praktisches Wissen

für den Alltag; Religionen in Deutschland; Politik, Wirtschaft und Werte in Deutschland

sowie Migration, Bildung und Medien. 590 Erwähnenswert ist zudem das erste akademische

Weiterbildungsprogramm an der Universität Osnabrück am Zentrum für Interkulturelle

Islam-Studien, das eine heterogenere Zielgruppe der Imame (unterschiedliche Verbände

und ethnische Zugehörigkeiten) anspricht und sich quantitativ und qualitativ von allen

bisherigen Maßnahmen unterscheidet. Das Weiterbildungsprogramm umfasst zwei Semester,

wird überwiegend von Hochschulprofessoren/-dozenten aus unterschiedlichen

Standorten in Deutschland geleitet und bietet neben landeskundlichen Themen auch

solche zur Migrationssoziologie, Religionswissenschaft und Religionspädagogik sowie

zu christlichen und jüdischen Theologien an. Die große Resonanz bei den muslimischen

Gemeinden auf dieses begrenzte Studienplatzangebot führt jährlich den Bedarf von Ausbildungen

in Deutschland vor Augen. 591

Diese kurzfristig angelegten Programme entstanden aus der Situation heraus, die fehlende

Möglichkeit einer theologischen Ausbildung in Deutschland zu kompensieren. Im

587 Vgl. „Intensivkurs für türkische Religionsbeauftragte“ abgerufen unter: http://www.goethe.de/

ins/tr/ank/lrn/de10303711.htm [09.04.2013]

588 „Fortbildung für Imame in Deutschland“ abgerufen unter: http://www.goethe.de/lhr/prj/daz/

inf/ima/de5674289.htm [09.04.2013]

589 Der Verfasser fungiert seit 2008 als Dozent für diese Fortbildungen, die zudem einen tieferen

Einblick in die Sozialstruktur, die Motivation sowie in die religiösen Orientierungen der jährlich

ca. 80 bis 100 auszubildenden Imame gewähren.

590 Vgl. Rauf Ceylan, Landeskundliche Schulungen türkischer Imame durch die Konrad-Adenauer-Stiftung:

ein positives Resümee, in: Michael Borchard/Ders. (Hrsg.), Imame und Frauen in

Moscheen im Integrationsprozess. Gemeindepädagogische Perspektiven, Göttingen 2011, S. 33

f.

591 Vgl. zu den Modulen des Weiterbildungsprogramms: http://www.islamische-religionspaedagogik.uni-osnabrueck.de/files/IWB_Praesentation_05-07-2011%281%29.pdf


4 Der Diskurs über den islamischen Religionsunterricht 207

Rahmen einer „verspäteten, nachholenden Integrationspolitik“ wurde durch die Impulse

der Deutschen Islam Konferenz im Jahr 2010 vom Wissenschaftsrat 592 – als zentralem Beratungsgremium

für Bund und Länder –vor dem Hintergrund der zunehmenden religiösen

Pluralisierung unserer Gesellschaft sowie des Bedarfs an wissenschaftlichen Expertisen

infolge dieser Herausforderungen die Einrichtung von Zentren für Islamische Studien

empfohlen. Religion hätte nach wie eine gesellschaftliche Relevanz, was sich sowohl in

ihrer Bedeutung für die Lebenswelten der Individuen als auch als „Bezugspunkt kollektiver

Zugehörigkeit“ vor allem durch die aktuellen öffentlichen Debatten bestätige. Ebenso

wird die soziale Verantwortung der Religionsgemeinschaften betont, wenn es um Fragen

der Ethik, des sozialen Lebens sowie um die Verteilungsgerechtigkeit geht. Daher seien

„Religion, religiöse Orientierungen und religiöse Institutionen eine Ressource“, auf die

das „demokratische Leben in der Bundesrepublik Deutschland“ zurückgreifen könne. 593

Dabei wird auch auf die mittlerweile zweitgrößte muslimische Religionsgemeinschaft

hingewiesen, die jedoch im Vergleich zu christlichen Studiengängen für Theologie und

Religionspädagogik im Nachteil ist. Der Wissenschaftsrat macht auf die zaghaften Schulversuche

zur Einführung des Religionsunterrichts in einzelnen Bundesländern, auf die

Defizite hinsichtlich einer akademischen Ausbildung für Imame und Religionslehrer und

auf die fehlenden spezifisch-islamischen theologischen Forschungen sowie den Mangel an

wissenschaftlichem Nachwuchs aufmerksam. 594 Vor dem Hintergrund der strukturellen

Benachteiligung kommt der Wissenschaftsrat zu folgender historischer Empfehlung:

„Der Wissenschaftsrat erkennt die Notwendigkeit eines weiteren Ausbaus islamischer Religionspädagogik

an, betrachtet es aber als dringlich, dass dieser Ausbau von der Etablierung

theologisch orientierter islamischer Studien in Deutschland begleitet wird. Die disziplinäre

Entwicklung islamischer Studien in diesem theologischen Sinne bildet die Voraussetzung

dafür, dass der religionspädagogischen Ausbildung künftiger islamischer Religionslehrer

und -lehrerinnen eine methodisch fundierte Reflexion religiöser Schriften, Deutungs- und

Normativitätsansprüchen sowie Praktiken zugrunde liegt, die wissenschaftlichen Ansprüchen

genügt. Zugleich wird in dieser Weise die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses

für die Selbstrekrutierung der islamischen Religionspädagogik und der islamischen Studien

ermöglicht. Akademisch fundierte islamische Studien bilden nicht allein die Voraussetzung

für eine qualifizierte Religionspädagogik, sondern sie eröffnen auch die Möglichkeit einer

wissenschaftlich fundierten Ausbildung von Religionsgelehrten in den wissenschaftsgeprägten

Gesellschaften Europas. Eine solche Fundierung kann dazu beitragen, islamische Normen

und Wertvorstellungen – parallel zu den Positionen und Perspektiven anderer Religionen

– in angemessener Weise in die akademischen, aber auch in die öffentlichen Debatten einzubringen.

Aus diesen Gründen sieht der Wissenschaftsrat es als ein vordringliches Ziel an,

die Entwicklung islamischer Studien in Deutschland rasch und konsequent voranzutreiben.

Mittelfristig sollten sich zwei bis drei Standorte für theologisch orientierte islamische Studien

mit unterschiedlichen Profilen entwickeln, um auch die institutionellen Voraussetzungen

592 Vgl. Rauf Ceylan, Islamkonferenz, in: Karl-Heinz Meier-Braun/Reinhold Weber (Hrsg.),

Deutschland Einwanderungsland. Begriffe, Fakten, Kontroversen, Stuttgart 2013 , S. 207

593 Vgl. Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen

Wissenschaften an deutschen Hochschulen, Köln 2010, S. 9 f.

594 Vgl. a. a. O., S. 39 ff.


208 A Theoretischer Teil

dafür zu schaffen, dass die Pluralität islamischen Glaubens in der Bundesrepublik Deutschland

adäquat berücksichtigt werden kann.“ 595

Da einerseits der Islam in Deutschland rechtlich nicht als Religionsgemeinschaft anerkannt

ist, andererseits infolge verfassungsrechtlicher Bestimmungen ohne die Einbeziehung

der muslimischen Organisationen der Staat und die Universitäten die Einrichtung der

Zentren für Islamische Theologie (Lehrplanplanentwicklung, Einstellung wissenschaftlichen

Personals) nicht vornehmen können, schlägt der Wissenschaftsrat die pragmatische

Lösung der Gründung eines zunächst für fünf Jahre angelegten muslimischen Beirats

zur Erprobung vor, um die Unterstützung der muslimischen Basis (Studierende, Eltern,

Moscheegemeinden usw.) zu gewährleisten. Zusammensetzen soll sich der Beirat aus

Vertretern muslimischer Gemeinschaften, wie dem Koordinierungsrat der Muslime, und

aus muslimischen Religionsgelehrten und er sollte – infolge der Pluralität und Heterogenität

– für eine neue muslimische Gemeinschaft offen sein sowie nicht-organisierte

Muslime durch muslimische Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens vertreten lassen.

Der Rückgriff auf einer derartiges Konstrukt wird mit den positiven Erfahrungen in der

Kooperation mit muslimischen Verbänden auf der Grundlage pragmatischer Strukturen,

wie etwa dem Runden Tisch in Niedersachsen, hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung

und Einführung des Schulversuchs ‚Islamischer Religionsunterricht‘ sowie der Berufung

von Professoren begründet. 596

Das Bundesforschungsministerium hat auf der Grundlage der Empfehlungen des

Wissenschaftsrates seit 2011 damit begonnen, mehrere Standorte in Deutschland durch

umfangreiche finanzielle Zuschüsse beim Aufbau von Zentren und Instituten für Islamische

Studien beziehungsweise Islamische Theologie zu unterstützen. In einem zweiteiligen

Auswahlverfahren wurden die Standorte Münster-Osnabrück, Tübingen, Frankfurt-Gießen

und Erlangen-Nürnberg ausgewählt. In diesem Förderrahmen sind Forschungsprofessoren,

wissenschaftliche Mitarbeiter sowie Post-Doc-Wissenschaftler vorgesehen. Um die Qualifikation

von muslimischen Nachwissenschaftlern zu sichern, wurden zudem durch die

Mercator-Stiftung im Rahmen eines Graduiertenkollegs 15 Promotionsstipendien vergeben.

Mit dieser umfangreichen Förderung wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, um

in Deutschland – äqual zu den christlichen Theologien – muslimische Theologen auszubilden.

597 Während die strukturellen Rahmenbedingungen für die neuen Instituten durch die

Anschubfinanzierungen vonseiten des Bundes und der Länder geschaffen wurden, ergeben

sich für die Standorte zahlreiche Herausforderungen im Aufbau. Die erste davon betrifft die

Einstellung von Professoren für islamische Theologie, die für das Ziel der Qualifizierung von

Nachwuchswissenschaftlern unabdingbar sind. Im deutschsprachigen Raum sind hierfür

kaum studierte, promovierte oder gar habilitierte muslimische Theologen anzutreffen. Ein

ähnliches Problem besteht in der Einstellung von Professoren für Religionspädagogik. Hier

sind in der Regel Quereinsteiger aus der Islamwissenschaft oder dem Lehramt anzutref-

595 A. a. O., S. 75 f.

596 Vgl. a. a. O., S. 78 ff.

597 Einen Überblick über die aktuellen Entwicklungen und die konzeptionellen Ansätze bietet Ali

Özgür Özdil, Islamische Theologie und Religionspädagogik in Europa, Stuttgart 2011, S. 177 ff.


4 Der Diskurs über den islamischen Religionsunterricht 209

fen, jedoch keine wirklich qualifizierten Religionspädagogen. Die zeitliche Parallelität im

Aufbau der Institute erschwert zudem die Rekrutierung wissenschaftlichen Personals, da

natürlich dementsprechend ein Konkurrenzverhältnis entstanden ist.

Die parallelen Entwicklungen in der Einführung des islamischen Religionsunterrichts

an Grund- und weiterführenden Schulen als Schulversuche mit dem Ziel der flächendeckenden

Einführung und der Etablierung des neuen Studienganges ‚Religionspädagogik‘

sowie die Einrichtung der Professuren bringen wiederum inhaltliche und konzeptionelle

Herausforderungen mit sich. Obwohl also die akademischen Voraussetzungen im Sinne

von wissenschaftlichem Personal, akademischer Tradition einer islamischen Religionspädagogik,

religionspädagogischer Grundlagenforschungen, wissenschaftlicher Literatur,

Arbeitsmaterialien usw. fehlen oder erst im Begriff sind, sich zu entwickeln, wird seit dem

Ende der 1990er-Jahre der Religionsunterricht an ausgewählten Schulen in Niedersachsen

und Nordrhein-Westfalen in Form von Schulversuchen angeboten. Wie Michael Kiefer

aufzeigt, wurden die Diskussionen über die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts

bereits in den 1970er- Jahren in Nordrhein-Westfalen von muslimischer Seite

initiiert und vom Kultusministerium grundsätzlich begrüßt, jedoch infolge der mangelnden

Kooperation unter den muslimischen Verbänden 598 sowie im Landeszentrum für Schule

und Weiterbildung ergebnislos beendet. Zwar wurde nach Kiefer vom Kultusministerium

dennoch die Entwicklung von Lehrplänen in Auftrag gegeben, allerdings wurde dieses

Vorhaben – insbesondere durch die Kritik der Kirchen – infolge der Missachtung der

verfassungsrechtlichen Partizipation der muslimischen Gemeinden aufgegeben. Daher

einigte man sich mit den Kirchen auf einen islamkundlichen Unterricht im Rahmen des

muttersprachlichen Unterrichts, sodass die muslimischen Gemeinden nicht involviert

wurden. Dieser Bruch in der Umsetzung des Art. 7.3 Grundgesetz sollte nach Kiefer die

nächsten vier Jahrzehnte auch deshalb anhalten, weil von staatlicher Seite das Fehlen eines

zentralen muslimischen Ansprechpartners als Vorwand kommuniziert wurde, ohne

jedoch konkrete Kriterien für die strukturellen Voraussetzungen aufzuzeigen. Die Frage

der Repräsentation hält bis heute an. 599

Während diese Frage der muslimischen Repräsentation diskutiert wurde, wurden

parallel Kommunikationsstrukturen, wie Runden Tischen gegründet, um mit muslimischen

Vereinigungen über die Rahmenbedingungen zur Einführung eines ordentlichen

Schulfachs ‚Religion‘ zu verhandeln. Analog dazu wurden in mehreren Bundesländern

Schulversuche als „Platzhalter“ oder „Stellvertreter für einen islamischen Religionsunterricht“

durchgeführt, die gemäß Kiefer trotz ihrer unterschiedlichen Bezeichnungen

598 Da infolge der fehlenden religiösen Betreuung der damaligen Gastarbeiter in Deutschland

diesbezüglich ein Vakuum entstand, wurde diese Lücke von zahlreichenden, untereinander in

Konkurrenz stehenden muslimischen Organisationen und Bewegungen aus dem Herkunftskontext

versucht zu füllen und damit Mitglieder zu gewinnen. Aufgrund dieses Spannungsverhältnis

unter den muslimischen Gemeinden gab es damals kaum einen islamisch-intrareligiösen

Dialog; ganz anders heute, wie das Beispiel des Koordinierungsrats der Muslime beweist und

damit auch den zeitlichen Wandel verdeutlicht.

599 Vgl. Michael Kiefer, Der lange Weg zum islamischen Religionsunterricht – Zum Stand der

Realisierungsbemühungen, in: Marianne Krüger-Portratz/Werner Schiffauer, Migrationsreport

2010. Fakten – Analysen – Perspektiven, Frankfurt/M. 2011, S. 139 f.


210 A Theoretischer Teil

(‚Islamkunde‘, ‚Islamunterricht‘ und ‚Islamischer Religionsunterricht‘) „als hybrid“ zu

bezeichnen sind. Islamkundliche Modelle, wie etwa die seitdem dem Schuljahr 1999/2000

in Nordrhein-Westfalen angebotenen, die jedoch ohne die Kooperation mit muslimischen

Verbänden eingeführt wurden, seien „keine reine Religionskunde“, da nicht nur rein muslimische

Lehrkräfte den Unterricht umsetzten. Zugleich seien muslimische Experten bei

der Lehrplanentwicklung involviert gewesen. 600 Weitere bedeutende religionskundliche

Modelle – die wie in NRW als ordentliches Lehrfach gelten – werden in Bayern und in

Schleswig-Holstein angeboten, wobei Letztere als ein „gesamtislamisches Unterrichtsangebot“

für Sunniten, Schiiten und Aleviten ausgerichtet ist. 601

Diesen religionskundlichen Modellen stehen bekenntnisorientierte Modelle wie in Niedersachsen

und Baden-Württemberg gegenüber. Darüber hinaus wurde in Bayern das oben

genannte religionskundliche Modell in den Schulversuch „Islamischer Religionsunterricht“

überführt, allerdings ohne Beteiligung der muslimischen Glaubensgemeinschaften. Ebenso

ist für den ab dem Schuljahr 2004/05 eingeführten Modellversuch in Rheinland-Pfalz an

einer Ludwigshafener Grundschule die Abstinenz muslimischer Gemeinden festzustellen. 602

Ab dem Schuljahr 2010/11 wurde das Projekt auf weitere Grundschulen und weiterführende

Schulen ausgeweitet. Des Weiteren sind in den Ländern Berlin und Bremen, die

hinsichtlich des Art. 7.3 GG eine Sonderstellung einnehmen. Da in Berlin die Verantwortung

für den nicht versetzungsrelevanten und damit freiwilligen Religionsunterricht

bei den Religionsgemeinschaften liegt, wird er durch die Islamische Föderation in Berlin

e. V. (IFB) angeboten. Im Schuljahr 2009/10 wurde an 30 Grundschulen ein islamischer

Religionsunterricht erteilt, womit etwa 4700 Schüler/innen erreicht wurden. In Bremen

wird seit 2002/03 der Schulversuch ‚Islamkunde‘ erteilt, der auch unter der Beteiligung von

Moscheegemeinden konzipiert wurde. Schließlich ist noch Hamburg 603 zu erwähnen, das

ebenfalls eine Sonderstellung aufgrund des Modells ‚Religionsunterricht für alle‘ genießt,

welches unter der Leitung der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche angeboten

wird. Die Ankoppelung an die unterschiedlichen Religionsgemeinschaften wird durch den

Gesprächskreis Interreligiöser Religionsunterricht in Hamburg sichergestellt. 604

Neben dieser rechtlichen Problemlage identifiziert Kiefer weitere „offene Fragen“ hinsichtlich

der „curricularen Grundlagen“ und der „didaktischen Praxis“ in diesem neuen Fach:

Zielgruppe eines islamischen Religionsunterrichts: Aufgrund der fehlenden muslimischen

Religionsgemeinschaft im juristischen Sinne sowie der fehlenden formalen

600 Bei der Konstellation dieser Lehrplankommission ist anzumerken, dass auch die Kriterien

für die Auswahl der Experten nicht transparent sind. Unabhängig davon ist auch die Frage zu

stellen, ob darunter tatsächlich studierte Religionspädagogen anzutreffen sind.

601 Vgl. Kiefer, Der lange Weg zum islamischen Religionsunterricht, S. 142 f.

602 Im April 2013 wurde die Schura Rheinland-Pfalz gegründet. Damit stehen dem Bundesland

nun muslimische Ansprechpartner zur Verfügung.

603 Die Hansestadt Hamburg hat im Jahr 2012 einen Staatsvertrag mit den Muslimen abgeschlossen.

Ein weiterer Vertrag ist in Bremen geplant. Es ist davon auszugehen, dass weitere Bundeslänger

sich diesem Vorbild anschließen werden.

604 Vgl. Kiefer, Der lange Weg zum islamischen Religionsunterricht, S. 143 ff.


4 Der Diskurs über den islamischen Religionsunterricht 211

Mitgliedschaften in islamischen Gemeinden sind Regelungen zur Teilnahmepflicht

oder für Abmeldungen muslimischer Schüler/innen erforderlich.

Konfessionsfrage des Islamunterrichts: Hier sei noch nicht für alle Bundesländer geklärt,

ob der islamische Religionsunterricht für Sunniten, Schiiten und Aleviten oder konfessionell

getrennt zu erteilen sei. Diese Entscheidung habe wesentliche Auswirkungen

auf fachdidaktische Überlegungen und Konzeptionen.

Inhalte und Ziele des Religionsunterrichts: Die Analyse der Lehrpläne in den einzelnen

Bundesländern zeige, dass zwar in den wesentlichen Themenfeldern (Gott, Gottes

Schöpfung, Koran, Prophet Muhammad usw.) ein Konsens bestehe, allerdings in der

inhaltlichen Konkretisierung (Unterrichtsinhalte, Quellenauswahl, Berücksichtigung

der muslimischen Pluralität über die 5+6 Formel hinaus und somit Überwindung eines

Reduktionismus usw.) noch vielfältige offene Fragen vorhanden seien. 605

Lehrkräfte: Bezüglich der Lehrkräfte für den islamischen Religionsunterricht spielten

neben der Frage einer konfessionellen Ausbildung an den jeweiligen universitären

Standorten für islamische Theologie und Religionspädagogik vor allem die Frage eine

Rolle, welches religionsgemeinschaftliche Organ die Erteilung der Lehrerlaubnis (iğāza)

erteilen wird, sowie die der Gestaltung der Kriterien für eine Unbedenklichkeitserklärung.

Methodik und Lehrmittel: Ein weiteres Problemfeld ist nach Kiefer die Frage der Methodik

hinsichtlich der in der Entwicklung begriffenen Fachdidaktik eines islamischen

Religionsunterrichts. Hier attestiert der Autor den zahlreichen Schulversuchen unterschiedliche,

zum Teil sogar konträre Methoden, die vom traditionellen Frontalunterricht

bis zu zeitgemäßen Unterrichtsformen reichen. Deutlich wird dies am Bilderverbot in

den traditionellen islamischen Vorstellungen und in der Frage der Erstellung kindgerechter

Lehrmaterialen – gerade vor dem Hintergrund der Bedeutung der „Bild- und

Symboldidaktik“; dieses religionspädagogische Defizit spiegele sich derzeit im massiven

Bedarf an Lehrmaterialien und Medien für den Religionsunterricht. Aufgrund dieses

Mangels seien die Kreativität und die Improvisationskunst der Lehrkräfte gefragt. 606

„Warum und wozu“: Hier geht es für Kiefer um grundlegende Ziele des Religionsunterrichts,

vor allem – aufgrund der „Bandbreite der curricular festgesetzten Zielsetzungen“

– um die Frage nach der Unterscheidung der religiösen Erziehung in muslimischen

Familien und Moscheegemeinden. Eine Tendenz hin zu einem eher „materialkerygmatischen

Ansatz“ wie am Beispiel des verkündenden Charakters des Modellversuchs

in Erlangen und Nürnberg sei jedoch erkennbar, die für das neue Fach jedoch negative

Folgen mit sich bringen könnte:

„Auch wenn aus rechtlicher Perspektive im Hinblick auf Art. 7 Abs. 3 GG eine solche Zielsetzung

zulässig ist, so ist jedoch kritisch anzumerken, dass ein Religionsunterricht mit Verkündungsauftrag

und binnenmissionarischem Anspruch die Grenzen zwischen gemeindlicher

Katechese und schulischem Religionsunterricht verwischt. Ein Religionsunterricht mit stark

ausgewiesenen glaubensverkündenden und habitualisierenden Elementen läuft Gefahr, sich

in der Schule als konfessionelle Enklave zu isolieren. Durchaus problematisch ist in diesem

605 Vgl. a. a. O., S. 146 ff.

606 Vgl. a. a. O., S. 148 ff.


212 A Theoretischer Teil

Kontext auch die Rolle des Religionslehrers, der als staatliche Lehrkraft Glaubensverkündender

und Vorbild im Glauben sein soll.“ 607

Unabhängig vom islamischen Religionsunterricht führt Kiefer diese Tendenz für

den schulischen Religionsunterricht insgesamt auf die sogenannten „religionsfernen

Schülerinnen und Schüler“ zurück, die ein Indiz für die abnehmende Bedeutung der

Gemeinden und Familien in der religiösen Erziehung seien; daher gäbe es Bestrebungen

für den christlichen Religionsunterricht, in der Schule „klassische Gemeindeaufgaben“

wahrzunehmen. Eine ähnliche Tendenz sei auch für den islamischen Religionsunterricht

primär seitens der Bildungs- und Innenpolitik zu verzeichnen, allerdings mit einer

anderen Motivation. Da man die Erziehung in den Moscheegemeinden pauschal für

„nicht kontrollierbar, rückständig und integrationsfeindlich“ 608 halte, solle der Religionsunterricht

als Ersatz fungieren. 609

Universitäre Ausbildung von religionspädagogischen Lehrkräften: Neben der Frage der

weiteren Räume des religiösen Lernens (Moscheen, virtuelle Räume durch das Internet),

der Beziehungsfelder des Religionsunterrichts (im Sinne der Berücksichtigung der

zahlreichen Rollenanforderungen und Lebenskontexte der muslimischen Kinder und

Jugendlichen in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft) sowie der fachlichen und

pädagogischen Rahmenbedingungen (Verhältnis des islamischen Religionsunterrichts zu

den Erziehungszielen der Schule, Kooperation mit anderen Fächern, interreligiöse und

interkulturelle Anschlussfähigkeit usw.) weist Kiefer auf die offenen Fragen hinsichtlich

der universitären Ausbildung der muslimischen Religionslehrer/innen hin. Wie er zu

Recht anspricht, haben die bisher etablierten Institute für Islamische Theologie und

Religionspädagogik einen eher „experimentellen Status“. Die meisten bisher berufenen

Professoren für Religionspädagogik – zu denen er auch den Verfasser dieser Abhandlung

zählt – seien keine qualifizierten Religionspädagogen oder Theologen, sondern

„Quereinsteiger“. Aufgrund der noch zu leistenden „Pionier- und Entwicklungsarbeit“

weist Kiefer auf die zukünftigen Herausforderungen hin. 610

In der Tat wird sich die Zukunft einer islamischen Religionspädagogik daran messen, wie

erfolgreich sich das Fach an den Universitäten etablieren und in der Auseinandersetzung

mit den eigenen religiösen Quellen, den christlich-religionspädagogischen Ansätzen und in

der Kooperation mit den Bezugswissenschaften sowie bei die Berücksichtigung der gesellschaftlichen

Rahmenbedingungen entwickeln wird. Derzeit findet ein massiver Ausbau der

Professuren sowie der Nachwuchsförderung in der islamischen Theologie statt. Trotz der

größeren qualitativen und quantitativen Herausforderung, für etwa 900 000 muslimische

Schüler/innen einen flächendeckenden Religionsunterricht einzuführen und parallel dazu

religionspädagogische Konzepte zu entwickeln und für die etwa 2 300 Moscheegemeinden

607 A. a. O., S. 151

608 Diese Diskussion wird seit Längerem geführt und geht auf Unkenntnisse zurück. Daraus resultieren

einseitige Forderungen wie Deutschpflicht in den Gemeinden oder die muslimischen

Kinder ganz aus den „Koranschulen“ rauszuholen.

609 Vgl. Kiefer, Der lange Weg zum islamischen Religionsunterricht, S. 152

610 Vgl. a. a. O., S. 152 ff.


4 Der Diskurs über den islamischen Religionsunterricht 213

religionspädagogische sowie weitere relevante Räume zu erschließen, lehren gegenwärtig

lediglich acht Religionspädagogen an unterschiedlichen universitären Standorten. Für

die Etablierung einer wissenschaftlichen Gemeinschaft zur Initiierung religionspädagogischer

Dispute reicht diese überschaubare Anzahl nicht aus. Ebenso kann im Vergleich

zur islamischen Theologie der Schluss gezogen werden, dass das Berufsspektrum für die

islamische Religionspädagogik – allein aufgrund des Bedarfs an über 2000 Religionslehrern

– weitaus größer ist.


Zwischenfazit:

Zusammenfassender Erkenntnisbeitrag

der bisherigen Forschungsergebnisse

für die empirische Untersuchung

5 Zwischenfazit

5

Die Darstellung der Entwicklung der christlichen Religionspädagogik nach dem Zweiten

Weltkrieg in Deutschland hat gezeigt, dass im Zuge von Säkularisierungs- und Individualisierungsprozessen

didaktische Konzeptionen des Religionsunterrichts einem Transformationsprozess

ausgesetzt waren. Entsprechend den gesellschaftlichen Heterogenisierungsprozessen

in Form einer Pluralisierung von Lebensstilen und der Abnahme kirchlicher

Gebundenheiten war der traditionelle Religionsunterricht mit seinem eher verkündigenden

Charakter mit der Herausforderung konfrontiert, sich auf die Lebenswelt und Bedürfnisse

von Kindern und Jugendlichen auszurichten. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen hatten

zudem Auswirkungen auf den Bedeutungswandel und die Hierarchie in den Lernorten

‚Familie‘, ‚Gemeinde‘ und ‚Schule‘. Die religiöse Erziehung in den christlichen Familien

konnte nicht mehr vorausgesetzt werden, die Austritte aus den beiden Kirchen nahmen

zu, und der Religionsunterricht nahm eine wichtigere Rolle ein. Vor diesem Hintergrund

gab es vonseiten der Kirche zunächst Vereinnahmungsversuche des Religionsunterrichts,

von dem man eine ähnliche Funktion wie die (Gemeinde-)Katechese erwartete. Allerdings

waren diese Versuche infolge gesellschaftlicher Realitäten zum Scheitern verurteilt, sodass

die unterschiedlichen Rollen von Schule und Kirche trotz bestehender Widerstände von

konservativen Kreisen in Form von Synodenbeschlüssen besiegelt wurden. Jedoch ist in

den Ausführungen deutlich geworden, dass auch die Bedeutung des Religionsunterrichts

infolge abnehmender Teilnahmezahlen zurückgeht. Aktuelle Debatten zur Rolle des

christlichen Religionsunterrichts reichen von Forderungen wie Religionsunterricht für alle

über einen religionskundlichen Unterricht bis hin zu einem Pflichtfacht ‚Ethikunterricht‘.

Geht man von den Thesen des Konzepts des cultural time lag von Egon Spiegel aus,

kann man ähnliche Erfahrungen in der Frage des Verhältnisses von Kirche und Religionsunterricht

vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Transformationsprozessen in den

1990er-Jahren in der ehemaligen DDR und im katholischen Polen feststellen. Im internationalen

Vergleich mit Polen ist sicherlich eine Gegenüberstellung 1:1 nicht möglich,

dennoch scheint mit zunehmenden Säkularisierungs- und Individualisierungsprozessen

die Kirchengebundenheit abzunehmen und – als Reaktion hierauf – traditionelle Erziehungsziele

vonseiten der Kirche auf den Unterricht projiziert zu werden. In Polen steht

dieser Prozess noch am Anfang; allerdings zeichnet sich infolge aktueller Debatten ab,

R. Ceylan, Cultural Time Lag, DOI 10.1007/978-3-658-06050-3_6,

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014


216 A Theoretischer Teil

dass eine ähnliche Entwicklung zu erwarten ist. In diesem Kontext kann auch auf die

laizistische Türkei hingewiesen werden, die jahrzehntelang nur eine Art Religionskunde

und Ethikunterricht an den Schulen anbot und erst 2010 auch einen Religionsunterricht

einführte. Der Schwerpunkt dieses Unterrichts liegt derzeit in der Koranrezitation und in

der Vermittlung der islamischen Glaubensgrundlagen. Der Lehrplan zeigt also, dass auch

hier ein eher materialkerygmatisches Verständnis vorliegt. Mit der Berücksichtigung des

West-Ost-Gefälles in der Türkei 611 kann angenommen werden, dass die religiöse Erziehung

in den Moscheegemeinden und Familien im westlichen Teil – vor allem in Großstädten

wie Istanbul, Ankara und Izmir –abnehmen und die Bedeutung der Schule zunächst

zunehmen wird. An dieser Stelle ist nochmals darauf hinzuweisen, dass sicherlich jeder

Nationalstaat seine eigene spezifische Historie, politisches System usw. hat, doch die

Auswirkungen von Säkularisierungs- und Individualisierungsprozessen führen überall

zu ähnlichen Phänomenen.

Für die vorliegende empirische Untersuchung in den Moscheegemeinden haben die

Erfahrungen und Entwicklungen in Deutschland eine primäre Relevanz. Innerhalb dieser

gesellschaftlichen Rahmenbedingungen finden die religiöse Erziehung und das Lernen in

der Familie, der Moscheegemeinde und zunehmend auch an Schulen statt. Ein weiterer

Einflussfaktor sind die Migrationsbedingungen und somit die Minderheitensituation

in einer primär christlich geprägten sowie multikulturell verfassten Gesellschaft. Wie

Werner Schiffauer in seiner ethnografischen Studie Die Migranten aus Subay hinsichtlich

der Bedeutung von Legitimation religiöser Lebensweisen im Alltag ausführt, galt diese

im Herkunftskontext für die erste Generation – die in einem islamisch geprägten Umfeld

aufwuchs – als selbstverständlich. Die Rolle des Islam im Alltag nehme dagegen in der

Migration durch eine intensivere Reflexion religiöser Normen und Werte eine bewusste

Form an. Traditionen, Handlungen und Lebensweisen, die im Herkunftskontext für die

Gestaltung des Alltags als selbstverständlich galten, müssen im Migrationskontext neu

reflektiert, neu definiert und kontextualisiert werden. 612 In Deutschland geborene muslimische

Kinder und Jugendliche stehen vor ähnlichen Herausforderungen – auch wenn sie

sich hinsichtlich ihrer Lebenslagen und Lebenswelten, wie größerer räumlicher und sozialer

Aktionsradius, unterscheiden. Die Legitimation der religiösen Lebensweisen beschränkt sich

nicht nur auf die Familie, auf das engere soziale Umfeld sowie auf die Gemeinde, sondern

muss auch in anderen Bereichen des Alltags stattfinden. Insofern sind sie im Vergleich zur

ersten und auch noch zur zweiten Generation der muslimischen Migranten mit weiteren,

qualitativ unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert.

In diesem Zusammenhang lassen die im Kapitel 2 skizzierten Rahmenbedingungen der

(religiösen) Sozialisation der muslimischen Kinder und Jugendlichen in den Bereichen von

Familie, Schule und Gesellschaft – neben den Säkularisierungs- und Individualisierungsprozessen

– als übergeordneter Kontext in der Diskussion um die Moscheekatechese sowie

den islamischen Religionsunterricht bereits die Komplexität der Herausforderungen in der

611 Die Osttürkei unterscheidet sich hinsichtlich höherer Geburtenraten, traditioneller Familienstrukturen,

geringerem Bildungsniveau usw. stark vom westlichen Teil der Türkei.

612 Siehe dazu Werner Schiffauer, Die Migranten aus Subay. Türken in Deutschland. Eine Ethnographie,

Stuttgart 1991


5 Zwischenfazit 217

Lebenswirklichkeit dieser Zielgruppen erkennen. Exemplarisch hierfür ist die bereits zitierte

Tübinger Studie, welche die systemisch bedingte Ausblendung der Lebenswelt muslimischer

Kinder bereits im Elementarbereich – von den Trägern der Kindergärten/-tageseinrichtungen,

den Erziehern wie auch in den pädagogischen Konzeptionen – dokumentiert.

Abgesehen von den Erfahrungen im unmittelbaren familiären Umfeld können religiöse

Deutungsmuster im Alltag wegen der Ausblendung und „Problematisierung“ des Islam

kaum angemessen und sachlich „erprobt“ werden. Andererseits stellt sich die Frage, mit

welchen in der Familie vermittelten religiös geprägten Normen und Werten sich muslimische

Kinder und Jugendliche unter diesen Alltagsbedingungen arrangieren müssen.

Wie der Forschungsstand diesbezüglich gezeigt hat, stellt die religiöse Erziehung in muslimischen

Familien nach wie vor eine Art „Black Box“ dar, über die zwar viele Annahmen

existieren, die jedoch kaum direkten Erhebungen unterzogen wurde. Zieht man zudem das

Drei-Säulen-Modell der Religionspädagogik heran, kann man keine verlässliche Aussage

darüber treffen, ob sich die zentrale Rolle der Familie als erster Lernort verschoben hat.

Während christliche Eltern auf die zahlreichen Angebote zur Unterstützung der familiären

religiösen Bildung zurückgreifen können, sind muslimische Eltern in dieser Frage

überwiegend auf sich allein gestellt. 613 Ob die häufigen Angaben der höheren subjektiven

Selbsteinschätzung der Religiosität bei jungen Muslimen einen Hinweis auf eine intensivere

religiöse Erziehung in den Familien geben, kann ebenfalls nicht eindeutig festgestellt werden.

Insgesamt existieren nur Indizien, jedoch keine signifikanten empirischen Befunde.

Nur durch eine Kombination von Informationen auf der Grundlage empirisch fundierter

Erkenntnisse (wie der Bildungsstudien IGLU und PISA oder bezüglich der Migrationseffekte),

theoretischen Annahmen sowie vergleichenden Analysen ist gegenwärtig ein

hypothetisches Gesamtbild konstruierbar. Auf der Grundlage dieses Gesamtbildes als

Rahmenbedingung der Moscheekatechese und eines islamischen Religionsunterrichts

können fundierte Ergebnisse ermittelt werden. Hier stellt sich nicht nur die Frage der

jeweiligen theologisch-historischen Grundlagen der Moscheekatechese sowie der Bildungstraditionen

in Gemeinden, sondern die einer gegenwartsbezogenen Glaubensunterweisung

in Deutschland, welche Inhalte heute gelehrt werden und inwieweit diese über die Imame

und das religiöse Betreuungspersonal auf die Lebenswirklichkeit bezogen sind. Die Aufarbeitung

der historischen, islamisch-theologischen Literatur sowie die Auswertungen des

aktuellen Forschungsstandes in Deutschland haben gezeigt, dass in den Lehrplänen eine

hohe Kontinuität festzustellen ist. Die Darstellungen der Inhalte der Moscheekatechese

offenbaren die hohe historische Persistenz der Elementarisierung als didaktische Reduktion

islamischer Lehr- und Lerninhalte. Bereits in der frühislamischen Zeit galt das Memorieren

des Koran sowie seine Rezitation als die zentrale Grundlage religiöser Bildung. Das Medium

‚Koran‘ – als Verbaloffenbarung, als Mitteilung und Kommunikation des Schöpfers

mit dem Menschen – wird seitdem als Gottesbeziehung verstanden. Des Weiteren gelten

613 Nicht jede muslimische Familie fördert den Moscheebesuch ihrer Kinder aufgrund unterschiedlichster

Gründe, wie etwa einer religiösen und politischen Distanz zur offiziellen religiösen

Organisationslinie der lokalen Gemeinde. Dieser Zustand ist insbesondere bei der Etablierung

eines islamischen Religionsunterrichts hinsichtlich eines schülerorientierten Unterrichts zu

beachten, da die Lernenden unterschiedliche Voraussetzungen und religiös-spirituelle Erfahrungen

mitbringen.


218 A Theoretischer Teil

die Internalisierung zentraler islamischer Glaubensartikel im Kindes- und Jugendalter

sowie die Förderung zur Glaubenspraxis als wichtige Lernziele. Demnach kann man nach

aktuellem Stand drei Stufen im Lernprozess erkennen:

Stufe 1: Alphabetisierung

Stufe 2: Rezitation des Koran mit tağwīd sowie Memorieren ausgewählter sūren

Stufe 3: Ilmihal

Aus den wenigen empirischen Arbeiten hierzu wird bereits deutlich, dass die zentralen

Lernmaterialien hierzu der Koran selbst, Alphabetisierungshefte sowie Bücher zu Ilmihal

darstellen. Alacacigolu hat für den deutschen Kontext gezeigt, dass bis ins Ende der

1990er-Jahre hinein nach wie vor in traditioneller Weise gelehrt und gelernt wurde. Durch

komplementäre, teilnehmende Beobachtungen konnten diese Ergebnisse bestätigt werden.

Als zentrale Lehrperson fungiert der Imam, der – je nach dem Personalstand in den

Gemeinden – vom ehrenamtlichen Betreuungspersonal assistiert wird. Die Darstellung

der Studie des Verfassers zu den Imamen konnte in diesem Zusammenhang nicht nur die

unterschiedlichen Typologien identifizieren, sondern auch den Transformationsprozess

der Rolle der Imame in der Migrationssituation darlegen. Diese wurde auch durch die

quantitative Erhebung seitens des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bestätigt.

Über diese Bestandsaufnahme hinaus existieren keine systematisch erfassten Informationen

über die Auswirkungen der Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse unter

den skizzierten Sozialisationsbedingungen für die Moscheegemeinden, insbesondere über

die Ursache-Wirkungsmechanismen zwischen den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen,

der Situation in der Moscheekatechese sowie infolgedessen zur Erwartungshaltung an

den islamischen Religionsunterricht. Alle dargestellten Einflussfaktoren auf der Makro-,

Meso- und Mikroebene in den Kapiteln 1 bis 4 müssen dabei berücksichtigt werden, wenn

man ein Gesamtbild der Situation in den Gemeinden rekonstruieren möchte. Erst ein

Zusammenspiel der unterschiedlichen Handlungsfelder führen dazu bei, dass man zudem

die Erwartungshaltungen an den islamischen Religionsunterricht versteht.


5 Zwischenfazit 219

Abb. 3

Einflussfaktoren auf der Makro-, Meso- und Mikroebene auf die Moscheekatechese und den

islamischen Religionsunterricht

Quelle: Eigene Visualisierung

Obwohl seit dem Ende der 1990er-Jahre muslimische Multiplikatoren durch mediale und

politische Debatten, durch die Teilnahme an Expertengesprächen mit Ministerien und

anderen Gremien sowie an Lehrplänen aktiv im Diskursfeld mitwirken und somit eine

Möglichkeit des Vergleich zur „Moscheekatechese“ erhalten, sind über gemeindeinterne

Prozesse keine empirischen Daten erhalten. Die Bewertung und Entwicklung der Moscheekatechese,

die Erwartungen an den islamischen Religionsunterricht sowie an die

Religionslehrer werden für das zukünftige Verhältnis der Lernorte ‚Familie‘, ‚Moschee‘ und

‚Schule‘ unter den dargestellten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entscheidend sein.


B

Empirischer Teil


Forschungsziele, Methodik der empirischen

Untersuchung und vermutete Ursache-

Wirkungsmechanismen in den

Moscheegemeinden

1 Forschungsziele, Methodik und Ursache-Wirkungsmechanismen

1

In Teil A wurden unter anderem der Kenntnis- und Forschungsstand zu den Feldern

‚Säkularisierung- und Individualisierung‘, ‚Religionsunterricht in Deutschland‘, und

‚religiöse Sozialisation in muslimischen Familien, Schulen sowie Moscheegemeinden‘,

zusammengetragen und korrespondierenden Erfahrungen insbesondere im deutschen

Kontext gegenübergestellt. Dabei wurden beim Zusammentragen der Literatur „Definitionen“,

„Klassifikationen“ sowie „Deskriptionen“ im Sinne von Darstellungen „zentraler

inhaltlicher Bestandteile“ und deren „Vernetzung“ sowie „Abhängigkeiten“ vorgenommen. 614

Auch die eigenen Vorarbeiten zur Rolle der Moscheegemeinden und Imame sowie zu den

dortigen Lehrplänen und zum Religionsunterricht wurden in diesem Zusammenhang

dargestellt. Deutlich geworden ist, dass nach wie vor zentrale Fragen unbeantwortet geblieben

sind, die für die Zukunft der Moscheekatechese sowie des geplanten islamischen

Religionsunterrichts von hoher Relevanz sind. Insofern sollen durch die These des cultural

time lag von Egon Spiegel eine konzeptionelle und methodische Erweiterung in der Frage

der Moscheekatechese vorgenommen und zugleich mehrere Forschungsfragen im Bereich

der Ursache-Wirkungsmechanismen bezüglich der Auswirkungen der Säkularisierungsund

Individualisierungsprozessen in Moscheegemeinden, der Grenzen der Moscheekatechese

und des Bedarfs einer zielgruppengerechten Neukonzeption, der Auswirkungen der

möglichen Effizienz und Ineffizienz der Moscheekatechese auf die Erwartungshaltungen

an den islamischen Religionsunterricht sowie der Rolle der Religionslehrer/innen gestellt

werden. Auf der Grundlage der empirischen Ergebnisse sollen Antworten auf diese Fragen

gefunden und mögliche Konfliktpotenziale im Sinne eines cultural time lag antizipativ

identifiziert und präventive Interventionsstrategien formuliert werden.

614 Vgl. Töpfer, Erfolgreich forschen, S. 69 ff.

R. Ceylan, Cultural Time Lag, DOI 10.1007/978-3-658-06050-3_7,

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014


224 B Empirischer Teil

1.1 Forschungsleitende Fragen und hypothetisches Modell

auf der Grundlage der theoretischen Vorüberlegungen

In Deutschland wurde in der Nachkriegszeit die Erfahrung gemacht, dass der Religionsunterricht

eine zunehmend wichtigere Rolle als die religiöse Erziehung in den Familien

und Gemeinden einnahm. Zeitlich versetzt haben sich diese Erfahrungen nach der Wiedervereinigung

in den neuen Bundesländern wiederholt. Derzeit sind Länder wie das

katholische Polen mit ähnlichen Fragen konfrontiert. Spiegel nennt diesen Prozess cultural

time lag und akzentuiert damit, dass eben zeitlich verlagert ähnliche kulturelle Entwicklungen

in verschiedenen Ländern zu erwarten sind. Auf der Basis dieser Erfahrungen ist

anzunehmen, dass sich die Moscheegemeinden mittelfristig – mit der Einführung eines

islamischen Religionsunterrichts – mit den gleichen Herausforderungen arrangieren

müssen. Möglich sind sowohl offensiv-konstruktive Reaktionen (in Form von Reformen

der Bildungskonzepte in den Moscheen) als auch defensiv-destruktive Maßnahmen (Erhalt

des Status quo und Abgrenzungsversuche gegenüber dem IRU). In den theoretischen

Vorüberlegungen wurden die Prozesse der Säkularisierung, der Individualisierung und

Migration (Identitätsfrage usw.) herausgearbeitet sowie die spezifischen Rahmenbedingungen

des religiösen Lernens für muslimische Kinder und Jugendliche analysiert.

Insofern soll die geplante Studie die Experten mit diesen Entwicklungen konfrontieren

und die traditionellen Erziehungsvorstellungen sowie die Transformationsprozesse und

Reformwünsche für die Moscheegemeinden ermitteln. Schließlich sollen des Weiteren

der Zusammenhang zwischen den Entwicklungen in der Moscheekatechese unter den

skizzierten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Erwartungen an den islamischen

Religionsunterricht an den Schulen ermittelt werden. Vorhandene Theorien werden

daher anhand einer rekonstruierenden Untersuchung die Ursache-Wirkungsmechanismen

analysieren, die zur Organisation und zum Verständnis der Moscheekatechese sowie zu

den Erwartungen an einen islamischen Religionsunterricht beitragen. Die zentralen forschungsleitenden

Fragen werden wie folgt aufgelistet:

In welcher Form zeigen sich Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse in

den Moscheegemeinden? Werden diese Prozesse als eine Chance oder als ein Risiko

wahrgenommen?

Wie wirken sich diese Prozesse auf den Auftrag der Moscheen und das Selbstverständnis

der Moscheegemeinden aus? Wie wird die Moscheekatechese unter diesen Bedingungen

organisiert? Welche Konsequenzen hat dies unmittelbar für die Arbeit mit Kindern

und Jugendlichen?

Wie wirken sich diese Prozesse auf die Handlungen interner Akteure (Moscheevorstand,

Imame) und somit auf das Verständnis der Moscheekatechese sowie deren

Funktionalisierung aus?

Wie wird das Verständnis der Moscheekatechese von den externen Akteuren (muslimische

Eltern) mit beeinflusst? Welche Abhängigkeiten und Mechanismen sind identifizierbar?

In welcher Form beeinflussen die Handlungsbedingungen in den Moscheegemeinden

und insbesondere die Erfahrungen mit der Kinder- und Jugendarbeit mögliche Neukonzeptionen

der Moscheekatechese?


1 Forschungsziele, Methodik und Ursache-Wirkungsmechanismen 225

Wie beeinflussen die Erfahrungen mit der Moscheekatechese die Erwartungen der

internen Akteure (Moscheevorstand, Multiplikatoren) an die Inhalte und Ziele eines

islamischen Religionsunterrichts?

Ist vor dem Hintergrund der ermittelten Mechanismen in den Moscheegemeinden im

Sinne des cultural time lag eine Transformation hinsichtlich der Bedeutung der Lernorte

des religiösen Lernens (Familie, Gemeinde, Schule) zu erwarten?

Sind antizipativ mögliche Konflikte oder Chancen zu identifizieren? Durch welche

religionspädagogischen Konfliktvorsorgemaßnahmen sind diese Konflikte abbaubar?

Die Herausforderungen liegen darin, die vermuteten Ursache-Wirkungsmechanismen,

die seit den 1960er-Jahren im christlichen Kontext zu beobachten sind, auf ein neues

Forschungsfeld und eine neue Zielgruppe anzuwenden. Dabei werden unterschiedliche

Aggregationsgrade und Handlungsebenen und zugleich spezifische Ursachen als Randbedingungen

berücksichtigt. Die Ursache-Wirkungszusammenhänge ergeben sich daher

als Gesamtkomplex aus unterschiedlichen Faktoren, die wiederum selbst auf unterschiedlichen

Ursache- sowie Wirkungsebenen anzusiedeln sind und zugleich vielfältige

Maßnahmen- und Zielebenen tangieren. Es ist also ein Zusammenspiel von Faktoren, die

auf gesamtgesellschaftlicher Ebene (Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse,

Migrationseffekte), auf der Ebene von Organisationen (Moscheegemeinden) sowie auf der

Mikroebene (Familie, Zielgruppen der Moscheekatechese) zu finden sind. Diese Ursachen

als Gesamtkomplex spiegeln sich wiederum als Auswirkungen in den unten visualisierten

Kontexten und Ebenen, darunter auch auf die Moscheekatechese und auf den islamischen

Religionsunterricht, wider. Vor dem Hintergrund dieser forschungsleitenden Fragen

wurde folgendes hypothetisches Modell konzipiert, um die relevanten Variablen sowie die

vermuteten Kausalzusammenhänge und -mechanismen zu visualisieren, die empirisch

noch zu überprüfen und zu explizieren sind, um ein systematisches Wissen über die Zusammenhänge

von Säkularisierung, Migration, Moscheekatechese und Einstellung zum

IRU herauszuarbeiten sowie die zentralen Thesen für weitere Forschungsperspektiven

aufzuzeigen:


226 B Empirischer Teil

Abb. 4

Vermutete Kausalzusammenhänge und Kausalmechanismus

Quelle: Eigene Visualisierung


1 Forschungsziele, Methodik und Ursache-Wirkungsmechanismen 227

Jochen Gläser und Grit Laudel sprechen den Forschenden direkt an und erklären, dass das

Ziel einer mechanismenorientierten Erklärungsstrategie nicht darin liegt, die Richtigkeit

des hypothetischen Modells zu überprüfen.

„Es hat vielmehr die Aufgabe, Ihre Untersuchung zu orientieren, von denen Sie aus theoretischen

Gründen annehmen können, dass sie für die Beantwortung der Untersuchungsfrage

wichtig sind.“ 615

Das oben visualisierte Modell hat somit die Funktion, die empirische Erhebung in den

Moscheegemeinden anzuleiten. Entsprechend den Empfehlungen von Gläser und Laudel

wurden zentrale Untersuchungsvariablen und soziale Mechanismen in Form von Handlungen

zentraler Akteure dargestellt. In Anlehnung an Renate Mayntz verstehen sie unter

einem sozialen Mechanismus:

„[…] eine Sequenz von kausal miteinander verbundenen Ereignissen, die unter bestimmten

Bedingungen wahrscheinlich auftritt und von spezifischen Ausgangsbedingungen zu einem

spezifischen Ergebnis führt. Da diese Definition die kausale Verknüpfung von Ausgangsbedingungen,

Ereignissequenz und Ergebnis betong [sic!], sprechen wir im weiteren von

Kausalmechanismus.“ 616

Mit diesem analytischen Konstrukt wird die Komplexität der Untersuchungsfrage berücksichtigt,

da die soziale Realität sehr vielschichtig ist. Die Elemente in diesem Modell lassen

sich dabei in unabhängige, abhängige und intervenierende Variablen sowie in Faktoren,

die Vermittlungsprozesse zwischen den Variablen initiieren, unterteilen. Erst infolge dieser

vermuteten Prozesse, die durch das soziale Handeln bewirkt werden, lassen sich die

untersuchten Kausalmechanismen identifizieren. 617 Der dargestellte angenommene Kausalmechanismus

mit seinen verschiedenen Variablen ist trotz der komplexen Darstellung des

wechselseitigen Ursache-Wirkungsmechanismus für die empirische Untersuchung noch

zu abstrakt; daher empfehlen Gläser und Laudel die konkrete Definition der Variablen:

„Mit der Definition wird festgelegt, welches Phänomen in der sozialen Realität die Variablen

beschreiben sollen. Die durch die Theorien angebotenen Definitionen werden sich dafür

nur in den seltensten Fällen als günstig erweisen. In den meisten Fällen müssen deshalb Arbeitsdefinitionen

entwickelt werden. Die Definitionen sollen unmissverständlich benennen,

welche empirischen Phänomene mit der Variable beschrieben werden, und eine Anleitung

dafür geben, diese Phänomene von anderen empirischen Phänomen zu unterscheiden.“ 618

Im Gegensatz zu relationsorientierten Erklärungsstrategien, wie in Form von statistischen

Erhebungen, werden die Variablen als multidimensionale Begriffe definiert. Zunächst

werden nach dem Ansatz von Detlef Pollack und Gert Pickel die unabhängige Variablen

‚Säkularisierung‘ und ‚Individualisierung‘ konkretisiert, die beide „weitgehend gleich-

615 Gläser/Laudel, Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse, S. 71

616 A. a. O., S. 26

617 Vgl. a. a. O., S. 80.

618 A. a. O., S. 82 f.


228 B Empirischer Teil

sinnig“ aufgefasst werden. 619 Daher führen die beiden Autoren ferner an, dass diese für

die empirische Untersuchung festgelegten Variablen eine Zeitdimension und eine oder

mehrere Sachdimensionen umfassen müssen. Darüber hinaus wird auf die Bedeutung

der Formulierung und Festlegung von Indikatoren als konkrete und nachvollziehbare

Identifikation von Merkmalsausprägung der Variablen im empirischen Feld, die zum

einen zu gezielten Fragen zur Erhebung relevanter Informationen verhelfen und zum

anderen in der Auswertung des sehr umfangreichen Textmaterials Anwendung finden.

Da eine Studie ein dynamischer Prozess ist, empfehlen die Experten die Reflexion über

die Indikatoren nach ihrer Relevanz, wenn die qualitative Erhebung abgeschlossen ist. 620

In diesem Kontext bietet die aufgearbeitete Literatur im theoretisch-deskriptiven Teil

Thesen zu Säkularisierungs- und Individualisierungsprozessen und Migrationseffekten,

die für die Ermittlung der Auswirkungen dieser gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen

für Moscheegemeinden nutzbar gemacht werden sollen.

Vor diesem Hintergrund stellt die Kategorie ‚Säkularisierung/Individualisierung‘ die

unabhängige Variable dar, von der ein Einfluss auf das Handlungsfeld ‚Moscheedidaktik‘ mit

seinen Akteuren, den Imamen und dem religiösen Betreuungspersonal sowie den Lernenden,

ausgehen. Der theoretische Ansatz, welcher der vorliegenden Untersuchung zugrunde

liegt, ist eine Kombination der Thesen zur Säkularisierung im Sinne von Organisation,

Bedeutungswandel und Individualisierung als einer „zunehmenden Selbstbestimmung

des Individuums und seiner gleichzeitig abnehmenden Fremdbestimmung“ 621 , die zum

Verlust der traditionellen Deutungskraft religiöser Systeme führt. Im Folgenden ist diese

unabhängige Variable für die vorliegende Forschung definiert und in unterschiedlichen

Untersuchungsdimensionen verdeutlicht:

Tabelle 3 Die unabhängige Variable „Säkularisierung und Individualisierung“

Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse

Arbeitsdefinition Säkularisierung: Gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, die einen Einfluss auf

die Gemeindegebundenheit und das Engagement in Moscheegemeinden ausüben

und traditionelle Moscheestrukturen infolge einer individuellen Konstruktion

von Religiosität herausfordern oder infrage stellen.

Individualisierung: Prozess der Selbstbestimmung und weitgehenden Emanzipation

aus traditionellen Strukturen.

Indikatoren Säkularisierung: Gemeindegebundenheit (formal): Mitgliederzahlen, Gottesdienstbesuche,

ehrenamtliches Engagement, Glaubensgrundsätze der muslimischen

Gemeinden im Alltag, Deutungshoheit.

Individualisierung: Pluralisierung der Mitglieder in unterschiedliche Milieus,

Konflikte, Infragestellung der traditionellen Orientierung, Religiosität nach theologisch-dogmatischem

Konzept, Familienformen, Distanzierung von traditionell-islamischen

Lehren, Infragestellung der Lehrformen, Nichtakzeptanz der Autorität

der Imame, Verhältnis von Mann und Frau.

619 Vgl. Pollack/Pickel, Individualisierung und religiöser Wandel in der Bundesrepublik Deutschland,

S. 465

620 Vgl. ebd.

621 A. a. O., S. 468


1 Forschungsziele, Methodik und Ursache-Wirkungsmechanismen 229

Zeitdimension

Sachdimensionen

Säkularisierung

Individualisierung

Zeitraum des Transformationsprozesses in den Gemeinden, welcher von den

Experten identifiziert und erörtert wird.

Einflussbereich Gemeinde und Handlungsfeld Moscheevorstand und Repräsentanten;

Einflussbereich Alltag (Alltagsrelevanz religiöser Glaubensgrundsätze der Gemeinden

aus der Sicht der Moscheevorstände);

Einflussbereich gesellschaftliche und politische Repräsentation (Legitimation

durch den Vertretungsanspruch der Gemeinden).

Partner/Akteure: Jugendliche, Imame;

Geltungsbereich Moscheekatechese und Bewertungen oder Annahme seitens

der Zielgruppe; Handlungsfelder ‚Familie‘ und ‚Freizeit‘ (traditionelle Lebensformen

versus moderne Lebensformen, selbstbestimmte Lebensstile).

Als intervenierende Variable wirken auf dieses Handlungsfeld zunächst die institutionellen

Rahmenbedingungen der muslimischen Dachverbände und der lokalen Moscheegemeinden

ein. Es ist anzunehmen, dass sich zum einen Anzeichen von Säkularisierungs- und

Individualisierungsprozessen in den Moscheegemeinden zeigen und sich zum anderen

die personellen und finanziellen Ressourcen auf die Organisation der Moscheekatechese

auswirken. Den größeren Rahmen der Moscheegemeinden bilden die Dachverbände, die

auf der Landes- und Bundesebene organisiert sind. Die Dachverbände repräsentieren nicht

nur die offizielle religiöse Organisationslinie nach innen und nach außen, sondern haben

Möglichkeiten zur strukturellen Intervention in Moscheegemeinden. Diese Ressourcen

beziehen sich auch auf die Möglichkeiten der Moscheegemeinden, professionelles (religions-)

pädagogisches Personal zu rekrutieren und religionspädagogische Zentren aufzubauen und

zu führen, denn im Vergleich zu den Kirchen, die durch ihre generierten Steuern zahlreiche

außeruniversitäre religionspädagogische Zentren unterhalten können, existieren in der

muslimischen Gemeinschaft keine ähnlichen Zentren, die die Moscheekatechese begleiten

könnten. Da dieser größere Rahmen Einfluss auf den skizzierten Kausalmechanismus

ausübt, müssen sie in die empirische Untersuchung einbezogen werden.

Eine weitere vermutete intervenierende Variable stellen die Migrationseffekte und deren

Relevanz für die Moscheegemeinden und für die Moscheekatechese dar. Anders als christliche

Gemeinden sind die Muslime nicht nur als eine Minderheit in einem der skizzierten

gesellschaftlichen Prozesse betroffen, sondern die Religion des Islam ist in den öffentlichen

Debatten negativ konnotiert. Migrationseffekte können sich hinsichtlich der Identitätskonstruktion

zeigen, wenn religiöse und scheinbar ethnische Identitäten als Symbiose oder

etwa in Reaktion auf Zuschreibungsprozesse der Mehrheitsgesellschaft aufgefasst werden.

Ethnisierungs- und Selbstethnisierungsprozesse können sich bedingen und somit könnten

trotz der Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse eigenethnische Vereine wie

die Moscheegemeinden ihre Relevanz behalten. Die vorliegende Untersuchung hat den

Fokus primär auf den Einfluss der Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse auf

die Moscheegemeinden, speziell auf die Moscheekatechese, und von diesen Erfahrungen

aus auf die Erwartungen an den islamischen Religionsunterricht gerichtet; allerdings


230 B Empirischer Teil

müssen die Migrationseffekte aus den genannten Annahmen als intervenierende Variable

Berücksichtigung finden.

Diese skizzierten Rahmenbedingungen auf der Makro- und Mesoebene üben durch

die sozialen Handlungen der Akteure in den Vorständen der Gemeinden sowie durch die

Erwartungen der Gemeindemitglieder auf das Handlungsfeld ‚Moschee‘ (Akteure, Inhalte,

Ziele usw.) einen Einfluss aus, denn der Mechanismus zwischen den Variablen wird erst

durch Vermittlungsprozesse initiiert. Das Handlungsfeld ‚Moscheekatechese‘ wird in diesem

analytischen Konstrukt wiederum sowohl als abhängige als auch unabhängige Variable

behandelt, denn die Qualität und der Erfolg der Moscheekatechese wirkt sich wiederum

als Ursache auf den geplanten flächendeckenden islamischen Religionsunterricht aus. Es

ist anzunehmen, dass diese Erwartungshaltung an die Ziele und Inhalte sowie an die Rolle

der Religionslehrer die zukünftigen Diskussionen begleiten wird.

Als weitere Vermittlungsprozesse haben die Kooperationen mit den muslimischen

Familien eine besondere Relevanz. Die religiösen Sozialisationsbedingungen der eigenen

Kinder, die eigene religiöse Bildung und Orientierung sowie die Erwartungshaltung an die

Moscheekatechese sowie die Kooperationen mit dem religiösen Betreuungspersonal sind

dabei zentrale Einflussfaktoren auf die Organisation und Qualität der Moscheekatechese.

Im gleichen Atemzug müssen die muslimischen Repräsentanten genannt werden, die

insgesamt im Auftrag der Moscheegemeinden als Schnittstelle zwischen der muslimischen

Gemeinschaft, den zuständigen politischen Gremien und Behörden (Kultusministerium)

sowie der Öffentlichkeit fungieren. Sie tragen als Interessenvertretung die Erwartungshaltung

des Moscheevorstandes und der Mitglieder – auf der Grundlage der allgemeinen

Rahmenbedingungen der Gemeinden sowie der Erfahrungen mit der Moscheekatechse –

an die zuständigen Planungsstellen heran, konzipieren die Lehrerlaubnis und bestimmen

so über die Selektionskriterien zukünftiger Religionslehrer mit. Infolge des Fehlens von

Zentralkirchen und entsprechenden muslimischen religionspädagogischen Strukturen

oder Konferenzen, wie zum Beispiel Synoden, agieren Multiplikatoren im Namen der

Gemeinden, die sich selbst Plattformen und Kommunikationsstrukturen geschaffen haben.

Tabelle 4 Die abhängige und zugleich unabhängige Variable ‚Handlungsfeld

Moscheekatechese‘ mit den Akteuren Imame und Lernende

Handlungsfeld Moscheekatechese

Definition Mündliche wie schriftliche Vermittlung der islamischen Botschaft in Gemeinden

durch den Imam (und dem ehrenamtlichen religiösen Betreuungspersonal) zur

Internalisierung der Glaubensartikel und deren Praktizierung durch muslimische

Kinder und Jugendliche.

Indikatoren Resonanz: Teilnehmende Kinder und Jugendliche

Verständnis der Moscheekatechese

Aussagen und Bewertungen der Inhalte

Aussagen und Bewertungen der Ziele

Rolle, Qualifikation und Funktion des Imam

Evaluationsergebnisse

Reflexion, Problembewusstsein der Gemeinden

Kooperation mit Familien

Religiöse Kompetenz


1 Forschungsziele, Methodik und Ursache-Wirkungsmechanismen 231

Zeitdimension

Sachdimensionen

Entwicklungen seit den 1970er-Jahren und gegenwärtiger Stand

Akteure: Kinder/Jugendliche, Eltern, Imame, Moscheevorstand und Dachverbände

Inhalte, Ziele

Materialien

Be-/und Auswertungen

Kooperations- und Kommunikationsstrukturen

Infolge der vermuteten Beziehung zwischen den Entwicklungen der Moscheekatechese

im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen sowie der spezifischen Rahmenbedingungen

und der Erwartungen an den islamischen Religionsunterricht wird

Letztere in der vorliegenden empirischen Erhebung als die abhängige Variable behandelt.

Die Vertiefung und Modifikation oder Erweiterung des skizzierten Kausalmechanismus

durch die Informationstiefe unter anderem über das Handeln in den Moscheekatechesen

verspricht Erkenntnisse darüber, mit welchen Herausforderungen die Etablierung des

islamischen Religionsunterrichts konfrontiert werden könnte. Dies soll im Sinne der

Theorie des cultural time lag, dass eben in Gesellschaften mit diesen genannten Prozessen

ähnliche Erfahrungen in Erscheinung treten, interpretiert werden. Aus den Erfahrungen

der katholischen und evangelischen Kirche in Deutschland sollen auf der Basis dieser

Theorie mögliche Herausforderungen und Probleme in der Zukunft – auf der Grundlage

der gegenwärtigen Mechanismen – abgeleitet werden.

Tabelle 5 Die abhängige Variable ‚Islamischer Religionsunterricht‘

Islamischer Religionsunterricht

Definition Bekenntnisgebundener schulischer Religionsunterricht, der das Ziel verfolgt,

in einem Lehr- und Lernverhältnis ein auf die Lebensrealität abgestimmtes

und mit den allgemeinen schulischen Bildungszielen kompatibles islamisches

Grundlagenwissen sowie Kompetenzen hinsichtlich der selbstbestimmten

religiösen Urteils- und Reflexionsfähigkeit zu vermitteln.

Indikatoren Verständnis und Erwartungen an Ziele und Inhalte des Religionsunterrichts

Explizite Erwartungen an die Rolle und Funktion der Religionslehrer;

Explizite Aussagen zum Verhältnis der religiösen Lernorte Moschee und

Schule; Aussagen zur und Begründung der iğāza (Lehrerlaubnis)

Zeitdimension Gegenwärtige und zukünftige Gestaltung des Unterrichts

Sachdimension Akteursebene: Lehrer, Moscheevorstand und Dachverbände sowie muslimische

Repräsentanten

Lehrpläne (Inhalte, Ziele)

Materialien

Kooperations- und Kommunikationsstrukturen

Die sozialen Handlungen der Moscheevorstände, der gesellschaftlichen Repräsentanten und

der muslimischen Familien führen erst in diesem analytischen Konstrukt dazu, dass die

unterschiedlichen Variablen miteinander verbunden werden; ebenso sind die Handlungen

und kognitiven Strukturen in der Moscheekatechese ausschlaggebend. Diese vermittelnden

Prozesse in Form von sozialen Handlungen stellen zunächst eine „Black Box“ dar, weil


232 B Empirischer Teil

vorweg noch nicht gesagt werden kann, wie die Handlungen dort im Kontext der skizzierten

Rahmenbedingungen erfolgen und wie sich diese Handlungen auswirken. Neben

diesen theoretischen Such- und Auswertungsrastern sollen überprüfbare Daten und Fakten

sowie interne Informationen unter anderem über die Materialien der Moscheekatechese,

über Kommunikationsstrukturen innerhalb der Gemeinden hinsichtlich der Moscheekatechese

sowie mit den Dachverbänden und Informationen zur Elternarbeit erschlossen

werden. Dennoch bleibt andererseits immer ein Interpretationsraum für den Autor dieser

Abhandlung, der zugleich dem Leser plausibel gemacht werden soll. Schließlich haben die

Ergebnisse der Studien Konsequenzen hinsichtlich der nachfolgend genannten Maßnahmen:

Frage der religiösen Betreuung muslimischer Familien

Frage der Neukonzeption der Moscheekatechese

Frage von religionspädagogischen Materialien

Frage von Errichtung religionspädagogischer Zentren wie im christlichen Bereich

Frage einer „muslimischen Synode“ zur Klärung der Beziehungen

Die Ziele sind also:

die Rekonstruktion sozialer Prozesse in den Moscheegemeinden durch das Expertenwissen,

eine detaillierte Skizzierung der Moscheekatechese der Moscheegemeinden in Niedersachsen

(Ziele, Inhalte, Strukturen usw.), die weit über standardisierte Erhebungsversuche

hinausreicht,

erstmals erhobene Daten über Erziehungsprozesse in muslimischen Familien sowie zur

Kooperation mit Moscheegemeinden,

eine theoretische Erklärung des Kausalmechanismus zwischen gesamtgesellschaftlichen

Entwicklungen, Prozessen in den Moscheekatechesen sowie den Auswirkungen hinsichtlich

der Erwartungen an Ziele und Inhalte eines islamischen Religionsunterrichts,

eine antizipative Konfliktermittlung infolge der vermuteten Verschiebung der Bedeutung

der Lernorte ‚Familie‘, ‚Gemeinde‘ und ‚Schule‘.

Das Ergebnis dieser intensiven Erhebungen mit Experten, die über interne Informationen

zu den Binnenprozessen in den etwa 160 Moscheegemeinden verfügen, soll nicht nur die

theoretische Ermittlung des oben aufgeführten Forschungsinteresses darstellen, sondern

durch die Informationstiefe zugleich als eine Art religionspädagogisches Gutachten für die

religiösen Glaubensgemeinschaften fungieren. Die Ergebnisse der empirischen Forschung

sollen schließlich die Grundlage für die Entwicklung einer zeitgemäßen ‚Moscheedidaktik‘

bilden, die unter anderem die Lebenswirklichkeit in einer säkularisierten, multireligiösen

Gesellschaft und die spezifische, moderne Sozialisation der muslimischen Kinder und

Jugendlichen (Medien usw.) berücksichtigt. Dies alles hat Relevanz für neue religionspädagogische

Konzepte in den Gemeinden und auch für die Zusammenarbeit mit den

Schulen, um entsprechende Sensibilitäten zu vermitteln und sich auf ein konstruktives

Konfliktmanagement einzulassen. Entweder werden Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse

als Bedrohung wahrgenommen und es wird dementsprechend eine


1 Forschungsziele, Methodik und Ursache-Wirkungsmechanismen 233

traditionell-defensive Haltung eingenommen, oder diese gesellschaftlichen Prozesse werden

als Chance zur Neuverortung erkannt. Die Wissenschaft hat zwar primär die Aufgabe,

zum Verstehen beizutragen; allerdings sollte jeder gute Forschungsansatz auch einen

praktischen Nutzen haben. Daher sollen die Ergebnisse dieser empirischen Forschung

die Basis für praxisrelevante Handlungsempfehlungen für die Moscheekatechese in Teil

C der Untersuchung bilden.

1.2 Methodik der Untersuchung: Experteninterviews und

qualitative Inhaltsanalyse

Wie oben dargelegt, wurden für die vorliegende Untersuchung Experteninterviews zur

Erhebung der Daten und qualitative Inhaltsanalysen zu deren Auswertung gewählt. Methodologisch

sind diese beiden Instrumente der empirischen Forschung als rekonstruierende

Untersuchung der mechanismenorientierten Erklärungsstrategie zuordnen. Nach Gläser

und Laudel kann man unter Experten „Angehörige einer Funktionselite“, wie etwa Wissenschaftler,

verstehen, die ein bestimmtes professionelles Wissen zu einer bestimmten

Thematik haben. Den Terminus ‚Experte‘ könne man aber auch mit Menschen assoziieren,

die keinen hochqualifizierten Berufen nachgehen, sondern eventuell aufgrund eines Hobbys

ein besonders großes Expertenwissen, wie etwa zu Kfz-Mechanik, haben können. Wie

plausibel diese Gedankengänge auch sind – für das sozialwissenschaftliche Verständnis

in empirischen Untersuchungen greifen sie zu kurz, denn wie Gläser und Laudel weiter

anführen, verfügt gewissermaßen jeder Mensch über ein bestimmtes Wissen, welches ihn

doch zum Experten macht, ohne sich dafür diese Informationen als Hobby oder in seiner

Profession angeeignet zu haben. 622 Daher zeichnen sich Experten im sozialwissenschaftlichen

Forschungskontext durch andere Merkmale aus:

„Es ist das Wissen über die sozialen Kontexte, in denen man agiert: über das Unternehmen oder

die Organisation, in der man arbeitet, über die eigenen Arbeitsprozesse, über das Wohngebiet,

in dem man lebt, über Bürgerinitiativen, in denen man mitarbeitet, über Veranstaltungen,

an denen man teilnimmt. Nur die unmittelbaren Beteiligten haben dieses Wissen, und jeder

von ihnen hat aufgrund seiner individuellen Position und seiner persönlichen Beobachtungen

eine besondere Perspektive auf den jeweiligen Sachverhalt. Sozialwissenschaftler erforschen

solche sozialen Kontexte, gehören ihnen aber meist nicht an. Für sie sind die Beteiligten

deshalb Experten, die ihr besonders Wissen über soziale Kontexte für deren Untersuchung

zur Verfügung stellen können. In diesem Sinne werden die Begriffe ‚Experte‘ und ‚Experteninterview‘

hier verwendet: ‚Experte‘ beschreibt die spezifische Rolle des Interviewpartners als

Quelle von Spezialwissen über die zu erforschenden sozialen Sachverhalte. Experteninterviews

sind eine Methode, dieses Wissen zu erschließen.“ 623

Dies heißt also, dass das Forschungsinteresse nicht den Meinungen, Einstellungen und

Orientierungen der befragten Experten gilt, sondern sie sollen ihre Beobachtungen und

622 Vgl. Gläser/Laudel, Experteninterviews, S. 13, S. 36 f.

623 A. a. O., S. 13 f.; Hervorhebungen im Original.


234 B Empirischer Teil

Informationen über bestimmte Prozesse mitteilen. Die Experten haben eine „exklusive

Stellung in dem sozialen Kontext“ und sind daher als Informationsquelle relevant. 624 Experteninterviews

werden nach Gläser und Laudel demnach in den Sozialwissenschaften

aus folgendem Grund bevorzugt:

„Es handelt sich um Untersuchungen, in denen soziale Situationen oder Prozesse rekonstruiert

werden sollen, um eine sozialwissenschaftliche Erklärung zu finden. Wir bezeichnen solche

Untersuchungen im weiteren als rekonstruierende Untersuchungen. Die Experteninterviews

haben in diesen Untersuchungen die Aufgabe, dem Forscher das besondere Wissen der in die

Situationen und Prozesse involvierten Menschen zugänglich zu machen.“ 625

In diesem Sinne wurden die befragten Interviewpartner der muslimischen Vertreter,

Funktionäre und das religiöse Betreuungspersonal als Experten betrachtet, die in den unterschiedlichen

sozialen Kontexten der muslimischen Gemeinden und auf verschiedenen

Ebenen aktiv sind. Sie verfügen über ein spezielles Wissen über interne Abläufe und Strukturen,

die für Sozialwissenschaftler nicht über die Literatur oder über sonstige Dokumente

zugänglich sind. Insgesamt konnten für die Interviews 29 Experten gewonnen werden, die

ein sehr spezielles Wissen über interne soziale Kontexte besitzen, welches sie bereit waren,

in den Interviews mitzuteilen. Befragt wurden diese Experten nach einem Interviewleitfaden,

der auf theoretischen Vorüberlegungen basierte und zentrale Indikatoren aus dem

hypothetischen Modell aufgriff. Da der Zugang zu diesen wichtigen Informationsquellen

gewährleistet wurde, wurden zudem auch Informationen über historische Entwicklungen

sowie reine Informationen über Faktenwissen, welches nicht direkt Auskunft über soziale

Mechanismen gab, dafür aber die Defizite in den Informationen zum Binnenleben der Gemeinden

kompensierte, erhoben. Die Interviews 626 dauerten durchschnittlich ca. 75 Minuten.

Die Aufnahmen wurden auf einem Tonband aufgezeichnet und vollständig transkribiert. 627

Tabelle 6 Liste der interviewten 29 Experten der DITIB und der Schura

Experte Alter Beruf Funktion Nationalität Verband

1. Hamit A. 47 Arbeiter Vorstandsmitglied Landesverband Deutsch Schura

2. Zaynab D. 34 Pädagogin Moscheevorstand Deutsch Schura

3. Anna S. 43 Erzieherin Moscheevorstand/Bildungsbeauftragte Deutsch Schura

4. Yalcin K. 45 Selbstständig Vorstandsmitglied Landesverband deutsch DITIB

624 Vgl. a. a. O., S. 12 f.

625 A. a. O., S. 13

626 Alle interviewten Experten spielen für die Forschungsfrage eine wichtige Rolle und lieferten

eine wertvolle Informationsquelle, allerdings ist auch innerhalb dieses Samples ein großes

Gefälle bezüglich der zeitlichen Erfahrungen in der Gemeindearbeit zu verzeichnen. Experten

wie Hamit A., Yalcin K.,Halim H., Ikbal I. oder Mehmet A. beispielsweise zählen zu den

erfahrensten ehrenamtlichen Mitarbeitern. Das schlägt sich daher auch in den Zitationen im

empirischen Teil wider, die in Relation zu den anderen Experten häufiger zu Wort kommen.

627 Vom Verfasser wurden 22 Interviews vollständig selbst, die restlichen sieben von bezahlten

Hilfskräften transkribiert.


1 Forschungsziele, Methodik und Ursache-Wirkungsmechanismen 235

5. Mehmet A. 35 Arbeiter Moscheevorstand Deutsch DITIB

6. Ramadan C. 67 Rentner Moscheevorstand Deutsch- Schura

Türkisch

7. Bilal Z. 66 Imam Vorstandsmitglied Landesverband/Moscheevorstand

Deutsch Schura

8. Said Ö. 40 Arbeiter verheiratet Deutsch Schura

9. Adnan S. 25 Imam Bildungsbeauftragter Bosnisch Schura

10 Omar S. o.A. Arbeiter Moscheevorstand o.A. Schura

11. Sharif M. 55 Selbstständig Moscheevorstand/Bildungsbeauftragter Deutsch Schura

12. Necat I. 25 Imam Bildungsbeauftragter Bosnisch Schura

13. Halim H. 40 Imam Bildungsbeauftragter/Lehrplankommission

Türkisch DITIB

14. Ikbal I 33 Selbstständig Moscheevorstand Deutsch Schura

15. Abdullah B. 77 Imam Moscheevorstand/Theologische Beratung

Deutsch Schura

16. Mahmut Ö. 55 Selbstständig Ex-Moscheevorstand/Berater in strukturellen

deutsch Schura

Fragen

17. Hayrettin G. 45 Arbeiter Moscheevorstand/Bildungsbeauftragter Deutsch Schura

18. Ahmet A. 74 Pensioniert, Berater in Bildungsfragen Deutsch Schura

Lehrbeauftragter

19. Hakki K. 33 Arbeiter Moscheevorstand/Bildungsbeauftragter Türkisch Schura

20. Adam E. 626 31 Akademiker Muslimische Studentenvereinigung Deutsch Unabhängig

21. Ṯurayya K. 20 Studentin Moscheevorstand/Bildungsbeauftragte Deutsch- DITIB

Türkisch

22. Esma B. o.A. Studentin Dialogbeauftragte Deutsch DITIB

23. Esref B. 40 Wissenschaftler/Imam

Berater in Bildungsfragen Bosnisch Schura

24. Murtaza F. 43 Arbeiter Moscheevorstand Deutsch Schura

25. Amina F. 43 Lehrerin Vorstandsmitglied Landesverband/ Deutsch Schura

Lehrplankommission

26. Salih D. 46 Arbeiter Moscheevorstand türkisch DITIB

27. Reyhan H. o.A. Arbeitslos Bildungsbeauftragte Deutsch Schura

28. Esra C. 28 Lehrerin Bildungsbeauftragte Deutsch DITIB

29. Haluk M. 57 Arbeitslos Moscheevorstand Türkisch Schura

628

628 Adem E. ist der einzige Experte, der über keine formelle Mitgliedschaft in einem der beiden

Landesverbände aufwies. Seine starke informelle Position bei den muslimischen Verbänden

sowie sein ehrenamtliches Engagement mit muslimischen Jugendlichen beziehungsweise Studenten

machen ihn aber zu einem Experten, weil er über ein sehr großes – historisches und

aktuelles – unverzichtbares Wissensrepertoire verfügt.


236 B Empirischer Teil

Das transkribierte Datenmaterial wurde mit der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse

ausgewertet. Der erste Schritt hierbei war es, der Fülle des Datenmaterials die Rohdaten

zu entnehmen:

„Wir verwenden den Begriff Extraktion, um den Unterschied zum ‚Kodieren‘ von Texten

deutlich zu machen: Das Kodieren indiziert den Text, um ihn auswerten zu können. Es macht

also Text und Index zum gemeinsamen Gegenstand der Auswertung. Mit der Extraktion

entnehmen wir dem Text Informationen und werten diese Informationen aus. […] Extraktion

heißt, den Text zu lesen und zu entscheiden, welche der in ihm enthaltenen Informationen

für die Untersuchung relevant sind“ 629

Auf der Basis der oben explizierten Variablen nach Definition, Indikatoren, Sach- und

Zeitdimensionen wurde ein Suchraster mit den entsprechenden Kategorien konzipiert.

Das Kategoriensystem hat dabei konkret folgende Funktionen:

„Das Kategoriensystem für die Extraktion baut auf den in den theoretischen Vorüberlegungen

konzipierten Untersuchungsvariablen bzw. Einflussfaktoren und den Hypothesen über die sie

verbindenden Kausalmechanismen auf. Dadurch wird sichergestellt, dass die theoretischen

Vorüberlegungen die Extraktion anleiten. Vermittelt über das Kategoriensystem strukturieren

die theoretischen Vorüberlegungen außerdem die Informationsbasis und unterstützen

so deren Verwendung für die Beantwortung der Forschungsfrage. Das Kategoriensystem

ist zugleich offen: Es kann während der Extraktion verändert werden, wenn im Text Informationen

auftauchen, die relevant sind, aber nicht in das Kategoriensystem passen. […]

Zur Offenheit des Kategoriensystems gehört, dass die Merkmalsausprägungen frei verbal

beschreiben werden. Die Daten werden also nominalskaliert erhoben, und die ‚Skala‘ – die

Liste der Ausprägungen – entsteht im Prozess der Extraktion. Damit wird die Extraktion

an die Eigenart der theoretischen Variablen angepasst, komplexe Zustände zu beschreiben.

Außerdem wird sichergestellt, dass nicht antizipierte Merkmalsausprägungen adäquat aufgenommen

werden: Sie müssen nicht in eine ex ante vorgegebene Skala eingepasst werden.“ 630

Vor dem Hintergrund der dargestellten Analyseschritte wurde das gesamte Datenmaterial

extrahiert, aufbereitet, ausgewertet und interpretiert. Die ausführliche Interpretation der

Ergebnisse wurde im empirischen Teil vorgenommen, wobei nicht alle Gliederungspunkte

ausschließlich die Kausalmechanismen aufgreifen, sondern oft auch wichtige Grundlageninformationen

liefern, denn durch eine so hohe Zahl an gesprächsbereiten Experten,

die über historische und aktuelle Informationen, wie über die Entwicklung des eigenen

Verbandes, über die Situation der religiösen Erziehung in den Familien oder über die

negativen kollektiven Erfahrungen der ersten und zweiten Generation im Islamunterricht

im Rahmen des muttersprachlichen Türkischunterrichts in den 1970er-Jahren bis in die

1990er-Jahre hinein, verfügen, wird das gesamte Bild vervollständigt. Ob die religiöse

Erziehung in muslimischen Familien oder die Erfahrungen im muttersprachlichen Unterricht

– alle diese Themen wurden zum ersten Mal für den deutschen Kontext erhoben;

daher wird ein möglichst ganzheitliches Bild vermittelt, um für die Diskussionen in der

629 Gläser/Laudel, Experteninterviews, S. 199 f.

630 A. a. O., S. 201


1 Forschungsziele, Methodik und Ursache-Wirkungsmechanismen 237

islamischen Religionspädagogik sowie für weitere, vertiefende Forschungsfragen zentrale

Impulse zu liefern. Die konzentrierte Diskussion in Form der Explikation des rein hypothetischen

Modells auf der Basis der identifizierten Mechanismen erfolgt im Gegensatz zur

ausführlichen empirischen Darstellung in Teil C. Dann werden die im Forschungsdesign

aufgeführten Faktoren als „Black Box“ beleuchtet, nachdem die zentralen Thesen auf der

Grundlage der empirischen Ergebnisse formuliert wurden.

1.3 Die Beschreibung der untersuchten Moscheegemeinden der

Schura und der DITIB in Niedersachsen

Im Flächenland Niedersachen hat der Organisationsgrad der Muslime in den letzten 15

Jahren stark zugenommen und zeigt sich auch in den unterschiedlichen Kommunikationsgremien

mit der Politik, mit sozialen Einrichtungen, mit Kirchen und mit der Universität

Osnabrück (Institut für Islamische Theologie). Die Zunahme der formellen Kommunikationsplattformen

ist ein Hinweis auf die qualitative und quantitative Bedeutung der Muslime

für das Land Niedersachsen. Quantitativ gesehen hat die muslimische Bevölkerung

zugenommen, und gemäß der Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die

Grünen vom 26.09.2012 leben dort bis zu 266 000 Muslime. Da das Land Niedersachsen

über keine eigenen Statistiken über die muslimische Bevölkerung verfügt, basiert diese

Berechnung auf der durch die Deutsche Islam Konferenz bundesweit angeregte Studie Muslimisches

Leben in Deutschland. Insgesamt zeigt das Dokument, dass ein großer Mangel

an statistischen Daten zu Muslimen existiert. Dies ist für Niedersachsen kein Sonderfall,

sondern ein Zustand in allen Bundesländern. Über die allgemeine Konstellation der Muslime,

wie etwa zu den konfessionellen Differenzierungen, sind Informationen vorhanden,

aber nicht bekannt, 631 weswegen auf der Grundlage der Angaben der befragten Experten

erste Hochrechnungen zu den Mitgliederzahlen und zur Reichweite der muslimischen

Gemeinden aufgestellt wurden. Ebenso ist die Zahl der wöchentlichen Freitagsbesucher

nicht bekannt, sodass zum ersten Mal in Deutschland die Moscheebesucherzahlen an den

Freitagen erhoben wurden. Ohne die Erhebung dieser Daten können keine Entwicklungen

wie in den Kirchen erfasst und bewertet werden.

Organisiert sind die Muslime in den beiden großen Landesverbänden Schura Niedersachsen

e. V. und DITIB. Diese beiden muslimischen Organisationen fungieren als

Ansprechpartner für die Politik. Gemeinsamkeiten bestehen insofern, als dass beide

Organisationen sunnitisch geprägt und auch der größte Anteil ihrer Mitglieder sowie

Mitgliedsvereine aus der Türkei kommen. Diese Konstellation spiegelt also die Verhältnisse

in Gesamtdeutschland wider. Nach den Angaben der Studie Muslimisches Leben in

Deutschland folgen 74 % aller 3,8 bis 4,3 Millionen Muslime der sunnitischen Konfession.

Bei drei Millionen türkischer Einwanderer in Deutschland – die auch wiederum überwiegend

sunnitisch geprägt sind – ist es nachvollziehbar, dass sie den größten Anteil der

631 Vgl. Niedersächsischer Landtag − 16. Wahlperiode, Antwort auf eine Große Anfrage – Drucksache

16/5234 , S. 15


238 B Empirischer Teil

Sunniten in Deutschland ausmachen. Von ihrer Geschichte, ihren Organisationen sowie

den Mitgliedern her gibt es zwischen den beiden Landesverbänden große Unterschiede.

Die Schura Niedersachsen e. V. ist ein im Jahr 2001 basisdemokratisch organisierter

Verein. Der Motor dieser Entwicklungen waren nach eigenen Angaben die Forderungen

der muslimischen Eltern, für ihre Kinder einen islamischen Religionsunterricht an öffentlichen

Schulen nach Art. 7 (3) GG einzuführen. Um diese verfassungsrechtlichen Auflagen

als Religionsgemeinschaft zu erfüllen, schlossen sich mehrere Moscheegemeinden in

Niedersachsen zu einem Landesverband zusammen, um der Politik als Ansprechpartner

zu dienen. 632 Nach den Angaben in der Antwort zur Großen Anfrage in Niedersachsen

vertritt die Schura 69 Moscheegemeinden; 633 nach Angaben ihres Vorstandes vertritt der

Landesverband jedoch 75 Moscheen. Hervorzuheben ist dabei die Pluralität hinsichtlich

der ethnisch-kulturellen Zusammensetzung, der konfessionellen Orientierung sowie der

islamischen Rechtsschulen. So sind arabischstämmige, bosnische, türkischstämmige

und deutschstämmige Muslime genauso vertreten wie die beiden Hauptströmungen des

Islam – Sunniten und Schiiten – sowie die ḥanafītischen, šāfi‘ītischen, mālikitischen und

ḥanbalitischen Rechtsschulen. Der Grundkonsens wird auf der eigenen Homepage als

das gemeinsame Glaubensbekenntnis („Es gibt keine Gottheit außer dem einen Gott und

Muhammad ist sein Diener und Gesandter“) und die fünf Säulen des Islam angegeben. 634

Die Heterogenität zeigt sich auch darin, dass lokale Moscheegemeinden, wie die der VIKZ,

ATIB, Bosniaken, Milli Görüs und arabischstämmige, im Landesverband, zugleich aber

noch jeweils in den eigenen Bundesverbänden Mitglied sind. Wie noch in der empirischen

Studie aufgezeigt wird, führt diese Konstellation auch zu Interessenkonflikten und zu

internen Kommunikationsproblemen.

Ein anderes Bild ergibt sich bei der DITIB, die von der ethnisch-kulturellen sowie konfessionellen

Zusammensetzung homogener ist. Der DITIB-Landesverband ist Mitglied des

Bundesverbandes Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V., der 1984 in Köln

gegründet wurde. Die Initiative zur Organisation der türkischen Muslime in Deutschland

unter einem Dachverband war die Reaktion auf die zunehmende Entstehung zahlreicher

türkisch-muslimischer Moscheegemeinden und Dachverbände. Nach dem Militärputsch am

12. September 1980 verfolgte die neue Militärregierung auch das Ziel, die Diaspora-Türken

insbesondere in Deutschland stärker zu organisieren und die türkisch-islamische Synthese

durchzusetzen. In diesem Rahmen werden seit den 1980er-Jahren Imame aus der Türkei,

die direkt dem Religionsattachée der jeweiligen Konsulaten unterstellt sind, in die lokalen

Moscheegemeinden gesandt, um ihre eigene Interpretation des Islam „anzubieten“: 635

632 Vgl. Firouz Vladi, Zur Stellung der Muslime in Deutschland und ihr Verhältnis zur religiösen

Bildung in öffentlichen Schulen, in: Peter Graf (Hrsg.), Islamische Religionspädagogik – Etablierung

eines neuen Faches. Bildungs- und kulturpolitische Initiativen des Landes Niedersachsen,

Göttingen 2007, S. 97

633 Vgl. Niedersächsischer Landtag, Antwort auf eine Große Anfrage, S. 15

634 Vgl. Landesverband der Muslime in Niedersachsen e. V./Schura Niedersachsen, abgerufen

unter: http://www.islam-niedersachsen.de/Schura-niedersachsen/ [25.12.2013]

635 Vgl. Jonathan Laurence, The Emancipation of Europe’s Muslims. The State’s Role in Minority

Integration, Princeton/Oxford 2012, S. 59 ff.


1 Forschungsziele, Methodik und Ursache-Wirkungsmechanismen 239

„The Turkish government offers prefabricated, export-ready version of the Islamic religion:

a Muslim religious practice within the secular Turkish framework, complete with clergy

from the homeland who stick to fifteen-minute sermons centrally approved and posted on

Diyanet’s internal website from Ankara each friday […]. Since signing of al bilateral treaty

in 1984, the German interior ministery helped DITIB with entry visas and three to fouryear

German residence permits (and a Turkisch-paid salary) for the imams in its employ,

and similar arrangements haven been struck with all Europeans countries with significant

Turkish-origin populations. 636

Zwar sind auch bereits ab Ende der 1960er ausgewählte Religionsbedienstete nach Deutschland

gesendet worden, allerdings wird eine systematische Versorgung der türkisch-muslimischen

Gemeinden mit Imamen seitens der türkischen Religionsbehörde ab 1984

gewährleistet. 637 Die Imame sind selbst Beamte des türkischen Staates und mit der Arbeit

der Religionsbehörde Diyanet verbunden, die am 3. März 1924 durch den Republikgründer

Mustafa Kemal Atatürk initiiert wurde. Diese staatliche Behörde, die direkt dem

Amt des Ministerpräsidenten zugeordnet ist, hat die zentrale Aufgabe der Kontrolle und

Verwaltung der Religion des Islam in der Türkei und mittlerweile auch im Ausland. Obwohl

die Türkei ein streng laizistischer Staat ist, bildet diese Religionsbehörde mit über

80 000 Beschäftigten, mit etwa 79 000 Moscheen und einem Budget von ca. 1,3 Mrd. Euro

einen der größten Verwaltungsapparate des Landes. 638 In Deutschland hat die DITIB 896

Moscheegemeinden und etwa 150 000 Mitglieder. 639 Nach eigenen Einschätzungen hat

der Verband eine Reichweite von mehreren Hunderttausend Muslimen. Er ist nicht nur

der mitgliederstärkste Verband in Deutschland, sondern verfügt auch über die meisten

personellen und finanziellen Ressourcen. Die Zentrale des Dachverbandes ist in Köln, wo

derzeit die große Moschee entsteht und demnächst der Sitz des Verbandes sein wird. Um

die zentralistische Verwaltung zu überwinden und in Richtung der Basisdemokratie zu

gehen, wurden in den letzten Jahren in elf Bundesländern Landesverbände gegründet, und

zwar überall dort, wo ein türkisches Konsulat seinen Standort hat. 640 Nach Aysun Yasar

ist diese Standortorientierung folgendermaßen zu erklären:

„Der Grund dafür ist, dass das Diyanet in jedes Generalkonsulat einen Religionsattaché

entsendet, der den Imamen der DITIB-Gemeinden in seinem Bezirk bzw. im entsprechenden

Landesverband vorsteht. Entsprechend ist der Religionsattaché des Generalkonsulats in Frankfurt

am Main der Vorgesetzte aller Imame in den DITIB-Gemeinden im Bundesland Hessen,

auf das sich der Verwaltungsbezirk des DITIB-Landesverbandes Hessen e. V. erstreckt.“ 641

Die neuen Satzungen in den Landesverbänden spiegeln diese Richtung wider, da die

Mitspracherechte deutlich zugenommen haben, auch wenn der zentralistische Charakter

636 A. a. O., S. 60 f.

637 Vgl. Aysun Yasar, Die DITIB zwischen der Türkei und Deutschland. Untersuchungen zur

Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e. V., Würzburg 2012, S. 61

638 Vgl. a. a. O., S. 24 ff.

639 Vgl. a. a. O., S. 59

640 Vgl. a. a. O., S. 99

641 A. a. O., S. 99 u. 100


240 B Empirischer Teil

noch beibehalten wird. In der Antwort zur Großen Anfrage in Niedersachsen wird die Zahl

von 70 Moscheegemeinden in Niedersachsen genannt; 642 allerdings spricht der Landesverband

DITIB in den Experteninterviews von 90 Moscheegemeinden in Niedersachsen.

Im Gegensatz zur Schura sind die Mitglieder der DITIB sunnitisch und kommen aus der

Türkei. Die Rechtsschule ist hanafītisch, wobei auch viele Šāfi‘ītische Kurden 643 dazu zählen.

Rechnet man jeweils die Angaben der Großen Anfrage und die der Muslime zusammen,

so vertreten beide zwischen 139 und 165 Gemeinden. Unabhängig von dieser Differenz sind

also fast alle Moscheegemeinden Mitglied bei den beiden muslimischen Landesverbänden

und vertreten mehrere Tausend muslimischer Familien in Niedersachsen. 644 Ebenso sind

fast alle in Deutschland tätigen Imame in den Mitgliedsgemeinden dieser Landesverbände

vertreten. Erste Statistiken auf Bundesebene lieferte hierfür die Studie Islamisches

Gemeindeleben in Deutschland:

„Mit diesen Verbänden wird auch ein Großteil abgedeckt: „Zwischen 56 und 70 Prozent der

hauptsächlich tätigen Religionsbediensteten sind in einer Gemeinde der drei großen türkisch

geprägten Verbände DİTİB, IGMG oder VIKZ tätig.“ 645

Rechnet man noch die bosnischen Moscheegemeinden, die arabischen des Zentralrats der

Muslime sowie die Verbände ATIB und die schiitischen Moscheen dazu, dann wird diese

Reichweite nochmals vor Augen geführt.

1.4 Der Zugang ins empirische Feld

Der Zugang ins empirische Feld zählt zu den größten Herausforderungen für einen Wissenschaftler,

der einer mechanismenorientierten Erklärungsstrategie folgt. Viel stärker

als bei relationsorientierten Erklärungsstrategien sind vertrauensbildende Maßnahmen

erforderlich, um die potenziellen Interviewpartner für ein Interview zu gewinnen. Die

besten Forschungsdesigns nützen nichts, wenn der Forscher die anvisierten Experten nicht

für ein Interview überzeugen kann oder nur die weniger interessanten Gesprächspartner

gewinnt, aber nicht die wirklichen „Zeugen“ für die sozialen Prozesse im Binnenleben

von Organisationen. Dieses Risiko trifft vor allem auf die Untersuchung von öffentlich

642 Vgl. Niedersächsischer Landtag, Antwort auf eine Große Anfrage, S. 15

643 Die kurdische Arbeiterpartei PKK hat – nachdem sie die traditionell-religiöse Orientierung der

Kurden in der Türkei anerkennen musste – als eine Bewegung mit leninistisch-marxistischen

Wurzeln (!) in den 1990er- und 2000er-Jahren versucht, durch die aus der Türkei kommenden

Kurden eigene Moscheegründungen in die Wege zu leiten. In Duisburg-Marxloh entstand z. B.

die Ibrahim-Halil Moschee, allerdings mit mäßigem Erfolg. Die kurdischen Muslime sind zu

stark in den Verbänden, wie DITIB und Milli Görüs, verwurzelt.

644 Die Frage der Reichweite wird später in der empirischen Untersuchung noch einmal thematisiert.

645 Dirk Halm et al., Islamisches Gemeindeleben in Deutschland. Forschungsbericht 13, Bundesamt

für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg 2012, S. 453


1 Forschungsziele, Methodik und Ursache-Wirkungsmechanismen 241

politisierten und kontroversen Themen, wie bei muslimischen Gemeinden, zu, die aufgrund

der negativen medialen Darstellung des Islam sowie des Vertrauensverlustes in die

Objektivität öffentlicher Berichterstattungen diesen gegenüber grundsätzlich skeptisch

sind, was objektive Berichterstattungen betrifft. Es gilt hier nicht die Frage, ob diese

Skepsis berechtigt ist oder nicht, dies ist vielmehr die Erfahrung des Verfassers nach zwei

großen qualitativ angelegten Studien in der muslimischen Gemeinschaft. Insbesondere

für die Forschungsfragen der vorliegenden Studie, die sich wissenschaftlich-kritisch mit

dem Binnenleben der Landesverbände Schura und DITIB auseinandersetzt, war die Frage

des Zugangs entscheidend.

Da der Verfasser seit 2009 am Zentrum für Interkulturelle Islamstudien und später

am Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück mit den Vorständen

der beiden Landesverbände, mit Vorstandsmitgliedern der lokalen Gemeinden sowie mit

zentralen formellen und informellen Multiplikatoren in Kommunikation stand, konnte

nicht nur ein Vertrauensverhältnis aufgebaut, sondern es konnten auch die richtigen „Informanten“

für die Studie identifiziert werden. Die Kooperation und Kommunikation mit

den Landesverbänden erfolgte in der Phase der Bewerbung des Standortes Osnabrück 646 für

Forschungsgelder des Bundesministeriums für Forschung und Bildung, bei der Entwicklung

von Lehrplänen für den schulischen Religionsunterricht und für die Studiengänge der islamischen

Religionspädagogik und Theologie, bei der Gründung des ersten muslimischen

Begabtenförderwerks Avincenna 647 sowie bei vielen informellen Gesprächen, in denen der

Verfasser den Verbänden als Berater zur Verfügung stand. Die Landesverbände selbst

arbeiten seit Anfang der 2000er-Jahre intensiv mit dem Kultus- und Wissenschaftsministerium

in Fragen der Einführung eines ordentlichen islamischen Religionsunterricht nach

Art. 7 (3) GG sowie bei der Etablierung eines Instituts für Islamische Studien zusammen.

Darüber hinaus sind sie seit Jahren mit der Landesregierung in Gesprächen, um als Religionsgemeinschaft

anerkannt zu werden. Der erste Schritt in diese Richtung scheint mit

der Eröffnung der Gespräche zum geplanten Staatsvertrag getan zu sein.

Aufgrund dieser intensiven Berührungspunkte waren für die vorliegende Studie keine

vertrauensbildenden Maßnahmen mehr erforderlich, da dieses Vertrauen durch die gemeinsame

Kooperation herangewachsen war. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, dass mehr

als die Hälfte der Befragten auch keine Anonymisierung 648 für die Interviews wollte.

Daher wurde dem Verfasser ein tiefer Einblick in das Binnenleben gewährt, und es wurden

viele aktuelle sowie historische soziale Prozesse und Informationen auf der Ebene

des Landesverbandes, der lokalen Moscheegemeinden sowie der Kooperation mit den

muslimischen Eltern angesprochen. Wie für qualitativ angelegte Studien üblich, werden

Originalzitate der Interviewpartner im empirischen Teil zwischen den Interpretationen der

Wissenschaftler eingeführt, um die Originalität und die Lebendigkeit des methodischen

Charakters zu erhalten. Diese Vorgehensweise gilt für die vorliegende Studie in besonderer

Weise, weil viele Pioniere der Verbandsarbeit und wichtige Multiplikatoren zum Teil auch

646 http://www.irp.uni-osnabrueck.de/startseite.html

647 http://www.avicenna-studienwerk.de/

648 Aus forschungsethischen Gründen wurden jedoch nicht nur die Namen aller Befragten, sondern

auch alle anderen möglichen Hinweise zu den Personen in den Interviews anonymisiert.


242 B Empirischer Teil

über längere Passagen hinweg historische und gegenwärtige Entwicklungen selbstkritisch

und reflexiv berichten. Dieser Originalität wurde Folge geleistet, sodass diesen Zitaten viel

Raum gegeben wird.


Ergebnisse der empirischen Studie

2 Ergebnisse der empirischen Studie

2

In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der 29 Experteninterviews vorgestellt, die zudem

mit korrespondierenden Erkenntnissen aus der Migrations- und Religionssoziologie sowie

der Religionspädagogik angereichert wurden. Zusätzlich wurden Informationsmaterialien

aus den Gemeinden ausgewertet und der Interpretation des Datenmaterials hinzugefügt.

Durch diese Kombination wurden tiefergehende Informationen über die komplexen Vorgänge

der im hypothetischen Modell dargestellten Handlungsfelder und sozialen Prozesse

gewonnen. Bevor jedoch die einzelnen Informationen vorgestellt werden, müssen die

interviewten Experten auf der Grundlage ihrer Biografien und Funktionen innerhalb der

Gemeinden kurz charakterisiert werden. Vor dem Hintergrund dieser Charakterisierung

erfolgt nun im Folgenden eine kurze Präsentation der interviewten Expertinnen und

Experten 649 , wobei die ausgewählten Zitate aus dem Mund der Befragten häufig eine gute

Zusammenfassung über die eigene Person und Funktion in der Gemeinde wiedergeben.

Damit wird auch erstmalig für den deutschen Kontext eine Beschreibung der Gemeindefunktionäre

vorgenommen.

2.1 Charakterisierung der Experten der Schura und der DITIB

Die Rolle und die Funktion der Gesprächspartner in Experteninterviews werden in empirischen

Forschungen darauf reduziert, dass sie relevante Informationen über die sozialen

Mechanismen liefern, die dem Forscher nicht in schriftlicher Form vorliegen. Vor diesem

Hintergrund konnten für die vorliegende Forschung 29 Expertinnen und Experten

649 Alle Namen wurden anonymisiert, ebenso alle Indizien, die auf die interviewte Personen hinweisen

könnten. Interessanterweise haben zwölf Experten vor dem Interview mitgeteilt, eine

Anonymisierung für nicht erforderlich zu halten. Diese Offenheit der Befragten ist sicherlich

mit der jahrelangen Kommunikation des Verfassers in seiner Funktion als Mitarbeiter am

Institut für Islamische Theologie zu begründen. Nichtsdestotrotz wurden die Interviews anonymisiert,

was unabhängig vom Vertrauensverhältnis eine noch größere Offenheit verspricht

und mögliche Loyalitätskonflikte verhindert.

R. Ceylan, Cultural Time Lag, DOI 10.1007/978-3-658-06050-3_8,

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014


244 B Empirischer Teil

gewonnen werden, die eine zentrale Position innerhalb der Landesverbände DITIB und

Schura einnehmen und über die erforderlichen Informationen verfügten. Sie setzen sich

aus der ersten, zweiten und dritten Generation der Muslime zusammen, weswegen der

Altersunterschied unter ihnen sowie ihre zeitlichen Erfahrungen sehr stark variieren; auch

unterscheiden sich die Befragten jeweils in ihrer formellen Funktion in der Gemeindearbeit.

Zum einen wurden Experten befragt, die ihre jeweiligen Mitgliedsmoscheen auf der

Landesebene politisch vertreten und zugleich in der Gemeinde eine weitere Verantwortung

als Vorstandsmitglied aufweisen. Alle befragten Personen dieser Kategorie haben in ihrer

bisherigen ehrenamtlichen Laufbahn in den muslimischen Gemeinden unterschiedliche

Rollen – vom religiösen Betreuungspersonal über Ansprechpartner für muslimische Familien

bis hin zu politischen Repräsentationsaufgaben – eingenommen.

„Ich bin seit Ende der 2000er-Jahre in der Schura, besser gesagt seitdem ich in der AG Religionsunterricht

in Niedersachsen bin, aktiv. Die Aufgabe habe ich auf Drängen beziehungsweise

auf Anraten von anderen Mitgliedern übernommen. Eigentlich bin ich seit 1984 bei der Nur-Cemaat

650 aktiv. Seitdem ich in der Nur-Gemeinde Unterricht erhalte habe, habe ich auch sehr

eng in der Dialogarbeit gewirkt, sodass mich in Hannover und Umgebung viele Muslime wie

Nicht-Muslime kannten. Daher hat man mich zu dieser AG Islamische Religion in Niedersachsen

eingeladen. So gegen Mitte der 2000er sind zu mir einige muslimische Vertreter gekommen

und an mir den Wunsch herangetragen, an dieser AG teilzunehmen. Danach haben mich vor

allem türkisch-sunnitische Mitglieder aus Hannover aufgesucht und mich um meine Teilnahme

gebeten. An dieser AG sollten unterschiedliche Konfessionen und Ethnien teilnehmen. Ich

wollte das Ganze erstmal aus einer Distanz verfolgen, um die Entwicklung zu sehen, um mich

dann zu entscheiden. Das Treffen der Muslime bestand aus unterschiedlichen Arbeitsgruppen

und ich nahm an der AG Dialog teil. Bei diesem Treffen wurde der Wunsch der Muslime erhärtet,

einen islamischen Religionsunterricht in Niedersachsen einzuführen. […] Also ab 2002

wurde die Schura gegründet als Ergebnis des Zusammentreffens dieser Arbeitsgruppen. Wir

haben lange nach dem richtigen Namen für unseren neuen Landesverband überlegt und uns

schließlich, wie übrigens die Moscheegemeinden in Hamburg auch, für Schura entschieden, das

ja auch im Koran vorkommt. Als wir diesen gemeinsamen Landesverband gegründet hatten

bin ich mit drei, vier weiteren Multiplikatoren zu den Moscheegemeinden gegangen, um dort

für unsere Idee von einem Dachverband in Niedersachsen zu werben. Ich war ja bei denen

bekannt. Ich bin immer noch in der Cemmat-Nur, obwohl ich meine Koranausbildung als

Kind und Jugendlicher bei der VIKZ erhalten habe. Ich war auch mit jungen Jahren schon bei

der Organisation von Imamen aus der Türkei sehr engagiert, die in Deutschland ihren Dienst

antreten sollten. So gegen Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre gab es aber große Feindseligkeiten

und Rivalitäten zwischen den muslimischen Verbänden in Deutschland. Man hat

sich oft gegenseitig zum Häretiker erklärt. Um diese unterschiedlichen muslimischen Gruppen

zusammenzubringen, habe ich Veranstaltungen wie Gedenkveranstaltungen für den Propheten

Muhammad und andere Feierlichkeiten organisiert, daher kannten mich alle Vorstände in den

Gemeinden Niedersachsens.“ (Hamit A., S. 60; 62)

Die zweite Kategorie von Experten ist nur auf der lokalen Gemeindeebene, und zwar

in den Moscheevorständen oder in den Leitungsfunktionen für Jugend-, Frauen- oder

Kindergruppen tätig:

650 Diese Gemeinde bezieht ihre religiöse Orientierung aus den Schriften der Integrations- und

Führungsfigur Said Nursi.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 245

„So also erstmal vielleicht zu meiner Person. Mein Name ist Zainab D., und ich bin in der

Moscheegemeinde seit sieben Jahren Mitglied und seit drei Jahren Vorstandsmitglied in

der Moschee. Nebenbei studiere ich islamische Theologie und arbeite in einer katholischen

Institution. Ja, also was ist mein, also ich glaube, dass ich quasi in einer Moscheegemeinde

groß geworden bin. Mein Vater ist Imam und ich bin daher in diese Strukturen

hineingewachsen, reingeboren sag ich mal. Das spielt noch mal eine Rolle, das ist noch

mal ein Aspekt. Für mein Vater hat die Moschee immer eine Rolle gespielt, egal wo er

war, wo er sich aufgehalten hat, die Moschee war immer in seinem Fokus. Das war halt

so. Die Moschee war zuerst in einem Lagerhaus, dann in einem Zimmer bis wir, ja, jetzt

eine Moscheegemeinde haben, wo Tausend Menschen auch zum Freitagsgebet kommen.

Das hat sich also quasi immer weiterentwickelt, aber letztendlich war die Moschee immer

im Fokus in unserem Leben gewesen, also als Familie. Dass hat mich jetzt auch als

Einzelperson geprägt, also wenn ich jetzt mich mit meinen Geschwistern vergleiche, bin

ich die, die in seine Fußstapfen getreten ist und irgendeinmal habe ich mich entschieden

aktiv zu werden, auch ohne Vorstandsmitglied zu sein. Hab’ erstmal in den Frauenbereich

hineingegangen, in die Frauenarbeit, habe aber auch gemerkt, dass mich nicht nur

dieser Bereich interessiert, sondern auch im interreligiösen Kontext war das so mit dem

Beginn mit dem Bistum Osnabrück, um so ein bisschen näher zu kommen. Dann haben

sich ein paar Projekte entwickelt und irgendeinmal ist es dazu gekommen, dass ich in

den Vorstand getreten bin oder vorgeschlagen bin.“ (Zainab D., S. 1)

Die dritte Gruppe ist primär für die religiöse Erziehung in der Gemeinde verantwortlich,

nimmt aber auch andere Rollen, wie in der Elternberatung oder in Lehrplankommissionen

für den schulischen Islamunterricht, wahr.

„Ja, ich bin so seit ungefähr 1993 in unserer Gemeinde tätig. Wir hatten die Gemeinde

damals von Milli Görüs übernommen und seitdem bin ich auch aktives Mitglied. Ich habe

die Moschee auch mit aufgebaut. Und bin jetzt auch in den Vorstand gewählt worden,

seit vier Jahren und meine Funktion in der Gemeinde ist recht vielseitig. Zum einen leite

zwei Kindergruppen. Die eine Gruppe im Alter von ca. fünf bis acht Jahren, die andere

von acht bis ca. zwölf Jahren. Ja, ich bin auch Ansprechpartner bei gewissen Problemen,

wenn Frauen zum Beispiel mit ihren Problemen zu mir kommen beziehungsweise ihrer

Erziehung haben, kommen auch zu mir.“ (Anna S., S. 203)

Dagegen sind die Biografien der Interviewpartner hinsichtlich ihrer religiösen Sozialisation

unterschiedlich. In der ersten Kategorie sind Personen vertreten, die in ihren Familien

eine religiöse Sozialisation durchlaufen haben, regelmäßig einen religiöse Unterweisung

besuchten und in ihrer Gemeindebindung eine Kontinuität aufweisen und sich später

aktiv ehrenamtlich engagierten:

„Mein Vater war schon aktiv und Gemeindevorsitzender, dann mein älterer Bruder und

schließlich ich. Mein Vater hatte die ehrenamtliche Arbeit in den Gemeinden geliebt.

Und er wollte ein Ort, also wir waren vier Brüder und mein Vater machte sich Gedanken

über unsere religiöse Identität. Er war ein gläubiger Mensch. Er machte sich Gedanken


246 B Empirischer Teil

darüber, wie er vier junge Menschen in einer sehr bunten, verführenden Gesellschaft,

dessen Atmosphäre nicht vereinbar war mit seinen religiösen Vorstellungen, also wie er uns

schützen konnte, motivierte er uns in der Gemeinde – im Vorstand, in der Jugendabteilung

usw. – aktiv zu werden. Damit hatte er uns eine Beschäftigung verschaffen, damit wir

nicht den Verführungen der Gesellschaft verfallen. Deshalb war ich schon mit vierzehn,

fünfzehn Jahren im Vorstand beziehungsweise in der Jugendabteilung bereits aktiv. Als

ich zum Beispiel den --- Verein mit gegründet hatte, hatte ich noch kein Führerschein,

ich war erst siebzehn Jahre alt. Mein Vater unterstützte mich darin, weil er wusste, wo

ich war, mit wem ich war und was ich machte. Für ihn war das ein Teil seiner Erziehung

mit in die Gemeindearbeit zu integrieren. Wir haben es auch wirklich gerne gemacht,

wir wurden zu nichts gezwungen. Daher habe ich mein Herz nicht für andere Dinge

geöffnet und bis seit 30 Jahren in dieser Gemeindearbeit aktiv wie bei DITIB-Vereinen

oder Sportvereinen. Ebenso bin ich außerhalb der Moscheegemeinden wie an Schulen

aktiv, habe Elternvereine gegründet und sogar einen Verein für Deutsch-Türkische-Geschäftsleute.“

(Yalcin K., S. 85)

Die zweite Kategorie umfasst Experten, die aus ähnlich religiös-traditionellen Familien

kommen, in ihren Biografien aber insofern einen Bruch aufweisen, als sie sich eine Zeitlang

vom Gemeindeleben distanziert und erst wieder zur Religion „zurückgefunden“ haben –

entweder nach einer Reflexionsphase, in der man sich wieder mit den islamischen Schriften

auseinandersetzte, oder, wie bei Mehmet A., durch ein sehr intensives emotionales Erlebnis,

welches dazu führte, dass er den selbst erlebten Bruch in seiner Biografie mit der Tradition

wieder überwand, indem er sich wieder dem Islam zuwandte und in der Moscheegemeinde

eine sehr aktive Rolle übernahm:

„Mein Vater war auch im Stahlwerk beschäftigt. Hier ist die Firma --- , die stellen so

Cabrios her. Eines Tages, da war mein Vater nicht zu Hause. Ich habe nach ihm gesucht

und mich gefragt: ‚Wo ist er jetzt wieder?‘ Da bin ich zu der Moschee hingegangen und

habe mich da hingestellt und gesehen, dass da eine Grube ausgeschaufelt wird, weil da die

ganze Kanalisation fest, also [beginnt zu weinen], also, sorry, das kommt immer wieder

hoch, und meinem Vater in der Grube gesagt: ‚Was machst du hier? Komm nach Hause.‘

Da sagt der so: ‚Ich mache das hier alles für dich.‘ Da hat mich der liebe Gott, nach

Jahren, nach so vielen Gängen nach links und rechts, dahin gebracht, wo ich jetzt bin.

[…] Was ich gemacht habe, also ich habe das erste Mal die Gemeinde kennengelernt. Ich

möchte mal so ausholen so, ja , also habe die Gemeinde zum ersten Mal kennengelernt,

dort wo ich Tätigkeit, erstmal durch meine Eltern, durch meine Kindheit, so wie sich das

ganze aufgebaut hat, so wie ich das Ganze gesehen habe, wie unsere Eltern und unsere

Vorfahren das aufgebaut haben. Das hat sich geprägt, weil man hatte immer selber etwas

auszubessern oder andere Ideen auch zu bringen und wenn man andere Ideen hat, dann

kann man die nicht einfach in den Raum werfen, sondern sich auch dafür engagieren.

In diesem Zusammenhang hat sich das dann so entwickelt, dass ich dann zuerst Schriftführer

geworden bin, über diese Arbeit in die Gemeinde vom Vorstand gewählt worden

bin durch die Versammlung. Dann war ich zwei Jahre lang tätig als Schriftführer und

dann hat sich das, ja, so ergeben, dass ich zum Vorsitzenden vorgeschlagen worden bin.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 247

Etwas Erfahrung hatte ich ja schon, also eine zweijährige. Meine Anteilnahme war jetzt

auch so begrenzt, aber ich hatte schon die Möglichkeit reinzuschnuppern, wie das Ganze

so abläuft. Dann hat sich das so entwickelt, dass ich zum ersten Vorsitzenden gewählt

worden bin und dann habe ich gesehen, was in so einer Gemeinde mal so anfallen kann

an Arbeit. Das ist zwar alles ehrenamtlich, das ist auch alles schön und gut, aber die Zeit

die ich oder die wir dort in 1½ Jahren effektiv geopfert haben, das war erst das Ziel, dort

eine Struktur reinzubekommen, um überhaupt dort einen Überblick reinzubekommen,

weil da waren auch Unterlagen und so, und das alles musste erstmal strukturiert werden

und auch aussortiert werden. Da waren mit schon gut ausgelastet mit der Arbeit. Ja, dann

hatten wir die Sachen so gehabt. Und dann die Frage der Räumlichkeiten, weil man möchte

ja auch Nachwuchs haben, eben das Nachwuchs kommt, dass die Kinder etwas lernen

und so. Dann mussten wir uns erst mal Gedanken machen, wie wir die Räumlichkeiten

gestalten können, also moderner gestalten können, dass die Jugendlichen dort auch sich

wohl fühlen. Ja, so hat alles angefangen.“ (Mehmet A., S. 309, 288 f.)

Dann haben wir eine dritte Kategorie, deren Personen zwar – ethnisch-kulturell betrachtet

– aus muslimischen Familien kommen, jedoch über keine ausgeprägte religiöse

Sozialisation verfügen und erst in späten Jahren eine geistige Affinität zur Religion und

zum Islam entwickelt haben.

„Das ging 21 Jahre lang so und in diesen 21 Jahren wo ich dort war, habe ich die letzten,

mit 38 hat es bei mir persönlich eine Wandlung stattgefunden. Eigenartige Wandlung,

ich wusste selbst nicht warum. Plötzlich habe ich persönlich gefragt ‚Wieso, weshalb,

warum das Ganze?‘ Denn in der Elektronik, in der Elektrotechnik, in der Technik, in

den Molekülen, in den Atomen, habe ich gesagt ‚Was ist das? Wer ist das, der das sowas

machen kann?‘ Diese Frage habe ich mir gestellt. Und dann kam es auf mich zu. Das war

ein positiver Schock, den ich erlebt habe. Das war mit 38. Und dann habe ich angefangen,

zu suchen ‚Wo finde ich irgendetwas über das, wo ich meine Fragen gestellt habe? Wer

kann mir das sagen?‘ Religion bis dorthin war nichts bei mir. So ab 38,39 Jahren und mit

meinem 40. Lebensjahr habe ich das erste mal jemanden kennengelernt, der mir gesagt

hat, ich habe damals auch in der Esoterik meine Versuche getätigt. Esoterik ist ein Bereich,

was man nicht sehen kann, aber existiert. Ich hab mich esoterisch bisschen beschäftigt.

Seitdem gibt es für mich Dinge, die da sind, die ich erkenne, aber nicht sehe, nicht zu

sehen ist. Also es ist da. So. In der Zeit habe ich auch gelernt Wünschelruten gehen. Ich

kann Wasser finden unterirdisch mit meinen Wünschelruten. Es gab noch ein anderes

System mit Pendeln. Und das ist eine, dann habe ich gemerkt, ich bewege mich in einer

Richtung, wo ich von einem Moslem gehört habe, das Esoterik falsch ist. Es ist nicht in

Ordnung sowas. Ich würde mich wahrscheinlich begeben mit irgendwelchen Mächten,

dunklen Mächten, die mich eventuell vielleicht in eine Richtung bewegen. Da habe ich

gesagt ‚Stopp , wenn das so ist, wer kann mir das sagen?‘ Nach dem langen hin und her

hat es hier in Hannover eine Moschee gegeben, diese Moschee hat sich gerade eröffnet. In

der Goetheplatz in der Nähe. Dann hat mich ein Bekannter, LKW-Fahrer, der hat mich

in der Firma immer wieder besucht halt damals, hat gesagt ‚Komm her, ich bringe dich

dorthin.‘ Das war gerade die Eröffnung, wo die Gebetsnische gerade gepinselt wurde. Und


248 B Empirischer Teil

dann gab es dort einen Imam. Und er, Ali, der mich dann mit ihm bekannt gemacht hat,

der hat gesagt ‚Hodscha, hier hast du einen Patienten‘ und ich hab mich vor ihm gesetzt,

und da habe ich ihm erklärt all diese Dinge, die esoterische Geschichten. Und er hat mir

etwas Tolles gesagt, er hat gesagt ‚Islam ist für alles offen für jegliche Art Wissenschaft,

für ilm (Wissen), ist immer offen, es hat gar keine Grenzen im Ilm.‘ Und dieses hier hat

mich dann so ermutigt, dass ich gesagt habe, ‚Das muss es sein.‘ Und letztlich hat er mir

eins gesagt ‚Du bist so viel umhergerannt im Leben, jetzt bist du bei mir hier. Jetzt ist

das Endstation‘. Dann hab ich mich umgesehen, ja, das ist eine Moschee. Ok, gut. Meine

Mutter war eine Christin, evangelisch. Wir haben immer Weihnachten gefeiert, Ostern

gefeiert wie verrückt, kein Problem. Aber dann der Dreh mein Vater war Muslim, hat

aber den Glauben nicht gewählt. Hat immer wieder gesagt, eins gesagt, wenn man ihn

gefragt ‚Wie geht‘s Feyzullah? šukr, šukr [Gott sei Dank]. Dieses Wort ‚šukr‘ ist magisch

für mich gewesen. Und da habe ich natürlich dann an dem Tag habe ich gemerkt, was

šukr heißt, šukr, also Dankeschön. ‚Bei wem bedankt man sich denn da eigentlich?‘ Und

die Frage, die Antwort da habe ich erfahren. Man bedankt sich bei einem Schöpfer. So und

der erste Tag in der Moschee war für mich kniezitternd. Also so was habe ich nie erlebt.

Ich befand mich in einer Kuppel, sag ich mal so zuerst wie ich es mal erklären soll. Und

da unter war ich irgendwie geschützt. Aber das war so eine tolle positive Aufregung, dass

meine Knie gezittert haben. Der Tag war so ohne Gebet und gar nichts, ich nach Hause,

da habe ich angefangen zu lesen. Alles über Islam. Das erste Mal, als ich zu Hause angefangen

habe, zu beten, das war für mich, ich dachte ich schwebe. Das war die Situation,

das war mit meinem 40. Lebensjahr. Und dann habe ich im Koran gelesen, dass es gibt

da eine sūra, ab 40 spätestens solltest du dich bei Gott bedanken, Allāh bedanken, dann

anschließend deine Eltern ehren, all diese Dinge stehen in so einer Koran-Sūra drin. Und

dann habe ich gesagt ‚Dann war ich also im Programm mit dabei. Wieso das Ganze, he?‘

Irgendeine Hand hat mich geführt. Ich habe mich dann gefühlt als jemand, der in diesem

Leben beauftragt ist für irgendetwas. Aber ganz langsam. ‚Alistira Alistira‘ 651 heißt es. Erst

Esoterik, dann die Geschichte in der Moschee und dann anschließend beginnen mit Gebet,

Fasten und all diese Dinge. Mittlerweile das war 1987, da war ich 40. Bin 1947 geboren.

Und jetzt bin ich 66 Jahre alt, ich bin bald im 67. Lebensjahr.“ (Ramadan C., S. 437 ff.)

Schließlich sind in der letzten Kategorie deutschstämmige Konvertiten vertreten, die zur

ersten Generation der deutschen Muslime zählen. Diese verfügen über ein besonderes

Wissensrepertoire über die historischen Entwicklungen der Moscheegemeinden in den

letzten 50 Jahren und auch über interne Gemeindeentwicklungen: 652

651 Peu à peu

652 In der Publikation Ethnische Kolonien (S. 170 ff.) des Verfassers wurde bereits darauf hingewiesen,

dass die deutschstämmigen Konvertiten in der muslimischen Gemeinschaft zunehmend

eine wichtige Rolle spielen werden. Mittlerweile ist es heute keine Seltenheit mehr, in den

meisten Moscheegemeinden Konvertiten – nicht nur als Gemeindemitglieder, sondern auch

als ehrenamtlich Aktive – anzutreffen. Insbesondere in arabischstämmigen Moscheen sowie

in sufistischen Gruppen wurden deutsche Konvertiten involviert. Im Vergleich hierzu sind in

türkisch- oder bosnischstämmigen Moscheegemeinden Konvertiten eher weniger präsent. Eine

zentrale Erklärung für dieses Phänomen bildet die Tatsache, dass in den zuletzt genannten


2 Ergebnisse der empirischen Studie 249

„Das ist eine lange Geschichte, ich mache es mal kurz. Ich und Salim Abdullah haben im

Sommer 1973 angefangen zu uns sagen: ‚Wir müssen was tun.‘ Und dann sagten wir uns,

beide so wie wir waren, … Deutsch. Wir beiden hatten, da kann man lange darüber diskutieren,

brandenburg-preußische Wurzeln. Jedenfalls kann man lange darüber diskutieren,

aber das war unsere Illusion. Alle diejenigen die zu uns kommen müssen letztlich Deutsche

werden und dafür haben wir gearbeitet. Und dafür haben wir Satzungen geschrieben,

möglicherweise habe ich sogar die erste Satzung von einem Freund schreiben lassen, die

dann von allen Muslimen kopiert wurden, die erste Vereinssatzung, dafür haben meine

türkischen Freunde damals mich für verrückt erklärt: ‚Brauchen wir nicht.‘ […] Ja, ja.

Wie hießt der denn noch ? So ein kleiner Lehrer: ‚Ahmet, nee. Du bist verrückt.‘ Und die

Anerkennung der Vereinssatzung war als das Finanzamt sagte: ‚Ihr bekommt Steuerbescheinigungen

für eure Mitgliedsbeiträge‘. Daraufhin sagten diese Gastarbeiter: ‚Dieser

Deutscher ist gar nicht so blöd.‘ Also das ist sozusagen der Startpunkt. Daraufhin haben

die dann gelernt, durch unsere Auseinandersetzung mit den kirchlichen Verwaltungen,

dass wir eine Art Organisation brauchen, Agglomeration irgendwelcher Art und unsere

Illusion war, es könnte etwas staatskirchenrechtliches mit Körperschaftsstatus rauskommen.

Wir haben lange gebraucht, möglicherweise Jahre, bis wir gelernt haben, das geht nicht,

weil das juristisch nicht möglich ist. Wir haben dann mühselig, sehr strittig sogar, weil

wir mit der Geschichte nicht vorankamen. Dann kam ja noch der Umzug nach Soest und

zum Kontakt zu dem dortigen Landesinstitut und gleichzeitig Salim Abdullahs Kontakt

zu der SPD und Gewerkschaften, er war ja bei der Journalistengewerkschaft, und dass

wir brauchen so eine Art Religionsunterricht. Das ging aber schief, weil diejenigen, die

im Kultusministerium Nordrhein-Westfalen sich dafür engagiert wurden, unterstützt

wurden durch jene die Türkei verlassen hatten oder den Orient, welche Art auch immer,

unter Umständen über die Sowjetunion, Bulgarien oder DDR gewandert waren und eine

aktive anti-islamische Position 653 hatten. Und so entstand der Anlass eine Curriculums,

und dass kann man nachlesen, indirekt nachlesen, an dem Entwurf des Landesinstituts.

Da ist ja noch ein türkischer Professor rübergekommen, ich weiß gar nicht mehr vorher

der kam, ein ganz reizender Kollege, der sich aber offensichtlich mit der Grundposition

nicht identifizierte, nämlich dass auf der deutschen, nordrheinwestfälischen Seite ein

Unterricht geplant war, der De-Facto eine religionswissenschaftliche Position vertrat,

die atheistisch war, weil sie dominant religionswissenschaftlich-historisch ausgerichtet

war, also genau gegen das verstieß, was ich mühselig, wirklich mühselig gelernt habe,

der meine muslimischen Freunde mir mehr als einmal auf die Füße getreten sind, dass

unsere deutsche, christlich geprägte Kultur eine theologische ist und wir Muslime doch

Gemeinden die Pflege der Herkunftskultur sowie der Herkunftssprache eine größere Rolle

spielen als in arabischstämmigen Gemeinden, die in der Regel multikultureller geprägt sind.

Des Weiteren bilden Arabischkurse in den arabischstämmigen Gemeinden auch keine Pflege

der Herkunftskultur, weil es sozusagen das „Latein“ des Islam darstellt. Dieses Phänomen mit

den Konvertiten ist auch bei salafistischen Gruppen anzutreffen, da die ethnizitätsblinde Idee

einer „internationalen Radikalen“ eine gewisse Attraktivität ausstrahlt und sich die Deutschstämmigen

dort nicht ausgeschlossen fühlen.

653 Auf die Rolle dieser marxistisch-leninistisch orientierten Lehrer im muttersprachlichen Unterricht

wird noch später vertiefend eingegangen werden.


250 B Empirischer Teil

Orthopraktiker. Das heißt, die entscheidende Fragestellungen, die mit viel Schmerz

verbunden war, also der Lernprozess, zumindest nach meinem gegenwärtigen Stand

der Diskussion, dass zwei sehr unterschiedliche Positionen des Glaubensformen gibt,

nämlich zusagen, ich leben aus den geistigen Strukturen heraus meinen Glauben, also

Trinität, Offenbarung über Bibel, Interpretation, historisch, all das. Und unsere Art, die

eine jüdische ist.“ (Ahmet A., S. 47 f.)

Zu dieser heterogenen Konstellation ist noch anzumerken, dass der überwiegende Teil

der befragten Experten sunnitischer Konfession ist, also entsprechend der überwiegend

sunnitischen Struktur der Moscheegemeinden der Schura und der DITIB. Abschließend sei

noch darauf hingewiesen, dass sich alle Befragten als praktizierende Muslime 654 bezeichnen.

Darunter verstehen die Interviewpartner, dass sie fünf die Säulen der Glaubenspraxis

als „Mindestmaß“ einer muslimischen Religiosität betrachten. Unabhängig davon sind

unter den Experten beispielsweise auch mystisch orientierte Muslime, die über diesen

„kleinsten, gemeinsamen Nenner“ hinaus, noch spezielle Rituale und Praktiken durchführen,

wie die qiyām al-layl (das Gebet in der Nacht) 655 , das programmatische Gedenken

Gottes durch bestimmte Glaubensformeln oder das wöchentliche Fasten am Montag und

Donnerstag. 656 Des Weiteren setzt sich diese Expertengruppe aus einem ethnisch-kulturell

unterschiedlichen – konkret türkisch-, bosnisch-, arabisch-, afghanisch- und deutschstämmigen

– Personenkreis zusammen. Ein letztes, aber sehr zentrales Merkmal der

interviewten Expertengruppe ist, dass unter den 29 Akteuren sieben Frauen waren, die

eine wichtige Rolle auf allen drei Tätigkeitsebenen (Landesverband, Moscheevorstand

und operatives Geschäft in Form von Jugendgruppen) spielen und auch bei der Repräsentation

ihrer Gemeinden, wie etwa bei Dialogveranstaltungen, vertreten sind. Das aktive

und selbstbewusste Wirken muslimischer Frauen in den eher von Männern dominierten

Gemeindestrukturen spiegelt einen – nicht ganz konfliktfreien – Transformationsprozess

wider, der bei der Behandlung der Thematik ‚Individualisierung und deren Einfluss auf

654 Eine Fragestellung unter der Thematik ‚Säkularisierung‘ war die Wahrnehmung der Diskrepanz

zwischen der offiziellen Glaubensorientierung der muslimischen Gemeinden und der Lebensrealität

der muslimischen Gemeindebesucher. Dabei wurden von den Experten explizit die

fünf Säulen des Islam als Voraussetzung dafür gesehen, sich als ein ‚praktizierender Muslim‘

zu bezeichnen. Dieser Begriff setzt sich in der Rhetorik von muslimischen Gemeinden, auch

als Abgrenzung zu dem weniger akzeptierten Begriff ‚streng religiös‘ immer mehr durch.

655 Die koranische Grundlage hierfür bildet folgender Vers (17:79): „Und erhebe dich von deinem

Schlaf und bete (auch) während eines Teils der Nacht, als eine freie Gabe von dir, und dein

Erhalter mag dich wohl (im kommenden Leben) zu einer ruhmreichen Stellung erheben.“

656 Diese über das Mindestmaß an religiöser Glaubenspraxis hinausgehenden individuellen und

kollektiven Rituale basieren auf Informationen über die persönliche Lebensführung in der

Biografie des Propheten. So ist bekannt, dass Muhammad über die religiösen Pflichten hinaus

für sich selbst individuelle Pflichten, wie das Beten in der Nacht sowie spezielle Fastenformen,

ausführte, die zu seiner „Sunna“ (Brauch, persönliche Lebensführung) zählen. Aus diesem

Material entwickelten vor allem islamisch-mystische Gruppen eine Programmatik, welche die

Ordensschüler durchlaufen müssen, um ihre spirituelle Entwicklung sozusagen unter Aufsicht

eines Sufi-Sheiks, stufenweise bis zur Perfektion zu vollziehen.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 251

die muslimische Sozialstruktur‘, insbesondere in der Auflösung der traditionellen Rollenverteilungen

in den Familien, aufgegriffen wird.

2.2 Zwischen Säkularisierungs- und Individualisierungs- sowie

Muslimisierungs-/(Selbst-)Ethnisierungsprozessen:

allgemeine Rahmenbedingungen in den Moscheegemeinden

mit besonderer Berücksichtigung der Moscheekatechese

„Die erste Generation hatte nicht so viele Möglichkeiten. Die kamen nach Hause und sie

kümmerten sich um die Familie, um die Kinder. Die einzigen außerfamiliären Treffpunkte

waren die Moscheegemeinden. Aber heute, für die dritte und vierte Generation? Heute

arbeiten Männer und Frauen, die Kinder sind in den Kindergärten oder machen Abitur,

also ganz andere Bedingungen. Damals waren nur die Moscheegemeinden die Treffpunkte,

heute können die sich ihr eigenes soziales Umfeld schaffen, auch deutschsprachig. Also

früher gab es auch nur die ‚türk Kahvehaneler‘ 657 und nur die Moscheen, und heute?

Türkische Männercafés, Moscheen, also auch unterschiedliche Männercafés mit ‚Kumar‘

658 oder ohne usw. Heute gibt es Bistros, Restaurants, Schischa-Bars und die jungen

Leute haben ihr eigenes Umfeld. Unter solchen Bedingungen, wo also die muslimischen

Jugendlichen ihre eigenen Freunde haben, wo sie ganz einfach flirten und Mädchen treffen

können, die Netzwerke aus ihren Schulen, immer mehr erfolgreiche Muslime – das sieht

man an den ganzen Abiturienten – oder dass sie im Urlaub auch in andere ausländische

Länder fahren, und natürlich das Sportleben in Vereinen. Trotz dieser Vielfalt an Möglichkeiten

ist es positiv. Okay, ist es bewusst-religiöses beziehungsweise frommes Leben,

was die muslimische junge Generation führen? Das ist es eher nicht. Wenn überhaupt

nur traditionell, das heißt einfach weil die Eltern auch Muslime sind.“ (Hamit A., S. 69 f.)

„Überall in den Moscheegemeinden, nicht nur in unserer Gemeinde, sieht es so aus, dass

die Räumlichkeiten für die Gottesdienstbesucher am Freitag überhaupt nicht ausreichen,

weil der Andrang sehr groß ist. Da kommen viele Personen, die wir als Gemeinde nicht

mal kennen. Die ihre Haare anders tragen, sich irgendwie anders kleiden, die ein Ohrring

tragen, so von ihrer Erscheinung anders sind als unsere festen Gemeindemitglieder. Die

völlig anders sich bekleiden und die man nicht kennt.“ (Said Ö., S. 162)

Die gesellschaftlichen Entwicklungen der Pluralisierung und Heterogenisierung der Lebensstile

zeigen sich in all ihren Facetten auch in den untersuchten Moscheegemeinden.

Auf der Grundlage der Experteninterviews konnte zum ersten Mal ermittelt werden, dass

auch die Muslime – mit einer festen oder losen Bindung zum Gemeindeleben – jenen

gesellschaftlichen Prozessen ausgesetzt sind, die sich in der deutschen Gesellschaft seit

den 1960er-Jahren stärker zeigen. Diese gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen

657 Türkisch für Männer-Cafés.

658 Türkisch für Glücksspiel.


252 B Empirischer Teil

fordern das muslimische Gemeindeleben allerdings in anderer Weise heraus, als wir es

im Transformationsprozess der Kirchen kennen, denn der säkularisierte öffentliche Raum

wird aus einer religiösen und migrationsspezifischen Perspektive bewertet; daher ist ein

doppeltes Spannungsverhältnis zwischen der offiziellen Lehre der Moscheen und dem

öffentlichen Raum wahrnehmbar. In diesem Kapitel werden die im Zuge des Wandels der

Gemeindestruktur entstandenen Herausforderungen rekonstruiert und erste Konsequenzen

für die Moscheekatechese sowie die Ursachen und Mechanismen für die Erwartungen an

einen schulischen Religionsunterricht abgeleitet.

2.2.1 Der öffentliche Raum als Risikofaktor: gesellschaftliche

Transformationsprozesse und Reaktionen in den Gemeinden

Die Bewertung des öffentlichen Raumes durch die Gemeinden bildet bei der Interpretation

der Auswirkungen aller gesellschaftlichen Entwicklungen auf die muslimischen Strukturen

den übergeordneten Kontext. In allen Experteninterviews zieht sich die ambivalente

Bewertung der Öffentlichkeit wie ein roter Faden hindurch. In der islamischen Geschichte

war der öffentliche Raum – trotz der eher abwertenden Beziehung zum vergänglichen

Diesseits im Vergleich zum ewigen Jenseits 659 – immer positiv geprägt, da im Sinne des

Verbots eines Asketentums und der Förderung einer aktiven Gestaltung der Gesellschaft

ein bejahendes oder zumindest ausgewogenes Verhältnis zur Weltlichkeit postuliert wurde.

Sogar in sufistisch-mystischen Bewegungen ist nicht grundsätzlich eine Negativbewertung

der Öffentlichkeit zu erkennen, auch wenn die Lehre immer vor den „Verführungen“ der

Gesellschaft warnte. Insbesondere unter islamischer Herrschaft, wo der Islam eine zentrale

Rolle für die Strukturierung und Deutung der Wirklichkeit spielte, war die Öffentlichkeit

durchaus positiv konnotiert. Öffentlichkeit war auch Weltlichkeit, aber eben eine islamisch

geprägte. Im Zuge der Gründung von Nationalstaaten infolge des Verfalls islamischer Reiche

und infolge von staatlichen Zwangssäkularisierungsprozessen in einer stark ideologisierten

Form, wie in der Türkei und in Tunesien, sollte der öffentliche Raum dann eine negative

Bewertung erhalten. Im kollektiven Gedächtnis der Muslime der ersten Generation in den

Gemeinden hierzulande, die aus Ländern wie Bosnien-Herzegowina kommen, in denen

diese ideologische Form der Säkularisierung stattfand und die Religion aus dem öffentlichen

Raum verdrängt wurde, ist diese negative Konnotation bis heute präsent:

„Das liegt daran, dass unsere Gesellschaft die Menschen aus Bosnien-Herzegowina und

Ex-Jugoslawien haben mehr als 40 Jahre im Kommunismus gelebt. Das Leben im Kommunismus

war schwer und dass sind die Leute, die im Kommunismus erzogen wurden

in der Schule mit Marxismus und viele glaubten nicht an Gott. Oder sie glaubten, aber

wussten nichts über ihren Glauben, wie man also ein guter Muslim wird. Sie hatten nur

den Namen Muslim.“ (Adnan S., S. 240)

659 So heißt es nach einer Überlieferung: „Der Prophet sagte: Im Vergleich mit dem Jenseits ist das

Diesseits nichts anderes, als wenn einer von euch seinen Finger ins Meer eintaucht. Er soll da

schauen, was er daraus mitbringt.“ (Adel Theodor Khoury, Der Ḥadīṭ. Urkunde der islamischen

Tradition, Bd. II. Religiöse Grundpflichten und Rechtschaffenheit, Gütersloh 2008, S. 305)


2 Ergebnisse der empirischen Studie 253

Die historischen Erfahrungen aus dem Herkunftskontext gehören nicht unbedingt der

Vergangenheit an, weil noch in vielen Ländern, wie etwa in Algerien oder Ägypten, das

Verhältnis von Staat und Religion politisch und gesellschaftlich nicht geklärt ist. Davon

zeugen aktuelle Konflikte in den genannten Ländern, vor allem in den sogenannten Transformationsländern

des ‚Arabischen Frühlings‘:

„Ja die, leider die in den arabischen Raum ist das Wort säkular oder laizistisch eine

ganz negatives Wort. Wenn man das sagt die Leute, die Mehrheit der Leute verstehen

darunter, dass einer der säkular sich benimmt oder so, einer, der den Islam hasst. Und

auch so bekämpft oder sowas. Und die neuesten Entwicklungen in den Ländern zeigen

auch sowas, dass die sogenannten Säkularen und Liberalen und Laizisten, die haben die

Diktatur unterstützt und so weiter, obwohl das keine Demokratie eigentlich ist. Was man

früher dann das Gegenteil behauptet, sie haben früher behauptet, sie seien für Demokratie

und für Einheit das und dies, aber die Praxis hat das Gegenteil gezeigt.“ (Omar S., S. 525)

Für die muslimischen Gemeinden im Migrationskontext kommt neben den historischen

Erfahrungen und den aktuellen Entwicklungen im Herkunftsland noch die Minderheitenposition

hinzu, die sie aufgrund öffentlicher Debatten um den Islam sehr wohl wahrnehmen.

Der postulierte islamische Lebensstil seitens der Gemeinden sei in diesem öffentlichen

Raum schwierig zu praktizieren, sobald man die beiden geschützten Räume – Familie und

Moschee – verlasse, da der Kontrast zu den eigenen Überzeugungen sehr deutlich wird:

„Sehr viel Arbeit, viel Arbeit. Weil die Familien sind indirekt wie ein kleines Ghetto, wie

ein geschützter Raum. Aber geht man auf die Straße, sieht man eine ganz andere Welt.

Dann sagt die Mutter zum Beispiel zu Hause: ‚Guck dir bitte nicht nackte Frauen an.‘

Dann geht das Kind zum Kiosk und sieht dort viele erotische Zeitschriften aufgehängt,

wo Frauen oben ohne sind. Dann kommt das Kind nach Hause und erzählt davon. Oder

im Sommer, wenn die Leute sich freizügig anziehen und im Garten grillen oder auf der

Straße schmusen, oder die Penner, die sich schlecht benehmen oder die Tätowierten oder

auch Menschen, die zum Teil sehr verstümmelte Gesichter durch Piercing haben. Da

sieht man eine andere Realität und das reizt dann. Man geht zur Schule und sieht, Sex ist

offen und freier Umgang. Die Jungs provozieren die Mädchen, die Mädchen provozieren

die Jungs. Die Kleider der Mädchen, auch der Lehrerinnen sind offen, und dann geht

das Kind nach Hause, sieht die Mutter mit ihrem Kopftuch. Eine 180 Grad umgedrehte

Welt. Da hängt es davon ab, wie man sein Kind erzieht und auch die Sexualkunde, zum

Beispiel wenn man im Unterricht sieht, wie man ein Kondom benutzt nach dem Motto

‚Sex ist offen und frei, aber nicht schwanger werden‘ oder wegen Aids-Gefahr. Dann geht

das Kind nach Hause, aber die Mutter sagt dazu: ‚Das ist ḥarām 660 .‘ Das sind zwei Welten.

[…] Ja, da war ein gläubiger Junge auch aus einer gläubigen Familie. Der Vater hat mal

sein Handy auf dem Tisch gesehen und reingeschaut und dabei gelesen, wir er mit Kameraden

gechattet hat und die haben eine Mitschülerin als schmutzige Frau beschimpft.

Da sagte der Vater zu seinem Sohn: ‚Das ist ḥarām, das ist islamisch nicht erlaubt. So

660 Islamisch verwehrt.


254 B Empirischer Teil

kannst du nicht über ein junges Mädchen sprechen.‘ Da sagte der Sohn: ‚Ja, aber sie halt

letzte Woche mit einem Jungen aus unserer Klasse geschlafen.‘ Da sagte der Vater: ‚Ja,

das geht dich nichts an, warum beschimpft du sie?‘ Da sagte der Junge: ‚Ja, aber Papa,

das ist bei uns in der Schule üblich.‘ Der Vater: ‚Ja, aber das ist unislamisch.‘ Der Sohn:

‚Ja, aber du weißt nicht, was in der Schule läuft.‘ Das heißt also, der Junge wird vielmehr

von der Schule beeinflusst. Jetzt kommt zusätzlich, die Ganztagsschulen, das heißt die

Schüler sehen sich gegenseitig mehr als ihre Eltern. Dann kommen sie nach Hause, Essen,

Schulaufgaben und um 8 Uhr schlafen sie. Die Eltern sind zwar noch wach, aber die Kinder

müssen schlafen, damit sie morgen früh um 7 Uhr wieder aufstehen. Das heißt, die Zeit

zwischen Eltern und Kindern wir enger bei der Ganztagsschule. Das ist natürlich eine

Gefahr, nicht nur im Hinblick auf Ḥalāl-Essen, sondern auch im Bezug zur Beziehung.

Die Schule erreicht natürlich etwas, dann kommt das Kind nach Hause, dann macht er

seine Hausaufgaben, aber die Zeit, die er mit seinen Eltern verbringt, wird weniger. Die

Voraussetzung ist noch, ob die Eltern Zeit haben, weil Vater und Mutter arbeiten ja auch.

Das ist das.“ (Scharif M., S. 314; 316)

Der Alltag wird nicht von der Religion oder den Familien und den Moscheegemeinden

bestimmt und strukturiert, sondern durch die außerfamiliären Institutionen, wie Bildungsund

Berufseinrichtungen. Dadurch seien die Kinder und insbesondere die Jugendlichen

den Verführungen des Alltags stärker und zeitlich mehr ausgesetzt und der Einfluss der

Eltern und Gemeinden nehme ab:

„Necat I.: „Das ist das wichtigste Problem, also die gehen meistens bis in die Schule bis

15 Uhr und dann fangen die später an mit Arbeit oder mit der Hochschule. Die meisten

von denen kommen leider nicht mehr zurück in die Moschee. Das ist mein erster Job, ich

bin neu, aber das konnte ich schon sehen. So ist das, ich sage nur leider. Ich versuche das,

weil ich relativ jung bin, die jungen Leute hierhin zu bringen, aber es ist echt schwierig.

Die Verführungen dieser westlichen Welt sind wirklich sehr verlockend und sehr stark,

um sich zu wehren und um nein zu sagen. Weil die meisten glauben so: ‚Ja, wenn ich

alt werde, dann gehe ich die Moschee.‘ Aber man weiß ja nie, ob man Alt werden wird.“

I.: Was sind zum Beispiel die Verführungen, denen junge Menschen verfallen?

Necat I.: Disko, Mädchen, Ausgehen , alle diese Dinge. Der Teufel 661 macht diese schön

[lässt schön erscheinen].“ (S. 220 )

661 Der Teufel wird im Koran als šayṭān bezeichnet. Das Konzept des šayṭāns als negativer Einfluss

wird nach Muhammad Asad wie folgt erläutert: „‚Satans Einfluß‘ auf den Menschen ist nicht

die primäre Ursache für die Sünde, sondern ihre erste Folgeerscheinung: das bedeutet eine

Folgeerscheinung der eigenen Geisteshaltung einer Person, die in Augenblicken der moralischen

Krise sie verleitet, die leichtere und scheinbar angenehmere der ihr offenstehenden Alternativen

zu wählen und damit einer Sünde schuldig zu werden, sei es durch Begehen oder Unterlassen.

Daß Gott eine Person eine Sünde begehen ‚läßt‘, ist also bedingt durch das Vorhandensein

einer Geisteshaltung in dem betreffenden Menschen, die ihn anfällig macht, solch eine Sünde

zu begehen: was wiederum den freien Willen des Menschen voraussetzt – d. h. die Fähigkeit,

innerhalb gewissen Grenzen eine bewußte Wahl zwischen zwei oder mehr möglichen Handlungsweisen

zu treffen.“ (Die Botschaft des Koran, Düsseldorf 2009, S. 137, FN 117)


2 Ergebnisse der empirischen Studie 255

Aus den Aussagen der Experten lässt sich sogar ableiten, dass der öffentliche Raum auch

von scheinbar säkularisierten Gemeindebesuchern oder -mitgliedern in bestimmten

Kontexten als „Gefahr“ betrachtet wird, wenn von den eigenen Kindern gewisse Grenzen,

die eindeutig der symbolischen Identität beizumessen sind, übertreten werden, wie das

folgende Beispiel darstellt:

„Ja, natürlich. Zum Beispiel kam letztes jemand zu mir und sagte: ‚Mein Sohn hat sich

in ein deutsches Mädchen verliebt und möchte sie heiraten.‘ Für ihn bricht dann eine

Welt zusammen, als ob er ein Erdbeben der Stärke 8,8 erlebt hätte. Dann fragte ich,

wie es dazu kam und erzählte es. Und Liebe ist so eine Sache, wenn die dich trifft, dann

trifft sie dich halt. Zwei Sachen will man dann in solchen Angelegenheiten wissen. Wie

steht der Islam zur interreligiösen Heirat? Und weil er nicht weiß, wie der Islam dazu

steht, erhofft er sich im Falle einer negativen Antwort, dass jemand aus der Gemeinde

seinen Sohn davon abbringen könnte. Das interessante ist ja, dass der Sohn selbst auch

keine Ahnung vom Islam hat und dennoch dem Mädchen die Bedingung stellt, zum

Islam zu konvertieren. 662 Oder es kommen Eltern zu uns, die dann sagen: ‚Mein Kind

hat mit dem Kindergarten angefangen, aber weil ich kein Deutsch spreche, kann ich den

Erzieherinnen nicht mitteilen, dass mein Kind kein Schweinefleisch essen darf.‘ Weitere

Beispiele sind, wenn es um die Frage des Schwimmunterrichts für Mädchen geht oder um

Schullandheimaufenthalte, also Frage aller Art, die das gesellschaftliche und berufliche

Leben betreffen. Ein Teil wird von der nichtmuslimischen Gesellschaft, von der deutschen

Gesellschaft an uns gestellt. Wenn es etwa um Probleme zwischen einem muslimischen

und nichtmuslimischen Schüler an der Schule geht, wenn es darum geht, zwischen den

Familien zu vermitteln, weil der Schüler meint, der andere habe seine Religion beleidigt.

Wir helfen auch bei Nachbarschaftskonflikten, also der deutsche Staat bekommt diese

integrativen Funktionen zwar nicht mit, aber eigentlich machen wir als Moscheegemeinde

genau die Arbeit wie AWO auch.“ (Hamit A., S. 72)

Paradoxerweise wird der öffentliche Raum im Herkunftsland dann in einer komparativen

Bewertung romantisiert und den eigenen Herkunftsländern – trotz der dortigen säkularen

Gesellschaft – ein „islamisierender Effekt“ attestiert, wobei die intakte soziale Kontrolle

besonders akzentuiert wird. Dabei werden nicht nur das intentionale, sondern auch das

funktionale Lernen für die muslimische Identität betont. Diese nostalgische positive Hervorhebung

der säkularisierten Gesellschaften, wie die der laizistischen Türkei, lässt die

These formulieren, dass bei der Bewertung des öffentlichen Raumes der Migrationseffekt

662 Konvertierungen aufgrund von Eheschließungen führen erfahrungsgemäß oft zu Konflikten,

weil der konvertierte Ehepartner durch eine intensivere Auseinandersetzung mit den islamischen

Quellen eine reflexivere Religionsführung einnimmt als der vermeintliche „Kultur-Muslim“,

sodass es nicht selten zu Scheidungen kommt, weil die Konvertiten ihren Partner nicht als

„islamisch genug“ betrachten. Die muslimischen Gemeinden sind oft mit diesem Phänomen

konfrontiert.


256 B Empirischer Teil

eine zentrale Rolle für die Gemeindemitglieder spielt. 663 Diese Frage wird noch später am

Beispiel der Jugendlichen in den Moscheegemeinden konkreter behandelt:

„Natürlich, in der Türkei gibt es zahlreiche Einrichtungen und Institutionen, die eine religiöse

Erziehung anbieten. In Deutschland dagegen gibt es keine offiziellen Einrichtungen.

Wenn wir uns die drei wichtigsten Orten vor Augen führen, also Familie, Moschee und

Schule, so kann man sagen, dass wenn Kinder in der Familie keine feste religiöse Bildung

erhalten, und damit meine ich jetzt nicht nur Koranlesen usw., sondern auch wirklich

Lehre im Sinne von Ethik, Identitätsbildung usw., und die Schulen diese Bildung auch

nicht anbieten derzeit, daher nimmt in Deutschland nur die Moschee als Ort für diese

Erziehungsziele eine wichtige Rolle ein. In der Türkei gibt es dagegen ganz unterschiedliche

offizielle Stellen mit unterschiedlichen Zielsetzungen wie Korankurse, Prediger-Schulen, die

Familien sind besser gebildet und es gibt das entsprechende muslimische soziale Umfeld.

Wenn man nach draußen geht hat man automatisch eine religiöse Erziehung, aber auch in

den vielen Fernsehkanälen. Man muss schon sich bewusst gegen eine religiöse Erziehung

und Bildung entscheiden in der Türkei, ansonsten hat man ganz viele Möglichkeiten den

Islam zu lernen. Das Umfeld in der Türkei trägt zur religiösen Erziehung bei, vielleicht nicht

planmäßig oder strukturiert, aber durch ganz viele Einflüsse. Hier in Deutschland ist das

anders. Die Gesellschaft hier ist eine andere, ist eine säkulare Gesellschaft, daher muss in

den muslimischen Familien und in den Moscheen eine gute religiöse Erziehung angeboten

werden, um diese Lücke zu schließen. Und die Kinder sind zwischen unterschiedlichen

Religion und Kulturen gefangen. Zu Hause erleben sie eine ganz andere Religion und

Kultur, draußen erleben sie wiederum eine ganz andere Kultur. In der Moschee treffen

die Kinder auf ein ganz anderes Verständnis, in der Schule wiederum auf gegensätzliche

Auffassungen und Meinungen. Dieses Dilemma erleben die Muslime in Deutschland,

aber nicht in der Türkei oder sagen wir mal nur wenig. Natürlich gibt es auch in der

Türkei Aspekte im sozialen Leben, die nicht islamkonform sind, aber nicht so gravierend

wie hier in Deutschland, nicht vergleichbar mit dem hiesigen Dilemma. In Deutschland

leben die muslimischen Kinder den Islam nicht an Schulen, im Fernsehen auch nicht,

es sei denn man hat bestimmte Kanäle über Satellit, und religiöse Bücher in türkischer

Sprache wird auch kaum gelesen, sodass die muslimischen Kinder und Jugendlichen in

Deutschland im Vergleich zur Türkei in der religiösen Erziehung und Bildung ganz ganz

weit im Rückstand stehen.“ (Halim H., S. 182 f.)

663 Ein indirektes, aber sehr interessantes Beispiel hierfür ist die Veränderung in der Bewertung

des Fernsehers in den Moscheegemeinden. Bis zur Verbreitung der türkischen Fernsehprogramme

über Satellitenantennen waren deutsche Fernsehprogramme aufgrund freizügiger

Szenen verpönt und in den Teestuben der Moscheegemeinden kaum vorhanden. Mittlerweile

zählt ein Großbildschirm zu jedem Inventar der Moscheen, wobei sich das türkische Fernsehprogramm

nicht wesentlich – vor allem wegen seiner Freizügigkeit – von den deutschen

Fernsehprogrammen unterscheidet. Scheinbar spielen hier ethnisch-kulturelle Faktoren eine

Rolle, die das türkische Fernsehen – trotz dieser Widersprüche – für die erste und zum Teil

auch für die zweite Generation vertrauter erscheinen lassen.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 257

Die Sorgen der Gemeindemitglieder sind gemäß den Interviewangaben der Experten die,

dass eine islamkonforme Erziehung in den Moscheen und Familien als immer schwieriger

eingestuft wird. Eine latente, aber chronische Angst scheint daher die muslimischen

Gemeinden zu begleiten. Muslimische Familien mit Gemeindebindung fühlen sich in

ihrer Wahrnehmung und in ihren Ängsten bestätigt, wenn sich der Lebensstil ihrer Kinder

ändert. Frequentiert werden dann die Moscheen, welche die Kinder wieder auf den

„rechten Weg“ bringen sollen:

„Ich weiß, dass zahlreiche Familien uns angefleht haben: ‚Rettet unsere Kinder, helft ihnen

bitte.‘ Ja, okay. Schön und gut, aber wenn die Jugendlichen selber nicht wollen, man

muss ja dafür die Grundlagen haben, um zu intervenieren. Wir haben zunächst mal ein

Personalproblem, daher haben wir Schwierigkeiten diese Jugendlichen zu erreichen, weil

wir auch ein sprachliches Problem haben. Wir denken, dass diese Jugendlichen türkisch

sprechen, aber das ist kein türkisch was sie sprechen. Viele Begriffe verstehen die gar nicht,

aber auch im Deutschen ist das so. Begriffe wie Benehmen, Respekt usw., kennen die nicht.

Die jungen Menschen sind heute Egomanen. Sie wollen nur das konsumieren, was sie im

Fernsehen oder auf ihrem Laptop sehen. Ich habe mal in einer Runde gesagt, dass so meine

Generation, die jetzt so zwischen 45 und 50 Jahre alt ist, dass wir in der Türkei von der

ganzen Gesellschaft miterzogen wurden. Die Familie hat 50 Prozent unserer Erziehung

übernommen, die Schule weitere 20 Prozent und die restlichen 30 Prozent der Erziehung

hat die uns umgebende Gesellschaft übernommen. Die ganzen Werte wurden uns durch

unser Wohnviertel vermittelt. Es gab dadurch ein Kontrollsystem. Wenn das Kind oder

der Jugendliche sich mal daneben benahm, wurde er von irgendeinem Onkel, Tante,

Nachbar usw. mit den Worten getadelt: ‚Das ist nicht richtig was du tust, mein Kind.‘

Auch die Moschee-Gemeinden haben diese Funktion übernommen, dem Kind ethische

Werte zu vermitteln. Das war also eine Pyramide mit 30, 20 und 50 Prozent Aufteilung

in der Erziehung. Jetzt hat sich das in Deutschland gewandelt. Die Familie übernimmt

nur 20 Prozent, die Schulen weiterhin 30 Prozent und die Gesellschaft aber mittlerweile

50 Prozent. Daher sehe ich bei der Generation der Heranwachsenden, dass sie über keine

gefestigten Grundlagen verfügen, die wir damals in den Familien vermittelt bekommen

haben. Diejenigen, die über diese religiösen Grundlagen verfügen, sind diejenigen Aktiven

und Engagierten, die sich um das Gemeindeleben, um die Moscheen kümmern und

sorgen. Die anderen aber haben ein sehr distanziertes Verhältnis zu den Gemeinden. Die

haben keine kulturellen und religiösen Grundlagen. Dieser Personenkreis bringt dann

aber irgendwann ihre Kinder zu den Moscheen, damit wir den Kindern diese Grundlagen

vermitteln können. Aber, was sollen wir oder wie weit können wir dieses Defizit in der

religiösen Erziehung ausgleichen? Früher in der Türkei hat zwar die Familie nur einen

Teil in der Erziehung dafür geleistet, um diese religiösen und kulturellen Grundlagen zu

vermitteln. Aber die Gesellschaft, die ja auch muslimisch war, hat die Erziehung ergänzt.

Das war vielleicht irgendeine Kleinstadt oder ein Dorf in der Türkei, mit einer bestimmten

religiösen Kultur, aber sie hat die Kinder mitgeprägt. In Deutschland ist es völlig anders,

eine völlig andere Kultur und Gesellschaft, die sehr gegensätzlich zur islamischen Kultur

ist. Über 70 Prozent der muslimischen Eltern können nicht die notwendigen religiös-kulturellen

Grundlagen vermitteln und diese Gesellschaft, die ja eine nichtmuslimische ist,


258 B Empirischer Teil

ergänzt diese Defizite ja auch nicht. Es passiert ja genau das Gegenteil. Wenn man sich

die Medien oder die öffentlichen Diskussionen betrachtet, werden die Muslime ja noch

ausgegrenzt. Das führt dann dazu, dass zum einen die Kinder und Jugendlichen keine

religiösen Grundlagen lernen und andererseits sich das Leben in dieser Gesellschaft als

Minderheit einfach machen wollen, um akzeptiert zu werden. Die suchen sich also die

Lebensstile raus, die einfach sind und zur Akzeptanz führen können. Die Gesellschaft hat

heute einen 70-prozentigen Einfluss auf die Jugendlichen, weil das Fernsehen, Internet,

Medien, Freundeskreis, irgendwelche Idole Einfluss auf sie ausüben. Der Einfluss der Familien

geht so langsam auf Null zu. Dieselben Probleme haben auch die Kirchen in dieser

Gesellschaft, dieses Problem, Jugendliche einzubinden. Aber auch andere Institutionen

wie Polizei, Feuerwehr usw., alle haben Probleme mit Nachwuchs. Das Ehrenamt geht

auch sehr stark zurück. Wo liegt die Ursache für das Problem? Es liegt im Egoismus der

jungen Menschen, die nur an sich selbst denken, nach dem Motto: ‚Andere kümmern sich

schon darum.‘ Diese Erfahrung mache ich in allen Institutionen, wenn ich dort als Redner

eingeladen werde. Überall hat man die gleichen Sorgen. (Salih D., S. 113 f. )

2.2.2 Mitgliederentwicklung, Gemeindebesucher und Reichweite der

Moscheegemeinden in Niedersachsen

Der öffentliche Raum ist aus der Sicht der Gemeinden also ein wesentlicher Faktor für

Unsicherheiten der Gemeindebesucher, wobei hierfür sicherlich auch noch zahlreiche

andere Gegebenheiten mitentscheidend sind. Als ein zentraler Faktor ist hervorzuheben,

dass der Einfluss der muslimischen Landesverbände und Moscheegemeinden eher auf die

eigenen Räumlichkeiten beschränkt sind und man nicht durch externe Institutionen im

öffentlichen Raum aktiv ist. Wie weit jedoch die „Sicherheit“ in den eigenen „vier Wänden“

geht, kann quantitativ und qualitativ gemessen werden. Die quantitative Erfassung ist im

Sinne von Entkirchlichung relevant, sodass von den befragten Experten Informationen

und Einschätzungen über gemeindeinterne Entwicklungen in Niedersachsen sowie die Gemeindebesucherzahlen

eingeholt wurden. Ebenso wurden qualitative Merkmale bezüglich

der unterschiedlichen Mitgliedertypen aus den Moscheegemeinden ermittelt, um eine erste

Orientierung für den deutschen Kontext hinsichtlich des Grades der Gemeindebindung

zu erhalten. In diesem Zusammenhang zeigen die Biografien der Moscheemitglieder ähnliche

Brüche und Kontinuitäten wie bei den oben skizzierten Experten. Wie noch in den

späteren Ausführungen deutlich wird, öffnen sich die Bruchstellen zur eigenen Gemeinde

sehr häufig beim Eintritt in die Pubertät und in der Phase des Heranwachsens:

„Also zu den täglichen Gottesdiensten kommen nur die Wenigsten, aber dafür am Freitag

und im Ramadan. Das Erfreuliche daran ist, was wir nicht erwarten hatte, also früher

nahmen an den Freitagsgebet vielmehr die Senioren teil, heute ist es genau umgekehrt.

Schätzungsweise die Gruppe der vierzehn bis achtzehn Jährigen dominieren jeden Freitag

in der Gemeinde, obwohl der Gottesdienst in die Unterrichtszeit fällt. Zwischen dem

Alter von 18 und 25 nimmt das aus unterschiedlichen Gründen wie Schichtarbeit oder

Lustlosigkeit ihre Zahlen aber drastisch ab. Wenn überhaupt kommt dann nur noch die


2 Ergebnisse der empirischen Studie 259

Hälfte dieser Jugendlichen in die Moscheen. Aber wir stellen als Moscheegemeinden in

diesem Zusammenhang auch fest, dass, wenn diese junge Menschen Familien gründen und

Kinder kriegen, dass man die eigenen Kinder im Alter von fünf, sechs zum Lernen in die

Moscheen schickt und daher die Eltern, die sich eigentlich von den Moscheen distanziert

haben, wieder zu der Gemeinde zurückkehren. Hier spielen verschiedene Gründe eine

Rolle. Bei Menschen im hohen Alter oder bei Krankheit führen die seelsorgerische Betreuung

unsererseits oder einfach nur die menschlichen Besuche dazu, dass auch sie plötzlich

wieder in die Moscheen kommen. Also etwa 20 Prozent aus dem Kreis der säkularen Senioren,

die mit der Moschee eigentlich gebrochen haben, kommen dann aufgrund solcher

Erfahrungen wieder in die Moscheen. Wenn wir also uns mit der deutschen Gesellschaft

vergleichen, durchschnittlich gesehen, ist das große Engagement der ersten und zweiten

Generation bei den jüngeren Menschen nicht mehr da. Aber gemessen mit den heutigen

gesellschaftlichen Bedingungen ist es dennoch zufriedenstellend.“ (Hamit A., S. 69)

Für die zentrale Frage im Hinblick auf die Auswirkungen der Säkularisierungsprozesse,

aber auch im Kontext des Vertretungsanspruchs der Muslime sind die Zahlen der Gemeindemitglieder

sowie ihre Reichweite relevant. Während bei den beiden großen Kirchen in

Deutschland die Konfessionspopulation anhand der Kirchenmitgliedschaften problemlos

ausgerechnet werden kann, fehlt es bei den Muslimen an ähnlichen Strukturen zur Registration

der eigenen Mitglieder. Daher wird seit Jahrzehnten die Frage der Repräsentation

der Muslime durch die diversen Verbände kontrovers diskutiert. Diese Frage hat neben

einer staatskirchlichen auch eine religionssoziologische Dimension, um bezüglich der

Säkularisierungstheorie die Zu- oder Abnahme von muslimischen Gemeindebesuchern

zu ermitteln. Um diese plausible Kalkulation nachzuvollziehen, wird im Folgenden ein

hoher Vertreter eines niedersächsischen Landesverbandes vollständig zitiert, da von allen

muslimischen Repräsentanten ähnliche Argumentationen für die Reichweite ihrer eigenen

religiösen und Dienstleitungen vorgebracht werden. Die eigene Einschätzung mag zwar

als Dokumentation für die juristische Anerkennung als Religionsgemeinschaft nicht

ausreichen, führt aber infolge der großen Reichweite der Moscheearbeit bezüglich der

gemeindeinternen Stabilität zu einem höheren Selbstvertrauen:

„I.: Wie viele Moscheegemeinden vertreten Sie eigentlich?

Yalcin K.: 75 Moscheen.

I.: Und wie viele Moscheen gibt es insgesamt in Niedersachsen?

Yalcin K.: So 150, 160 Moscheen.

I.: Und die Mitgliedszahlen? Nehmen die zu, nehmen die Zahlen ab oder sind die Zahlen

stabil?

Yalcin K.: Die Besucher der täglichen Gottesdienste, egal welche Gemeinde und Orientierung,

nehmen ab. Das ist überall festzustellen. Freitags dagegen sind die Moscheen

rappelvoll, ebenso an Feiertagen.

I.: Könnten Sie mir Zahlen der Gottesdienstbesucher nennen für die 150, 160 Moscheen,

die freitags kommen? Nehmen wir mal an heute wäre Karfreitag und die Muslime müssten

nicht zur Schule oder zur Arbeit.


260 B Empirischer Teil

Yalcin K.: Ich gehe mal erst mal von dieser Gemeinde aus, die 200 Mitglieder hat. Freitags,

wenn es vor allem noch ein staatlicher Feiertag ist, dann kommen etwa 350 bis 400 Gläubige.

Bei den Bayram-Gebeten 664 sind es locker 1000 Gläubige. Um die Zahlen zu ermitteln,

müssen sie also die Mitgliederzahlen mit drei oder vier multiplizieren. Um nochmal auf

ihre Frage zurückzukommen, bei den Mitgliederzahlen ist ein Anstieg festzustellen. Also

die Gemeinde der täglichen Besucher nimmt zwar ab, aber die Mitgliederzahlen nehmen

zu. Das ist sehr interessant, denn auch wenn die Mitglieder nicht die Pflichtgebete einhalten,

auch wenn man vielleicht nur einmal die Woche oder zweimal im Jahr die Moschee

aufsucht, denken sich diese Menschen: ‚Auch wenn ich nicht meine Religion praktiziere,

so möchte ich doch mindestens mit meinem Monatsbeitrag, mit 10 oder 20 Euro, die

Moschee unterstützen und meine Name soll auf der Mitgliedsliste stehen. Ich bin ja kein

Ungläubiger.‘ Aber von seiner Lebensweise ist man religionsfern und man kann diese

Mitglieder auch nicht mit den früheren Mitgliedern vergleichen, die praktizierend waren,

aber zu mindestens will man Mitglied werden, weil man sich nicht ungläubig sieht, schon

gar nicht als Christ. Leider fehlt aber die religiöse Praxis bei diesen Menschen.

I.: Wie viele Muslime können Sie überhaupt mit ihren Angeboten in Niedersachsen erreichen,

also wie an Freitagsgebeten, als DITIB-Landesverband?

Yalcin K.: Ist jetzt nicht einfach so schnell auszurechnen, wenn man jetzt durchschnittlich

von 200 Mitglieder pro Moschee ausgeht, dann reden wir so von 15.–20.000 Gläubigen

Menschen. Aber vielleicht sind es sogar noch mehr, da wir noch viel größere Moscheen

haben, mit 300–400 Mitgliedern, sodass wir potenziell 50 000 Menschen erreichen können.

I.: Also in Niedersachsen leben etwa 300.000 Muslime, dann heißt das, dass sie ein Sechstel

der Muslime Freitags erreichen? Das ist eine sehr hohe Zahl.

Yalcin K.: Ja, es ist eine große Zahl. Wenn man alle Moscheegänger zählen würde, dann

hätten wir noch größere Zahlen.

I.: Ja, ich meinte auch die Reichweite insgesamt oder könnten sie auch ihre Moscheebesucher

kategorisieren?

Yalcin K.: Ich kann wieder das an unserer Gemeinde veranschaulichen. Täglichen kommen

so 20 Gläubige, freitags über 200 und wenn der Freitag ein gesetzlicher Feiertag ist, dann

400 Muslime. Also beim letzten Feiertagsgebet, der vor einigen Wochen stattgefunden

hat, haben wir 600 Besucher gezählt und gut die Hälfte waren Jugendliche. Das war sogar

diesmal mitten in der Woche. Die Jugendlichen haben sich von ihrer Arbeit, von ihren

Schulen beurlauben lassen, um in die Moschee zu kommen. Die erste Generation nimmt

ab, weil man entweder im Heimatland ist oder zunehmend stirbt. Die jungen Menschen

dagegen werden mehr, die kommen regelmäßig zum Freitagsgebet und zum Feiertagsgebet.

Für mich stellt sich aber die Frage: Nehmen die Moscheen eine ähnliche Entwicklung ein

wie die Kirchen, indem sie nur noch zu traditionellen Orten, die man zu bestimmten

Anlässen besucht? Allāh korusun 665 . Wird es auch bei uns so sein, dass man nur bei Geburt,

bei Todesfällen oder zu Feiertagen Gotteshäuser besuchen wird? Diese Frage stellen

wir uns oft als Landesverband, weil die Entwicklungen beunruhigend sind.“ (Seite 90 f.)

664 Türkisch für Feiertags-Gebete.

665 Türkisch für Gott bewahre uns davor.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 261

Der Durchschnittswert der Expertenangaben über die Mitgliederzahlen in den etwa 160

Moscheegemeinden liegt bei 150, sodass für Niedersachsen eine Zahl von mindestens

25 500 Gemeindemitgliedern vorliegt. Aufgrund des Vereinscharakters dieser Gemeinden

sind also in der Regel nur die zahlenden Väter als Mitglied in der Vereinsliste aufgeführt,

womit diese Zahl mit mindestens 4 multiplizieren werden muss, weil eine durchschnittliche

muslimische Familie zwei Kinder hat. Dies würde bedeuten, dass nach dieser Berechnung

102 000 Muslime in das muslimische Gemeindeleben von Niedersachsen involviert sind.

Allerdings reichen die Mitgliederzahlen auch nicht dafür aus, um die wirkliche Reichweite

der Moscheegemeinden zu ermitteln, da viele nicht-registrierte Mitglieder oder Spender

sowie nichtzahlende Moscheebesucher von den religiösen Dienstleistungen der muslimischen

Landesverbände profitieren:

„Also, wir haben das schon mal hochgerechnet. Das habe ich auch mal auf einer Tagung

der Konrad-Adenauer-Stiftung von Meinungsforschern gehört. Wenn eine Tageszeitung

von einer Familie gekauft wird, dann hat es eine größere Reichweite, weil diese Zeitung

mehrere Personen lesen. Wir können dieses Prinzip auch auf die Moscheegemeinden übertragen.

Ein Beispiel: Diese 560 qm große Moschee hier zum Beispiel hat nur 50 Mitglieder.

Ist das logisch, dass für so wenige Mitglieder man so eine große Räumlichkeit benötigt?

Man muss diese 50 Mitglieder eher als Familien berechnen. In türkischen Familien hat

man in der Regel mindestens vier Mitglieder. Ich sage mindestens, weil das können auch

sechs oder acht sein. Deshalb muss man die Mitgliederzahlen entsprechend multiplizieren.

Wir haben den Unterschied, dass wir nicht wie bei den Kirchen automatisch seit der

Geburt registriert werden als Muslime. Das macht es schwerer die Zahlen der Muslime

in den Gemeinden zu ermitteln. Aber es gibt eine andere Methode, mit der man die Zahl

ermitteln kann. Zum Beispiel diese Gemeinde hier, hier sind viele, die nicht als zahlende

Mitglieder aufgeführt sind, außer den aufgelisteten 50 Mitglieder. Diese nicht registrierten

Mitglieder kommen zu uns und sagen: ‚Ich möchte nicht, dass mein Name hier auf

der Liste steht, möchte aber monatlich zahlen. […] Hier spielen drei Gründe eine Rolle.

Erstens gibt es Mitglieder, die infolge der Erfahrungen in den 1980er-Jahren, im Umgang

mit nicht-staatlichen Moscheen, Angst haben, irgendwo offiziell aufgeführt zu werden.

Zweitens gibt es Mitglieder, die eher auf Deutschland ausgerichtet sind und daher gewisse

Ängste haben, dass eine Mitgliedschaft ihnen Nachteile bringen können. Und drittens gibt

es Mitglieder, die einfach diese Vereinstradition nicht kennen, dass man offiziell Mitglied

wird und alle damit verbundenen Verpflichtungen nachgeht.“ (Hamit A., S. 66 f.)

Die Befürchtungen von negativen Konsequenzen ist also ein Grund dafür, dass sich ein

Teil der Muslime dagegen entscheidet, als offizielles Mitglied in einen Moscheeverein

aufgenommen zu werden. Die Experten führen diese ambivalenten Beziehungen zu den

Gemeinden vor allem auf die Erfahrungen und die „Propaganda“ der muslimischen

Herkunftsländer gegen die muslimischen Gemeinden in den 1970er- und 1980er-Jahren

zurück, wo man bereits alle islamischen Organisationen unter Generalverdacht stellte,

weshalb diese Ängste bis heute nachwirken. Mit der Migration nach Deutschland fanden

viele muslimische Organisationen – die im Herkunftskontext als Oppositionsbewegung oft

nur unter schwierigen Umständen agieren konnten – neue Freiheiten, sich zu engagieren,


262 B Empirischer Teil

sodass die Herkunftsländer immer wieder direkt – durch eigene Moscheeorganisationen –

oder indirekt – wie über negative Schlagzeilen in der Presse über bestimmte muslimische

Verbände – intervenierten. Diese Antipropaganda scheint ihre Wirkung bis heute nicht

verloren zu haben:

„Ja, eigentlich wollen einige nicht namentlich aufgeführt werden. Ich komme ja von

der IGMG Gemeinde, viele sympathisieren auch mit der IGMG, aber wollen sich nicht

namentlich nicht erkenntlich zeigen, weil die Angst haben vor Repressalien vom Staat.

Andererseits denke ich, dass man sich nicht finanziell binden möchte. Wie gesagt,

Deutschland ist ein Vereinsland, wie wir es nicht gewohnt sind, wie wir es nicht kennen

und diese Form von Mitgliedschaft und Monatsbeiträgen ist für viele noch fremd. Deshalb

sind viele, die Türken, noch nicht an diese Zeit angekommen, glaube ich. Die verstehen

es noch nicht so.“ (Hakki K., S. 273)

Neben der Türkei, die durch die Gründung der DITIB ab den 1980er Jahren eine direkte

Intervention durch staatlich gesandte Imame in die türkisch-muslimische Gemeinschaft

unternahm, waren vor allem arabischsprachige Moscheen von dieser Art Kontrolle betroffen:

„Weil früher haben wir das, wir haben eine Gemeinde, gemischte Gemeinde mit sehr

vielen Nationalitäten, aber die Mehrheit sind Araber, aus verschiedenen Ländern. Früher

haben wir immer darum gebettelt, dass die Leute bei uns Mitglied werden, aber sie haben

abgelehnt, weil sie Angst haben, wenn sie nach Hause in die Heimat zurückfahren, dann

kriegen sie Probleme, besonders in Tunesien und Syrien und solche Länder, wo es Folter

gab und Probleme, wenn man hört, man ist Mitglied bei eine islamische Verein oder Organisation.

Später, nachdem die Sache sich geändert hatte, Revolution in Tunesien und

diese Anlass und dies, dann plötzlich wollten alle Mitglied werden und das war so eine

Sache, wir haben gesagt, wenn man Interesse am Verein und an den Gemeinde hat und

will etwas helfen und aufbauen, ‚Okay, ist kein Problem, das ist gut für die Allgemeinheit‘.

Aber wir fanden, das ist nicht immer so. Es gab Leute, die wollten rein, um irgendwelche

private Interessen halt zu verfolgen, deshalb haben wir dann so Aufnahmestopp gemacht.

Wir haben gesagt, es gibt Bedingungen: Wer bei uns ein Jahr im Verein so mindestens

aktiv ist und mit anpackt und macht, der hat Recht, hier zu bleiben, ansonsten kann man

alles genießen und Moscheegemeinde mitmachen und alles, aber Mitgliedschaft gibt es

nicht.“ (Omar S., S. 512)

Die tatsächliche Reichweite der Moscheegemeinden zeigt sich nach Angaben der Experten

vor allem bei den wöchentlichen Freitagsgottesdiensten und im Fastenmonat Ramadan

inklusive des Gebets am ‘īd al-fiṭr (Fest des Fastenbrechens, Anm. d. Verf.) sowie am

Opferfest. Die durchschnittliche Besucherzahl bei den Freitagsgebeten liegt nach Schätzungen

der Interviewpartner für Niedersachsen bei etwa 34 000. 666 Da dieser wöchentliche

666 An dieser Stelle muss nochmals darauf hingewiesen werden, dass die Angaben keine verlässlichen

Daten darstellen. Allerdings geht es um die eigenen Wahrnehmungen der Gemeinden,

die ja Denk- und Handlungsmuster bestimmen. Grundsätzlich muss man davon ausgehen,


2 Ergebnisse der empirischen Studie 263

Gottesdienst an einem Werktag stattfindet, kann man die tatsächliche Reichweite erst am

Karfreitag messen, wenn die meisten Gläubigen arbeits- und schulfrei haben. Die Zahlen

für die Tarāwīḥ-Gebete sowie für den Gottesdienstes am Ende des Ramadan und am

Opferfest konnten dagegen nicht genannt werden, aber die Aussagen der Experten lassen

darauf schließen, dass die Besucherzahlen an den höchsten Feiertagen ihren Höhepunkt

erreichen. Trotz dieser wahrgenommenen und geschätzten hohen Besucherzahlen beklagen

sich die Gemeinden über eine gegensätzliche Entwicklung: Während an Freitagen und an

Feiertagen die Zahlen steigen oder konstant bleiben, nehmen die täglichen Gottesdienstbesuche

ab. 667

„Die Freitagsgebete sind sehr gut besucht, die täglichen Gottesdienste leider nicht, aber

das liegt auch daran, dass die meisten religiös ungebildet sind. Denn die täglichen Gebete

sind eigentlich Pflicht, bei dem Freitagsgebet ist es so, dass man es auch mal ausfallen

lassen kann, wenn man zum Beispiel auf Reisen ist. Stattdessen muss man auf Reisen das

normale Pflichtgebet verrichten, weil das fünfmalige Gebet nicht verschoben werden darf.

Obwohl der Prophet sagt, dass ein guter Muslim vor allem daran erkannt werden kann,

dass er zum Früh- und Nachtgebet in die Moschee kommt 668 , ist leider bei vielen diese

Eigenschaft nicht feststellbar. Dagegen werden die Moscheen an Freitagen und Feiertagen

überrannt und es gibt kaum Platz für die Gläubigen zum Beten.“ (Ikbal I., S. 170 f.)

Die skizzierte Situation bezüglich der Gemeindebesucherzahlen scheint insgesamt eher zufriedenstellend

zu sein, obwohl keine erhobenen Statistiken hierzu existieren. Bei der Zu- und

Abnahme der Gemeindezahlen in den Kalkulationen der Experten wird beispielsweise auch

die Proportionalität zu den demografischen Entwicklungen der Muslime in Niedersachsen

nicht berücksichtigt. Dass eine Gemeinde eine relativ konstante Mitgliederzahl aufweist,

kann nur in Relation zur muslimischen Demografie ermittelt werden. Allerdings scheint

die eigene Stabilität eher in Relation zur Situation der Kirchen eingeschätzt zu werden:

dass in der Tat eine große Resonanz zu verzeichnen ist, auch wenn diese nicht in konkreten

Zahl ausgedrückt werden kann.

667 Die Motivation, die Moschee täglich zu besuchen, wird in zahlreichen außerkoranischen Überlieferungen

thematisiert: „Der Prophet sagt: Das Gebet des Mannes mit der Gemeinschaft ist

fünfundfünfzig Mal besser als sein Gebet in seinem Haus oder in seinem Geschäft. Denn wenn

er sich wäscht und die Teilwaschung gut vollzieht und wenn er dann in die Moschee geht nur

um des Gebets willen, so gereicht ihm jeder Schritt zur Erhöhung seiner Rangstellung um eine

Stufe und zur Vergebung einer Sünde. Und wenn er betet, rufen die Engel, solange er betet und

sich nicht verunreinigt, den Segen auf ihn herab und sagen: O Gott, segne ich. O Gott, erbarme

dich über ihn.“ (Khoury, Der Ḥadīṭ, Bd. II., S. 108)

668 Ebenso wird die Akzentuierung der genannten Tageszeiten für ein Gemeinschaftsgebet durch

eine außerkoranische Überlieferung begründet: „Der Prophet sagte: Wenn einer das Nachtgebet

mit einer Gruppe verrichtet, ist es so, als hätte er sich die halbe Nacht zum Gebet aufgestellt.

Und wenn einer das Morgengebet mit einer Gruppe verrichtet, ist es so, als hätte er die ganze

Nacht gebetet.“ (Khoury, Der Ḥadīṭ, Bd. II., S. 109)


264 B Empirischer Teil

„Ich kann mich wirklich, ich kann mich wirklich positiv freuen, dass die Moscheen besser

dar stehen als die Kirchen, denn wir haben auch sehr viele Pastoren als Besuch in den

Moscheen bekommen. Die kommen manchmal Gruppenweise, manchmal kommen

Familien und da sind ja auch Pastoren dabei. Die wundern sich immer wie die Kinder

durch die Gegend dort rumflitzen und, und zuhören und, und spielen und die sind, die

sind aber in dem Sozialraum zwar, aber sie sind innerhalb der Moschee-Gebäude. […]

Ja und die Pastoren sagen sich ‚Tja wir sehnen uns nach Jugendlichen, die auch in die

Kirche kommen. Wir zwingen sie sogar‘, sagten sie, ‚durch etliche Programme, dass sie

in die Kirche kommen, sei es Kommunion oder sei es was anderes, durch irgendwelche

Veranstaltungen, wir haben Jugendveranstaltungen und da sehen wir sie nur ansonsten

für Gottesdienste oder tägliche Gebete oder so, gibt es nicht‘. Die Möglichkeit haben wir ja

nicht, schade, wir haben auch inzwischen, wir haben auch Dialogabende verrichtet getätigt.

Dann sind wir in die Kirchen sogar gegangen, die haben uns empfangen mit Kuchen

mit Kaffee und alles, aber als wir sie besucht hatten, sind wir mit unseren Kindern sogar

hingefahren, die Koran gelernt hatten, die schulpflichtig waren, auch Jugendliche, dabei

auch Ahmet A. ist auch mit dabei gewesen haben wir sie besucht und da standen ein paar

alte Herren und paar Damen und wir buntgekleidet mit Kopftüchern und Jugendlichen

und Mädchen voll. Und da haben die natürlich gestaunt. Dieser Unterschied ist schon

immer gewesen bei diesen Zusammenkünften.“ (Ramadan C., S. 445 f.)

Die nach wie vor hohen Mitglieder- und Besucherzahlen wirken sich dennoch nicht positiv

auf die finanziellen Ressourcen der Moscheen aus. Da die Muslime keine kirchenähnlichen

Strukturen wie bei den Christen kennen und zudem auch nicht als Körperschaft des öffentlichen

Rechts anerkannt sind, beziehen sie auch keine Kirchensteuern, die zur Verbesserung

der materiellen Situation der muslimischen Gemeinden einen großen Beitrag leisten

könnte. Die Gemeinden sind eher in eingetragenen Vereinen organisiert und sind damit

Körperschaften des privaten Rechts mit einer Mindestzahl von sieben Mitgliedern. Die

Rechtsfähigkeit des Vereins wird nach § 21 BGB durch den Eintrag in das Vereinsregister

bei den ansässigen Amtsgerichten erlangt. Neben einer Vereinssatzung (§ 25) muss der

Verein einen Vorstand (§ 26) vorweisen, und wichtige Beschlüsse werden durch Mitgliederversammlungen

(§ 32) – je nach Satzungsvorgabe – verabschiedet. 669 Die Konsequenzen

dieses Organisationscharakters für die Muslime zeigen sich unter anderem in den geringen

monatlichen Mitgliedsbeiträgen und liefern auch eine mögliche Begründung für die stabile

Mitgliederzahl, denn mit dem juristischen Status „eingetragener Verein“ können sie sich

nur als „spendensammelnde Organisation“ finanzieren und müssen dementsprechend ihre

Spendenaufkommen transparent machen. 670 Die Haupteinkommensquellen sind die in den

Statuten festgelegten monatlichen echten Mitgliedsbeiträge, um die Vereinszugehörigkeit

zu gewährleisten. Mit einer Spende wird dagegen lediglich die Vereinsarbeit unterstützt,

669 Walhalla Fachredaktion (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch. Mit den Nebengesetzen zum Verbraucherschutz,

Mietrecht und Familienrecht, Regensburg 2012/I, S. 62 f.

670 Vgl. Marion Löwe, Rechnungsauslegung von Non-Profit-Organisationen. Anforderungen und

Ausgestaltungsmöglichkeiten unter Berücksichtigung der Regelungen in Deutschland, USA

und Großbritannien, Berlin 2003, S. 124 f.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 265

und diese finanzielle Hilfe setzt keine Mitgliedschaft voraus. 671 Wie bei allen Vereinen

üblich, reichen die Monatsbeiträge und die Einzelspenden in der Regel nicht aus, um die

Fixkosten und weiteren Beschaffungen zu decken. Insbesondere wenn man sich gegen

konkurrierende Vereine durchsetzen möchte, muss der Vereinshaushalt auf eine Erhöhung

der Monatsbeiträge in den Jahresversammlungen setzen. 672 In den Moscheegemeinden sind

die Mitgliederlisten mit Namen und Beiträgen in der Regel immer im Foyer aufgehängt.

Die Beiträgen beginnen dabei meistens bei 5,00 Euro, sodass die finanziellen Einnahmen

zur Instandhaltung sowie zur Investition in Projekte, geschweige denn für die Einstellung

hauptamtlichen Personals kaum ausreichen:

„Salih D.: „Ja, stabil. Natürlich hat es auch etwas mit der Höhe der Beiträge zu tun.

Wenn sie Mitglieder mit einem Monatsbeitrag von drei oder fünf Euro akzeptieren, dann

nehmen die Mitgliederzahlen natürlich zu und die Bereitschaft Mitglied zu werden ist

dann natürlich hoch. Wenn sie aber Beiträge von 20 bis 30 Euro verlangen würden, dann

würden die Mitgliederzahlen abnehmen. Oft bezahlt dann nur der Vater die Beiträge und

automatisch sind dann alle Familienangehörigen Moscheemitglieder. […] Ich kann nur

für die DITIB sprechen. Dort sieht es so aus, dass die Mitgliederzahlen stabil sind und

sogar zunehmen. Sobald junge Menschen einen Beruf nachgehen, so 30-40 Prozent von

den jungen Leuten, beginnen sie sofort Mitglied zu werden und Beiträge zu zahlen. Das

heißt aber nicht, dass sie ein Teil der Gemeinde werden beziehungsweise am Gemeindeleben

teilnehmen. Ich kenne Muslime, die seit 25 Jahren Mitglieder sind und sogar

Gründungsmitglieder sind, aber noch nie an Mitgliedsversammlungen teilgenommen

haben. Die kommen von Bayram zu Bayram, ansonsten sieht man die überhaupt nicht.

Dann haben wir diejenigen Mitglieder, die oft in den Moscheen sind, aber die machen

höchstens 15 Prozent aller Mitglieder aus.

I.: Warum hat der Rest, also die 85 Prozent trotzdem das Bedürfnis Mitglied in den

Gemeinden zu werden?

Salih D.: Weil die wissen, dass diese Moscheen nur aus Mitgliedsbeiträgen finanziert

werden und ohne diese Beiträge die Moscheen schließen müssten.

I.: Was ist aber deren konkrete Motivation?

Salih D.: Mitglied in einer Moscheegemeinde zu werden ist eine Form der Identität, das

ist seine Identität.“ (S. 110 f.)

Um die finanziellen Einnahmen durch Mitgliedsbeiträge oder Einzelspenden zu erhöhen,

sieht man noch ein großes Potenzial an zukünftigen Mitgliedern, welche die Moscheegemeinden

erreichen möchten:

„Es gibt da unterschiedliche Familien. Es gibt Familien, die zwar nicht Mitglied in den

Moscheegemeinden sind, aber trotzdem ihre Kinder in die Moscheen senden. Familien, die

671 Vgl. Herbert Grünberger, Praxisratgeber für Vereine. Vereinsgründung – Vereinsbesteuerung

– Arbeitgeberpflichten – Fallbeispiele, Wien 2013, S. 65

672 Vgl. Gerhard Geckle, Mein Verein: Perfekt organisiert und erfolgreich geführt, Freiburg 2011,

S. 125 f.


266 B Empirischer Teil

kaum oder nur zweimal im Jahr in die Moschee kommen, aber sich als Muslime bezeichnen.

Die Frage für die Gemeinden ist es, wie wir an diese Menschen herankommen können,

wie wir diese Familien stärker in die Moschee einbinden können. Es gibt viele muslimische

Familien, die außerhalb des Gemeindelebens stehen. Wir müssen untersuchen, warum

das so ist und Lösungen finden. Das ist eine hohe Zahl, die nicht unterschätzt werden

darf. Da sind zum Teil auch der Religion nahestehende Menschen, mit viel Sensibilität,

aber aufgrund geschichtlicher Gründe, aufgrund von Vorurteilen sagen: ‚Ich werde nicht

Mitglied in einer Moscheegemeinde.‘ Diese Leute spenden sogar zum Teil mehr als die

Gemeindemitglieder, wenn man sie bei Spendenkampagnen anfragt.‘“ (Zainab D., S. 116 f.)

2.2.3 Das „Wir“ gegen das „Ich“: Pluralisierung der Lebensstile und

Charakterisierung der Gemeindemitglieder und -besucher

Die stabilen Mitgliederzahlen in den Gemeinden sorgen also für eine gewisse Sicherheit

hinsichtlich der Instandhaltung gegenwärtiger Moscheestrukturen. Zwar ist der Einfluss

der muslimischen Gemeinden auf den öffentlichen Raum sehr beschränkt, dafür aber

kommen die Gläubigen (noch) zahlreich in den „geschützten“ Raum. Allerdings erfahren

die Moscheegemeinden zunehmend den Einfluss des öffentlichen Raumes auf ihre Mitglieder

und Besucher, denn die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen im Hinblick auf

die Pluralisierung der Lebensstile und die Individualisierungsprozesse spiegeln sich auch

in den Moscheegemeinden wider. Diese Heterogenisierung führt wiederum zu Unsicherheiten

hinsichtlich der Zukunft ihrer Gemeinden, weil die aktuellen Entwicklungen seitens

der Gemeindebesucher im Vergleich zu den Normen und Werten der ersten Generation

bewertet werden, die weitgehend als traditionell-konservativ wahrgenommen wurden.

Die Pioniermigranten nehmen insgesamt in den Moscheegemeinden die Funktion einer

ambivalenten Projektionsfläche ein. Sie sind diejenigen, die mit viel Engagement die gesamten

Moscheestrukturen in den 1970er-Jahren aufbauten, und repräsentieren zugleich die

„islamischen Normen und Werte“ aus dem Herkunftskontext, die weitgehend für intakte

muslimische Familien sorgten. Sie repräsentieren also Erfolg, Authentizität und Stabilität

zugleich. Andererseits wird in der Persistenz der statischen Moscheestrukturen hinsichtlich

mangelnder Anpassungsfähigkeit an die hiesige Gesellschaft den Pioniermigranten

– aufgrund ihrer geringes Bildungsniveaus, ihrer fehlenden sprachlichen Kompetenzen

sowie ihrer traditionellen Orientierung – eine Mitschuld bescheinigt:

„Sehr große Unterschiede. Die erste Generation unterscheidet sich von ihren religiösen

Einstellungen, Lebensformen, Heirats- und Familienleben völlig von den jüngeren Generationen.

Diese Einstellungen und Lebensformen ändern sich und wir müssen da Maßnahmen

treffen, um diesen Verfall vorzubeugen. Je mehr Zeit vergeht, desto größer werden

die Unterschiede zwischen den Generationen sein. […] Die erste Generation sprach kein

Deutsch und war kaum gebildet, dennoch sind wir ihnen sehr dankbar. Wäre die erste

Generation eine Akademikergeneration, würden sie vielleicht in den Moscheegründungen

nicht so erfolgreich sein, weil die Gastarbeiter Generation aufrichtig, sich aufopfernd und

ohne eine Gegenleistung eine sehr stabile Grundlage für die Moscheegründungen erbracht


2 Ergebnisse der empirischen Studie 267

haben und wir daher heute über diese Moscheen verfügen. Unter der zweiten und dritten

Generation gibt es zwar immer noch ähnliche Gläubige, aber dafür auch ein Teil, die sehr

desinteressiert sind am Gemeindeleben. Würde hier beispielsweise eine Moschee Feuer

fangen, wäre es ihnen völlig gleichgültig. […] Ich sehe bei den jungen Leuten leider, dass

die ‚Bireysellik‘ 673 stärker zunimmt. Wir sehen das auch hier in der Gemeinde, wenn

zehn Freunde in einem Raum sitzen, aber statt miteinander zu sprechen, gegenseitig per

SMS kommunizieren. Das stellen wir bei den Kindern, den Jugendlichen fest, die an den

Wochenenden in den Moscheeunterricht kommen, die aber leider jeder für sich ist, ohne

mit den anderen zu sprechen, wenn dann nur über das Handy. […] Einerseits fehlende

Bildung, aber auch darin, dass man seine Zeit nicht voll und sinnvoll ausschöpfen kann.

Wenn man die Jugendlichen fragt, dann sagen sie meistens, dass sie keine Zeit haben. Fragt

man dann nach, was man denn eigentlich den ganzen Tag über gemacht hat, stellt sich

heraus, dass man Stundenlang im Internet oder auf Facebook verbracht hat oder vielleicht

kann man auch sagen, dass sie zu Opfern des Internets geworden sind.“ (Said Ö., S. 164)

Dieser unmittelbare Vergleich zu den Lebensstilen und Orientierungen der ersten Generation

in den Gemeinden, die nach wie vor in den Vorständen und in den Gemeinden aktiv ist oder

zumindest einen informellen Einfluss ausübt, wird anhand einige zentraler Veränderungen

vorgenommen, die eher als negative Entwicklung im Zuge einer Enttraditionalisierung

wahrgenommen werden. Hierzu zählt die Gegenüberstellung der gegenwärtigen Partnerwahl

mit traditionell-arrangierten Ehen, wo zwei heiratswilligen Menschen – mit ihrem

ausdrücklichen Einverständnis – die Gelegenheit gegeben wird, sich in der Gegenwart

von Verwandten oder Bekannten kennenzulernen und über eine mögliche gemeinsame

Zukunft auszutauschen. 674 Aufgrund des Verbots einer vorehelichen Beziehung ist diese

Form von „Datings“, die in öffentlichen oder privaten Räumen – unter Anwesenheit von

Dritten – stattfinden, noch in islamisch geprägten Ländern weit verbreitet. 675 Meist sind

es Familienmitglieder, Nachbarn oder Bekannte, die aufgrund ähnlicher Kriterien der

Heiratskandidaten versuchen, diese Menschen zusammenzubringen. Da die Scheidungsraten

dieser Generation nach den eigenen Erfahrungen sehr gering sind, wird dies auf die

positive Funktionalität und Effizienz dieses traditionellen Systems zurückgeführt:

„Ja, natürlich sehe ich da Unterschiede. Also auffällig ist, dass die ‚Görücü usulü evlilik‘

676 kaum noch existieren und die Paare sich heute selbst kennenlernen, zu Freund und

Freundin werden und dann erst damit rausrücken: ‚Ja, Mutter, ich möchte dieses Mädchen

heiraten.‘ Also vorher wird schon alles klar gemacht zwischen den Partnern, so ein

Jahr vorher, und dann erst sagt man es der Familie. Damit wird natürlich die Tradition

geschwächt. Ich habe ja vorhin gesagt, dass sich die zukünftigen Generationen nicht mehr

673 Türkisch für Individualisierung.

674 Vgl. zu den Unterschieden zwischen arrangierter Ehe und Zwangsehe: Ursula Boos-Nünning/

Yasemin Karakasoglu, Viele Welten Leben. Zur Lebenssituation von Mädchen und jungen

Frauen mit Migrationshintergrund, Münster 2006, S. 254 f.

675 Vgl. Mathias Rohe, Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart, München 2011, S. 213 f.

676 Türkisch für arrangierte Ehen.


268 B Empirischer Teil

so um die Gemeinden kümmern werden, sich nicht engagieren werden. Natürlich kann

auch manchmal genau das Gegenteil ereignen, wenn aus kaum religiösen Familien Kinder

hervortreten, die sich für die Religion entscheiden und sich sehr engagieren. Das ist dann

Gottes Rechtleitung und Gnade an diesen Menschen, weil er ohne die religiöse Erziehung

zur Religion findet. Doch grundsätzlich und allgemein ist eine Schwächung, Abnahme

und Verfall am Beispiel der Moscheegemeinden zu beobachten und ein Umdenken bei

den jungen Menschen zu beobachten, die sich sagen: ‚Mein Großvater ging regelmäßig

in die Moschee, mein Vater nicht so regelmäßig und bei mir reicht es, wenn ich hin und

wieder in die Moschee gehe.‘“ (Ikbal I., S. 171 f.)

Es ist keine soziologische Neuentdeckung, dass der Integrationsgrad der jüngeren Generationen

der Muslime höher als bei der ersten und zweiten Migrantengeneration ist. Es sind

nicht nur Anpassungsleistungen wie im sprachlichen Bereich oder im Bildungssystem,

sondern auch der Zugriff auf sozialkulturelle Wahlmöglichkeiten, um die individuelle

Biografie selbst und vielfältig zu gestalten. Hierzu zählt auch die eigene Partnerwahl.

In den islamischen Ländern ist zwar der voreheliche Geschlechtsverkehr immer noch

verpönt, aber mit „sexlosen“ Bekanntschaften vor der Ehe scheinen sich die Gemeinden

arrangieren zu müssen:

„Zum Beispiel, ich kann mich erinnern, dass ich nicht mit meiner Freundin, deutschen

Freundin oder einer anderen mal einfach so zu Moschee kommen und dann halt so zu

einem Fest oder wenn das was ist, dass ich mich mit der dort aufhalten konnte, das ging

nicht damals. Wenn ich mir das mal heute angucke, ich meine wenn mein Sohn mal mit

seiner Freundin kommen wird, dann, ja, ich würde ihm zwar immer wieder raten ‚Mach

nichts Falsches, pass bitte auf sei vorsichtig‘ aber, ne, das war schon anders. Ich hätte

mir aber auch gewünscht, dass ich so meine Freundin mit nach Hause genommen hätte,

ja. Das ist so. Sie können doch lieber mit ihrer Freundin zu Hause sein, als irgendwo

unter einer Brücke und da an irgendein Mist zu denken, verstehen sie was ich meine?“

(Mehmet A., S. 303)

In der Logik eines stärker abnehmenden unilinearen Trends werden also die im Zuge der

Sozialisation der nachfolgenden Generationen realisierten gesellschaftlichen Anpassungsleistungen

so interpretiert, dass die Normen und Werte der ersten Generation, wie in dem

„bewährten“ System der Partnervermittlung, zunehmend an Bedeutung verlieren. Diese

Einstellung entspricht den klassischen Assimilationsmodellen in der Migrationsforschung

wie dem Sequenzmodell von H. G. Duncan, der den Prozess der völligen Auflösung einer

Einwanderergruppe zeitlich an drei Generationen festmacht:

„1. Generation

Die Mehrheit der ersten Generation der Einwanderer passt sich nur im wirtschaftlichen

und sozialen Bereich des Aufnahmelandes an und versucht durch ethnische Gruppen und

Institutionsbildungen ihre Herkunftskultur zu bewahren, um dadurch ihre emotionale

Geborgenheit und psychische Sicherheit zu erhalten.

2. Generation


2 Ergebnisse der empirischen Studie 269

Die zweite Generation versucht in der Familie die Herkunftskultur der Eltern zu bewahren,

während sie sich in Schule und Beruf die Verhaltensmuster und Kultur des

Aufnahmelandes aneignet. Sie lebt in zwei Kulturen mit gemischten Wertestandards.

3. Generation

Die dritte Generation gibt die Herkunftskultur ihrer Eltern auf und assimiliert sich

gänzlich in die ‚core culture‘ des Aufnahmelandes, so dass interethnische Mischehen

normal werden.“ 677

Entsprechend der Annahmen des Sequenzmodells seien die ökonomischen und kulturellen

Integrationsleistungen der jüngeren Gemeindebesucher nur „auf Kosten“ der islamisch-kulturellen

Tradition realisiert worden:

„Also bei den Scheidungen habe ich mittlerweile das Gefühl, dass wir uns da in einem

Wettrennen mit den Deutschen um die höchsten Quoten liefern. Dieser gesellschaftliche

Trend zu höheren Scheidungen trifft uns auch, weil auch wir die Gesellschaft sind. Ich

habe das in meiner letzten Reden vor Mitgliedern angesprochen, dass unser Konto, unsere

Brieftasche, unsere Wohnungsgröße, unser Auto größer wird und wächst, aber unsere

Familien kleiner werden. Der Kern einer Gesellschaft ist doch die Familie, oder nicht?

Bei den Türken war die Familie immer ein stabiler Kern, deshalb haben wir trotz aller

Probleme in dieser Gesellschaft vieles gut überstanden. Das zeichnete die türkisch-muslimischen

Familien immer aus, dieser Familienzusammenhalt. Aber leider zeichnet sich

ab, dass das langsam bröckelt. Wissen, das finde ich sehr interessant, dass die damaligen,

arrangierten Heiraten heute noch intakt sind, aber die Jugend heute, die ihre Partner selbst

kennenlernen und sich mit ihnen treffen usw., dass die Ehen dann nach drei geschieden

werden. Das ist sehr seltsam und interessant zugleich. Je mehr man sich von der Tradition

distanziert, desto größer die Scheidung. Manchmal denke ich mir, dass es vielleicht

auch mit dem Wohlstand zu tun, mit dem Preis das wir daher zahlen müssen für diesen

Wohlstand. Das müssen aber die Experten beantworten, dieses Frage warum, aber das

sind meine Beobachtungen in der Gemeinde. Je einfacher und unbeschwerter das Leben,

desto höher die Scheidungsraten. Ich hatte mal ein Gespräch mit einem Bauingenieur auf

einer Baustelle und der sagte zu mir: ‚Hast du schon mal je erlebt, dass ein sehr reicher

Mensch über Gott geredet hat?‘ Je mehr also die Menschen Wohlstand bekommen, desto

mehr distanzieren sie sich von Gott. Das trifft uns auch so langsam, weil trotz Armut

und materiellen Problemen, auch unter Muslimen die Zahl der wohlhabenden Menschen

steigt. Das zeigt sich auch am Bildungsstand, dass immer mehr muslimische Jugendliche

ein Gymnasium besuchen. Wenn wir diese aufsteigenden muslimischen Gymnasiasten

stärker in die Gemeinden einbinden können, dann können wir auch einen größeren

Beitrag für diese Gesellschaft leisten. Das ist nur machbar, wenn diese junge Menschen

schon religiöse Grundlagen in ihren Familien vermittelt bekommen haben, ethnische

und kulturelle Werte auch, und diese Identität auch mit dieser Gesellschaft in Einklang

bringen kann, das heißt also nicht das Gebet und andere religiöse Pflichten nur wegen

677 Petrus Han, Soziologie der Migration. Erklärungsmodelle – Fakten – Politische Konsequenzen

– Perspektiven, Stuttgart 2010, S. 40


270 B Empirischer Teil

der Karriere aufgibt oder anfängt Alkohol zu trinken, dann haben diese junge Menschen

keinerlei Nutzen für die muslimischen Gemeinden in Deutschland.“ (Salih D., S. 112)

Wie aus der obigen Aussage hervorgeht, werden als negative Konsequenz der Enttraditionalisierungsprozesse

die Auflösung der familiären Bindungen sowie die zunehmenden

Scheidungsraten, die sich in den Gemeinden zeigen, als Indizien dafür gesehen. Ohne

dieses soziale Phänomen quantifizieren zu können, bringt allein die Wahrnehmung der

Zunahme dieser Trennungen Unsicherheiten und Ängste mit sich, zumal die Gemeinden

keine professionellen Eheberater zur Verfügung stellen können. Oft ist es der Imam, an den

man die Ehepartner dann vermittelt, auch wenn er für eine Mediation nicht ausreichend

qualifiziert und mit dieser Aufgabenstellung sogar überfordert ist. 678 Die Statistiken der

letzten 60 Jahre belegen in diesem Rahmen, dass die Ehescheidungen in der deutschen

Gesellschaft stetig zugenommen haben. 679 Zwar liegen die Scheidungsraten der Bevölkerung

mit Migrationshintergrund unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt, allerdings

findet aufgrund der Pluralisierung der Lebensstile und Individualisierungsprozesse eine

sozio-demografische Angleichung statt, was sich nicht nur in den Scheidungsquoten

widerspiegelt, sondern auch in der Zustimmung zu Liebesbeziehungen ohne Trauschein.

Mit dieser Entwicklung ist auch in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund eine

Veränderung der Lebens- und Familienformen zu erwarten. 680 Parallel dazu nehmen in

diesem Prozess der Adaption die Zahlen der inter-ethnischen Ehen zu, wie es das Beispiel

der deutsch-türkischen Heiraten in den letzten Jahren belegt. 681 Diese Prozesse ziehen

nicht an den Moscheegemeinden vorbei, wie die Erfahrungsberichte vor Augen führen:

„Ja, meine Frau habe ich selber kennengelernt, getroffen usw., aber ohne sich wirklich

Gedanken um die Zukunft zu machen. Die Eltern haben Lebenserfahrung und sehen die

Probleme, die in der Zukunft auftreten können bei der falschen Partnerwahl, aber die

Kinder hören nicht auf die Eltern. Daher nehmen die Scheidungen zu, überall in der Welt

ist das so. Auch in der Türkei ist hat das von jährlich von etwa 20 000 auf über 140 000

glaube ich zugenommen […]. Das kann man nicht trennen bei uns, Islam und Tradition.

Früher war das so, dass die Eltern bei der Partnerwahl mitbestimmten und die Kinder

gehorchten ihren Kindern. Die Eltern wissen ja aus eigener Lebenserfahrung, welcher

Partner gut oder nicht gut ist für das eigene Kind. Meine Tochter hat auch vorher ihren

Mann nicht gekannt, sondern durch Görücü usulü geheiratet. Der Ehemann kommt aus

den Niederlanden, ursprünglich aus dem gleichen Dorf in der Türkei wie wir, und hat

um die Hand meiner Tochter angehalten. Die beiden sind jetzt glücklich. Meine jüngere

678 Vgl. Ceylan, Prediger des Islam, S. 66 f.

679 Vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Statistik der rechtskräftigen

Beschlüsse (Scheidungsstatistik), Fachserie 1 Reihe 1.4, Wiesbaden 2013, S. 8 ff.

680 Vgl. Sonja Bandorski et al., Der Mikrozensus im Schnittpunkt von Geschlecht und Migration.

Möglichkeiten und Grenzen einer sekundär-analytischen Auswertung des Mikrozensus 2005.

Berichtszeitraum 01.10.2006-15.12.2007, Baden-Baden 2009, S. 65 ff.

681 Vgl. „Deutsch-ausländische Ehepaare: bei 14 % hat ein Partner den türkischen Pass“ abgerufen

unter: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/zdw/2011/

PD11_043_p002.html [11.02.2014]


2 Ergebnisse der empirischen Studie 271

Tochter dagegen hat ihren Mann selbst kennengelernt, die ist jetzt aber geschieden, weil

sie nicht auf uns hören wollte.“ (Haluk M., S. 156)

Assoziiert werden diese Entwicklungen vor allem mit der Veränderung der Rolle der

muslimischen Frau in der Gesellschaft und in den Gemeinden, die längst nicht mehr dem

öffentlichen Klischee entspricht. Die Bildung ermöglicht diesen Frauen mehr Emanzipation

und mehr Selbstbestimmungsrecht, und dazu zählt auch ein Single-Leben nach eigenen

Vorstellungen. Sowohl das Recht auf Gemeinschaft als auch das auf Individualisierung

wird für sich in Anspruch genommen. Mit einem Neo-Konservatismus, der in der Türkei

und in anderen muslimischen Ländern eigentlich schon seit den 1990er-Jahren zu beobachten

ist, versuchen muslimische Frauen, im Spannungsverhältnis zwischen Tradition

und Moderne ihren eigenen Weg zu finden. Insbesondere mit dem Globalisierungsprozess

haben in Fragen der Selbstbestimmtheit Innovationsschübe der muslimischen Frau

stattgefunden, die sich auch in Form einer feministischen Exegese zeigen, die als „eines

der wichtigsten Symptome“ für Neuansätze in der koranischen Auslegung zu bezeichnen

ist. 682 Insbesondere in der Diaspora eröffnen sich für diese Frauen neue Möglichkeiten,

sich innerhalb der eigenen theologischen Wissenschaftstradition kritisch mit der „Geschlechterrollenkonstruktion“

in der Koranexegese auseinanderzusetzen, um eine Aufarbeitung

für geschlechtergerechte Interpretationen zu gewährleisten, 683 denn der infolge des

Wertewandels stattfindende „funktionale innerfamiliäre Rollenwandel“, der – vor allem

bei Paaren mit hohem Bildungsniveau – zur Auflösung traditioneller Rollenverteilungen

sowie zur partnerschaftlichen Erziehung der Kinder in den Familien führt, 684 geht an den

muslimischen Familien und Frauen nicht vorbei. Sigfried Nökel zeichnet diese Kategorie

von „Neo-Muslimas“ in biografischen Studien muslimischer Frauen nach. Demnach wird

bestätigt, dass sich seit den 1990er-Jahren eine Kategorie von muslimischen Frauen gebildet

hat, die sich einerseits als „grenzziehende Bedeutung“ bezüglich ihrer „Identitätsentwürfe“

an islamischen Normen und Werten in einer „liberalen Lesart“ orientieren und andererseits

als „grenzüberschreitende Bedeutung“ den Anschluss – mit ihrem Kopftuch – an die sie

umgebende säkulare Gesellschaft zu finden bestrebt sind. Dabei spielen für die Frauen die

Glaubenspraxis und das Fasten in ihrem Alltag eine elementare Rolle. Dies ist jedoch nicht

einfach als eine blinde Imitation von Traditionen zu verstehen, sondern das Ergebnis einer

intensiven Reflexion. 685 Hans Küng bezeichnet diese Art von Religiosität in modernen,

säkularen Gesellschaften auch als „aufgeklärte Religiosität“ 686 .

682 Vgl. Christina von Braun/Bettina Mathes, Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und

der Westen, Berlin 2007, S. 356 f.

683 Kathrin Klausing, Geschlechterrollenvorstellungen im Tafsir, Frankfurt/M. 2014

684 Vgl. Margit Stein, Familie und Familienentwicklung in Zahlen – ein Überblick über aktuelle

Studien und Zahlen, in: Ursula Boos-Nünning/Dies. (Hrsg.), Familie als Ort der Erziehung,

Bildung und Sozialisation, Münster 2013, S. 38 ff.

685 Vgl. Sigfried Nökel, ‚Neo-Muslimas‘ – Alltags- und Geschlechterpolitiken junger muslimischer

Frauen zwischen Religion, Tradition und Moderne, in: Hans-Jürgen von Wensiercki/Claudia

Lübecke (Hrsg.), Junge Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturelen,

Opladen/Farmington Hills 2007, S. 135 ff.

686 Vgl. Hans Küng, Der Islam. Wesen und Geschichte, München 2007, S., 768 ff.


272 B Empirischer Teil

Allerdings wird dieser Prozess durch den polarisierenden und durch Stereotypisierungen

gekennzeichneten Diskurs über die angeblichen Unterschiede zwischen der westlichen

und muslimischen Frau überschattet. Die Funktionalisierung dieser Geschlechterdifferenz

dient dann eher dazu, die Fortschrittsleistungen der westlichen Frau zu akzentuieren

und gleichzeitig die Rolle der noch zu „befreienden“ muslimischen Frau zu verstärken. 687

Schwierig wird es dann nach Christina von Braun und Bettina Mathes für die muslimische

Frau infolge der Konfrontation „mit zwei unterschiedlichen kulturellen Zumutungen“,

wenn sie hierzulande gesellschaftlich partizipieren wollen:

„Entscheiden sie sich für den Schleier, werden sie beinahe automatisch der Gruppe der

‚unterdrückten‘ Musliminnen zugeordnet; entscheiden sie sich gegen den Schleier, werden

sie als Individuum, das einer anderen Kultur entstammt, unsichtbar. Damit ist ihnen die

Möglichkeit genommen, ihre kulturelle Differenz gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zum

Ausdruck zu bringen. […] Stellt die Integration des Fremden die Norm dar, so ist es nicht

verwunderlich, daß das Kopftuch der fremden Frau im Auge des westlichen Betrachters soviel

Anstoß erregt, denn nicht nur kennzeichnet es die Migrantin als Fremde, es signalisiert auch,

daß die Trägerin nicht bereit ist, auf die Sichtbarkeit ihrer kulturellen Differenz zu verzichten.

Während die deutsche Mehrheitskultur verlangt, sich auszuziehen, um als ‚Fremdkörper‘

unsichtbar zu werden, legt diese das Kopftuch an, um etwas von ihrer ‚Fremdheit‘ zu bewahren.

Immer wieder geben muslimische Frauen als einen der Gründe an, daß sie sich ohne

das Tuch schutzlos fühlen.“ 688

Mit Schwierigkeiten aufgrund ihrer sozialen Partizipation sind die muslimischen Frauen

mit religiöser Orientierung jedoch nicht nur in gesellschaftlichen Handlungsfeldern wie

Beruf und Bildung konfrontiert, sondern auch innerhalb der Moscheegemeinden. Allerdings

sind es typische Konflikte, mit denen Pioniere immer konfrontiert sind, wenn sie althergebrachte

Strukturen aufbrechen und für die nachfolgenden Generationen den Weg ebnen:

„Mahmut Ö.: Ja und zwar sehr gewaltige Unterschiede, unglaubliche Veränderungen. Ein

Beispiel. Ich kenne hier eine muslimische Frau mit Kopftuch, die trotz ihres fortgeschrittenen

Alters unverheiratet ist. Ich habe sie mal gefragt, warum sie immer nicht heiraten möchte.

Sie antwortete: Ja, Abi [großer Bruder, Anm. d. Verf.], ich verdiene meine Geld selbst,

bin unabhängig und frei. Ab diesem Zeitpunkt habe ich kein Interesse mehr, mit einem

Mann zusammenzuleben.‘ Ich weiß es nicht genau, aber ich nehme an, dass konservative

muslimische Frauen, die studieren oder einer berufliche Karriere machen – übrigens mehr

als die muslimischen Männer an der Zahl –, dass diese Frauen eher daran interessiert

sind, sich auf ihre Karriere, auf das Geldverdienen konzentrieren als zu heiraten.

I.: Und die Eltern? Mischen die sich nicht ein?

Mahmut Ö.: Die Frauen sind selbstbewusst und die Eltern haben ab einen bestimmten

Punkt kaum Einfluss auf deren Entscheidungen.

I.: Wie gehen die Vorstände damit um?

687 Vgl. Birgit Rommelspacher, Zur Emanzipation der „muslimischen“ Frau, in: Bundeszentrale

für politische Bildung (Hrsg.), Aus Politik und Zeitgeschichte, 5/2009, Bonn, S. 34 ff.

688 von Braun Mathes, Verschleierte Wirklichkeit, S. 358


2 Ergebnisse der empirischen Studie 273

Mahmut Ö.: Die stört es natürlich sehr. Also diejenigen, nach dem alten Konservatismus-Verständnis

haben ein Problem damit, weil ein neues Konservatismus-Verständnis

bei den heutigen Muslimen entsteht. Ich erlebe das tagtäglich. Ich kann Ihnen an dieser

Stelle von mir berichten, von meiner Tochter. Meine Tochter hat ihr Abitur gemacht, hat

in Indonesien ein Praktikum gemacht, dort eine islamischen Schule mit ihrem Kopftuch

besucht und dann ist sie zurück nach Deutschland gekommen und lebt hier hochmodern.“

(S. 131)

Das größere Engagement von muslimischen Frauen in den Gemeinden nimmt infolge ihrer

sozialen Mobilität daher kontinuierlich zu. Dieser Prozess wird auch – wie bei der neuen Satzung

der Landesverbände der DITIB – dadurch unterstützt, dass für die Moscheevorstände

Frauenquoten eingeführt wurden. Daher wird das stärkere Engagement der muslimischen

Frauen nicht nur postuliert, sondern ihre Partizipation – trotz einiger Widerstände der

ersten Generation – strukturell implementiert. Damit hält das Gender-Mainstreaming

zunehmend Einzug in die Gemeindearbeit. So sollen sich die Vorstände für die Frauen

öffnen und ihnen die Übernahme wichtiger Funktionen innerhalb der Gemeindearbeit

ermöglichen. Diese seit den 1980er-Jahren mit der Einführung der Frauenquoten verfolgte

Gleichberechtigung geht von der Annahme aus, dass die Frauen entsprechend ihrem

Anteil in der Gesellschaft nicht ausreichend im Berufsleben repräsentiert sind. Zwar wurden

den Quotenregelungen auch eine diskriminierende und stigmatisierende Funktion

(„Quotenfrau“) zugeschrieben, dennoch haben diese Diskussionen zur Sensibilisierung

für die Benachteiligung der Frauen beigetragen. Insbesondere versucht die Politik durch

die Förderung des Gender-Mainstreaming die volle gleichberechtigte gesellschaftliche,

politische und wirtschaftliche Partizipation von Frauen durchzusetzen. 689

Vor dem Hintergrund dieser Öffnung konnte die DITIB-Fatih Moschee in Meschede/

Essen mit Gülay Kahraman den ersten weiblichen Vorstandsvorsitzenden in Deutschland

feiern. 690 Bisher wurde die ehrenamtliche Arbeit in den Moscheegemeinden von Männern

dominiert, die ja als Pioniere in den 1970er-Jahren und 1980er-Jahren die Gotteshäuser

gegründet haben, sodass die Haupträume vornehmlich den Männern zustanden. Ebenso

spiegelt sich die höhere Besucherzahl der Gottesdienste durch Männer immer noch in den

Gemeinden wider, da bisher Frauen aufgrund der traditionellen Rollenverteilung nicht

an den Freitagsgebeten teilnehmen mussten, weil sie aufgrund ihrer Ehefrauenrolle im

Haushalt tätig waren.

„Ja, also ich will mal was über Frauen sagen. Es ist so, dass nach dem islamischen Verständnis

Frauen nicht verpflichtet sind in die Moschee zu gehen, aus einfachen Gründen,

weil sie in der Regel Kinder zu versorgen haben oder ein Haushalt und vor allen Dingen

bei Kindern sind sie nicht, die Herren ihrer eigenen Zeit. Das ist klar und deswegen heißt

es im Islam, wenn die Frau zu Hause betet, bekommt sie den gleichen Gotteslohn wie ein

689 Vgl. Yvonne Rebecca Ingler-Detken, Doing Gender auf der politischen Bühne Europas. Politikerinnen

und ihre Überwindung der „Fremdheit in der Politik“, Wiesbaden 2008, S. 50 ff.

690 „Ditib‘de İlk Kadın Başkan“, abgerufen unter: http://www.haberler.com/ditib-de-ilk-kadin-baskan-haberi/

[15.12.2013]


274 B Empirischer Teil

Mann wenn er in der Moschee betet. Dann muss man den Leuten immer wieder sagen.

Andererseits sind unsere gesellschaftlichen Verhältnisse hier so, dass es sehr schön wäre,

wenn die Frauen auch beispielsweise zum Freitagsgebet gehen würden oder Ähnliches,

weil das möglich ist. Und da wäre das natürlich nicht in die Reihen gekommen für manche

Moscheen ist eben so eine Empore oder Ähnliches genügend Platz für Frauen, aber strikt

nach islamischen Recht, gehen wir mal davon aus, dass in der Moschee der Gebetssaal auf

einer Ebene ist. Das ist ganz klar vorne beten die Männer, dann kommen die Kinder und

dann kommen die Frauen. Keine merkwürdigen Duschvorhänge oder sonst was dazwischen

– das ist ahistorisch. Also diese Sachen und wenn wir zurückgehen würden zu den

Wurzel der islamischen Lehre, dann würden sehr vernünftige Lösungen, auch hier ohne

Schwierigkeiten und Verklemmungen anwendbar sind, rauskommen.“ (Ahmet A., S. 369)

Diese theologische Position spiegelt die androzentrische Gesellschaftsform wider, wie sie

vor den Modernisierungsprozessen in den islamisch geprägten Ländern herrschte und

immer noch in Ländern wie Afghanistan herrscht. So sind die Gemeinschaftsgebete nur

den Männern als Pflicht vorgeschrieben, während Frauen, die zwar freiwillig teilnehmen

dürfen, davon befreit sind. Entsprechend sind die Konflikte in Deutschland vorprogrammiert,

wenn, wie oben dargestellt, die Räumlichkeiten historisch von den Gründungsvätern

eher für muslimische Männer konzipiert wurden. Als die Zahlen der Frauen in den Gemeinden

zunahmen, mussten diese in weniger attraktivere Gemeinderäume ausweichen.

Durch die größere Rolle der Frauen in der Gegenwart wird diese räumliche Segregation

infrage gestellt, und dementsprechend ist der überwiegende Teil der sogenannten Hinterhofmoscheen

räumlich so eingerichtet, dass sie dem gesellschaftlichen Rollenwandel

nicht mehr entsprechen:

„Die erste Generation hat Schwierigkeiten, die Rolle der Frau zu akzeptieren in den Gemeinden.

Sie sagen: ‚Ja, also was haben die Frauen denn auf solchen Positionen zu suchen.‘

Die werden aber auch immer weniger, die so kritisch eingestellt sind. Diese Überzeugung,

dass ohne die Frauen die Gemeindearbeit nicht mehr weiterlaufen wird und die Frauen

daher aktiv einbezogen werden müssen, setzt sich immer mehr durch. Und das ist wirklich

so, dass mit den Frauen eine Bewegung reinkommt. Wir haben in der Gemeinde sogar

eine Predigerin, die zwar für die ganze Region zuständig ist, aber zu unserer Gemeinde

zählt und dann haben wir noch sehr aktive Frauengruppen hier. Mittlerweile kommen

auch Frauen zu den täglichen Pflichtgebeten und zu den Freitagsgebeten. […] Ja, es gibt

einen Wandel, vor allem auch durch die neue Satzung der DITIB-Landesverbände, die

vorschreibt, dass mindestens zwei Frauen im Vorstand vertreten sein müssen. Die Satzung

sieht vor, dass eine Frau mindestens als stellvertretende Vorsitzende vertreten sein muss

und die Vorsitzende der Frauengruppe im Vorstanden einen Sitz haben muss und dazu

noch auch die Jugendvertretung einen Sitz im Vorstand haben sollte. Also der Jugendvorstandsvertreter

ist auch automatisch im Vorstand. Also die Vertreter von Familien- und

Erziehungsgruppen müssen im Vorstand vertreten sein. Das bedeutet also, dass in der

neunköpfigen Vorstandsgruppe mindestens zwei Frauen vertreten sein müssen. Damit

wird sich das Profil der Landesverbände verändern. Die Frauen waren eigentlich schon

immer aktiv in den Gemeinden, aber sie waren eher im Hintergrund beziehungsweise


2 Ergebnisse der empirischen Studie 275

sie hatten kein Mitsprache- beziehungsweise Entscheidungsbefugnisse. […] Weil man

erkannt hat, dass man es bisher falsch gemacht hat, denn auch in der Zeit des Propheten

Muhammad hatten die Frauen eine sehr aktive Rolle in der Gemeinschaft, sie standen

im Vordergrund. 691 Jetzt möchten die Gemeinden diesen Fehler beheben und den Frauen

mehr Möglichkeiten gewähren. Durch den Generationswechsel in den Gemeinden, wird

sich das noch intensivieren.“ (Halim H., S. 186 f.)

Dieser gemeindeinterne Wandel hängt zum einen mit den Erfahrungen der zweiten

Generation zusammen, dass ohne das Engagement der Frauen in den Gemeinden eine

Stagnation und sogar ein Rückgang der Gemeindeaktivitäten eintreten könnte. 692 Zudem

setzt sich die Einsicht durch, dass die Partizipation der Frau auch sozial erwünscht ist,

weil bei interreligiösen Dialogen sich nicht-muslimische Besucher nach weiblichen Vorstandsmitgliedern

erkundigen:

„Ja, diese Forderungen gibt es, vor allem durch die junge Generation, die sehr motiviert

ist und auch selbstbewusst. Ihnen muss man auch Möglichkeiten geben, da in der Regel

die Männer ihre Sitze, ihre Stühle nicht einer Frau überlassen wollen. Frauen sollen am

besten gar nicht mitreden. Diese Männer erwarten, dass die Frauen bei dem Tag der

offenen Moscheen backen und kochen sollen für die nicht-muslimische Gäste, und zwar

bevor die deutschen Gäste kommen wird gekocht, gedeckt und gehen dann nach Hause,

ohne dass man sie überhaupt zu Gesicht bekommt. Wann werden die Frauen noch in die

Gemeindearbeit eingebunden? Wenn es um Reinigungsarbeiten in der Moschee geht, dann

dürfen die putzen, mehr nicht. Und höchstens dürfen die Frauen zu den Tarāwīḥ-Gebe-

691 Die Zeit des Propheten Muhammad und seiner Gefährten wird von Modernisten wie Salafisten

gleichermaßen als Beleg für eigene, „authentische“ Interpretationen gesehen. Während

beispielsweise die Fundamentalisten in der Frauenfrage aus dieser Zeit eine eher traditionelle

Rollenverteilung für gegenwärtige Verhältnisse ableiten, leiten modernistische Interpretationen

daraus eine Aufwertung der Frau ab. Muhammad habe versucht, die benachteiligenden

Strukturen für Frauen, wie fehlendes Wahl- oder Erbrecht, aufzubrechen, indem ihnen vielfältige

Rechte eingeräumt wurden. Ein klassisches Beispiel stellt die koranische Regelung dar,

bei geschäftlichen Verträgen zwischen einem Mann und einer Frau der Letzteren eine weitere

Frau als Zeugin zur Seite zur stellen. Aus einer statischen Exegese heraus würde das heißen,

dass erst die Aussage oder Zeugenschaft von zwei Frauen einem einzigen Mann ebenbürtig sei.

Die dynamische Exegese dagegen berücksichtigt die gesellschaftliche Situation der Frau im 7.

Jahrhundert, in dem die wirtschaftliche Partizipation des weiblichen Geschlechts nur auf ihre

Hausfrauenrolle beschränkt war. Mit diesem Vers versuche der Islam daher, die Frau für die

Gesellschaft zu gewinnen.

692 Für die orthodoxen Kirchen in der westlichen Diaspora arbeitet beispielsweise Stefanie Tünnerman

in ihrer Forschung heraus, dass auch die seit Jahrhunderten tradierten Geschlechterrollenvorstellungen

im Hinblick auf die soziale Rolle der Frau in den Gemeinden, insbesondere

die Frage ihrer Ordination, im Zuge der modernen Rollenvorstellungen der Frau in den

westlichen Gesellschaften mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert sind; (vgl. Stefanie

Tünnermann, Zugänge zum Bild der Frau in der Orthodoxen Kirche, in: Siri Fuhrmann/

Erich Geldbach/Irmgard Pahl (Hrsg.) Soziale Rollen von Frauen in Religionsgemeinschaften:

Ein Forschungsbericht mit Beiträgen von Ute Gause, Ursula Henke, Martin Leutsch, Ursula

Nothelle-Wildfeuer, Heinz Ruland, Annette Wilke et al., Münster 2003, S. 39 ff.)


276 B Empirischer Teil

ten, aber bitte ganz nach hinten ohne aufzufallen und ohne Kinder. Das ist falsch, weil

es eigentlich genau umgekehrt sein muss. Wir müssen viel stärker die Frauen einbinden,

sie in die Vorstände und in die gesamte Gemeindearbeit einbeziehen. Sie müssen im

Mittelpunkt stehen. Die Moscheegemeinden, die sich für die Frauen öffnen, haben große

Erfolge nachzuweisen. Es kommt Ordnung rein in der religiösen Erziehung, es kommen

mehr Kinder und mehr Leben in die Gotteshäuser und sogar die täglichen Besucher

nehmen zu. Wenn wir die täglichen Gottesdienste für die Frauen öffnen würden, würden

sogar mehr Gläubige kommen. Auch an den Wochenenden könnten mehr Angebote

stattfinden. Daher sind für uns die Predigerinnen, die wir aus der Türkei holen, für uns

sehr wichtig. Inscha’Allāh werden in Zukunft diese Predigerinnen an den Instituten für

Islamische Theologie, in Deutschland ausgebildet werden, damit auch geschlechtsspezifische

Wünsche und Inhalte von ihnen selbst behandelt werden können. […]„Ich war jahrelang

Klassenpflegschaftsvorsitzender und da habe ich die gleiche Erfahrung gemacht. Die

Frauen interessieren sich vielmehr für die Bildung der Kinder, nehmen mehr an schulischen

Aktivitäten teil und begleiten ihre Kinder und bringen sie zur Schule und holen sie

wieder ab. Wenn es eine positive Entwicklung gibt, dann wegen dem Einsatz der Mütter,

nicht der Väter. Das sage ich ihnen ganz offen. Genauso in den Moscheen. Lässt man die

Frauen in den Vorstand oder bezieht sie in die Gemeindearbeit, dann haben wir mehr

Erfolg.“ (Yalcin K., S. 103)

Weitere wichtige Indikatoren für den Individualisierungsprozess sind das neue Selbstbewusstsein

der muslimischen Jugend in den Gemeinden und der Umgang mit den religiösen

Autoritäten sowie der Religion insgesamt. Die Sozialisation im Bildungssystem – unabhängig

von der Schulform – führt offensichtlich dazu, dass junge Menschen gegenüber

Lehrautoritäten versuchen auf „Augenhöhe“ aufzutreten. Muslimische Jugendliche in

den Gemeinden wollen sich bewusst für die Religion entscheiden und nicht blind den

Traditionen folgen, weil sie in der Gesellschaft Reflexionszwängen bezüglich ihrer Religion

und ihren religiösen Schriften ausgesetzt sind. In den Gemeinden kann dieses neue

Selbstbewusstsein der jungen Menschen oft Unsicherheiten auslösen:

„Also, so viele haben schon so feste Vorstellungen, wie sie ihren Glauben sehen, wie sie

auch ihre Vorstellungen vom Glauben auch leben möchten und sie gehen nicht immer

konform mit dem dortigen Imam um. Es gibt sehr oft, sage ich mal, Konflikte innerhalb

der Moschee auch, innerhalb der Gemeinde und das ist oft kein gutes Vorbild auch für die

anderen. Man kann auch viel diskutieren, soll man auch, aber da muss etwas Positives

bei herauskommen. […] Die Vorstände sind noch nicht wirklich darauf vorbereitet auf

diesen Wandel. Je nachdem auch, wie lange sie in dieser Moschee auch verankert sind.

Ich glaube, das ist auch ein wichtiger Punkt, weil es vielen schwer fällt, sich von seinen

alten Vorstellungen zu lösen. Sich zu lösen von den Hierarchien und den Vorstellungen,

um dann diesen Wandel mitzumachen und auch auf die jungen Muslime einzugehen.

Das ist ein wichtiger Punkt. Das funktioniert nicht so wirklich.“ (Anna S., S. 208)

Diese bisher skizzierten Unsicherheiten in der Umbruchsphase der Moscheegemeinden

werden verstärkt durch die wahrgenommene Kluft zwischen der offiziellen Lehre und der


2 Ergebnisse der empirischen Studie 277

Lebenswirklichkeit der Gemeindebesucher, die zwischen praktizierenden und nicht-praktizierenden

Muslimen differenziert:

„Für uns ist, wie soll ich sagen, ein guter Muslim ist der, der sich religiöses Wissen aneignet

und dieses Wissen in seinem Leben umsetzt. Das ist ein guter Muslim. Deshalb unterscheiden

zwischen den praktizierenden und nichtpraktizierenden Muslimen. Auch wenn man

nur wenig Wissen hat, aber dieses Wissen in die Praxis umsetzt.“ (Hayrettin G., S. 140)

Die Kriterien für einen praktizierenden Muslim werden in allen Moscheegemeinden nach

den Glaubenspraxiselementen angelegt, die auf der Internetseite des Landesverbandes

Schura Niedersachen – wie oben dargestellt – aufgeführt und auch vom Landesverband

DITIB geteilt werden. Wie noch unten auszuführen ist, spiegelt sich diese sogenannte 5+6

Formel auch in der Erwartung an die Lehrer des islamischen Religionsunterrichts wider,

weil diese Lehrkräfte eben im Auftrag der Gemeinden unterrichten:

„Ein praktizierender Muslim sollte so sein, wie es beschrieben es im Koran. Also nach

diesen fünf, also die werden nicht in der Reihenfolge, aber die kommen im Koran immer

wieder vor, die Grundlagen, das was die Kinder immer wieder lernen. Zuerst die

Schahada, dann die Geb.ete auszuführen, dann den Ramadan zu fasten, dann die Zakāt

zu geben und dann die Ḥağğ auszuführen, wenn man dazu in der Lage ist. Das ist ein

praktizierender Muslim. Manche würden auch sagen, er soll zum Guten rufen und vom

Schlechten abraten. Aber diese fünf Grundlagen, wenn man die befolgt, ist man dann ein

praktizierender Muslim.“ (Necat I., S. 223)

Interessant ist für die Untersuchung, dass sich die Heterogenisierung der Lebensstile und

eine Gemeindebindung nicht ausschließen. Alle interviewten Experten gaben an, dass

sie aufgrund von Äußerlichkeiten, an „lockeren“ Lebensstilen sowie der „nachlassenden“

Glaubenspraxis der Besucher der Mitglieder, diese Veränderungen wahrnehmen. In den

Augen der Gemeindevertreter sowie der Kerngemeinde sind es zwar keine praktizierenden

Muslime im Sinne der oben angelegten Kriterien, aber dennoch halten diese Menschen

den Kontakt zu den Gotteshäusern aufrecht:

„Diese Freunde sind Muslime, sind aber weit weg von Glaubenspraxis. Darüber sind sie

sich auch im Klaren. Darunter sind viele die Alkohol trinken, Glücksspiele spielen, in

die Diskothek gehen und ins Rotlichtviertel, aber sie sind traditionelle Muslime, haben

vielleicht auch religiöse Verhaltensweisen die auf Koran und Ḥadīṭe zurückgehen ohne

dass sie sich das im Klaren sind. Sie kommen trotzdem in die Moschee, weil sie wissen,

dass Gott barmherzig ist und alle Sünden vergibt, weil sie nicht aus dem Moscheen rausgeschmissen

werden wegen ihrer sündigen Lebensweise usw. Auch wenn sie den Islam

nicht praktizieren und kaum religiöses Wissen haben, zeigen sie zum Beispiel eine große

Ehrfurcht zum Propheten Muhammad.“ (Hamit A., S. 71)

Diese Heterogenität zeigt sich insbesondere bei den Freitagsgebeten, die sehr gut frequentiert

werden und den Gemeinden jede Woche nochmals die Vielfalt der muslimischen Lebensstile


278 B Empirischer Teil

vor Augen führen. Konträre Lebensstile, wie Hedonismus und das Aufsuchen der Moschee

an den Freitagsgebeten, scheinen sich arrangiert zu haben. Von den Gemeinden wird dies

geduldet, weil es sich um potenzielle „praktizierende“ und sich in Zukunft engagierende

Gemeindemitglieder handelt:

„Das kommt auf die Größe der Moschee an, aber ich denke zu den normalen Freitagen,

wenn es ein Feiertag ist, kommen so 300 Prozent mehr als sonst. Dann kommen wirklich

auch alle. Dann sind alle Hindernisse und Barrieren überwunden und es kommen dann

wirklich alle, wo man auch im türkischen sagt, auch die ‚Kahve-Cemaati‘ 693 . Sogar die,

von denen man das gar nicht erwartet, auch die mit Tätowierungen die sonst ein buntes

Nachtleben treiben. Also diese Verbundenheit zur Religion und die Religiosität ist den

Menschen von klein auf noch geblieben.“ (Hakki K., S. 275)

Gleichzeitig scheinen diese zur offiziellen Glaubenslehre konträr stehenden Lebensstile

dennoch Elemente der Orthopraxie zu beinhalten, sodass diese jungen Menschen selektiv

an Geboten und Verboten der Religion und auch am Gottesglauben festhalten. Eine

Parallele dazu wird von einigen Experten zu den säkularen oder zum Teil assimilierten

Juden in der deutschen Geschichte gezogen, die ähnliche Erfahrungen gemacht hätten,

wie Ahmet A. konstatiert:

„Was ich also, in der Begleitung junger Muslime, die hier in Hannover versucht haben

oder versucht haben zu studieren, gelernt habe, dass die Tatsache, dass jemand nicht in

die Moschee geht, überhaupt nichts über sein Moslem-Sein aussagt und zwar einfach

deswegen, weil er sich an die orthopraktischen Grundregeln hält. Er isst keine Bratwurst,

er trinkt zwar Bier, aber irgendwann betet er – ganz eigenartig – und vor dem Gebet reinigt

er sich, das heißt die Grundelemente des islamischen Sein, anders kann ich es nicht

ausdrücken, sieht er kommentarlos als Selbstverständlichkeiten seines Lebens. Ich will

nicht sagen, welche Kollegen, berühmter Mann, sehr weit politisch links, gefragt habe, der

mich erstaunt anguckte und verärgert war. Ich habe ihn nämlich gefragt, ob er jemals die

Einzigkeit Gottes aufgegeben habe, im Klartext den tawḥīd. Der hat mich dann verärgert

angeguckt und gesagt: ‚Nein.‘ Und ‚Haben Sie jemals die Einzigartigkeit des Korans und

Muhammads beiseite getan?‘ Nach einigem Zögern, mit hochrotem Kopf: ‚Nein.‘ Und damit

brach er das Gespräch ab. Das heißt, es gibt Grundelemente für die Entscheidung ‚Ich bin

Moslem‘, die offensichtlich in Distanzierung zu den gesellschaftlichen Formationen, Agglomerationen

oder sonst was nicht berührt werden und von dort her sich die Leute sagen:

‚Ich bin kein Christ.‘ […] Genau, das. Die verärgern ja auch damit die (Religions-)Lehrer.

Ich bin mir sicher, dass sie das auch gehört haben. Wenn Schüler auf sie zukommen und

sie fragen, ob das richtig ist was sie tun. Frage Nagellack im Ramadan, Toilettenpapier?

Ein ganz reizender Lehrer, den ich versucht habe in deutsche Situation einzuführen und

die jungen Leute, die orientierten sich an ihm. Die jungen Leute, wenn man entlang der

Straße lief, ihn sahen, lösten sich aus Gruppen und begrüßten ihn mit Handgruß, auf

der Straße. Und dann sagte er zu mir: ‚Der da hat eine russische Freundin, der da hat

693 Türkisch für die Besucher von Männer-Cafés.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 279

eine deutsche Freundin.‘ Der ging ganz anders um mit dieser Art von vorehelichem Sex,

aber Deutschland normal. Auch, woanders im Zug, das war offensichtlich eine Muslima,

und wir kamen ins Gespräch weil sie sah, dass ich las. Das war eine Art körperlicher

Umgang miteinander mit dem Jungen, der sie begleitete, wo ich mir dachte, das ist mir

doch egal. […] Man muss einfach aufpassen, dass wir in unserer historisch-kritischen

Art mit unserer Religionsvergangenheit umzugehen etwas anderes ist als die Reflexivität

unserer Gläubigkeit. Ich habe letztens in einem Expertenkreis gefragt, und da wurden die

etwas zurückhaltend, ist die Frage über die Art über die Religion zu reden de facto eine

Art Verdrängung der Frage der Gläubigkeit ist. Und je stärker du orthopraktisch argumentierst,

bist du stärker am Thema der Gläubigkeit. Ich beobachte das ja immer wieder,

hier in der Innenstadt in Hannover, auf der Georgsstraße, steht ein Knabe, der verkauft

Bratwurst jetzt. Ḥalāl. Du musst beobachten, wie Muslime kommentarlos dahingehen

mit ihren Kindern und Bratwurst kaufen. Der Bratwurststand Schweinefleisch steht 100

Meter entfernt am Koeppke, den kauft keiner. Wenn du das siehst, egal wie diese Muslime

distanziert zum Islam stehen oder zur Orthopraxie der Moschee, du findest sie nicht am

Schweinefleischstand. Ich habe immer wieder Einzelne, die sich bei mir orientieren, gesagt:

‚Ich lade dich zum Essen ein‘ und bin mit denen zu einem der Restaurants gegangen, die

gehobene Bürgerlichkeit darstellt. Es war unglaublich, welche Schwierigkeiten die hatten.

‚Steak?‘, ‚Ja gerne‘, ‚Durch oder Nicht-Durch?‘, ‚Wieso nicht durch?‘. Aus Verlegenheit

bestellte er beim ersten Mal ein Englisches, schnitt an und stellte fest, das blutet noch und

aß nur die Ränder. 694 Das zeigt, dass die Orthopraxie eine Selbstverständlichkeit ist, nicht

gläubig diskutiert wird. Das diskutiert keiner.“ (Ahmet A., S. 46, 53 f.)

In religionssoziologischen Studien zur Religiosität in Deutschland kristallisierte sich in

den letzten Jahren heraus, dass sich die Kirchenmitglieder zugleich auch von anderen Religionen,

wie dem Buddhismus oder esoterischen sowie New-Age-Bewegungen, inspirieren

lassen und Glaubenselemente davon übernehmen können. Bei den befragten Experten

lagen kaum Informationen darüber vor, dass in den etwa 160 Moscheegemeinden bei

Gemeindemitgliedern synkretistische Einstellungen oder Lebensstile existierten. Ebenso

werden in den Gemeinden kaum Konvertierungen registriert:

„Ja, es sind auch junge Menschen dabei. Und ein Effekt des Freitagsgebetes natürlich also

zum einen es ist natürlich einmal Pflicht keine Frage aber es ist auch eine Versammlung.

Dort treffen sich alle, da sieht man sich einmal die Woche. Auch wenn man sich nicht

grüßt man sich mal gesehen. Man weiß man war da. Noch, noch viel intensiver ist das

bei den ‘īd-Gebeten. Da sind, da ist das ganz das Gleiche, nur in größerer Anzahl und in

einem größeren Abstand. Da sieht man sich jedes ‘īd-Gebet, Leute die man vielleicht auch

sonst nie in der Moschee sieht, sind dann zum ‘īd-Gebet da. Und das ist jedes Jahr dann

so. […] Ja, also es gibt eine Vielfalt innerhalb der Jugendlichen die kommen, was ihren

Lebensstil anbetrifft. Das spielt teilweise nur den also die Vielfalt der youth-scene wieder,

die es in Deutschland auch gibt. Andererseits gibt es aber auch sehr dominante Szenen

694 Blut zählt wie auch im Judentum – genauso wie Fleisch von verendeten Tieren und Schweinefleisch

– zum islamischen Speiseverbot.


280 B Empirischer Teil

innerhalb der Jugendlichen, die so ja so ein bisschen so eine Mischung von manchmal so

ein bisschen Gangster, bisschen Hip-Hop, also es ist schon dominant. Es ist nicht diese

zum Beispiel diese Gothic oder wie die alle heißen, Szene die dominant ist, findet man

sehr selten. […] Die Leute definieren sich schon als Muslime. Es gibt das bekannte Beispiel

– das Schweinefleisch Essens. Also es gibt wirklich kaum einen Muslim, der Schweinefleisch

isst, aber sehr viele Muslime die nicht beispielsweise die fünf Gebete praktizieren.

Das weiß man so. Das ist schon so, dass man diese Grenze einhält und sich dadurch als

Muslim irgendwo definiert und nicht sagt ja gut das ist vielleicht meine christliche Kultur

oder christliche Seite. Synkretistische Seiten habe ich kaum gesehen. […] Also was das

Schweinefleischkonsum betrifft, das ist ja nicht das typische Bild eines ideal-Muslims. Das

ist eigentlich auch kaum Diskutierens würdig, muss gar nicht groß thematisiert werden.

Wenn der Gürtel zu eng gezogen wird, also das Bild des Ideal-Muslim, das sehr streng

ist, dann stößt das auf Dauer ab. Wenn die Vorstellung stößt es vor allen diejenigen ab,

die sich dem nicht mit dem nicht identifizieren können. Und wenn die Vorstellungen

allgemeiner gehalten werden, dann führt es nicht dazu, dass einen großen Kontrast gibt.

Es liegt aber auch in der Natur der Sache und so idealistischer das Bild ist, desto mehr

ist dann die Diskrepanz zu der Realität.“ (Adam E., S. 348)

Dies scheint ebenfalls ein quantitatives Randphänomen darzustellen, wie sich in den

Interviews mit den Experten herausgestellt hat. In den 1980er- und 1990er-Jahren haben

Gruppen wie die Zeugen Jehovas vor allem damit begonnen, auch türkische Migranten zu

missionieren; allerdings hatten sie eher bei den Menschen mit alevitischen Wurzeln Erfolg,

weil diese zu dieser Zeit noch kaum über eigene Gemeinden verfügten. Mit der Stärkung

des Organisationsgrades hat auch dieses Phänomen abgenommen. Bei den sunnitischen

Muslimen ist anzunehmen, dass diese sehr früh angelegte Organisationsstruktur in den

1970er-Jahren eine viel frühere „Immunisierung“ zur Folge hatte:

„Nein, sie nehmen nicht von anderen Religionen. Die kommen immer mit Fragen zu mir:

‚Warum ist das so in Islam und warum ist das im Christentum so.‘ Also ich habe auch

im Studium gelernt über Christentum, also wir hatten gelernt. Dann kann ich auch die

Fragen beantworten, vergleichen und resümieren und sagen, wie das im Islam aussieht.

Dann sagen die: ‚Ja, das macht Sinn im Islam, dass es so ist.‘ Zum Beispiel diese Dreiheit

im Christentum. Dann kommen die zu mir und fragen: ‚Ja, wie ist das so? Die sagen wir

glauben an einen Gott, dann sagen sie drei.‘ Dann erkläre ich, wie das im Islam ist, wer

Jesus im Islam ist und wer er war. Dann sagen sie: ‚Ja, das macht Sinn.‘ Nein, so etwas

gibt es nicht. Manchmal mache ich Hausbesuche bei meinen Mitgliedern. Einmal habe

in der Wohnung eines Mitglieds eine Buddha-Statue gesehen, aber die haben es nicht

dahingestellt, weil sie daran glauben. Da habe ich gefragt: ‚Warum hast du das hier aufgestellt?‘

[Dann kam die Antwort Anm. d. Verf.] ‚Ja, nur als Dekoration, weil es schön

ist.‘ Als ich das erklärt habe, was es ist, dann haben sie es weggemacht.“ (Necat I., S. 227 )

Die muslimische „Fassade“ wird also trotz der Pluralisierung der Lebensstile und trotz

der zur offiziellen Glaubenslehre der Gemeinden geführten konträren Lebensweise aufrechterhalten,

ohne dem Islam abzuschwören, ohne zu anderen Religionen zu konvertieren


2 Ergebnisse der empirischen Studie 281

oder anfällig für Synkretismus zu sein. Diese Orientierung und Einstellung der Gemeindebesucher

bekommen die Gemeinden spätestens dann mit, wenn bereits ein scheinbar

schon säkularisierter Muslim – unabhängig von der sozialen Herkunft – die Gemeinden

aufsucht, wenn er die muslimische Identität der Kinder als gefährdet ansieht, wie etwa

bei folgendem Beispiel bei interethnischen oder interreligiösen Heiraten, wo scheinbar

endgültig eine rote Linie überschritten wird:

„Also immer der Konflikt mit der Gesellschaft. Ich gehe raus aus der Moschee, dann bin

ich in einer anderen Welt als bei mir zu Hause. Dann die Frage: Wie gehe ich damit um?

Wie löse ich das Problem, wenn ich Kinder habe? Die Kinder bleiben jeden Tag acht

Stunden in der Schule und am Wochenende sind sie auch manchmal unterwegs? Dann

kommen sie nach Hause, wie löst man dann das Problem, dass ich keine Konflikte mit

den Kindern habe und dass sie überzeugt sind? Und dann auch, wie praktiziere ich den

Islam, so dass die Kinder merken: ‚Aha, Papa und Mamma tun das.‘ Also zum Beispiel

eine 19-jähriges Mädchen verliebt sich. Papa ist Araber, aber betet nicht und Mama ist

Deutsche. Ja, dann kam das Mädchen eines Tages mit einem Freund nach Hause. Der

Vater ist Arzt und hat Geld usw., da sagt die Tochter: ‚Vater, ich möchte dir meinen

Freund vorstellen.‘ Dann sagte der Vater: ‚Was soll das sein, wir sind Muslime‘. Dann

hat die Tochter den Papa zur Seite geschoben und gesagt: ‚Lass uns mal in Ruhe reden.

Du redest über Islam. Was hast du mir denn über den Islam gezeigt? Ich war noch nie

in einer Moschee, ich habe noch nie gebetet und wir waren noch nie im ḥağğ. Was hast

du mir zum Islam beigebracht?‘ Dann schämte sich der Vater und sagte ihr: ‚Bitte mach

mein Ruf nicht kaputt. Heirate ihn islamisch und er soll mindestens den Islam mündlich

annehmen, damit wir die Sache hier zu Ende führen.‘“ (Sharif M., S. 329.)

2.2.4 „Muslimisierung“ der Jugendlichen und Re-Ethnisierungsprozesse:

die Moschee als Ort kultureller Rückbesinnung

Eine mögliche Antwort auf das oben beschriebene Phänomen, dass die Menschen mit

muslimischen Hintergrund trotz der Individualisierungs- und Heterogenisierungsprozesse

die Moscheen immer noch als zentrale Glaubensbezugspunkte sehen und sogar an den

wöchentlichen Freitagsgebeten festhalten, scheint der Migrationskontext darzustellen:

„Ja, in Deutschland sind wirklich die Probleme, die Identität zu behalten, die Identität

zu wahren und nicht hier assimiliert zu werden, die eigene Identität nicht aufzugeben,

nur um hier akzeptiert zu werden. […] Identitätsverlust. Ich bin selbst in Deutschland

geboren und aufgewachsen, habe in meinen Jugend hier erlebt, dass man sein Platz in

der Gesellschaft gesucht hat. Dass man nicht wusste, wo man herkommt und wo man

tatsächlich hingehört. Hier in Deutschland war man der Ausländer, in der Türkei der

Deutschländer, aber schließlich hat mir die Religion hier in Deutschland die Identität

gegeben, ein Platz in der Gesellschaft gegeben und ich denke daher, dass es wichtig ist,

den hier aufwachsenden Muslimen und den neu angekommen Muslimen das so zu

vermitteln. […] Ja, ich sehe das zum Beispiel an meinem Sohn, wenn er zu Schule geht,


282 B Empirischer Teil

dann sucht er sich erstmal Freunde seiner eigenen Ethnie. […] Die Wurzeln sind, ja,

viele fahren immer noch mit ihren Kindern in den Urlaub, dadurch ist schon eine große

Verbundenheit da, auch wenn man da nicht mehr lebt, sondern nur zum Urlaub da ist.

Man hat viele Verwandte dort, man hat schöne Erinnerungen dort im Heimatland. Vieles

wird natürlich über das Elternhaus mitgegeben. Aber wie gesagt, diese Verbundenheit

zueinander, man ist halt in der eigenen Gemeinde stark und wo man irgendwo ist, dann

schauen die Jugendlichen erstmal: ‚Wo ist meine eigene Ethnie? Wer ist mir am nächsten?‘

Wir sind zwar in Deutschland angekommen, aber für die Deutschen sind wir noch nicht

hier angekommen.“ (Hakki K., S. 278)

Die Ethnisierungs- und Islamisierungsprozesse der muslimischen Kinder und Jugendlichen

scheinen dabei in verschiedenen Formen stattzufinden. Eine davon ist die Ethnisierung,

wenn die Kinder zu Türkeispezialisten gemacht oder erklärt werden. Dabei wird man

zu einem „Experten“ für gegenwärtige politische Entwicklungen erklärt, obwohl die

jungen Menschen so gut wie keine Informationen über das Herkunftsland haben. Seit

dem 11. September 2001 findet eine andere Zuschreibung statt: Erstens wird muslimisiert

und zweitens werden Schüler zu Theologen erklärt. Die Reaktionen aufseiten der Schüler

können unterschiedlich ausfallen. Eine Reaktion, von denen auch alle Experten im

Konsens sprechen, ist die, dass sich die Kinder und Jugendlichen gezwungen sehen, sich

stärker mit ihrer Religion auseinanderzusetzen, um auf theologische Fragen Antworten

zu bekommen. Eine weitere, destruktive Form ist, wenn Kinder als Ansprechpartner für

terroristische Anschläge in islamisch geprägten Ländern fungieren sollen. Nieke zeigt

in diesem Zusammenhang, dass Minderheiten auf den Akkulturationsdruck seitens der

Majorität drei Reaktionen aufweisen können: Die erste Reaktion nennt er „Restitution“,

wenn man aufgrund des „Diaspora-Effekts“ infolge der „Angst vor Orientierungsverlust“

in einer für die eigene Identität als „bedrohlich“ wahrgenommen Umwelt viel stärker an

ethnischen oder religiösen Merkmalen aus dem Herkunftskontext festhält. Diese Reaktion

ist als eine Art Copingstrategie zu verstehen. Die zweite Reaktion nennt Nieke die „Transformation“,

und zwar als Prozess der Akkulturation, wenn sich Minderheiten nach einer

Phase des strikten Festhaltens an den Merkmalen des Herkunftskontextes von ihren alten

kulturellen Orientierungen sowie ethnischen Identitätsmerkmalen zugunsten der Identifikationsangebote

der Mehrheitsgesellschaft verabschieden. Die „Variation“ ist die dritte

mögliche Reaktionsform. Unter dieser Copingstrategie sei zu verstehen, dass Minderheiten

nicht einfach nur, wie bei der Restitution, an Herkunftsmerkmalen festhalten oder in das

andere Extrem in Form der Transformation fallen, sondern sich durch Kreativität „neue

Variationen von Elementen aus der Herkunftsidentität und aus der umgebenden Mehrheitsgesellschaft“

als sogenannte „Bindestrich-Identitäten“ (z. B. Deutsch-Türke) bilden. 695

„Ja, bei den Gesprächsrunden mit den Jugendlichen erfahren wir, dass sie über diese

negativen Darstellungen des Islam mitbekommen. Das bekommen die aber schon aus

ihrem Umfeld mit, weil sie an Schulen oder Ausbildungsplätzen mit solchen Fragen konfrontiert

sind: ‚Ja, das waren wieder muslimische Terroristen, Fundamentalisten.‘ Durch

695 Vgl. Nieke, Kulturelle und ethnische Identitäten, S. 96 f.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 283

diese Fragen und Rechtfertigungen geraten die Jugendlichen in eine Krise, egal wo ich

bin bei meinen Gemeindebesuchen, egal welches Bundesland. Diejenigen in der Schule,

die solche Fragen stellen, wissen das der muslimische Jugendlichen nicht mit solchen extremistischen

Gruppierungen zu tun haben, werden sie gefragt. Die Jugendlichen wissen

nicht natürlich, dass der Islam das Töten verbietet, aber sie können es nicht theologisch,

also aus dem Koran heraus erklären. Das wird aber von ihnen erwartet, können aber

diese Verteidigungsrolle nicht erfüllen. Sie fangen an zwei, drei Sätze zu sagen, dann

können die Jugendlichen nicht mehr weiter und dann eskaliert die Situation, weil sie

dann mit einem lauteren Ton meinen, die Situation retten zu können. Auch hier wieder

hat es mit mangelnder religiöser Bildung der Jugendlichen zu tun. Die muslimischen

Jugendlichen, egal ob sie in religiösen Angelegenheiten Wissen haben oder nicht, werden

von den Deutschen zur Rechenschaft gezogen: ‚Sag schnell, warum ist das im Islam so, sag

mir deine Meinung.?‘ Wenn man die gleiche Frage einem deutschen Jugendlichen stellen

würde, würde er antworten: ‚Das weißt ich doch nicht, frag einen Priester.‘ Nicht mal das

könnten die muslimischen Jugendlichen sagen, weil der Imam in der Regel kein Deutsch

spricht und die Jugendlichen übersetzen müssten. Das könnten sie aber nicht, weil sie

die theologischen Begriffe nichts ins Deutsche übersetzen könnten. Die ganze Situation

ist ein Dilemma und die jungen Muslime sind betrübt und geknickt. Denn diese Fragen

hinsichtlich Terrorismus oder Fundamentalismus aus der Gesellschaft können sie auch

nicht mit ihren Familien aussprechen, weil die ebenfalls nicht religiös gebildet sind. Der

Vater sagt höchstens: ‚Das gibt es im Islam nicht und Ende.‘ Ja gut, aber warum nicht?

Wo steht das denn? Der Jugendliche möchte doch in der Schule usw. das vorlegen können.

Wo die Pflicht zum Gebet steht, dass könnten die Eltern vielleicht noch sagen, aber solche

Fragen zum Terrorismus usw., das eben nicht. Die Jugendlichen können also nicht in

den Schulen, nicht in den Moscheegemeinden und auch nicht in den eigenen Familien

Antworten auf ihre Fragen bekommen und bleiben daher wortlos. Sie sind zwischen den

unterschiedlichen Anschuldigungen gefangen und kommen da nicht raus, daher sind sie

in einer Art Depression. […] Wenn man unsere Jugendliche in der Gemeinde nach ihrer

Identität fragt, sagen sie: ‚Ich bin ein Türke.‘ Aber weil sie Probleme in der Schule haben,

oder in der Ausbildung oder an der Universität, sagen sie oft: ‚Ich möchte zurück in die

Türkei.‘ Wenn man die dann so über die Türkei ausfragt stellt man sofort fest, sie haben

überhaupt keine Informationen über das Land. Weder Geografie, noch soziale Bedingungen,

nichts. Sie wissen nur, dass ihre Väter oder Großväter in der Türkei geboren sind und

verstehen sich daher auch als Türken, auch wenn sie schon deutsche Staatsbürger sind. Sie

wollen einfach die Probleme hier liegen lassen und in die Türkei zurückkehren. Ich weiß

nicht genau, warum das so ist, aber ein Grund ist sicherlich der, dass andere deutsche

Jugendliche sie nicht akzeptieren. Sie als Menschen zweiter, dritter Klasse betrachten. Ich

habe das an meinen eigenen Kindern erlebt. Sie waren auf einem Gymnasium, habe beide

die deutsche Staatsbürgerschaft und im Politikunterricht, immer wenn es um Migranten

ging, wurden sie gefragt: ‚Ihr seid doch auch Ausländer, sagen sie mal warum das so und

so ist.‘ Obwohl neben ihnen Aussiedler aus Russland saßen, die vielleicht gerade mal

zwei, drei Jahre in Deutschland sind, werden sie nicht gefragt. Auch nicht die Portugiesen

oder Griechen werden nicht gefragt, aber meine Töchter sind Ausländer für den Lehrer.

Wie geht das eigentlich, wenn man die deutsche Staatsbürgerschaft hat, dass man noch


284 B Empirischer Teil

Ausländer ist? Die Aussiedler aus Russland sprechen gebrochen Deutsch, werden aber

nicht gefragt. Diese Diskriminierungserfahrungen führen eben dazu, dass viele junge

türkischen Muslime in die Türkei gehen möchten, obwohl sie nicht mal richtig Türkisch

sprechen können. Wenn die Jugendlichen unter sich sind, sprechen sie ein Mischmasch,

deutsch-türkisch. Wir haben es versucht dieses Problem zu lösen, indem meine Frau nur

Türkisch und ich nur Deutsch mit unseren Kindern spreche. Diese Türkeiorientierung

zeigt sich auch bei Nationalspielen, weil die türkischstämmigen Jugendliche immer für die

türkische Nationalmannschaft sind, auch wenn ein Mesut Özil oder andere Migranten in

der deutschen Nationalmannschaft spielen. Fragst du die Jugendlichen mal über die türkische

Politik, können sie dir nichts sagen, vielleicht den Namen des Ministerpräsidenten,

aber mehr auch nicht und dennoch sind sie beim Fußball für die Türkei.“ (Yalcin K., S. 93)

Diese Zuschreibungen werden nach den Aussagen der Experten verstärkt, wenn praktizierende

junge Muslime ihre Religiosität offen zeigen und auf ihr „Muslimsein“ beschränkt

werden. „Orthopraxie“ sei schon mittlerweile ein Synonym für „Fundamentalismus“. Der

Hintergrund dieser Annahmen seitens der Experten könnten auch die verdachtsunabhängigen

Moscheekontrollen an den Freitagen sowie die geplante, in der Öffentlichkeit

kontrovers diskutierte Checkliste des Landesinnenministeriums sein, wonach schon der

Beginn von orthopraktischen Handlungen wie den täglichen Gebeten ein Indiz für einen

Radikalisierungsprozess sein könnte. Dass diese vermeintlichen „Präventionsstrategien“

im Grund nur Stigmatisierungsprozesse forcieren und die Muslime in Niedersachsen

unter Generalverdacht gestellt werden, wird von den Behörden nicht in Betracht gezogen:

„Dort wird also in einer erstaunlichen Art und Weise mit der Säkularisierung umgegangen,

für mich ganz verblüffend, ohne dass es reflektiert wird habe ich den Eindruck, wird mit

den methodischen Atheismus umgegangen, der ja für westeuropäischen Universitäten zur

Normalität geworden ist. Das ist genau das, wovor alle Innenminister Angst hatten, und

was die meisten ja sehr missinterpretieren, und das sage ich mal ganz böse: Jemand, der

sich am Islam hält, sich also orthopraktisch korrekt verhält, also fünf Mal am Tag betet,

jedes Mal sich vorher reinigt, Ramadan korrekt hält, wird von unseren Leuten, von den

Politikern sofort als fundamentalistisch eingeordnet. Das ist es nicht. Das ist eine andere

Art der Gläubigkeit.“ (Ahmet A., S. 57)

Die von den Gemeinden wahrgenommene institutionelle Diskriminierung auch im Bildungssystem

beruht vor allem auf den Erfahrungsberichten der Jugendlichen selbst, wie

das folgende Beispiel illustriert:

„Ṯurayya K.: Von den Jugendlichen kriegt man manchmal schon was mit. Dass die dann

sagen: ‚Ich habe im Unterricht türkisch gesprochen. Mein Lehrer hat mich rausgeschmissen.

Er ist ein Rassist.‘ Das wird dann so wirklich auf das Minimalste reduziert, obwohl

der Junge vielleicht seinen Lehrer wirklich beschimpft hat und deswegen rausgeflogen ist.

Also, so manche Sachen werden einfach ausgelassen, deswegen kann man denen nicht

wirklich alles glauben, da muss man manchmal differenzieren. Aber manchmal haben

wir das wirklich. Das besonders bei uns, an einer Schule, haben wir wirklich einen Leh-


2 Ergebnisse der empirischen Studie 285

rer der wirklich diskriminierend ist, der das auch zugibt, aber da kommt halt irgendwie

keiner dran.

I.: Er gibt das zu?

Ṯurayya K.: Er gibt das zu, ja: ‚Er ist ein Türke. Ich mag das nicht. Ich mag die nicht.‘, das

sagt er, ja. Aber irgendwie kann man das dem nie nachweisen und da ist der Rektor da

sehr nachsichtig mit ihm, dass er dann sagt: ‚Komm her, ich verwarne dich jetzt. Ändere

das.‘ Er sagt dann: ‚Okay, ich ändere das.‘ Läuft dann bisschen halt bis zum Winter gut

und nach dem Winter dann wieder schlechter.“ (S. 402)

Nach den Erfahrungsberichten der muslimischen Gemeinden werden Ausgrenzungserfahrungen

bei muslimischen Jugendlichen desto stärker gemacht, je mehr sie ihre Religiosität

etwa in Form von Kleidungen nach außen hin zeigen. Diese Berichte decken sich mit der

Langzeitstudie des Gewalt- und Rassismusforschers Wilhelm Heitmeyer im Hinblick auf

„gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“. Im Kontext der „Islamfeindlichkeit“ zeigt

das Forscherteam, dass antimuslimische Ressentiments auch nicht nur an den „rechten

Rändern“ steigen, sondern auch in der politischen Mitte, bei Linksliberalen und auch Besserverdienenden.

Ein höheres Bildungsniveau schließe Muslimfeindlichkeit nicht aus. 696

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Charlotte Schallié und Wassilis Kassis. In einer

international vergleichenden Untersuchung zu antisemitischen und antiislamischen Einstellungen

bei Studenten der Universitäten Osnabrück und Vancouver (n = 1800) konnte

festgestellt werden, dass antisemitische und antimuslimische Einstellungen stark ausgeprägt

sind. Das Ergebnis widerspricht also der These, dass sich rassistische Vorurteilsbildungen

mit zunehmender Bildung – und damit eigentlich höherer Reflexionsmöglichkeiten über

eigene Denkmuster – abschwächen. 697

„Ich habe da mal ein persönliches Beispiel von meiner Tochter. Sie hat mit sechzehn ihr

Kopftuch aufgetragen, auch freiwillig, selbst dazu entschlossen und ich wusste an dem Tag

auch nichts davon, dass sie so zur Schule geht. Das hat sie so überlegt und auch gemacht.

Von einigen in der Schule wurde es dann auch gut gefunden, aber ganz vielen wiederum

wieder ganz runtergemacht worden, so: ‚Ey, Aische!‘, wo dann auch wirklich die Grenze

für einen Jugendlichen erreicht ist, also man muss da wirklich erstmal sehr stark sein,

um den Anfeindungen Stand zu halten. […] Das bewirkt erstmal ein ganz mieses Gefühl

und Persönlichkeit geht da erstmal ein bisschen runter. Das Persönlichkeitsgefühl ist erst

mal angeknackst und dann müssen da auch, das denke ich, wieder aufgebaut werden

vom Elternhaus. Ja, dass man die unterstützt.“ (Anna S., S., 218 f.)

696 Vgl. zum Beispiel den letzten Band der zehnteiligen Reihe: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche

Zustände. Folge 10, Berlin 2012

697 Wassilis Kassis/Charlotte Schallié, The Dark Side of the Academy: Antisemitism in Canadian

and German Students”. Journal for the Study of Antisemitism 5(1), S. 71 ff./Wassilis Kassis/

Charlotte Schallié, Anti-Muslim Sentiment on Campus: A Cross-Cultural Analysis of Two

University Populations”. HIKMA Journal of Islamic Theology and Religious Education, Freiburg

2014 (i. E.)


286 B Empirischer Teil

Eine andere Quelle für diese Erfahrungsberichte der Gemeinden mit den Schulen bilden

die muslimischen Eltern, welche die Moscheevorstände als Mediatoren für die Austragung

von Konflikten betrachten:

„Ja, ja und das nicht nur wegen Islamunterricht, sondern vielen Kleinigkeiten zum Beispiel

auch Diskriminierung, weil eine Schülerin Kopftuch trägt und ein Fall hatten wir. Ein

muslimisches Mädchen brauchte noch einen halben Punkt, bis sie ihr Abitur bekommen

sollte. Da sagte die Lehrerin zu ihr: ‚Ja, wir brauchen ja auch noch Putzfrauen.‘ Ich denke

aber, das bleibt unterschwellig, aber das bleibt. […] Ja, aber manchmal berichten sie mir

davon, aber ich habe nicht die Zeit, weil ich nicht mit dem Imam sitze, weil ich so viel

Arbeit, so viel Stress hier habe ehrenamtlich. Das ist auch ein Dilemma, darüber habe

ich ja gesprochen. Manchmal rufen Leute an und fragen: ‚Ja, was sollen wir machen?‘

In solchen Fällen vermitteln wir zwischen Schule und Moschee, also wir sind dann die

Vermittler zwischen Eltern und Schule. Wenn es manchmal gar nicht, dann gehen wir

zum Schulamt oder vor Gericht.“ (Sharif M., S. 316)

Bei den muslimischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund fördern nach Aussagen

der Experten diese Islamisierungs- und Ethnisierungsprozesse offenbar die stärkere Identifikation

mit dem Herkunftsland der Eltern und Großeltern und steigern das Interesse,

mehr über den Herkunftskontext zu erfahren, weil sie eine Art „Germanisierungspolitik“

befürchten:

„Also über 90 Prozent der Jugendlichen, die ich kenne, die ihre Herkunftsland nicht kennen,

Türken, Iraner usw., identifizieren sich mit dem Land ihrer Eltern und Vorfahren, fühlen

sich verbunden und wollen da hinreisen. Es kann sein, dass in diesem Land vieles falsch

läuft, aber sehen die nicht, weil die nostalgisch sind oder sich eine Scheinwelt aufgebaut

haben. Sie sehen dort eine heile Welt, aber das ist nur Bindungsgefühl. Ich habe mal ein

Buch über die Kinder Israels gelesen. Als sie in der Knechtschaft in Ägypten waren, haben

sie bis zum Exodus immer ganz fest an ihrer jüdischen Religion und Identität gehalten,

weil sie unterdrückt wurden als Minderheit. Nachdem sie Moses aber aus Ägypten befreite

und sie über das Rote Meer führte in die Wüste, begannen die Kinder Israels plötzlich

damit die Ägypter nachzuahmen, obwohl sie weit weg vom dem Land ihrer Unterdrücker

waren. Ich glaube, dass diese Geschichte eine soziologische Tatsache beinhaltet, nämlich

Menschen unter gesellschaftlichem Druck erst recht auf ihrer Identität pochen, weil sie

Angst haben, diesen zu verlieren.“ (Hamit A., S. 71)

Die gemeinsamen Ausgrenzungserfahrungen als Minderheit fördere den internen Schulterschluss

vor allem in sozialräumlich segregierten Wohngebieten, wo die sozialen Netzwerke

eher homogen seien:

„Das macht natürlich die Jugendlichen die kriegen das natürlich mit. Das Problem ist,

dass die Jugendlichen gleich emotional sind und sich dann halt ja, ich sag mal, sie sind

dann schon frustrierend, haben dann schon ihre Hassgefühle, ohne überhaupt darüber

nachzudenken, was sie selber überhaupt leisten in der Gesellschaft. Sie sagen dann ja


2 Ergebnisse der empirischen Studie 287

man spricht schlecht über den Islam, also möchte ich sagen wir mal zum Beispiel mit

den Christen nichts zu tun haben. Dann sind sie wieder untereinander, versuchen dann

untereinander irgendwie durchzukommen, versuchen sich dann auch irgendwo zu stationieren

überhaupt irgendwo zu zeigt ja wir sind Muslime wir sind schon anders, aber

wir kommen auch so durch. Wir brauchen euch nicht. Wobei das dann halt natürlich

eine Gesellschaft dann aber auch quietscht und knatscht, sag ich mal. […] Sehr. Zum

Beispiel, dass sie in der Schule diskriminiert werden, dass der Lehrer trotz der gleichen

Leistung die schlechterer Note gibt – den Nicht-Muslim die bessere Note gibt. Oder das die

Mädchen darauf angesprochen werden, ob sie überhaupt, wenn sie überhaupt Kopftuch

tragen, wenn sie bedeckt sind, ob dann überhaupt die Mama Kopftuch trägt, was die

Mama dazu sagt und ob man dazu gezwungen wird. Man fragt nicht was die Mädchen

überhaupt dazu bringt sich so religiös auszuleben oder überhaupt sich zu einer gewissen

Kleidungsvorschrift bekennen, auch nach der Kleidungsvorschrift zu leben, sondern man

geht gleich mit speziellen Fragen voran. Dass man kontert gleich mit den knallharten

Fragen hat natürlich bei den, sage ich mal bei den Muslima auch gewisse, ja, sie bauen

da einfach ihre Fronten auf. Sie denken dann ja der Lehrer hat mich gleich das und das

gefragt. Er hat nicht gefragt warum, was mich dazu bewegt hat, sondern trägt deine Mama

auch Kopftuch, spricht ihr zu Hause türkisch oder deutsch, guckt ihr überhaupt deutsches

Fernsehen, deutsche Sender – solche Sachen. Wenn überhaupt von der Lehrer Seite auch

solche Fragen kommen, dann finde ich das aber auch normal, dass die muslimischen

Jugendlichen gleich mit einer ganz anderen Sichtweise dem Lehrer gegenüberstehen und

überhaupt dem Lehrer halt mit der Sicht also gucken.“ (Esma B., S. 420)

Aufgrund der Enttäuschung über die Integrations- und Einwanderungspolitik in den

USA begann in den 1970er-Jahren unter den Migranten die soziale Bewegung des ethnic

revival, die gegen eine Assimilationspolitik der Neokonservativen und auch gegen Integrationsmaßnahmen,

wie gegen die affirmative action, protestierte, die man wie unter den

Afro-Amerikanern nur zur Besserstellung der ohnehin schon privilegierteren Schichten

dienend betrachtete. Diese Enttäuschung führte dazu, dass man sich in ethnisch definierten

Interessengruppen zusammenschloss, um für die eigenen Rechte zu kämpfen. 698 Wie

Annette Treibel jedoch aufzeigt, wurde den Migranten mit polnischen und italienischen

Wurzeln, deren Eltern oder Großeltern in die USA eingewandert waren, eine symbolische

Ethnizität oder Identifikation „mit nostalgischen und konservativen Zügen“ attestiert,

was keine Aussagekraft über die tatsächlichen Integrations- oder Assimilationsleistungen

dieser Gruppen hatte. Ausgrenzungserfahrungen könnten genauso zu einer offensiven

Reaktion und zur Aktivierung ethnischer Symbole führen wie bei sozialen Aufsteigern,

die allerdings diese Merkmale so einsetzten, dass es zu keinem Interessenkonflikt mit der

Mehrheitsgesellschaft kommt. Bei der letzten Gruppe muss es sich allerdings nicht um

einen Prozess des ethnic revival handeln, weil einfach die soziale Mobilität eine Migrantengruppe

anhand deren ethnischer oder religiöser Symbole wahrnimmt. Das heißt, diese

waren immer da, mussten also nicht reaktiviert werden, sondern fielen bisher in der Ge-

698 Vgl. Han, Soziologie der Migration, S. 297, 302 u. 320


288 B Empirischer Teil

sellschaft nur nicht auf. 699 In Deutschland sind beide Prozesse zu beobachten: Einerseits

der soziale Aufstieg von Muslimen, insbesondere Frauen mit Kopftüchern, die aufgrund

höherer Bildungsabschlüsse und Berufsqualifikationen zunehmend in der Öffentlichkeit

wahrgenommen werden, obwohl es sich hier nicht um eine „religiöse Rückbesinnung“

handelt. 700 Auf der anderen Seite ist ein Prozess des ethnic revival zu beobachten, im Zuge

dessen die symbolische Ethnizität 701 eine immer größere Rolle spielt, ungeachtet der tatsächlichen

gesellschaftlichen Integration:

„Also, die fühlen sich wirklich so, als wären sie in Bosnien geboren. Das war für mich

sehr verwirrend und eigenartig was ich da sehe, weil die in Deutschland geboren sind.

Da gibt es diese dritte Generation, deren Großeltern nur in Bosnien geboren sind und die

zweite Generation ist in Deutschland geboren. Die sagen immer noch ich bin Bosniake.

Die tragen Hemden und was weiß ich, und die fühlen sich richtig so. […] Ja, T-Shirts mit

Schriften: ‚Ich liebe Bosna‘ oder so, oder eine Flagge. Und wenn Bosnien ein Fußballspiel

hat, kommen alle mit diesen T-Shirts und die fühlen sich so, als wären sie Bosniaken. Die

Sprache können sie nicht gut, grammatisch nicht so gut, weil das ist auch verständlich,

weil die haben in Schulen das nicht gelernt, wie man bosnisch schreiben kann, wie man

sprechen kann. Aber das tue ich dann mit den hier im Unterricht, weil ich ihnen diktiere

und sie müssen dann bosnisch schreiben. Danach gucke ich, ob das richtig ist und die

lernen noch dazu, also die bosnische Sprache und Islam hier und die Eltern unterstützen

das. Und mehrmals muss ich auf Deutsch sprechen, weil ich sehe, die können das nicht

verstehen. Ich sage zum Beispiel: ‚Auf Bosnisch heißt das so. Habt ihr verstanden?‘, dann

sagen sie: ‚Ja.‘ Wenn ich sie dann frage: ‚Kannst du das bitte wiederholen? Was hast du

verstanden?‘ Dann sagen sie, ja, dann muss ich das auf Deutsch erklären und dann

699 Vgl. Annette Treibel, Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung,

Gastarbeit und Flucht, Weinheim und München 2003, S. 195 ff.

700 Der Satz, dass Frauen mit Kopftüchern immer mehr werden, ist eben eine verzerrte Realitätswahrnehmung,

weil es sich überwiegend um das Ergebnis von sozialer Mobilität handelt. Typisch

hierfür sind die Konflikte um kopftuchtragende Frauen im Schuldienst. Diese Frage wird in

den nächsten Jahren aufgrund der flächendeckenden Einführung des Religionsunterrichts und

der großen Nachfrage nach Religionslehrern massiv zunehmen, denn bereits jetzt gibt es in

Niedersachsen öffentliche Diskussionen über den Sinn des Kopftuchverbots für Lehrerinnen

an öffentlichen Schulen. Die niedersächsische Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe

hatte bereits vor ihrem Amtsantritt in den Medien signalisiert, das Kopftuchverbot nochmals

überprüfen zu lassen. Die beiden muslimischen Landesverbände Schura und DITIB drängen

aufgrund der großen Nachfrage nach Religionslehrerinnen auf eine Lösung; vgl. „SPD will

bei Wahlsieg Kopftuchverbot überprüfen abgerufen unter: http://www.haz.de/Nachrichten/

Politik/Niedersachsen/SPD-will-Kopftuchverbot-bei-Wahlsieg-ueberpruefen [26.12.2013]

701 Man darf die geografische Nähe zu Herkunftsländern, vor allem in einer globalisierten Welt,

nicht unterschätzen. Der ethnic revival in den 1970er-Jahren in den USA fand unter anderen

Bedingungen statt. Die Globalisierung der Kommunikationsmöglichkeiten war zum einen

nicht so intensiv wie heute, und zudem war die geografische Distanz zu Ländern wie Polen

und Italien einfach zu groß. Die Türkei dagegen liegt nur 2½ Flugstunden entfernt, und zudem

werden noch Verwandtschaftsnetzwerke gepflegt, wobei auch durch die Heiraten in Deutschland

allmählich das Verwandtschaftsnetzwerk hierzulande stetig wächst.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 289

verstehen sie es richtig. Und dann übersetze ich das auf Bosnisch. So geht das. Da kenne

ich auch Nachbarn, die überhaupt nicht bosnisch sprechen können, aber die Eltern sind

daran schuld. Die Eltern wollten kein bosnisch sprechen zu Hause, die haben nur Deutsch

gesprochen.“ (Necat I., S. 227 f.)

Wie aus dem oben Gesagten deutlich wird, ist dieser Prozess vor allem bei den Balkanmuslimen

zu beobachten. Aktuell ist er bei den muslimischen Kosovoalbanern zu verzeichnen,

wo er aufgrund des Krieges und der in dessen Folge erreichten nationalen Unabhängigkeit

zu einem ethnischen Selbstbewusstsein führte. Diese Entwicklung des ethnic revival hierzulande

spiegelt die politischen Prozesse der post-cold war period im ehemaligen Jugoslawien

wider, wo die ethno-nationalen Identitätskonstruktionen eine größere Rolle spielten. 702 Bei

den muslimischen Bosniern trat dieser Prozess in den Kriegsjahren 1992–1995 ein, wobei

die Religion von allen Kriegsparteien – Serben, Kroaten und Bosniern – als Synonym für

ethnische Herkunft verwendet wurde. Ein ethnic revival in Deutschland ging daher mit

einem neuen ethnischen und religiösen Selbstbewusstsein einher, in dessen Folge die

Moscheegründungen der Bosniaken zunahmen:

„Das gibt es natürlich, wobei diese bosniakisch geprägte Identität ist nicht so stark wie

bei der ersten oder zweiten Generation, aber dieser Bezug ist durchaus vorhanden und ist

nicht zu bestreiten. Das ist gar nicht zu bestreiten. Es ist sogar in manchen Situationen

so, dass diese Identität, in manchen extremen Situationen, in Anführungszeichen, diese

Identität überwiegt, weil das eine Trotzreaktion sein kann. Das merke ich zum Beispiel

auch bei meinem Sohn, wenn er in irgendwelchen Situationen verwickelt ist, dann reagiert

er aus Trotz heraus: ‚Ich bin Bosnier, ich trage eine bosnische Fahne und einen bosnischen

Namen. Ich gehe nach Bosnien und dort fühle mich wohl usw.‘ Also mit Bosnien sind

schöne Bilder verbunden, also Bilder die etwas Schönes in einem hervorrufen, während

Deutschland, also die Lebenswirklichkeit wozu auch natürlich etwas negatives gehört,

wie z. B. wenn mein Sohn keine Lust auf Schule hat. Das ist für ihn dann manchmal problematisch

und das ist nicht selten in anderen Familien so. […] Also, diese bosniakische

Mentalität, die muslimische Mentalität, manche machen keine Unterschiede zwischen

diesen beiden, sie ist aber durchaus vorhanden in der dritten Generation, aber wie gesagt,

nur auf der Ebene einer schönen Erinnerung. Ich würde die Zahlen der Mitglieder nicht

direkt mit der Religiosität messen. Das kann zwar ein Merkmal sein, aber nicht unbedingt,

weil ich selbst erlebt habe, dass die Religiosität keine Grundlage bilden muss, dass

eine Gemeinde überhaupt entstehen muss, sondern da spielen womöglich auch andere

Gründe eine Rolle, wie zum Beispiel meine Gemeinde, die ich gegründet habe 1993 in

Castrop-Rauxel mit den dort ansässigen bosniakischen Muslime. Die Religiosität spielte

in diesem Zusammenhang aus meiner Sicht nicht die primäre Rolle, sondern eher die

Geschehnisse während des Krieges in Bosnien und zwar auf eine Art und Weise, dass man

festgestellt hat, in Bosnien werden Muslime getötet. Ob sie praktizierend, gläubig, religiös

waren oder nicht, spielte überhaupt keine Rolle. So aus dieser Ausgangsposition heraus

702 Vgl. Jasvir Singh, Problems of Ethnicity: Role of United Nations in Kosovo Crisis, Chandigarh

2008, S. 12 f.


290 B Empirischer Teil

haben sich viele gefragt: ‚Was bin ich? Wo gehe ich hin, also wo gehöre ich hin?‘ Und aus

solchen Überlegungen heraus, sind dann die Gemeindegründungen entstanden, nicht nur

Castrop-Rauxel, sondern in vielen anderen Städten. Das ist ein Phänomen, dass ich in

meiner Magister-Arbeit untersucht habe, dass diese Zeit, 1992, 1993, 1994 und 1995, in

der die meisten bosniakischen Gemeinden entstanden sind. Dass dabei die Religiosität

eine Rolle spielte, steht nicht im Vordergrund, sondern eher die Geschehnisse in Bosnien,

die sich natürlich auch bei einigen auf die Religiosität ausgewirkt hat, dass man sich dann

wirklich auch hinterfragt hat, also die eigene Religiosität hinterfragt hat, man hat also

reflektiert, also bewusst natürlich und irgendwann ist man dazu gekommen zu sagen:

‚Ok, ich muss jetzt etwas unternehmen.‘ Und dieses praktische Unternehmen zeigte sich

auch dadurch, dass man die Gemeinden gegründet sobald der Krieg vorüber und das

Töten aufgehört hat, wurden die Zahlen allmählich weniger, auch die Zahl derjenigen, die

zu den Freitagsgebeten kamen, auch weniger. Und ein weiteres interessanten Phänomen

was ich hatte ist, dass Jugendliche plötzlich begannen äußere Merkmale der islamischen

Religion zu zeigen, zu tragen, wie zum Beispiel Halbmonde als Anhänger für die Kette.

Als ich dann die dazu fragte, bekam ich nicht selten die Antwort: ‚Ich bin doch Muslim.‘

Als ich dann nachfragte: ‚Was macht dich denn zum Muslim aus? Du betest doch gar

nicht. Du kommst ja gar nicht in die Moschee beziehungsweise du fastest ja gar nicht

usw.‘, also diese grundlegenden religionspraktischen Sachen. Darauf wussten sie keine

Antwort. Ihre Religiosität spielte sich also eher in den Symbolen ab. Das war wichtig, und

das sie auch zum Beispiel in die Diskotheken, auch also gerade in die Diskotheken, wo

die bosniakischen Feinde zu der Zeit, wo die Serben und Kroaten verkehrt haben, dass

sie sogar in solchen Diskotheken verkehrten als eine Art Trotzreaktion und: ‚Hier könnt

ihr mir nichts antun im Gegensatz zu Bosnien.‘“ (Esref B., S. 27 f.)

Eine dritte Form ist das nur religiöse Wiedererwachen ohne Akzentuierung der Identität

bei Neueinwanderern beziehungsweise Flüchtlingen, welches die Experten in den Gemeinden

schon über einen sehr langen Zeitraum beobachten und das mit der These der

Binnenintegration von Georg Elwert korrespondiert. Diese These von Elwert geht davon

aus, dass Integration in die Gesamtgesellschaft erst die Integration in die durch „emische

(kulturimmante) Grenzen definierte Subkultur“ voraussetzt, um den „Zugang zu einem

Teil der gesellschaftlichen Güter einschließlich solcher Gebrauchswerte wie Vertrauen,

Solidarität, Hilfe usw.“ zu erhalten, der über die sozialen Netzwerke in der eigenen

Gemeinschaft vermittelt wird. Erst diese Vorbereitung und Hilfen aus den ethnischen

Binnenstrukturen verhelfen nach Elwert den Einwanderern also zur gesellschaftlichen

Partizipation. 703 Der Kulturschock in der neuen Gesellschaft wird also dadurch reduziert,

dass sich diese Menschen – die auch aus sehr säkularen Familien stammen können – ganz

nach der Formel „back to the roots“ wieder zum Islam bekennen:

703 Vgl. Georg Elwert, Probleme der Ausländerintegration. Gesellschaftliche Integration durch

Binnenintegration?, in: Arbeitsberichte und Forschungsmaterialien der Fakultät für Soziologie,

Universität Bielefeld, Nr. 30, Juli 1982, S. 717 ff.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 291

„Ich muss noch eines dazu sagen, dass ich oft gesehen, dass viele Menschen, Familien, die

in ihren Ländern nicht religiös waren. Familie, die aus islamischen Ländern kommen,

die waren in ihren Ländern so gar nicht religiös, weil die sich gar nicht daran gedacht

haben und sie haben es gar nicht praktiziert und sie haben die Religion einfach abgelehnt.

Als sie hierhin gekommen sind suchten sie sich etwas, woran sie sich festhalten konnten,

sich daran anlehnen konnten sozusagen. Und dann haben sie gesagt: ‚Religion ist das

Beste.‘ Da ich selber aus einer Religionsgemeinde komme und wenn ich zurückblicke,

dann kann ich sehr viele Beispiele nennen, aber nur ein Fall, also ich war damals 13 und

dieser Mann war 30. Er kam zu meinem Vater und sagte: ‚Wir sind Muslime und ich

weiß das mein Großvater gebetet hat, meine Großmutter gebetet hat, aber seitdem haben

meine Eltern nicht gebetet und ich auch nicht. Ich möchte jetzt beten und ich weiß, dass es

etwas ist, woran ich glaube. Ich habe dieses hier nicht in meinem Heimatland gefunden,

aber innerlich sagt mir, es ist etwas, also das es etwas gibt. Bitte lehre mich, wie ich mich

als Muslim verhalten soll, was hat ein Muslim für Verpflichtungen. Bitte sage mir, wie

ich mich verhalten soll?‘ Mein Vater sagte ihm: ‚Alles was wir machen, machen wir nur

um ein besseres Leben in der Familie und in der Gesellschaft zu führen. Und das ist der

Islam. Ein Frieden zu Hause und ein Frieden in der Gesellschaft, und das ist schon der

Islam. Dafür natürlich gibt es Regeln, an die man sich halten muss wie überall auch, wie

bei der Arbeit oder in der Schule ist es nicht anders. Man geht zur Schule und zur Arbeit,

um ein besseres Leben zu führen.‘ Und dieser Mensch sagte zu meinem Vater: ‚Religion

in meinem Heimatland gab es in meiner Familie nicht.‘ Jetzt sind mittlerweile 30 Jahre

vergangen und er ist einer der religiösesten Menschen, der hier auch in Deutschland lebt

und auch sehr aktiv ist. Er ist auch Hodscha geworden, ein junger Mann dreißiger, der in

seiner Familie nicht religiös war, aber erst als er in Deutschland war, hat die Umgebung

gesehen und sich gedacht: ‚Es muss etwas geben.‘ Das ist auch kein Einzelfall, sondern bei

mehreren Familien so. […] Viele Fälle, besonders in afghanischen Familien, besonders

Kinder aus Familien kommen, die nicht so religiös sind und plötzlich werden die Kinder

viel religiöser, die sind aber bewusst religiöser. Die anderen, religiösen Menschen aus

Afghanistan sind oft religiös, weil die Eltern das gemacht haben. Erst vielleicht hinter

der Tradition hergegangen und erst später, viel später als Pflicht angesehen, aber gezielt

gebildet waren sie nicht. Was wir uns hier in Deutschland wünschen ist, auch von den

Verantwortlichen erwarten, dass ein gebildeter Islam sollen sie praktizieren beziehungsweise

darstellen. Dann sind wir beruhigt, wenn die Kinder diesen Weg nehmen oder nicht

nehmen, aber sie sind sich bewusst. Diese Bewusstsein ist wichtig, ob das jetzt Religion

ist oder etwas anderes.“ (Murtaza F., S. 256 f.)

Die Moscheen, die im Einwanderungskontext ohnehin einen multifunktionalen Charakter

einnehmen, werden somit auch für Neueinwanderer zu kulturellen Rückzugsorten. Für

den skizzierten Prozess bei den jungen Muslimen sehen Hans-Jürgen von Wensierski und

Claudia Lübeke eine „islamisch-selektiv modernisierte Jugendphase“, die auf folgenden

Faktoren beruhe:

„Erstens in der identitätsstiftenden Bedeutung eines kollektiv erfahrenen, aber individuell

verarbeiteten Migrantenstatus in der Bundesrepublik; zweitens in der weitgehend intakten


292 B Empirischer Teil

normativen Funktion islamischer Herkunftsmilieus als kollektiv verbindliche sozialmoralische

Milieus sowie drittens in dem Beharrungsvermögen traditioneller orientalisch-patriarchaler

Familienstrukturen in Deutschland“ 704

Vor dem Hintergrund dieser Faktoren beschreiben sie die biografischen Verläufe im

Migrationskontext wie folgt:

„Die potenzielle Individualisierung der Jugendphase junger Muslime vollzieht sich entsprechend

nicht auf der Basis westlicher Modelle individualisierter Jugendbiografien, sondern

auf der Basis einer spezifischen kulturellen Auseinandersetzung mit der eigenen ethnischen

und migrationsbedingten sozialen Identität sowie den traditionellen islamisch-patriarchalen

Strukturen der Elterngeneration. Das Ergebnis ist ein spezifisch ethnisch-muslimisch geprägter

Pluralismus jugendlicher Lebensstile, in denen jeweils in unterschiedlichen Synthesen westliche,

traditional-orientalische und islamische Ausdrucksformen amalgamiert werden.“ 705

In diesem Prozess der „amalgamierten“ biografischen Verläufe nehme daher die Bedeutung

der Moscheegemeinden insofern – vorerst – nicht ab, weil auf die ethnisch-kulturellen

Identifikationsangebote zurückgegriffen werden könne:

„Die Moscheen sind in jeder Hinsicht wichtig. Weil wir hier eine Minderheit sind, sind

die Moscheegemeinden unsere Gebetsplätze, Treffpunkte, Hochzeitssaale, Trauer- und

Kummerplätze, also ein Türe, die wir jederzeit für alle Situationen im Leben öffnen können.

Deshalb sind die Moscheen außerordentlich wichtig. Ich habe meine Erziehung in der

Türkei erhalten, aber die junge Generation in Deutschland wächst mit den Traditionen

und Kulturen dieses Landes auf. Wir bieten beispielsweise an den Wochenenden Islamunterricht

an und versuchen dort auch die Tradition und Kultur zu vermitteln, damit

diese Werte nicht in Vergessenheit geraten. Daher sind die Moscheen außerordentlich

wichtig.“ (Said Ö., S. 161)

Da die Moscheegemeinden schon nach ethnisch-kulturellen Kriterien gegründet wurden,

könne das „ethnische Potenzial“ jederzeit aktiviert werden:

„Also es kommt immer darauf an, in welcher Moschee man ist. Also normalerweise sind

die Moscheen schon ethnisiert. Also wir haben türkische und arabische Moscheen oder

afghanische oder so was zum Beispiel oder bosnische und dort findet man schon bestimmte

Eigenheiten vor. Es gibt einige wenige Moscheen, die gemischter besucht sind. Die zeichnen

sich aber auch dann dadurch aus, dass sie eben nicht so fest auf ihren vielleicht kulturellen

Hintergrund bestehen. Ich glaube schon, dass viele junge Menschen großes Problem haben

mit muslimischen Gemeinschaften, deswegen bilden sie ja ihre eigenen muslimischen Gemeinschaften

und selbst die sind oft untereinander gespalten weil im Gründe genommen

704 Hans-Jürgen von Wensierski/Claudia Lübeke, HipHop, Kopftuch und Familie – Jugendphase

und Jugendkulturen junger Muslime in Deutschland, in: Christine Hunner-Kreisel/Sabine

Andresen (Hrsg.), Kindheit und Jugend in muslimischen Lebenswelten. Aufwachsen und

Bildung in deutscher und internationaler Perspektive, Wiesbaden 2010, S. 170

705 A. a. O.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 293

diese Menschen halt nach dem richtigen Lebensmuster suchen, sag ich mal. Ich glaube,

dass viele Moscheen also hilflos sind, gerade pubertierenden Jugendlichen ein Angebot zu

machen, was ihre Fragen oder ihre Lebens-Situationen beantwortet. Ich glaube für viele

Jugendliche, die in die Moscheen gehen und entweder auf Jugendliche treffen, die sich

einfinden in diese Moschee-Muster und das ist aber nicht für jeden das Richtige und vor

allen Dingen für zum Beispiel Jugendliche, die nicht unbedingt Migrationshintergrund

haben oder nicht typisch türkisch oder arabisch geprägt sind, die wissen nämlich oft gar

nicht, wo sie hingehen sollen. Und ich glaub, das ist schwierig für Jugendliche in Moscheen

zu gehen und sich dort irgendwie beantwortet zu finden. Die haben ein großes Problem die

Konvertiten. Also gerade, was ihre Kinder betrifft. Also entweder man steckt seine Kinder

in die Moschee-Schule oder in die Moschee vom Herkunftsland vielleicht des Ehemannes

oder dem Land, dem sie sich emotional verbunden fühlen. Das heißt aber nicht, dass

man alle Mentalitäts-Sachen teilt. Das heißt irgendwann entweder man arrangiert sich

damit oder man sagt eben, man nimmt die Kinder raus, weil man das so nicht möchte

und steckt man sie, bringt man sie in andere Moscheen, kommen aber auch die Kinder

irgendwann in das Alter, wo sie sagen ‚Das ist eigentlich nicht meine Welt. Ich verstehe

weder die Sprache, noch ist die Art meine Art.‘ Und dann ja, wenn man ne große Stadt

hat wie Hannover, dann ist man vielleicht verzweifelt und nimmt seine Kinder dann einfach

immer mit in ganz viele verschiedene Moscheen und hofft, dass sie sich da irgendwie

wohlfühlen. Aber das ist echt ein Problem.“ (Amina F., S. 489 f.)

2.2.5 Zukunftsängste und Problemhierarchiekataster:

Die Auswirkungen der Transformationsprozesse für die

Rahmenbedingungen der muslimischen Gemeinden und

Reaktionen

Die oben genannten Entwicklungen führen dazu, dass zum einen noch die hohen Besucherzahlen

an den Freitagen und Feiertagen den Gemeindemitgliedern das hohe Potenzial

an Gläubigen in Deutschland vor Augen führen. Die große Masse, die noch jeden Freitag

sowie zu den Feiertagen in die Moschee kommt, lässt die Hoffnung bei den Gemeinden

entstehen, dass diese potenziellen Mitglieder mit den richtigen Angeboten stärker in die

Gemeinden involviert werden können. Zugleich kommt es trotz dieser großen Resonanz

bei den Besuchern und den (noch) stabilen Mitgliederzahlen zu Unsicherheiten und

Ängsten aufgrund des dargestellten Mosaiks an Lebensstilen und Milieus, die diesen

„großen Ballon“ jederzeit platzen lassen können. Die Ängste beziehen sich auf religiöse

und ethnisch-kulturelle Identitätsverluste sowie im Zuge dieser Dekadenz langfristig auf

eine analoge Entwicklung zu den Kirchen, die sich noch bis heute mit den Folgen der

Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse, wie Mitgliederverluste, theologische

Positionierungen zu aktuellen Themen und Reformdiskurse, sowie insgesamt mit einem

Verlust in ihrer Deutungshoheit – zum Teil immer noch sehr kontrovers – auseinandersetzen

müssen. Diese Krise hat die Kirche noch keineswegs überstanden. Darüber dürfen auch die

Massenveranstaltungen mit Jugendlichen bei Kirchentagen nicht hinwegtäuschen, denn

ein Zugehörigkeitsgefühl zur Kirche und synkretistische Glaubensauffassungen schließen


294 B Empirischer Teil

sich nicht aus, sodass also die offizielle Glaubenslehre der Kirchen nicht der Realität ihrer

Mitglieder entspricht. Die Kirchen verfügen über eine längere Tradition in Deutschland,

sie sind Körperschaften des öffentlichen Rechts, haben mehr finanzielle und personelle

Ressourcen und verfügen über zahlreiche theologische und religionspädagogische Fakultäten

und Institute, um sich adäquat mit den Säkularisierungs- und Individualisierungsprozessen

auseinanderzusetzen. Trotz dieser „optimalen“ Ausgangsbedingungen haben die Kirchen

es bis heute sehr schwer, sich mit diesen gesellschaftlichen Prozessen, vor allem mit deren

Auswirkungen auf ihre Mitglieder und Gemeindebesucher sowie deren Einfluss auf die

Schulen (Religionsunterricht), zu arrangieren.

Bei den Muslimen in Deutschland wurde in der obigen Analyse noch ein weiterer

Faktor deutlich, und zwar der, dass der öffentliche Raum als Risiko für die muslimische

Identität gesehen wird. Anders als die beiden großen Kirchen und ihre Mitglieder sind

die Muslime in einer Diaspora-Situation. Als Minorität in einer mehrheitlich säkular und

zugleich christlich geprägten Gesellschaft sind sie – aus ihrer eigenen Wahrnehmung

heraus – mit zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert. Wie oben dargestellt, sind es

gesellschaftliche Zuschreibungsprozesse (Islamisierung, Ethnisierung, Fundamentalismusverdacht)

die (mentale und soziale) Ausgrenzungsprozesse in Gang setzen und eine

Art Selbstislamisierungs- oder Selbstethnisierungseffekt auslösen können.

Ein Grund dafür liegt darin, dass der öffentliche Raum, wie Politik, Bildungssystem,

Medien usw., noch nicht ausreichend mit muslimischen Akteuren besetzt ist. Er bleibt für

die Vorstände noch ein offenes Handlungsfeld, welches in einem wissenschaftlichen Diskurs

zunächst sachlich zu reflektieren ist, wobei durch die Partizipation die Ängste überwunden

werden müssen. Für die junge Generation hat der öffentliche Raum dagegen eine andere

Bedeutung, was ja die Pluralisierung der Lebensstile deutlich werden lässt. In den Berichten

zum selbstbewussten Auftreten junger Menschen gegenüber religiösen Autoritäten, der

Veränderung der Rolle der Frau, der Veränderungen im Heiratsverhalten, der Zunahme

der Scheidungen usw. sind eindeutige Indikatoren für diesen Heterogenisierungstrend

und Hinweise darauf zu finden, dass eine gesellschaftliche Adaption stattfindet. Allerdings

scheint es, dass die soziokulturellen Angebote selektiv angenommen werden, wie etwa die

Möglichkeit, sich muslimisch zu definieren und sich zugleich mit esoterischen Inhalten

auseinanderzusetzen. Aus den Erfahrungsberichten der Experten aus dem Binnenleben

der muslimischen Gemeinden wurde deutlich, dass der Migrationskontext offensichtlich

nach wie vor einen sehr starken Einfluss auf die eigene Identitätskonstruktion ausübt.

Dies wird in der Auseinandersetzung mit den öffentlichen Islamisierungsprozessen, den

Ausgrenzungs- und (Selbst-)Ethnisierungsprozessen sowie mit dem „Wir“ und dem „Ihr“

deutlich. Dabei scheinen die jungen Menschen weitgehend auf sich allein gestellt zu sein;

daher ist davon auszugehen, dass der Migrationskontext die Mitgliederzahlen noch stabil

hält und auch die losen Mitglieder, die Gemeindebesucher von synkretistischen Lebensstilen

abhält und nicht eine Art „islamische DNA“. 706

706 So begründet beispielsweise der interviewte Experte Hamit A. die große Resonanz in den

Gemeinden sowie die geringe Zahl an Gemeindemitgliedern und Gemeindebesuchern, die zu

anderen Religionen konvertieren oder sich vom Islam distanzieren, wie folgt: „Ich kann das

zum Beispiel darstellen an den türkischstämmigen Muslimen. Ich habe schon viel von Imamen,

von Soziologen beziehungsweise von Intellektuellen gehört, also ob die türkisch-sunnitischen


2 Ergebnisse der empirischen Studie 295

Um diese skizzierte Situation der Muslime noch plastischer zu machen, müssen die

Rahmenbedingungen der muslimischen Landesverbände und ihrer lokalen Gemeinden

hinsichtlich finanzieller und personeller Ressourcen sowie struktureller Voraussetzungen

analysiert werden. Interne Kommunikationsmechanismen und interne Diskurse müssen

offengelegt werden, um die Ausgangsbedingungen der muslimischen Gemeinden in

Niedersachsen im Kontext der dargestellten Herausforderungen vor Augen zu führen.

Erst auf der Basis der vollständig beleuchteten Ausgangsbedingungen der muslimischen

Gemeinden im Rahmen der oben genannten gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und

ihres Einflusses auf die Gemeinden können die zentralen Fragen der religiösen Erziehung

in Familien und Moscheen und im weiteren Verlauf aus diesen Erfahrungen heraus die

Erwartungshaltungen an den geplanten islamischen Religionsunterricht rekonstruiert

werden. Daher werden im Folgenden im Form eines „Problemhierarchiekatasters“ die

zentralen Hürden innerhalb der Gemeinden identifiziert, um die Binnenstrukturen der

muslimischen Gemeinden zu verstehen und somit für zukünftige praktische Maßnahmen

im Kontext der Professionalisierung dieser Strukturen entsprechend ansetzen zu können.

Insgesamt dient diese längere Ausführung zu den allgemeinen Rahmenbedingungen

jedoch primär dazu, die Prozesse der Moscheekatechese aus den (Gesamt-)Erfahrungen

heraus zu verstehen sowie die Hintergründe bezüglich der Erwartungshaltungen an den

islamischen Religionsunterricht nachvollziehen zu können.

2.2.5.1 Zukunftsängste und strukturelle Kompensationsversuche durch

einen „verkirchlichten Islam“

Werner Schiffauer stellt im Zusammenhang des Integrationsprozesses von Migranten die

These auf, dass dieser nicht unilinear verläuft, also im Sinne der zunehmenden Ablösung

der Migranten von der Herkunftskultur und der Annahme der Kultur der Mehrheitsgesellschaft,

sondern

„[…] dass sich die Geschichte der Migration weit komplexer darstellt, nämlich als innerlich

widersprüchlicher Prozess von Identifikation und Widerspruch, von Annehmen und Teilen

der Kultur des Einwanderungslandes und einer bewussten Opposition dagegen.“ 707

Muslime in Deutschland, auch wenn sie nicht praktizierend sind, so gewisse Grundlagen haben

wie die, dem einen Gott keine andere Gottheit beizugesellen, dass sie sozusagen eine Art ‚Monotheismus-Gen‘

entwickelt haben, dass sie davor schützt. Bei vielen der türkischen Jugendlichen

gibt es ein Geschichtsbewusstsein, dass sie sagen: ‚Meine Vorfahren waren Muslime, es waren die

Osmanen.‘ Sie identifizieren sich mit ihnen, weil sie ein Imperium waren. Weil sie in Deutschland

eine Minderheit sind, dass sie ausgegrenzt werden, nicht wahrgenommen werden, diese

Gefühle bewältigen sie indem sie sich als türkische Muslime verstehen, die in der Geschichte

sehr erfolgreich waren. Sie sind also einfach nur Muslime, nicht weil sie den Islam verstehen

oder seine Glaubensgrundlagen umsetzen, sondern nur wegen dieser Identität. Und wenn sie

die Glaubensgrundlagen umsetzen, dann haben die meistens keine Ahnung was sie machen.

Wenn man sie zum Beispiel danach fragen würde: ‚Wer war der Prophet Muhammad? Wie hat

er gelebt? Wie war seine Ethik?‘, auf diese Fragen können sie keine Antworten liefern.“ (Hamit

A., S. 70)

707 Werner Schiffauer, Migration und kulturelle Differenz. Studie für das Büro der Ausländerbeauftragten

des Senats, Berlin 2002, S. 15


296 B Empirischer Teil

Dieser paradoxe Prozess zwischen Identifikation und der bewussten Oppositionshaltung

scheint eine plausible Erklärung für die Situation in den Gemeinden zu liefern, dass trotz

der Pluralisierung von Lebensstilen religiöse und ethnische Identifikationsangebote angenommen

werden. Die Identifikation mit dem hiesigen Land kann man also einerseits

anhand der strukturellen Integration (Staatsbürgschaft, Bildung usw.) und andererseits

anhand der sozialen Integration (Pluralisierung der Lebensstile, Anpassung an die gesellschaftlichen

Verhältnisse) ablesen. Zugleich ist die Oppositionshaltung darin zu sehen,

dass bewusst auf die symbolische Ethnizität, aber auch auf die Religiosität zurückgegriffen

wird. Erst vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass sich beispielsweise hedonistische

Lebensstile und wöchentliche Freitagsgottesdienste nicht ausschließen müssen.

In den Gemeinden dagegen herrscht eher ein nicht-lineares Integrations- beziehungsweise

Assimilationsverständnis, und zwar in beiden Richtungen: zum einen die Möglichkeit,

„das Rad zurückzudrehen“, um bei den jungen Menschen einen islamischen Lebensstil

durchzusetzen, zum anderen aber die mit Ängsten verbundene These, dass die islamische

Identität von Generation zu Generation nachlässt.

„Ja. Also, Ängste denke ich auf jeden Fall, dass man sein Kind an die Gesellschaft verliert,

also das trifft man auf jeden Fall und daher ja auch oft die Tendenz, die Kinder zurück

zu ziehen oder von bestimmten Dingen auszuschließen, weil der Einfluss der Gesellschaft

enorm stark ist, vor allen Dingen dann, wenn man jetzt keine starke Moscheegemeinschaft

hat, wenn man jetzt eine große Moschee um die Ecke hat, wo man immer hingeht, ist das

vielleicht nochmal anders und ich denke ganz problematisch ist auch also der Ruf, den

der Islam in der Gesellschaft hat, es ist oft so, dass man auf Menschen trifft, die gar keine

Ahnung haben, das ist ja auch erstmal gar nicht so schlimm, immer die Möglichkeit hat,

das wertfrei zu erläutern und wertfrei zu sagen ‚wir verhalten uns so und so und so und

ich möchte, dass Sie das respektieren.‘ Der Punkt ist, dass das Gegenüber immer schon

eine Wertung hat und man ist entweder sehr konservativ oder sehr rückständig oder man

schränkt das Kind zu sehr ein und das ist glaube ich enorm problematisch für Eltern,

wenn sie das Gefühl haben, sich immer verteidigen zu müssen. […] Ja und nein. Also

das gibt es in einigen Moscheegemeinden auf jeden Fall, der Punkt ist natürlich immer,

wie kompetent diese Moscheegemeinde das dann umsetzt, also ich halte nichts von vorgedruckten

Briefen, davon, dass man sein Kind vom Schwimmunterricht befreit oder es

gibt ja immer wieder so vorgedruckte Briefe auch fürs Fest, dass man sein Kind da nicht

zum Fest, also nicht zum Fest schicken muss. Das ist dann immer so die Alibi-Aktion,

von wegen ‚Wir tun ja was‘, aber es geht ja letztendlich darum eigentlich den Eltern zu

helfen kompetent, das Kind hier in diese Gesellschaft loszulassen. Also dem Kind dann

auch zu vertrauen und irgendwann ruhig zu sein, wenn das Kind studieren will und

vielleicht in einer anderen Stadt oder so. Das ist dann irgendwie mit so nem religiösen

Rahmen.“ (Amina F., S. 495 f.)

Wie oben erwähnt, bildet der Maßstab für diese Entwicklung die erste Generation, die trotz

der Kritik der jüngeren Generation an ihrem Bildungsniveau usw. eine gewisse religiöse

Authentizität symbolisiert. Im Kontext von Zukunftsängsten der Moscheegemeinden


2 Ergebnisse der empirischen Studie 297

wird die erste Generation eher als positives Vorbild genommen, an dem die gegenwärtigen

Entwicklungen hinsichtlich der selbstbestimmten Lebensstile wie in der Familie mit

dem Familienverständnis der Pioniermigranten verglichen und an ihm gemessen werden.

„Die erste Generation hat in der Türkei geheiratet und ist nach Deutschland gekommen.

Sie haben zwar nicht über eine gute religiöse Bildung verfügt, aber die Eltern haben

sie traditionell erzogen. Die zweite Generation hat die eigenen Kinder versucht so zu

erziehen, wie sie von der ersten Generation erzogen wurden. Allerdings ist die dritte Generation

in Deutschland geboren und in Deutschland zu Schulen gegangen. Sie kennen

die Gesellschaft viel besser als die vorangegangen Generationen. Da jetzt auch mit den

Familien zu Problemen kommt, bewundern sie die deutsche Lebensweise und wollen

diesen imitieren. Aber diese Lebensweise passt nicht zum muslimischen Familienleben,

weil sich in deutschen Familien die Eltern vielleicht mal abends sehen oder ein, zwei Mal

die Woche, aber in muslimischen Familien ist das anders, dort hat die Familie einen ganz

anderen Stellenwert. Heute ist das aber leider so, dass auch in muslimischen Familien

beide Elternteile arbeiten gehen, das heißt sie sind voneinander materiell unabhängig.

Wenn es zu einem Ehekrach kommt kann jeder sagen, ich kann mein Leben auch ohne

dich leben. Zweitens gibt es auch keine Opferbereitschaft mehr für die Familie, für das

Gemeinschafsleben, weil man nicht mehr so stark religiös gebunden ist. Unsere Mütter

waren opferbereit, auch wenn mal unsere Väter schrien und schimpften. Man zeigte

Geduld, weil man immer an das Jenseits dachte, weil man die Ehe um den Wohlfallen

Gotten willen weiter führte. Heute ist es anders. Bei kleinsten Streit sagt die Frau: ‚Ich

lasse mich scheiden.‘ Also einerseits ist Hemmschwelle für Scheidungen gesunken und

andererseits ist die Familienbindung abgeschwächt. Das ist das Problem. Ein anderer

Grund ist der Einfluss dieser Gesellschaft, weil man so leben möchte wie die deutschen

Familien. Früher haben türkisch-muslimische Familien in Großfamilien gelebt, die verheirateten

Kinder waren mit den Eltern zusammen, sodass die Eltern bei Konflikten die

Ehepartner, die eigenen Kinder frühzeitig warnen konnten. Die Eltern konnten aufgrund

eigener Erfahrungen mit der Ehe die Probleme der eigenen Kinder lösen. Heute leben die

Kinder alleine mit ihren Ehepartner in eigenen Wohnungen. Daher gibt es keine Eltern,

die bei Problemen eingreifen können. Die Kinder lassen sich bei kleinsten Problem scheiden,

vor allem wenn sie keine Geduld zeigen und nicht an Gottes Wohlgefallen gedenken.

Das geht alles wiederum auf die fehlende religiöse Erziehung zurück.“ (Yalcin K. S. 88 f.)

Vor diesem Hintergrund fungiert die erste Generation als Projektionsfläche für Tradition

und Erfolg einerseits sowie für Stagnation andererseits. Die erste Generation habe die

Grundlagen für die Gemeinden geschaffen, daher sollten die nachfolgenden Generationen

die strukturelle Aufbauleistung fortführen und ausweiten:

„Die erste Generation hat versucht, aus dem Nichts heraus etwas zu schaffen. Sie haben

versucht, da es keine Moscheegemeinden gab, hier und dort mit der Gemeinde die Gottesdienste

abzuhalten. In größeren Garagen, auf Parkplätzen und anderen Räumlichkeiten.

Sie mussten manchmal 80 Km weit raus fahren, um irgendwo das Freitagsgebet mit der

Gemeinde verrichten zu können. Heute ist es Gott sein Dank viel einfacher, weil nahezu


298 B Empirischer Teil

nach allen 15-20 km man eine Moschee finden kann. Jetzt haben wir die Strukturen,

aber die Frage ist, was macht die neue Generation damit? Werden sie diesen Strukturen

gerecht werden? Damals ging es nur darum, die Gebete zu verrichten. Heute haben sie die

Bedingungen und die Bedürfnisse verändert. Heute geht es nicht um das Beten, sondern

die Moscheen müssen als ‚Külliye‘ 708 arbeiten. Die Möglichkeiten sind besser diese Ziele zu

erreichen, aber man engagiert sich nicht dafür. In Deutschland üben vielleicht nur fünf

oder sechs der 1500, 1800 Moscheen die Funktion als Külliye aus, der Rest nicht. Obwohl

wir als Muslime in der Diaspora, im Übergang zu einem Teil dieser Gesellschaft, noch

aktiver sein müssen, unsere Moschee in diese Gesellschaft integrieren müssen, schaffen

wir es nicht. Es mangelt manchmal an den materiellen Voraussetzungen oder oft an

qualifizierten Personal. Das heißt, auch wenn oft die materiellen Voraussetzungen da

sind, gibt es kein Personal der dies nutzen könnte. Bei den Imamen wird das seit 1985

so verfahren, weil es hier keine Theologen gibt, dass wir die aus der Türkei holen. Aber

auch in diesem Punkt gibt es nun Bemühungen, in Zukunft das Personal aus Deutschland

zu rekrutieren, weil die neuen Institute für Islamische Theologie sie ausbilden werden.

Diese Institute an den Universitäten werden dabei behilflich sein, das Personal für die

Moscheegemeinden schneller als bisher gedacht zu Verfügungen zu stellen. Wenn wir

dieses Personal haben, die hier geboren und hier zu Schule gegangen sind, die die Sprache

sprechen und die Gesellschaft kenn, dann werden wir uns einfacher in diese Gesellschaft

adaptieren.“ (Salih D., S. 109f.)

Die Zukunftsängste resultieren auch aus der Befürchtung, dass diese jüngere Generation

nicht mehr opferbereit ist und sich nicht in den Gemeinden engagieren wird. Oft kommen

diese Ängste auch daher, weil die Gemeinden ein eher negatives Stereotyp ‚Jugend‘

vertreten, was sich auch in den gesamtgesellschaftlichen Diskussionen widerspiegelt und

eines positiv konnotierten theologisch-religionspädagogischen Perspektivenwechsels bedarf.

709 Wie noch in den Ausführungen zu der Frage der Moscheekatechese aufzuzeigen

ist, verlässt ein großer Teil der jungen Menschen ab der Pubertät die Gemeinden und hält

– wenn überhaupt – nur noch eine lose Beziehung zu den Moscheen aufrecht. Das Beispiel

der Entwicklungen der Gemeindemitglieder wird von den Gemeinden als Grund für die

Besorgnis herangezogen, dass auch sie ein ähnliches Schicksal erwarten könnte.

„Ja, ich sehe Probleme auf uns zukommen, weil ich Angst habe, dass unsere Kinder und

Jugendlichen in Zukunft sich wie bei den Kirchen auch, sich nicht mehr um die Moscheegemeinden

kümmern werden. Die erste Generation der Muslime in Deutschland war

sehr opferbereit, selbstlos und hat sehr viel in die Gemeindearbeit investiert, die nächste

Generation – so wie ich – zeigt bereits weniger Bereitschaft und die junge Generation,

und dass sehe ich schon bei meinen Kindern, haben noch weniger Opferbereitschaft und

Motivation sich zu verpflichten für das Ehrenamt. Wenn sich das mit der Aufopferung

708 Türkisch für Moscheekomplex mit zahlreichen sozialen Funktionen und inklusiver einer

Stiftung.

709 Vgl. Egon Spiegel, Schluss mit dem negativen Stereotypen Jugend, in: KERYKS (Internationale

religionspädagogisch-katechetische Rundschau) 7 (2008) , S. 159 ff.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 299

und Selbstlosigkeit nicht positiv ändert, werden wir in Zukunft sehr große Probleme

bekommen. Wir werden vielleicht sogar zu einem Punkt kommen, dass wir nicht mehr

den Imam bezahlen können.“ (Ikbal I., S. 170)

Entsprechend einer unilinearen Vorstellung des Integrationsprozesses wird daher davon

ausgegangen, dass sich die nachfolgenden Generationen zunehmend von den Normen und

Werten der muslimischen Pioniermigranten distanzieren werden:

„Na gut! Es ist meistens die Sprache. Sie sprechen meistens noch vorwiegend die Sprache

oder ausschließlich teilweise da wo die Sprache die sie mitbringen damit sie aus ihren

Herkunftsländer gesprochen hatten. Das ändert sich dann schon in der zweiten Generation

mit der Sprache ändert sich, aber nicht nur das Instrument mit dem Ideen ausgetauscht

werden, sondern auch tatsächlich die Ideen selber, ändern sich manchmal auch,

Vorstellungen ändern sich manchmal. […] Das führt, kann also natürlich zu Spannung

führen, bestenfalls ignoriert man sich fast so gegenseitig und lebt fast schon aneinander

so. Ja und die dritte Generation und ja die zweite Generation ist jetzt nicht so, dass sie

religionslos ist. Sie hat nur andere Vorstellungen davon und das interessante wird jetzt

die dritte Generation sein, wie die sich verhalten wird, weil wir ja zwei unterschiedliche

Generationen vorher hatten, ob der Bezug den die zweite Generation immer noch zu der

ersten hatte, dieser Bezug vielleicht auch schon in der dritten dann verloren geht. Das ist

eine interessante Sache zu beobachten, weil bei allen Unterschieden und allen Kritiken,

die berechtigt sind, der Bezug zur ersten Generation ist ja immer wichtig, denn darf man

ja auch nicht cutten, darf man auch nicht abschneiden und der kann bei der dritten

Generation sehr schwach sein und der kann aber auch also verloren gehen also das ist,

das kommt dann darauf an wie die glaube ich ein bisschen wie, ich meine nur weil die

zweite Generation jetzt vielleicht mehr Einblick in bestimmte Sachen hat, heißt das nicht

unbedingt, dass sie auch in allen Recht hatten. […] Ganz anders, ganz anders. Ich kenne

das doch, dass es gab Zeiten in Moscheen da, besonders in den türkischen Moscheen. Da

gab es ein paar Anstandsregeln wie man sitzen sollte. Wenn der Aḏān kam, dass man

dann auf die Knie sich vorbereiten sollte, nicht bestimmte also nicht laut reden sollte und

solchen Sachen. Diese Verhaltensregeln, das sieht man bei den ganz neuen Generationen,

dass die also gar nicht vollzogen werden können teilweise so. Die so unbequem sitzen,

wenn man auch bequem sitzen kann so ein bisschen. Das ist jetzt nur ein Beispiel. Aber

wenn es jetzt um die Autoritäten geht, also auch ganz schwierig also dieses Alte das

ist von der zweiten Generation ist es vielleicht teilweise interpretiert als eine Hörigkeit

gegenüber Autoritäten, Imamen. Von der ersten Generation selbst wird es eher als eine

Art Vertrauensvorschuss vielleicht auch ein starker Schuss von Vertrauensvorschuss der

einfach gezeugt wird. Jemanden gegenüber das da so eine andere Anschauung zu dieser

Autorität. Wenn das natürlich ausgenutzt wird, dann ist es natürlich leichter auch zu

argumentieren zu sagen diese Hörigkeit ist falsch. Aber da gibt es schon ein Unterschied

zwischen der ersten Generation. Die sind schon ganz anders orientiert. In den arabischen

Moscheen ist das teilweise ein bisschen anders. Da ist das schon so, dass teilweise Autorität

gar nicht mehr gekennzeichnet wird durch Personen, sondern teilweise auch eher durch

Redebeiträge und durch bestimmte Inszenierungen, die dann gehalten werden. Aber die


300 B Empirischer Teil

haben dann wiederum nicht das große Problem mit diesen Brüchen, also sie können dann

eigentlich über die Generationen etwas leichter als die türkischen mit diesem Wandel

umgehen.“ (Adam B., S. 351)

In der Logik eines „mathematischen Verfahrens“ wird dabei die Abnahme der Herkunftskultur

kalkuliert, wie dies auch im Sequenzmodell zur Integration und Assimilation

vertreten wird:

„Die erste Generation, ich sage das mal so, die kommen aus der Türkei. Ihre Mentalität

und Kultur, ich sage mal wir sind hier zwischen zwei Kulturen und Mentalitäten aufgewachsen,

ich zum Beispiel. Ich gehe von mir mal selber aus. Ich habe von meinem Vater,

von seiner 100-prozentigen Tradition, Glaube, Kultur und so weiter, wenn überhaupt

nur 50 Prozent empfangen oder hat sich geprägt bei mir, so 50 Prozent. Was ich meinen

Kindern geben werde, sind auch wieder 50 Prozent, das heißt das reduziert sich immer

wieder. Das ist meine Ansicht.“ (Mehmet A., S. 299)

Dieser irreversible Prozess führe daher unabwendbar zu einem Traditionsverlust:

„Das ist dann schon eher Traditionsverlust. Ich sag mal so, meine ich hab das von meinen

Eltern gesehen, dass sie ihre Eltern respektiert haben und ich habe das natürlich auch so

aufgenommen. Ich weiß jetzt nicht, ob ich diesen Respekt auch meinen Kindern vielleicht

zukünftig beibringen kann. […] In der Gesellschaft, weil in der Gesellschaft, ich sag mal

so, in der deutschen Gesellschaft sieht man immer mehr, dass die Menschen nicht religiös

sind, dass sie nicht praktizierend sind jetzt nicht nur unter Muslimen, sondern auch unter

Christen, dass sie immer weniger in die Kirchen gehen, dass man mehr in den Schulen

auch immer mehr Freiraum den Kindern überlassen wird zum Beispiel, weil auch die

religiösen Werte auch dadurch verloren gehen. Und dadurch geht auch die islamische

Tradition sag ich mal in der Gesellschaft auch verloren, weil die heutige Gesellschaft mehr,

wie sag ich mal ist das schon gewichtiger heutzutage in der Gesellschaft, dadurch gehen

auch die religiösen Werte immer zurück, sag ich mal.“ (Esma B., S. 425)

Die interviewten Experten gaben an, dass die Rolle der „Konservierung“ der Normen und

Werte aus dem Herkunftskontext deshalb von den Moscheegemeinden erwartet würde.

Die Eltern frequentierten häufig in ihrer Verzweiflung die Gemeinden, um dort Hilfen

zu bekommen:

„Wir müssen realistisch sein und sagen, dass viele dieser Kinder und Jugendliche in der

Zukunft viel von ihrer Kultur verlieren werden, also von Kultur, von der Sprache, von der

Muttersprache und es bildet sich eine neue Generation, die so vielleicht sich in dreißig

bis vierzig Jahren sich nur als deutsche Muslime bezeichnen oder irgendwie so, weil die

Entwicklung geht in die Richtung, dass die haben keine Verbindung mehr mit der Heimat

der Eltern. Zum Beispiel fahren sie in den Sommerferien in die Heimat, aber es ist

nicht mehr so viel wie früher. Man kann sehen, dass in Zukunft vielmehr die Moscheen

deutsch sind. […] Ja, ja, sehr viele Ängste der Eltern. Viele Eltern kommen zu mir immer


2 Ergebnisse der empirischen Studie 301

wieder und sagen: ‚Ich will, dass er das behält was wir, was wir mitgebracht haben, also

unsere Kultur und ethnische, also von unserem Volk und alles was von da kommt. Leider

muss ich sagen, wir haben zur Zeit keine organisierten Wege, die Frage wie man das also

schafft, weil wir nicht über die Finanzen haben mit denen wir arbeiten können und den

Kindern etwas bieten, mit dem sie arbeiten damit und sehen, was wir machen und wie

das in der Zukunft weitergeht. Aber ich meine, wenn wir wollen, dass sie das behalten,

also die Muttersprache und die Kultur, dass da bleibt, dann müssen vielmehr mit den

Kindern und Jugendlichen machen müssen.“ (Adnan S., S. 242)

In den Moscheen selbst wird nach Aussagen der Experten die Pluralisierung der jugendlichen

Lebensstile ganz konträr diskutiert. Je nach Standpunkt und Bewertung dieser

gesellschaftlichen Entwicklung geht man, wie bei dem interviewten Experten Halim H.,

mit dieser Vielfalt konstruktiv oder destruktiv um:

„Auffällig ist diese Vielfalt vor allem bei den Freitagsgebeten. Da kommen von Langhaarigen

bis zu Kurzhaarigen, aber interessanter ist auch meine Jugendgruppen an den

Samstagabendgesprächsrunden. Die Jugendlichen kommen zu den Gesprächsabenden

und danach geht ein Teil in die Diskothek. Also einerseits wollen sie ihre Freizügigkeit

leben, andererseits aber wollen sie nicht mit der Moschee brechen. Es gibt dann so kritische

Stimmen die sagen: ‚Die kommen in die Moschee und dann gehen sie noch in Disko. Das

passt doch nicht zusammen.‘ Ich sehe das aus einer anderen Perspektive: ‚Wie erfreulich,

jugendliche Diskogänger kommen auch in die Moschee.‘ Ich versuche also vielmehr das

halbvolle Glas zu sehen und diese jungen Menschen nicht von der Moschee auszugrenzen.

Eine Freundin zu haben ist ohnehin schon zu einem Normalfall geworden, aber dann

wir noch geraucht oder aber auch teilweise Alkohol getrunken, trotz allem kommen

diese jungen Menschen in die Moschee, zum Freitagsgebet. Und das sind wirkliche viele

Jugendliche, die sich so widersprüchlich verhalten. Und daneben gibt es auch Jugendliche,

die überhaupt nicht solche schlechte Angewohnheiten haben und auch regelmäßig in die

Moscheegemeinde kommen.“ (Halim H., S. 185)

Aus den obigen Ausführungen wird deutlich, dass zwar die Mitgliederzahlen in den

Moscheegemeinden stabil und nach wie vor sehr hoch, die finanziellen Ressourcen der

Moscheen jedoch infolge der geringeren Beiträge sehr knapp sind. Des Weiteren wird der

gesamte Säkularisierungs- und Individualisierungsprozess eher als Gefahr gesehen und

nicht als Chance, denn gerade diejenigen, die sich am stärksten mit der Religion identifizieren,

engagieren sich auch stärker in der Gemeinde. Das ehrenamtliche Engagement

wird nicht aus Gründen der Sozialkontrolle oder Konformität, sondern aus einer festen

Überzeugung animiert. Allerdings werden eher die Risiken dieses gesellschaftlichen Transformationsprozesses

akzentuiert und damit bewegen sich die muslimischen Gemeinden

in Richtung „Verkirchlichung“, weil man die Lösung in der Institutionalisierung sowie

im Aufbau kirchenähnlicher Strukturen sieht:

„Also, einer der Gründe für den niedrigen Organisationsgrad der Muslime in den Verbänden

ist natürlich daran, dass die Muslime, die hier leben, erst mal so was gar nicht kennen aus


302 B Empirischer Teil

ihren Herkunftsländern – das gibt es keine Kirchengemeinden oder Moscheegemeinden

in dem Sinne wie hier katholische und evangelische Kirchengemeinden. Das ist das Erste.

Das Zweite ist, dass sie sich natürlich verunsichert fühlen und sagen ‚Liebe Leute, wenn

ich in Mitglied wäre, dann wird ja eine Liste geführt mit meinem Namen und wenn sie

nachher mal was gegen die Muslime unternehmen – der Staat, dann haben sie schon

die fertige Proskriptionsliste.‘ Das geht in den Köpfen der Leute um. Unausgesprochen

meistens, nicht. Also jede Form und vor allen Dingen ein generelles Misstrauen gegenüber

dem Staat und der Obrigkeit. Und das ist ja natürlich so grade bei Leuten türkischer

Herkunft, die haben im Grunde genommen ein etatistisches Weltbild ja. Das sie also den

Staat als Autorität, ja das ist denn inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen und

ich meine, wenn man einen türkischen Imam sieht ja, der würde nie in seiner Kluft auf

die Straße gehen wollen, weil es in der Türkei verboten ist. Alles solchen Sachen das ist

eine bemängelnde Lage, die sich daraus entwickelt, die wenig produktiv ist eben um zu

organisieren. Es ist wichtig, dass man versucht über die Jugend etwas zu machen. Aber

was können diese muslimischen Jugendvereine oder so tatsächlich bieten. Und ich meine

Sportvereine andere kirchliche Vereine, die kriegen natürlich alle staatliche Zuschüsse,

aber die Tatsache, dass der Islam in nicht als, ich rede gar nicht von Körperschaft, sondern

eins für eins von Religionsgemeinschaft, nach den Staatskirchenrecht anerkannt ist bringt

das Probleme in Bezug auf Zuschussbarkeit und Ähnliches ne. Das sind also auch ganz

schlichte finanzielle Probleme.“ (Abdullah B., S. 363)

Diese auch von der Politik postulierten, kirchenähnlichen Strukturen – um die Grundlagen

für die Anerkennung als Religionsgemeinschaft und als Körperschaft des öffentlichen

Rechts zu schaffen – stellt die Gemeinden jedoch vor große Herausforderungen, deren

Hintergründe im nächsten Unterkapitel näher analysiert werden:

„Für die Gemeinden in Niedersachsen, ja, ich denke, wir wachsen mit den Anforderungen

an uns und die Anforderungen sind derzeit sehr hoch. Die bestehen darin, dass wir sie so

aus unseren Abstammungsländern her nicht kennen, und zwar uns hier zu organisieren.

In unseren Abstammungsländern ist das eher lose, ehrenamtlich, jeder macht das für sich

selber, aber hier muss alles organisiert werden, verschriftlicht werden. Deutschland ist

ein Vereinsland. Das ist uns eigentlich völlig unbekannt in der Form, wie es hier geführt

und wir verlangen zwar immer das, was die Kirchen sind, sind aber noch nicht soweit mit

der Organisation. Dass wir uns jetzt selber in der Form organisieren können, ist denke

ich die größte Anforderung an uns. […] Das sind dann wirklich zwei, sogar drei Ebenen

von dem wir hier sprechen. Es gibt einmal die untere Ebene, ohne damit jetzt etwas Negatives

meinen zu wollen. Die untere Ebene ist die Ebene, die direkt mit den Menschen

in Kontakt ist, dann gibt es die Regionalverbände und die Dachverbände und zwischen

allen gehen irgendwie Informationen verloren. Alle haben einen eigenen Blick auf die

Wahrheit. Alle haben eigene Blickrichtungen. Die Brüder in den Zentralen wollen für die

Gemeinden etwas organisieren, wollen denen einen Plan erstellen, und die in irgendeiner

Form leiten, was sich dann aber immer wieder widerspricht, weil es teilweise realitätsfern

ist.“ (Hakki K., S. 273)


2 Ergebnisse der empirischen Studie 303

Mit dem Postulat für Investitionen in bauliche Maßnahmen und attraktivere Räumlichkeiten

gibt man sich daher der Illusion hin, man könne diese Entwicklung – die ja eher

diffuse denn manifeste Ängste auslöst – aufhalten:

„Weil es in den Moscheen nichts gibt, was die Jungs dort halten könnte. Die Moscheen

versuchen drei Generationen unter ihrem Dach zusammenzubringen ohne Rücksicht

auf die Unterschiede. Großvater, Sohn und Enkelkind treffen sich unter den gleichen

Bedingungen zu den gleichen Anlässen. Das funktioniert nicht. Wir müssen für jede

Generation unterschiedliche Angebote entwickeln. […] Wir müssen zuerst die Strukturen

der Moscheen verändern. Ich erfahre das täglich bei meinen Kindern. Die eine Tochter

geht hier zum christlichen Kindergarten, direkt hier an der Kirche. Dort ist die Kirche

sehr schön und der Kindergarten ist auch sehr schön eingerichtet. Dann geht sie in die

Moschee, was vielmehr an eine Bruchbude erinnert. Das Kind ist mehr als enttäuscht,

wenn sie diese Unterschiede sieht. Wir müssen daher erst mal die ästhetische attraktive

Moscheen gründen. Dann müssen die Moscheen stärker zu einem sozialen Zentrum

entwickeln, wo man über alle Probleme sprechen kann.“ (Mahmut Ö., S. 134)

Allerdings lässt sich die Frustration infolge der jahrzehntelangen Versuche der Verbände,

als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden, in den Interviews deutlich nachweisen:

„Was ich mir wünsche, ist, dass die Hauptfunktion Islam in Deutschland sich normalisiert,

dass sie nicht dieser Blockade der deutschen Regierung immer haben. Alles nein

und so weiter, früher haben sie uns erzählt, wenn ihr dann und so viele Vereine und

Verbände sprechen, wenn ihr euch alle in einem Verband oder Dachverband tut, dann

können wir mit einem Ansprechpartner sprechen, da haben die Muslime das mit Ach

und Krach gesagt halt eben gemacht und diese ganze große Verbände kamen zusammen

und so weiter. Und trotzdem haben wir bis jetzt nix erreicht, in dieser Islamkonferenz,

nach der Meinung der meisten Muslime ist eine Veräppelung, ist nix zu erwarten davon,

und das eigentlich Schande für Deutschland, dass sie so was machen. Es gibt Länder in

Europa, die große Fortschritte in dieser Richtung gemacht haben und warum nicht in

Deutschland?“ (Omar S., S. 530)

2.2.5.2 Interne Kommunikationsprozesse und Problemidentifikation

Um die von dem Experten Hakki K. erwähnten Überforderungen zur Etablierung kirchenähnlicher

Organisationsstrukturen nachzuvollziehen, müssen die Rahmenbedingungen

der muslimischen Landesverbände sowie der lokalen Gemeinden rekonstruiert werden.

Erst auf der Grundlage einer Bedarfs- und Situationsanalyse können weitere Schritte in

Richtung einer Institutionalisierung oder Professionalisierung getroffen werden. Wenn

man die Analyse von „unten nach oben“, also von den lokalen Gemeinden hin zu den

Landes- und Bundesverbänden startet, dann beginnt das Problem bereits damit, dass auf

lokaler Ebene nicht alle Vorstandsmitglieder über die Aufgaben und Ziele einer Vereinsund

Verbandsarbeit informiert sind. Charakteristisch für dieses Defizit ist das folgende

Zitat, welche die Situation in den meisten der Moscheegemeinden wiedergibt:


304 B Empirischer Teil

Mehmet A.„Was ich gemacht habe, also ich habe das erste Mal die Gemeinde kennengelernt.

Ich möchte mal so ausholen so, ja, also habe die Gemeinde zum ersten Mal kennengelernt

dort wo ich die Tätigkeit, erst mal durch meine Eltern, durch meine Kindheit, so wie sich

das Ganze aufgebaut hat, so wie ich das Ganze gesehen habe , wie unsere Eltern und unsere

Vorfahren das aufgebaut haben. Das hat sich geprägt, weil man hatte immer selber etwas

auszubessern oder andere Ideen auch zu bringen und wenn man andere Ideen hat, dann

kann man die nicht einfach in den Raum werfen, sondern sich auch dafür engagieren

und auch engagieren. In diesem Zusammenhang hat sich das dann so entwickelt, dass

sich dann zuerst Schriftführer geworden bin, über diese Arbeit in die Gemeinde vom

Vorstand gewählt worden bin durch die Versammlung. Dann war ich zwei Jahre lang

tätig als Schriftführer und dann hat sich das, ja, so ergeben, dass ich zum Vorsitzenden

vorgeschlagen worden bin. Etwas Erfahrung hatte ich ja schon, also eine zweijährige.

Meine Anteilnahme war jetzt auch so begrenzt, aber ich hatte schon die Möglichkeit

reinzuschnuppern, wie das ganze so abläuft. Dann hat sich das so entwickelt, dass ich

zum ersten Vorsitzenden gewählt worden bin und dann habe ich gesehen, was in so einer

Gemeinde mal so anfallen kann an Arbeit. Das ist zwar alles ehrenamtlich, das ist auch

alles schön und gut, aber die Zeit die ich oder die wir dort in 1½ Jahren effektiv geopfert

haben, das war erst das Ziel, dort eine Struktur reinzubekommen, um überhaupt dort

einen Überblick reinzubekommen, weil da waren auch Unterlagen und so, und das alles

musste erst mal strukturiert werden und auch aussortiert werden. Da waren mit schon gut

ausgelastet mit der Arbeit. Ja dann hatten wir die Sachen so gehabt. Und dann die Frage

der Räumlichkeiten, weil man möchte ja auch Nachwuchs haben, eben das Nachwuchs

kommt, dass die Kinder etwas lernen und so. Dann mussten wir uns erst mal Gedanken

machen, wie wir die Räumlichkeiten gestalten können, also moderner gestalten können,

dass die Jugendlichen dort auch wohl fühlen. Ja, so hat alles angefangen.

I.: Mit welchen Herausforderungen war sie konfrontiert? Was waren ihre Erfahrungen?

Mehmet A.: Die Herausforderung war erst mal der Ablauf beziehungsweise der Vorstand

musste erst mal wissen, was ist der Vorstand? Wir mussten das lernen.

I.: Das wusste man nicht?

Mehmet A.: Nein, nein, definitiv nicht. Vorstand war für die wie in diesem Fall sieben

Leute und nur einzelne Aufgaben. Sagen wir mal, wenn sie so eine Gemeinde haben und

versuchen diese allein zu führen, das schaffen sie gar nicht. Die Aufgabenteilung, die

Aufgabenverteilung, dass muss den Menschen erst bewusst gemacht werden. Sie haben ja

erst mal den ersten Vorsitzenden und dann den zweiten Vorsitzenden, den Schriftführer,

dann kommt der Kassenwart, der Finanzverwalter und dann kommen die drei Beisitzer.

So, wer ist jetzt wofür da? Das musste erst mal lernen, also ich gehe mal davon aus, dass in

Deutschland, bei den kleineren Städten sage ich mal, es ist zwar bitte, aber die Wahrheit,

dass die Gemeinden erst mal die Struktur aufbauen muss, dass jeder pflichtbewusst an

die Sache herangeht. Nicht nur einfach: ‚Der und der ist im Vorstand‘, sondern die Arbeit

muss auch wirklich gelebt werden, ja erledigt werden beziehungsweise umgesetzt werden.

Sie können ja Ideen haben als Vorsitzender, aber da auch dann Leben rein zubringen.

Da ist ihre Aufgabe als Vorsitzender. Ihr Leben, ihr Gedankengut den Menschen zu vermitteln,

was ja logischerweise auch mit dem Islam zu tun hat und so weiter und so fort.

Das geht natürlich nicht alleine, dass sie da also alleine sitzen, sie arbeiten ja in dieser


2 Ergebnisse der empirischen Studie 305

Zeit oder haben schon in der Vergangenheit mit diesen Leuten zusammengearbeitet,

sei es durch irgendeinen Runden Tisch bei der Stadt oder der Kommune ja verwirklicht

haben, wo sie daran teilgenommen haben. Sie saugen ja auch immer Ideen von anderen

Menschen auf, so wie den Kirchen, von dem Bürgermeister oder von der Stadt oder von

einem Doktor oder Professor, der von dieser oder jener Stadt kommt. Das müssen sie ja

erst mal verarbeiten und auch dann umsetzen. Und wir haben erstmal damit angefangen,

dieses pflichtbewusste Arbeiten versucht umzusetzen. Das war auch zum Beispiel so, und

das ist auch noch heute so, in einigen Gemeinden so, dass wirklich der Vorsitzende alle

Arbeiten macht. Das ist der Kassenwart, das ist der Schriftführer, das geht nicht. […]

Meine Anregung war ja, dass wir eine Sekretärin einstellen auf 400 Euro Basis, weil wir

sind ja auch nicht 24 Stunden an den sieben Tagen in den Räumlichkeiten. Ich habe ja

viele Arbeiten von zu Hause aus durchgeführt. […] Zum Beispiel das eine Person für

eine Aufgabe, also nicht ehrenamtlich, weil Ehrenamt geht nur bis zu einem Punkt.

Irgendwann kommt die Frau, die Kinder oder das Arbeitsleben oder man musste etwas

Außerordentliches tun, aber das haut ehrenamtlich nicht immer hin. Man möchte ja auch.

Das geht leider nicht, das bringt ja auch nicht, wenn sie sich immer für die Gemeinde

opfern. Weil keiner hat das ja was von, wenn auch man ein Lob bekommt: ‚Ach schau

mal was er geschafft‘, weil dafür habe ich es ja nicht gemacht und würde es auch nicht

nochmal dafür tun wollen.“ (S. 290 f.)

Die Schwierigkeit ergibt sich also bereits dadurch, dass für die Vorstandsaufgaben keine

ausreichende Zahl an Engagierten zur Verfügung steht, sodass häufig Personen als „Statisten“

eingestellt werden, nur um eine Formalität zu erfüllen. Des Weiteren wird die Funktion

des Vorstandes nicht in jeder lokalen Gemeinde verstanden, sodass es nicht verwundert,

wenn es zu keiner effizienten Aufgabenteilung innerhalb des Vorstandes kommen kann.

Anscheinend hat sich in den letzten Jahrzehnten aufseiten der Gemeindemitglieder eine

bestimmte Erwartungshaltung entwickelt, dass der Vorstand eine Art „Hausmeistertätigkeit“

ausübt und daher eher für die materielle Instandhaltung der Gemeinden zuständig

ist. Die Investition in die „Hardware“ habe Priorität, nicht die in die „Software“; daher

würden die wirklichen Ziele nicht angegangen:

„Also, das ist eigentlich eine wichtige Arbeit, um an diese Menschen heranzukommen, aber

die Vorarbeit müsste eine andere Einrichtung leisten. Weil ich sagen oder vielleicht auch

zugeben muss, dass die Moscheegemeinden, statt sich um die zentralen Anliegen wie die

Erreichung der Nicht-Gemeindebesucher zu kümmern, mit den eigenen internen Problemen

schon überfordert sind. Es herrscht zum Teil Unwissenheit und innere Streitigkeiten, die

dazu führen, dass man sich nicht mit den zentralen Anliegen auseinandersetzen kann.

Daher muss diese Aufgabe eine Institution übernehmen und nicht die Moscheegemeinden.

[…] Die Dachverbände, beide in Niedersachsen, sind bei dieser Frage sehr sensibilisiert

und interessiert. Aber was sollen die Landesverbände machen, wenn von den lokalen

Moscheegemeinden keine Reaktionen, keine Kooperationsbereitschaft oder Informationen

weitergeleitet werden. Die Dachverbände können da Maßnahmen formulieren, aber was

nützt es, wenn in den lokalen Gemeinden nicht umgesetzt wird? Das hängt vieles von

der Bereitschaft der Moscheevorstände und auch der Imame ab. Vor allem die Imame,


306 B Empirischer Teil

die aus der Türkei kommen, müssen mit viel Idealismus an die Arbeit gehen. Sie müssen

ihre Arbeit als eine Mission verstehen. Leider sieht das in der Realität anders aus. Das

ist zwar etwas beleidigend, aber die Tatsache ist, dass sich Imame denken: ‚Ich komme

nach Deutschland, leiste hier fünf Jahre mein Dienst, verdiene genug Geld, um in der

Türkei ein Haus, Auto oder Grundstück zu kaufen.‘ Mit so einer Einstellung kann man

keine Gemeindearbeit leisten. Um die muslimische Gemeinschaft wieder auf die Beine zu

bringen, benötigen wir idealistische Menschen, Imame und Moscheevorstände. Es darf

nicht um Eigeninteressen gehen, sondern das Wohl der Muslime muss im Vordergrund

stehen. Das müssen Menschen mit Perspektiven und Visionen sein und keine Karrieristen,

die über die Gemeindearbeit an ihre persönlichen Ziele und Interessen erreichen wollen,

indem sie sich einen Namen machen, um irgendwie in der Politik Karriere zu machen.

Dann kenne ich wiederum eine Reihe von Vorstandsmitgliedern die völlig selbstlos sogar

im Moscheeunterricht Kinder unterrichten oder ihre ganze Zeit für die Moschee opfern.

Andere dagegen können kaum was leisten, höchstens nur die Fassade der Moschee zu

erneuern oder sonstige Verschönerungen. Diese Rolle wird auch vielen Gemeindemitgliedern

erwartet, dass also der Vorstand nur für die finanziellen Regelungen und baulichen

Fragen am Gebäude verantwortlich sind, mehr nicht. Sie haben nur eine Aufsichts- und

Kontrollfunktion. Diese falschen Erwartungen müssen wir brechen. Der Vorstand sollte

nicht dafür verantwortlich sein, dass die Moschee gereinigt werden, das immer Toilettenpapier

vorhanden ist, sondern das Ziel haben: ‚Wie läuft die religiöse Erziehung? Wie

viele Kinder erreichen wir und könnten erreichen? Mit welchen Gemeinden könnte ich

in Kontakt treten, um mich auszutauschen? In welchen Aktivitäten könnte ich mich

einbringen? Wie könnte ich die Arbeit der Moschee verbessern?‘ Diese Fragen müssen

die Vorstände behandeln und nicht die Frage, ob es irgendwo in der Moschee und nicht

ist und tropft oder die Heizungen funktionieren usw. Sie sind wie die Hausmeister in den

Moscheen. Aus dieser Rolle müssen wir sie befreien.“ (Said Ö., S. 114, 163)

Wenn man bedenkt, dass ein Vorstand der „Kopf“ einer Gemeinde ist und über die inhaltliche

Ausrichtung wesentlich mitbestimmt, dann wird ersichtlich, dass viele Konflikte

infolge der in der Zitation skizzierten Konstellation vorprogrammiert sind. Neben diesen

vorhandenen Hürden bei der Vereinsarbeit führen auch die traditionellen Vorstellungen

von Gemeindearbeit in den Vorständen zur Inflexibilität, und daher sind Innovationen

nur sehr schwer durchsetzbar:

„Ich glaube für die muslimischen Familien ist die größte Herausforderung die Bewahrung

dieser religiösen Identität, die Zugehörigkeit zum Islam und dessen was die religiöse

Identität auch ausmacht und das sehe ich jetzt schon riesengroße Risse, dass man das

Wissen darüber – wie ich vorhin gesagt habe – besitzt, aber praktisch nicht umsetzt. Das

Problem ist aber, dass sozusagen immer mehr diejenigen Einflüsse, diese traditionellen

muslimischen Familien ausmachen, nicht mehr vorhanden sind, sondern das ganz andere

gesellschaftliche Wirklichkeiten da sind. Wie vorhin gesagt, das Leben ohne verheiratet zu

sein, dass man öfter Partner wechselt, dass man mit Sexualität ziemlich liberal, ziemlich

frei umgeht, dass man sich in der Namensgebung sich keine große Gedanken macht, dass

man sozusagen den eigenen familiären Bezug nur bei religiöse Festen ausmacht und dass


2 Ergebnisse der empirischen Studie 307

diese (religiösen) Feste nicht selten auch mit Alkohol zum Beispiel begeht usw. Da müssen

auf der anderen Seite die Moscheegemeinden aktiver werden, indem sie Aufklärungsarbeit

betreiben, Angebote an solche Familien machen, die also solche Familien erst mal ansprechen,

nur das Problem ist es, dass wir, wie vorhin auch gesagt, eine bestimmte Kluft

in den Moscheegemeinden haben, zwischen denjenigen, die traditionelle Vorstellungen

von der Moscheearbeit haben und diejenigen, die sozusagen, etwas innovativer wären.

Das sind auch bestimmte Streitigkeiten nicht auszuschließen durchaus.“ (Esref B., S. 35)

Die charakterisierte Lage in den Vorständen ist auch ein Grund für das Problem der

organisationsinternen Kommunikation. Die Asymmetrie in der Zusammensetzung von

Vorstandsmitgliedern hinsichtlich formaler Qualifikation, Bildungsniveau, Kompetenzen

und Erfahrungen in der Verbands- und Vereinsarbeit führt dazu, dass Probleme innerhalb

der Gemeinden nicht in formellen Strukturen angesprochen und angegangen werden. Zwar

sprechen alle Experten davon, dass Ängste und Sorgen über Entwicklungen existieren, diese

sind aber sehr latent und werden auch nur in informellen Kreisen explizit angesprochen.

Diese Ausgangssituation wiederum unterbindet die Kommunikation zu den Gemeinden

des eigenen Landesverbandes:

„Leider, leider. Es gibt kein funktionierendes Kommunikationssystem, weil zwischen

den Mitgliedern in den Gemeinden und deren Vorständen ein Kommunikationsbruch

existiert. Dann bekommen wir oft mit, dass es dann bei den Wahlen, die alle paar Jahre

stattfinden, es zu großen Streitigkeiten kommen, weil die Mitglieder den Vorständen

Fehler und Passivität vorwerfen. Wenn aber die fast 200 Moscheegemeinden dasselbe

Kommunikationssystem wie in unserer Gemeinde einführen würden, wäre die Arbeit

effizienter. Das ist viel besser und einfacher, wenn man sich jeden Monat einmal trifft

und die gesamten Anliegen zur Sprache bringt, statt sich nur alle zwei Jahre zu sehen.

Ich sehe ja, welche Schwierigkeiten die anderen Vorstände haben.“ (Hayrettin G., S. 147)

Zwischen den Moscheegemeinden der einzelnen Landes- und Bundesverbände entstand

in den letzten Jahren zwar ein grundsätzlich besseres Verhältnis, dennoch existieren

Kommunikationsprobleme, die zum einen aus den oben dargestellten mangelnden Kommunikationsstrukturen,

zum anderen auch aus Interessenkonflikten, die zum Teil auf

historische Zerwürfnisse zurückgehen, resultieren. Um die gegenwärtige Konstellation

hinsichtlich der engen Kooperationsversuche der einzelnen Moscheegemeinden als einen

Fortschritt zu erkennen, wird aufgrund ihrer Aussagekraft die sehr lange Zitation

eines „Zeitzeugen“ mit den darin enthaltenen historischen Informationen unverkürzt

wiedergegeben, weil sie sowohl die damaligen Konkurrenzkämpfe zwischen den diversen

islamischen Organisationen als auch die späteren Annäherungsversuche der Gemeinden

im Rahmen des islamischen Religionsunterrichts sehr gut verdeutlicht:

„Damals war es so, wenn man zu einem Verband stand, war es so wie als wäre man Fan

von einem Fußballklub. Meiner Meinung hat das damit zu tun, dass diese Verbände

unterschiedliche religiöse oder politische Traditionen hatten. Zum Beispiel konnten die

Nurcus auf eine siebzig-, achtzigjährige Tradition als Religionsgemeinschaft zurückblicken,


308 B Empirischer Teil

genauso die VIKZ mit ihrer mystischen Tradition. Daneben entstanden jedoch eher politisch

orientierte Verbände wie Milli Görüs oder die Grauen Wölfe, die auch anfingen

Moscheen zu gründen. Ich habe damals schon erkannt, dass diese politische Kämpfe nach

Deutschland gebracht worden, so in den 1980er-Jahren. Ich selbst bin 1980 nach Deutschland

eingereist, so mit zwölf, dreizehn Jahren. Danach kam der 12. September Putsch in

der Türkei. Ich habe da so eine Erinnerung an die Zeit, damals ging ich zu VIKZ, um

Koran zu lernen, und eines Tages bin ich mal zu Milli Görüs zum Freitagsgebet gegangen.

Der Imam hielt eine Rede an der Kanzel und sprach über den Putsch in der Türkei. Der

Imam sagte: ‚Es ist besser, wenn ein griechischer General käme als diese türkischen Militärs.‘

Danach ging ich ein paar Blocks weiter zu einer anderen Moschee. Die Moschee

gab sich zwar unabhängig, aber sie befand sich in einem Gebäude, das den Grauen

Wölfen gehörte. Daher waren überall türkische Fahnen und die Flaggen der Grauen

Wölfe und dort hörte man wiederum eher nationalistische Töne. Die VIKZ wiederum

war wie immer patriotisch und auf Seiten des türkischen Staates, also niemals oppositionell.

Ich ließ mich auch in dieser Atmosphäre mitreißen, obwohl ich nichts von Politik

verstand, und kritisierte diejenigen, die Türkei und die politischen Entwicklung dort

kritisierten. Das war ja schließlich meine Heimat, der Ort, wo ich aufgewachsen war.

Aber meine Familie war eigentlich anders eingestellt und viel kritischer. Der Großvater

meiner Großmutter war ein Sufi-Meister, daher haben wir eine mystische Tradition und

waren auch anti-kemalistisch. Ich verstand zwar nicht viel von Politik, doch wusste ich,

was man den Muslimen damals [durch Atatürk, Anm. d. V.] angetan wurde. Danach

hatte meine Familie Sympathien mit Adnan Menderes 710 , also im Grunde waren wir

politisch immer rechts-konservativ. So war das halt. Das hat sich dann auch in Deutschland

bei den Gemeinden gezeigt. Zum Beispiel, wenn es um die Bestimmung der islamischen

Feiertage ging, hieß es dann von seitens einigen Moscheegemeinden: ‚Wir haben

eine Nachrichten aus Saudi-Arabien erhalten, der Feiertag wird an diesem und jenem

Tag sein.‘ 711 Andere haben sich dagegen nach dem zeitlichen Regelungen der Türkei gehalten.

Die erste DITIB-Moschee in Hannover wurde erst 1982 gegründet. Bis dahin gab

es die DITIB nicht. Es gab auch kaum islamische Kalender. Nur eines von den VIKZlern

und die andere war die von IGMG [Islamische Gemeinschaft Milli Görüs]. Den ersten

wirklichen islamischen Kalender haben die Nurcus herausgebracht. Früher hatten diese

Kalender jeweils nur eine Seite mit den Gebetszeiten. Die Nurcus haben dann, inspiriert

von den christlichen Missionaren, deren Kalender auf der Rückseite jedes Blattes eine

710 Der Politiker Adnan Menderes amtierte von 1950 bis 1960 als Ministerpräsident der Türkei.

Er ist unter den konservativen Muslimen vor allem deshalb beliebt, weil er den arabischen Gebetsruf,

der im Zuge der nationalistischen Reformen zuvor türkisiert wurde, wieder einführte.

Nach dem Militärputsch am 27. Mai 1960 wurde er im folgenden Jahr von einem Militärgericht

zum Tode verurteilt und hingerichtet.

711 Da der Fastenmonat Ramadan mit der Sichtung des Neumondes beginnt, wird jedes innerhalb

der muslimischen Weltgemeinschaft darüber debattiert, wann der konkrete Monat beginnt.

Ein Streitpunkt stellt dabei die Frage, ob man den Neumond durch Berechnungen voraussagen

kann oder ob man ihn mit dem bloßen Auge erblicken muss (vgl. hierzu den Artikel: Janek

Schmidt: Nicht mehr sicher mit dem Sichel“ abgerufen unter http://www.sueddeutsche.de/

politik/ende-des-ramadan-nicht-mehr-sicher-mit-der-sichel-1.1139869 [21.3.2014])


2 Ergebnisse der empirischen Studie 309

Geschichte beziehungsweise etwas Lehrreiches stand. Die Nurcus, die in England studierten,

lernten diese Kalender kennen und holten es in die Türkei. So entstand die heutige

Form der islamischen Kalender mit den Koranversen oder Ḥadīṭe auf den Rückseiten.

Das kam in der Türkei so gut an, dass alle anderen islamischen Verbände von VIKZ bis

Diyanet dieses Format nachahmten. So, warum habe ich ihnen das jetzt alles erzählt?

Damals hatten also die islamischen Verbände eigene Moscheen, eigene Kalender mit

unterschiedlichen Feiertags- und Gebetszeiten. Die Moscheen hatte sogar ihre eigenen

Mitgliedern untersagt in den Moscheegemeinden der anderen Verbände, unter der Leitung

der anderen Imam zu beten, weil sie die anderen Gotteshäuser als ‚Masğid al-Ḍirār’ 712

beschimpften. Das ist ja auch der islamischen Geschichte bekannt diese Bezeichnung der

Moschee, die die Heuchler als prachtvolle Moschee direkt gegenüber der bescheidenen

Moschee der Gefährten des Propheten Muhammad erbauten, um Zwietracht zu säen.

Solche Bezeichnungen aus den Geschichtsbüchern wurden also verwendet, um andere

Gemeinden zu diskreditieren. Daher hatte ich damals aus der Türkei bekannte Intellektuelle,

Journalisten und Autoren eingeladen, die dieses Eis zwischen den konkurrierenden

Verbänden allmählich zum Schmelzen brachten. Daher kannte man mich in Hannover

schon in sehr jungen Jahren. Daher hatte ich es auch einfach, als ich mit einigen Leuten

aus der AG die Moscheen besuchte, um für den geplanten Dachverband Schura zu werben.

Wir haben es aber nicht dabei belassen nur die VIKZ, die IGMG, die arabischen, bosnischen

Moscheen usw. aufzusuchen, sondern wir wollten auch die DITIB gewinnen. Zu

der Zeit hatte der Religionsattachée aus Hannover gerade seinen Dienst in Deutschland

beendet und sein Stellvertreter war im Amt, bis der neue kommen sollte. Da wir es hier

mit Bürokraten zu tun haben, haben wir noch einen ehemaligen Lehrer aus der Türkei

mit zu dem Gespräch mit der DITIB mitgenommen, den Herr Mustafa B. Wir haben

versucht den Stellvertreter zu überzeugen, dass wir für die Anliegen der Muslime wie

Seelsorge, Religionsunterricht, muslimische Friedhöfe usw. gemeinsame Strukturen

schaffen müssen. Der aber war nicht kooperativ, sondern vielmehr versuchte er Hürden

aufzubauen, um eine Kooperation mit der DITIB eher zu verhindern. Dann fing er sogar

an, uns Fragen zu stellen wie: ‚Wie viele Türken gibt es bei euch? Wie viele sind deutsche

Staatsbürger?‘ Daraufhin wurde der ehemalige Lehrer aus unserer Delegation wütend

und antworte ihm auch sehr scharf: ‚Ich bin deutscher Staatsbürger und wir alle sind hier

deutsche Muslime. Du bist nur für deinen Lohn zuständig und nicht für solche Fragen.

Wir leben hier in Deutschland und müssen uns mit den Bedürfnissen der Muslime hier

auseinandersetzen. Ich war Lehrer in der Türkei und musste nach dem Putsch in Gefäng-

712 Der historische Hintergrund dieses Begriffs ‚Moschee des Schadens‘ geht auf einen rivalisierenden

Moscheebau in Medina durch die sogenannten munāfiqūn (Heuchler) zurück, die als

kleine Gruppe unter den Muslimen lebten und sich wie diese verhielten, aber eigentlich durch

strategische Allianzen mit den anti-islamischen Kräften gegen Muhammad und seine Gefährten

agierten. Um eine Gegeninitiative zur Zentralmoschee in Medina zu starten, ließ diese Gruppe

eine konkurrierende Moschee bauen, damit sie Spaltungsprozesse innerhalb der Muslime initiieren

und somit die junge muslimische Gemeinschaft von innen her schwächen konnte. Im

Koran wird dieses historische Ereignis in den Versen 107 und 108 der 9. sūra behandelt. Seitdem

nutzen Muslime diese Bezeichnung mit sehr viel Symbolkraft, um gegnerische Moscheen zu

stigmatisieren.


310 B Empirischer Teil

nis in Mamak, weil ich MHP-Mitglied war. Also komm mir nicht mit dieser türkisch-nationalistischen

Schiene. Wir leben hier in Deutschland und haben dringende Bedarfe.‘

Ein mazedonischer Muslim aus unserer Delegation hatte ähnliche Erfahrungen mit dem

Vorstand einer DITIB-Moscheegemeinde, weil es wie ein Verhör war. Daraufhin sagte

dieser mazedonischer Freund: ‚Wer gibt ihnen das Recht mir solche Fragen zu stellen? Ich

bin nicht einmal türkischer Staatsbürger. Du erhältst dagegen deine Anweisungen vom

Konsulat.‘ Diese Berichte zeigen also schon, dass bereits innerhalb der muslimischen

Gemeinden große Risse waren, die die Gründung eines gemeinsamen Dachverbandes

erschwerten. Und die DITIB war damals gegenüber anderen muslimischen Gemeinden

sehr misstrauisch und skeptisch und daher eher ablehnend. Danach kam der neue Religionsattachée,

mit ihm haben wir auch gesprochen. Da wir damals unsere Kraft und

Einfluss nicht einschätzen konnten, haben wir DITIB viele Zugeständnisse gemacht. Die

DITIB teilte mit, dass sie etwa 60 Moscheegemeinden in Niedersachsen haben. Daher

haben wir einen Vorstand für den geplanten Dachverband vorgeschlagen, der 17 Mitglieder

haben sollte. Davon sollte allein DITIB zehn Personen besetzen. Danach haben wir

uns in die Arbeit gestürzt und damit begonnen eine Vereinssatzung zu verfassen. Zugleich

arbeiteten wir daran, einen theologischen Grundkonsens für alle Gemeinden zu formulieren,

die sich diesem neuen Dachverband anschließen sollten. Grundkonsens sollte sein

die fünf Säulen, die sechs Glaubensbedingungen, die 32 Farḍ und ein Bekenntnis zur

Demokratie. Parallel hatten wir schon damit begonnen, unsere Forderungen an die Politik

zu fordern. Danach gründeten wir in Kooperation mit dem Ministerium einen

runden Tisch. Eingeladen waren der Religionsattachée, der Vorstandsvorsitzende von

DITIB, die Schura hatte seinen Vorsitzenden geschickt und insgesamt fünf weitere Personen

nahmen daran teil. Das Konzept des Ministeriums sah zu der Zeit also so aus, dass

DITIB und Schura jeweils ein Vertreter am runden Tisch hatte, die Aleviten waren durch

Ismail Kaplan vertreten, die VIKZ ein Vertreter sendete, wobei sie später diese Stimme

auf die Schura übertrugen. Weil der Zentralrat der Muslime die ersten waren, die einen

Lehrplan für den islamischen Religionsunterricht formulierten, wollte das Ministerium

die auch am runden Tisch dabei haben.“ (Hamit A., S. 62 ff.)

Die Herausforderungen für die Etablierung eines effizienteren Kommunikationssystems für

die lokalen Gemeinden beziehungsweise für die Landesverbände liegen auch darin, dass die

zahlreichen Moscheegemeinden, die der Schura angehören, wie der Verband Islamischer

Kulturzentren, Milli Görüs oder die bosniakischen Gemeinden, zusätzlich einen eigenen

Bundesvorstand haben. Daher existieren Kommunikations- und Informationskanäle auf

unterschiedlichen Ebenen:

Die Frage der Kommunikation zwischen den Gemeindemitgliedern und dem Vorstand

innerhalb der lokalen Gemeinden;

die Kommunikation zwischen den Moscheevorständen der unterschiedlichen lokalen

Gemeinden, wie etwa auf sozialräumlicher Ebene;

die Kommunikation zwischen den lokalen Gemeinden und Landesverbänden;

schließlich die Kommunikation zwischen den Landes- und den Bundesverbänden.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 311

Dieser Prozess ist infolge des mangelnden Informationsaustausches und zum Teil durch

konträre Interessen zwischen den einzelnen Bundesverbänden und den Landesverbänden

sowie den einzelnen Moscheevorständen äußerst störanfällig. Dies schlägt sich auch im

Kommunikationssystem sowie bei der Identifikation der zentralen Probleme in den lokalen

Gemeinden nieder, die eben nicht entsprechend an die Landes- und Bundesverbände

kommuniziert werden können. Probleme kann man nur lösen, wenn man sie identifiziert

und offensiv angeht. Die folgende Aussage eines sehr einflussreichen Experten in der

muslimischen Gemeinschaft schildert diese Problematik wie folgt:

„Leider ist die Kooperation zwischen den Gemeinden und den unterschiedlichen Verbänden

in Niedersachsen mangelhaft und nicht so, wie man es sich eigentlich wünscht.

Das muss man leider zugeben. Bis vor kurzer Zeit war sogar die allgemeine Kooperation

von DITIB und Schura sehr schwierig, weil man sich gegenseitig blockierte, obwohl man

doch für die gleichen Ziele, für die Anliegen der Muslime arbeiten sollte. Oft war man in

machtpolitischen Diskussionen verwickelt, nach dem Motto: ‚Unser Verband ist größer

und sollte mehr Stimmen haben usw.‘ Die eigentlichen Fragen, wie man sich gegenseitig

befruchtet könnte, welche Angebote in den jeweiligen Verbänden besteht oder ob die

anderen vielleicht ein Curriculum für die Moscheen haben, diese Fragen hat man nicht

behandelt, sondern nur so oberflächliche Themen. Dieser Austausch hat nicht mal unter

den Nachbarmoscheen stattgefunden, stattdessen ist man sich lange Zeit aus dem Weg

gegangen. Diese Kommunikationsblockaden versuchen wir nun in letzter Zeit zu durchbrechen.

[…] Also die Kommunikation auf Bundesebene dagegen läuft gut, auf Landesebene

läuft es auch gut. Es sind Gott sei Dank immer mehr Mitarbeiter, die kompetent sind,

studiert sind. Die wissen auch in der Regel über die Probleme der Basis Bescheid. Aber

die Kommunikation von der lokalen Ebene aus, über Probleme im Moscheeunterricht

zum Bespiel, dort haben wir große Probleme. Dort werden die Themen in den Vorständen

eher zufällig beziehungsweise nach den Sorgen des Vorsitzenden bestimmt. Wenn es sich

um einen Vorsitzenden handelt, der selbst noch Kinder hat und die auch die Gemeinde

besuchen, dann spielt die religiöse Erziehung eine Rolle für ihn. Handelt es sich aber um

einen Vorsitzenden, dessen Kinder schon erwachsen sind oder aus dem Haus sind, dann

interessiert ihn das Thema religiöse Erziehung überhaupt nicht. Dann geht es vielleicht

darum, den Ladenlokal 713 der Moschee zu fördern, um mehr Geld in die Moscheekasse zu

bringen. Und wenn man dann fragt: ‚Und was hast du mit dem Geld vor.‘ Antwort: ‚Ich

weiß es nicht, mal sehen, vielleicht benötigen wir es.‘ Wenn sie mich fragen ist es heute

wichtiger und erforderlicher ein Zentrum für religiöse Erziehung zu errichten, als teure

Moscheen mit Kuppeln und vier Minaretten. Wir müssen mit der Erziehung die religiöse

Identität unserer nächsten Generationen sichern. Was nützt es, wenn man die Blaue

Moschee aus Istanbul hier errichtet, aber wenn sie ohne Gemeinde steht, leer steht. Dann

ist die Moschee nichts weiter als Erde, als Ziegelsteine. Wir müssen daher die Moscheen

mit bewussten, gebildeten Muslimen füllen, daher ist die religiöse Erziehung sehr sehr

713 Jede Gemeinde unterhält einen kleinen Lebensmitteladen für die eigenen Mitglieder, um aus

dem Gewinn die laufenden Kosten der Moschee, die häufig allein über die Mitgliedsbeiträge

nicht gedeckt werden können, zu begleichen.


312 B Empirischer Teil

wichtig. Mit Erziehung meine ich auch Familien, junge Menschen oder die junge Leute die

kurz vor ihrer Heirat stehen. Viele wollen heiraten, wissen aber nicht was Ehe eigentlich

bedeutet. Und die Entwicklungen kennen sie ja auch was Scheidungen betrifft. In der

Angelegenheit sind wir beinahe auf dem gleichen Stand wie die deutschen Familien. […]

Früher fand die Mitgliedervollversammlung ein Mal im Jahr statt, dann wurden es alle

zwei Jahre und nach der aktuellen Landesverbandssatzung trifft man sich alle drei Jahre,

um sich auszutauschen. Das heißt jetzt haben wir die Möglichkeit uns nur alle drei Jahre

mal in dieser großen Runde zu sehen. Was mich dann noch besonders enttäuscht ist,

dass bei den Tagespunkten die Wünsche und Bedürfnisse der Mitglieder beziehungsweise

der Gemeinden an letzter Stelle auftaucht. Ich habe das schon oft kritisiert. Es werden

erst mal alle Formalien abgearbeitet, die Wahlen werden abgehalten und zum Schluss,

wenn schon die meisten Teilnehmer nach Hause gegangen sind, wird der letzte Punkt,

die Anliegen der Gemeinden besprochen. Und wenn dann die Anliegen an den Vorstand

gerichtet wird, dann geht es darum, dass man die Teestube baulich erweitern soll, hier

ein Bauvorhaben und dort eine Erweiterung und Ende, das war’s. Niemand bringt die

Probleme in der religiösen Erziehung zur Sprache oder das die sozialen und kulturellen

Aktivitäten nicht vorankommen. Diese Themen werden nie zur Sprache gebracht. In den

Moscheen wurde bisher so gut wie nicht sich über diese wichtigen Angelegenheiten beraten

und ausgetauscht. Die Frage, was die Bedürfnisse und Sorgen der Kinder, Jugendlichen,

Älteren, der Eltern usw. ist, wird immer noch in den meisten Gemeinden leider nie diskutiert

und nicht thematisiert. Wenn man zehn Tagespunkte hat, dann müssen diese

sozialen und kulturellen Fragen an erster Stelle, als Top 1 stehen. Aber es ist leider genau

umgekehrt. Wie sieht unser Tätigkeitsbericht vom letzten Jahr aus? Was sind unsere kurz-,

mittel- und langfristigen Ziele unserer Gemeinde? Leider wird nicht darüber diskutiert.

Die meisten Vorstände arbeiten nur nach tagesaktuellen Entwicklungen ohne Plan, das

heißt das was sich einfach an diesem Tag ergibt.“ (Yalcin K., S. 87 f., S. 100)

2.2.5.3 Personelle und finanzielle Rahmenbedingungen

der Gemeindearbeit

Die personellen und finanziellen Rahmenbedingungen der muslimischen Gemeinden

sind entscheidende Faktoren dafür, um sich kompetent und sachlich mit den neuen

gesellschaftlichen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Für die Umsetzung neuer

Strategien sind diese Determinanten auf den Ebenen lokale Gemeinde, Landesverband

und Bundesverband sehr unterschiedlich verteilt. Auf der Bundesverbandebene hat man,

wie etwa bei den Bosniaken, dem Verband Islamischer Kulturzentren (VIKZ) oder bei der

DITIB überwiegend hauptamtlich Angestellte, weil die finanziellen Budgets die Einstellung

von entsprechendem Personal erlauben. Auf der Landesebene dagegen fehlen weitgehend

die monetären Möglichkeiten und man arbeitet überwiegend ehrenamtlich. Allerdings wird

bei der Personalauswahl sehr stark selektiert, sodass eher die kompetenten Mitglieder dort

tätig sind. Ganz andere Bedingungen sind in den lokalen Gemeinden anzutreffen, die mit

begrenzten materiellen, personellen und zeitlichen Ressourcen arbeiten müssen. 714 Beim

714 Diese mangelnden finanziellen und personellen Ressourcen der Moscheegemeinden sind

häufig die Ursache dafür, dass bei Projekten oder Dialoginitiativen oft ein asymmetrisches


2 Ergebnisse der empirischen Studie 313

Personal beginnt das Problem bereits bei der Entlohnung des einzigen hauptamtlich Tätigen,

und zwar dem Imam als theologischer und sozialer Referenz. Da der Imam im Grunde

für die meisten religiösen und pädagogischen Aufgaben in der Gemeinde verantwortlich

ist, stellt er eigentlich eine zentrale Figur dar und müsste entsprechend vergütet werden.

Während die DITIB aufgrund ihrer Kapitalressourcen ihre Imame angemessen bezahlen

kann, sieht es in den meisten Gemeinden Niedersachsen anders aus:

„Ikbal I.: Das ist unterschiedlich, aber durchschnittlich zwischen 800 bis 1300 Euro netto.

Das ist völlig unangebracht diese Bezahlung. Die meisten Imame nehmen diese Unterbezahlung

in Kauf, weil sie das für den Gottes Wohlgefallen tun, aber das ist nicht fair. Denn

der Imam arbeitet ja nicht nur acht Stunden am Tag. Allein das der Imam an den fünf

Pflichtgebeten täglich in der Moschee sein muss, und das zu unterschiedlichen Zeiten, ist

ja schon eine Leistung für sich, weil im Grunde der ganze Tag des Imams nur nach diesen

Gebetszeiten stattfindet und er kaum Freizeit oder Feierabend hat. Die Zeiten zwischen

diesen Gottesdiensten muss der Imam sich den Fragen und Sorgen der Gemeindemitglieder

oder dem Privatunterricht von bestimmten Koranschülern widmen, daher kann

man nicht viel für den Tag, für die eigene Freizeit planen. Der Imam arbeitet manchmal

16 Stunden, manchmal 20 Stunden am Tag. Die Arbeit an sich ist zwar nicht körperlich

schwer, aber die Intensität der Arbeit macht diese Tätigkeit zu einem schweren Beruf.

Wenn Sie mich fragen, muss der Imam mindestens wie ein Lehrer verdienen. Beachten Sie

bitte, dass ich sage, mindestens. Wir sind die einzige oder einer der wenigen Gemeinden

in Deutschland, die ihren Imam gut bezahlen. Wir zahlen so 2000 Euro im Monat Netto.

I.: Das ist nicht üblich

Ikbal I.: Nein, ist nicht üblich.

I.: Warum so hoch?

Ikbal I.: Weil wir es so für angemessen erachten. Hätten wir die finanziellen Möglichkeiten,

würden wir den Imam auch mit 3000 Euro entlohnen. Ich frage sie, wenn sie Imam

wären und müssten zu bestimmten Zeiten, über den ganzen Tag verteilt, in der Moschee

sein, müssten in der Nähe Moschee wohnen und jederzeit – wenn es klingelt – für die

Sorgen ihrer Gemeinde da sein und diese Mitglieder pädagogisch betreuen, dann hätten

sie keine freien Wochenenden, weil sie Kinder unterrichten müssten. Würden Sie so eine

intensive Arbeit für 1200 oder 1500 Euro ausüben? Und wir müssen die Forderungen der

besseren Bezahlung nicht mal mit dem Lehrersold vergleichen, sondern ruhig mit den

Priestern und Pastoren, die ja wie die Imam auch Religionsbeauftragte sind. Die machen

ja im Grunde die gleiche Arbeit, aber verdienen viel mehr als die Imame, obwohl sie nur

an den Sonntag die Kanzelrede halten müssen. Unsere Imame müssen viel mehr leisten,

daher verlangen wir vom Staat, dass die Imam mindestens genau so viel verdienen wie

die christlichen Pastoren.

Verhältnis zu den externen Partnern herrscht. So konnte die Studie von Gritt Klinkhammer

zeigen, dass bei interreligiösen und interkulturellen Dialogen bei christlich-muslimischen

Austauschveranstaltungen nicht etwa gegenseitige Missionierungsversuche wahrgenommen

werden, sondern die Hürden häufiger in dieser strukturellen und personellen Asymmetrie

gesehen wurden (vgl. Gritt Klinkhammer et al. Interreligiöse und interkulturelle Dialoge mit

MuslimInnen in Deutschland. Eine quantitative und qualitative Studie, Bremen 2011, S. 89 ff.).


314 B Empirischer Teil

I.: Sie zahlen ja 2000 Euro, was ja sehr viel Geld ist im Vergleich zu anderen muslimischen

Gemeinden. Sehen Sie irgendwelche positive Effekte in der Arbeit des Imam was

die Motivation betrifft oder arbeitet der ohnehin mit einer rein idealistischen Motivation?

Ikbal I.: Natürlich zeigt sich die gute Bezahlung in der Arbeit. Natürlich spielt das Materielle

eine Rolle, schließlich ist der Imam ja kein Engelwesen. Wenn der Imam dagegen nur 1000

Euro verdient, dann muss er sich den Kopf über seinen Lebensunterhalt zerbrechen und

kann sich nicht voll auf seine Arbeit konzentrieren. Bei 2000 Euro dagegen hat er diese

materiellen Sorgen nicht und könnte sogar auch mal seinen Schülern materiell helfen,

wenn die ein Heft oder so benötigen. Bei einem Einkommen von 3000 Euro könnte er

sogar sich vielleicht hin und wieder eine Aushilfe organisieren, dem er 200 oder 300 Euro

aus eigener Tasche zahlen könnte. Je höher also der Verdienst des Imam, desto größer

seine Möglichkeiten.“ (S. 179 f.)

Alle anderen Mitarbeiter der lokalen Gemeinden arbeiten dagegen ehrenamtlich, wobei –

wie oben kritisch angemerkt – nicht immer nach Kompetenz selektiert wird, sondern nach

der Bereitschaft für das Engagement, oder man fungiert nur als „Namensgeber“, damit der

Vorstand zumindest formal seine Arbeit aufnehmen kann. Die Mitgliederzahlen sind zwar

stabil, aber aufgrund der geringen Beiträge, die bei 5 Euro beginnen, sind die finanziellen

Ausgangsbedingungen sehr beschränkt, sodass kein professionelles Personal, wie etwa bei

den Kirchen üblich, verpflichtet werden kann:

„Weil ich für fī sabīlillāh 715 arbeite. Und wenn ich Gelde wollte, wer sollte uns denn eigentlich

bezahlen? Die Gemeinden sind doch nur sehr schwer mit Spendengeldern auf den

Beinen zu halten […] Manchmal bis zu acht bis zu zehn Stunden. Als wir das Gebäude

hier noch gebaut haben, bin sich sogar sofort nach der Nachtschicht, wenn ich so gegen

7.00 Uhr kam, legte ich mich für zwei Stunden hin, konnte aber nicht schlafen, dann kam

ich sofort hierzu Baustelle und habe geholfen. Das sind hier Gotteshäuser, Gemeinden,

die für die Öffentlichkeit arbeiten. Wie könnte man da Geld verlangen? Wir arbeiten

hier um den Wohlgefallen Gottes zu bekommen, weil es alles Spendengelder sind, damit

die Wasserkosten, Heizkosten und der Strom dieser Moscheegemeinden bezahlt werden.

Wenn ich da noch Geld verlangen würde, wie könnte ich das vor Gott rechtfertigen? Das

wäre möglich, wenn wir zum Beispiel Imame usw. bezahlen könnten, aber unter den

heutigen Bedingungen kann man da kein Geld verlangen. Wenn ich schon einen Beruf

habe und mein Lohn bekomme, dann kann ich doch für ehrenamtliche Arbeit, ob ich

jetzt die Moschee sauber halte oder bei Baumaßnahmen behilflich bin, da kann ich doch

kein Geld verlangen.“ (Haluk K., S. 153)

Das Problem der Zusammensetzung der Vorstände durch Personen, die nur sozusagen ihren

Namen hergeben, um die formalen Voraussetzungen zu erfüllen, führt zu einer Überlastung

der wirklichen Aktiven in den Gemeinden, denn von jedem aktiven Ehrenamtlichen wird

das Ausfüllen mehrerer Gemeinderollen erwartet, obwohl vorschriftsmäßig eigentlich eine

Aufgabenverteilung vorgesehen ist:

715 Arabisch für Weg, Pfad Gottes.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 315

Erstens die materiellen Voraussetzungen und zweitens fehlt es an kompetenten, qualifizierten

Personal. Nur der Imam wird aus der Türkei als einzig ausgebildetes Personal

geholt, ansonsten im Bereich Erziehung, Kultur und Soziales ist da kein Personal. Diese

Aufgaben übernimmt in der Regel in den Gemeinden immer nur eine bestimmte Person.

Dann ist noch zusagen, dass die Vorstandsmitglieder über keine Erfahrungen in der

professionellen Vereinsarbeit haben. Meistens werden in der Vollversammlung, in der

Mitgliederversammlung Personen darum gebeten, im Vorstand mitzumachen. Man

lässt sich also eher dazu überreden als das man aus freien Stücken zusagt. Aber das ist

nicht Vereinsarbeit so wie es in den Satzungen steht. Nach der Satzung muss man für die

Kinder, für die Jugendlichen, für die Frauen, für die Älteren usw. Dienste, Aktivitäten

anbieten. Das sind nur die Aufgaben, die man ehrenamtlich in den Moscheen übernehmen

muss. Damit ist es aber nicht getan, denn hinzukommen die Aktivitäten außerhalb der

Gemeinden. Zu uns kommen Behörden, die Polizei, die Kirchen, die Feuerwehr usw. und

wollen kooperieren. Da zeigt sich wieder das Problem: Es gibt keine gut ausgebildeten

Ehrenamtlichen, die diese Verantwortung übernehmen könnten.“ (Yalcin K., S. 86)

Eine weitere Frage wird in diesem Zusammenhang von den Experten besonders hervorgehoben,

und zwar die Fluktuation bei den Ehrenamtlichen in den Vorständen. Diese ist auch

beim Nachwuchs, der jahrelang in die Gemeindearbeit eingeführt werde, zu beobachten,

aber die jungen Mitglieder kündigen diese ehrenamtlichen Tätigkeiten oft zugunsten der

eigenen beruflichen Karriere. Daher sei auch der Anteil der Akademiker oder Höherqualifizierten

in den Vorständen gering:

„Es gibt nicht nur eine Herausforderung, sondern viele. Zuerst ist es schwierig, ehrenamtlich

in einem Landesverband zu arbeiten. Man kann nicht gleichzeitig einen Beruf nachgehen

und sich zusätzlich ehrenamtlich engagieren. Irgendwann stößt man an seinen Grenzen.

Dann benötigt die Schura dringend ein Büro und eine Sekretariatsstelle, ein Mitarbeiter,

der tagsüber immer erreichbar ist. Sowohl DITIB als auch die Schura brauchen so eine

Anlaufstelle, um langfristig gefestigte Strukturen aufzubauen. Ein noch größeres Problem

sehe ich darin, dass jetzt – Gott sei Dank – der Religionsunterricht eingeführt wird, wir

aber kein Personal dafür haben. Personalprobleme haben wir auch in den Gemeinden

und im Dachverband. […] Also wie gesagt, ein zentrales Büro fehlt in Niedersachsen.

Ein Büro, dass man täglich acht Stunden erreichen kann, ein Büro dass alle Kommunikationen

mit den lokalen Moscheegemeinden koordiniert. Wir erledigen viele noch

von zu Hause aus, über unsere eigenen Mobiltelefone. Das ist sehr schwierig ohne einen

Hauptamtlichen für diese Anlaufstelle. Das ist die erste Herausforderung. Dann haben

wir das Problem, dass die Leute in den Vorständen ständig wechseln. Wir fangen zum

Beispiel mit jungen Frauen, Akademikern, Lehramtsstudenten usw. an, die dann auch

in diese Tätigkeit eingeführt werden, die Erfahrungen sammeln in der Kommunikation

mit Medien, Politik usw., aber sobald sie heiraten oder einen Job finden, sind sie weg.

Dann muss man diese ganze Arbeit mit anderen Leuten von Null beginnen und wieder

die gleiche Geschichte. Das dritte Problem ist die Kommunikation der etwa 97 Gemeinden

untereinander. Dort haben wir dasselbe Problem, dass die Personen in den Vorständen

sich ständig wechseln beziehungsweise den Vorstand verlassen. Da die Vorstände in der


316 B Empirischer Teil

Regel nicht professionell arbeiten, das heißt zum Beispiel ihre Arbeit, Entscheidungen

usw. nicht dokumentieren, haben es die Nachfolger in den Vorständen sehr schwer. Zum

Teil wissen diese neuen Leute in den Moscheegemeinden nicht mal über die Existenz der

Schura Bescheid.“ (Hamit A., S. 65 f.)

Eine andere Entwicklung in diesem Kontext sei der allgemein anhaltende Rückgang der

Bereitschaft für das Ehrenamt in den Gemeinden:

„Nee, das ist also sehr problematisch. Meistens sind es immer die gleichen Personen

die das machen. Weil es immer die gleichen Personen sind, die das machen und die an

mehreren Stellen gebraucht werden, sind es immer die gleichen Verdächtigen, die an

unterschiedlichen Orten und an verschiedenen auch Zeiten tanzen. Das sehe ich immer

wieder, deswegen kennt man sich auch über lokale Grenzen hinweg mittlerweile schon.

Da es immer wieder die selben Leute sind, die da mitwirken und sehr schwer auch für

die Moscheen diesen Bedarf zu füllen, weil es sind viele Aufgaben die anfallen, teilweise

auch simple administrative Geschichten, die nicht erledigt werden können – in vielen

Moscheen, weil es einfach keine Personen gibt. Es sind ja nicht nur administrative

Sachen, das macht ja kein Spaß, dafür muss man schon bezahlt werden. Da hat man

auch solche Sachen, wo man denkt – eigentlich müssten sich ehrenamtliche Leute dafür

finden. Wenn es darum geht jetzt einfach nur zu sprechen, da wird es wahrscheinlich

manchen Moscheen gar nicht so schwer sein jemanden zu finden. Einfach nur reden ist

fällt leicht, aber ehrenamtlich im Sinne von wirkliche ernsthaft beispielsweise Jugendliche

betreuen, sich um sie zu kümmern. Ist sehr schwer jemanden so jemanden zu finden.“

(Adam B., S. 349)

Die Konsequenz des Rückganges dieser Bereitschaft sei, dass einzelne Mitglieder mehrere

Funktionen übernehmen müssten, um diesen personellen Abbau zu kompensieren:

„Ich bin zurzeit Vorsitzender in unserer Gemeinde. Aber das ist nicht immer so, manchmal

bin ich ein normales Mitglied, manchmal bin ich für Finanzen zuständig, manchmal für

was anderes. Kommt also darauf an.“ (Omar B., S. 513 f.)

Neben der zunehmenden sozialen Mobilität der Gemeindemitglieder, der Frustration

wegen der Überlastung im Ehrenamt und der strukturellen Hindernisse aufgrund von

Interessenkonflikten zwischen Gemeinde und Landesebene fehle einfach die Wertschätzung

vonseiten der Bundes- und Landesverbände für die ehrenamtliche Arbeit. So ist in diesem

Kontext in den letzten 50Jahren nicht bekannt, dass es zu einer Honorierung oder Ehrung

von ehrenamtlichen Mitarbeitern in Form kleinerer Preise oder einer Abendveranstaltung

gekommen wäre. Ähnliche Erfahrungen werden bei Ehrenamtlichen und Laien in der kirchlichen

Arbeit sowie bei der Weitergabe des Glaubens gemacht. In Anlehnung an Monika

Jakobs fasst Thomas Kiefer die drei zentralen Faktoren für diese Situation zusammen, und

zwar Überforderungen und Erschöpfungsanzeichen infolge professioneller Zuweisungen

ihrer Tätigkeit, des Weiteren die „Versorgungsmentalität der Gemeindemitglieder“ und

schließlich die Beschränkung ihrer Tätigkeitsfelder sowie der Mitspracherechte durch die


2 Ergebnisse der empirischen Studie 317

Hauptamtlichen. Diese Enttäuschung wird mit der Unterscheidung zwischen dem alten

und neuen Ehrenamt erklärt. Das alte Ehrenamt ist eher dadurch charakterisiert, dass

man die Instruktionen vom Pfarrer erhalten hat, der aufgrund von Überbelastung oder

wenn in der Gemeinde bestimmte Aufgaben anfielen, auf diese Hilfskräfte zurückgriff.

Dagegen sind mit der Funktion des neuen Ehrenamtes viel mehr, die Selbstverwirklichung

sowie der Wunsch nach Anerkennung und Wertschätzung für die geleistete Arbeit verbunden.

716 Daher sei auf ein „authentisches“ Profil der Ehrenamtlichkeit in der Katechese

verwiesen, da die Ehrenamtlichen eigentlich durch ihre Ungebundenheit als innovative

Kräfte innerhalb der Gemeinden wirken müssten:

„So bekommt Ehrenamtlichkeit ein eigenes Profil, welches davor schützt, die Ehrenamtlichen

in Zeiten personeller und finanzieller Ressourcenknappheit im Sinne der Kompensationslogik

als ‚Notnägel‘ einzusetzen, die gegebenenfalls ersetzt werden könnten, wenn wieder

genügend Hauptamtliche zur Verfügung stehen. Das dargelegte Verständnis des Ehrenamtes

schützt aber auch vor der Gefahr, dass Ehrenamtliche dadurch überfordert werden, dass sie

Arbeitsbereitsbereiche übernehmen, die zu zuvor studierten Theologinnen und Theologen

vorbehalten waren.“ 717

In den Moscheegemeinden findet dieser „Clash“ zwischen dem alten und neuen Verständnis

des Ehrenamtes ebenfalls statt. Die Imame und vor allem die älteren Gemeindemitglieder

vertreten ein überholtes Bild der ehrenamtlichen Arbeit, die wegen der oben dargestellten

begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen die Lücke im hauptamtlichen Personal

füllen soll. Des Weiteren sind Anerkennungen usw. nicht vorgesehen, weil man ja ohnehin

fī sabīlillāh arbeitet. Die jüngeren Mitglieder dagegen vertreten ein zeitgemäßes Bild von der

Rolle des Ehrenamtes, so dass ihre Frustration zunehmend die Arbeitsmotivation belastet:

„Genau das ist es doch. Wer mich so schätzt, wir halten doch das Ganze auf den Beinen!

Meinen Sie, dieser Verband könnte heute so stehen und prahlen: ‚Wir haben 900

Gemeinden und davon gehören 700 uns.‘ Wie haben die denn das gemacht? Haben die

das selber bezahlt oder was? Unsere Menschen haben das gemacht, unsere Vorfahren.

Ich bin die zweite Generation hier. Es gab welche, die mit mir gedient haben, die von

der dritten Generation waren. So erzählen und prahlen und mit einem dicken Auto da

vorfahren, ist ja alles gut, sei es den gegönnt. Dafür haben sie ja studiert, dafür sind die

ja Diplomaten. Ich gönne den das, aber wissen sie was? Veräppeln kann ich mich selber.

Und dann sage ich auch irgendwann: ‚Da passt doch was nicht.‘ Da fängt es doch schon

an. Es geht wirklich um eine kleine Sache. Es gibt wirklich so viele Sachen, aber ich nur

von diesen einen Verband sprechen. Dann gucken sie sich die anderen an. Es geht nur um

das finanzielle, nur um das finanzielle. Nur um materielle Sachen, das immaterielle läuft

nur nebenher, aber Hauptsache das Materielle passt erst mal. Und das ist doch traurig.

Es gibt doch viele Familien, so viele Kinder so viele Jugendliche, die unsere Hilfe brauche,

716 Vgl. Thomas Kiefer, Qualifizierung ehrenamtlicher Katechetinnen und Katecheten, in: Angela

Kaupp/Stephan Leimgruber/Monika Scheidler (Hrsg.), Handbuch der Katechese. Für Studium

und Praxis, Freiburg im Breisgau 2011, S. 67 ff.

717 A. a. O., S. 75


318 B Empirischer Teil

die im Drogensumpf versinken. Ich bin ehrenamtlicher Mitarbeiter bei der ambulanten

Justiz hier in Osnabrück. Wenn ich mir mal die Akten so durchgucke manchmal, ich habe

ja die Schweigepflichterklärung unterschrieben, daher darf da ja mal reingucken, wenn

ich mal Zeit habe. Das ist erschreckend, was da abläuft.“ (Mehmet A., S. 294 f.)

2.2.5.4 Mangelnde Gesellschaftsanalyse und fehlende Konzeptionen

Die oben analysierten strukturellen Voraussetzungen, der Mangel an qualifiziertem

Personal, die Kommunikationsprobleme innerhalb der und zwischen den muslimischen

Gemeinden auf unterschiedlichen Ebenen sowie die Überbelastung der ehrenamtlichen

Mitarbeiter bilden keine idealen Ausgangslage für eine sachliche Analyse der aktuellen

und zukünftigen Herausforderungen sowie für eine effiziente, lösungsorientierte Ausrichtung

der Gemeindearbeit. Ein Problem dabei ist, dass diese mangelnde effizienzorientierte

Diagnose damit zusammenhängt, dass die ältere Generation noch in den Vorständen sitzt

oder über eine informelle Einflussnahme verfügt, sodass interne Transformationsprozesse

in den Strukturen sehr schwer durchzusetzen sind:

„Die sind noch nicht wirklich darauf vorbereitet auf diesen Wandel. Je nachdem auch,

wie lange sie in dieser Moschee auch verankert sind. Ich glaube, das ist auch ein wichtiger

Punkt, weil es vielen schwer fällt, sich von seinen alten Vorstellungen zu lösen. Sich zu lösen

von den Hierarchien und den Vorstellungen, um dann diesen Wandel mitzumachen und

auch auf die jungen Muslime einzugehen. Das ist ein wichtiger Punkt. Das funktioniert

nicht so wirklich.“ (Anna S., S. 208)

Wegen der strukturellen Undurchlässigkeit in den Vorständen ist es schwierig, jüngere

Leute in die Gemeindearbeit einzubeziehen, obwohl erst durch sie interne Reformen

initiiert werden könnten. Ein anderes Problem entsteht, wenn längerfristige Planungen

durchgeführt werden müssen:

„Das sehe ich nicht, weil ich ja mit den Vorständen hin und wieder über solche Themen

versuche zu sprechen. Das sind in der Regel ältere Funktionäre, die mit einem Bein schon

im Grab stehen. Die haben in der Regel ein Leben lang nicht religiös gelebt und haben

erst im hohen Alter die Religion für sich entdeckt 718 . Die jungen Leute bleiben daher fern

und es gibt auch keine Bestrebungen, keine Aktivitäten, um diese jungen Mitglieder in

die Gemeindearbeit zu integrieren. Warum sollten denn junge Leute unter diesen Be-

718 Die erste Migrantengeneration kam in der Regel allein nach Deutschland. Sie hatten zwar

einen starken Bezug zum Islam, allerdings praktizierten sie nicht. Im Gegenteil, aufgrund

der fehlenden Sozialkontrolle usw. führte man eher ein ausgiebigeres Leben, bis die eigenen

Familien nachgeholt wurden. Dann spielte der Islam eine wichtigere Rolle, weil man sich über

die religiöse Erziehung der eigenen Kinder Gedanken machte. Ein anderer Teil der ersten

Generation dagegen war etwas pragmatischer, weil sie einfach die Religiosität für eine spätere

Lebensphase planten und erstmal ein moscheefernes Leben führen wollten. Erst im höheren

Alter kehrte ein großer Teil die-ser Menschen wieder in die Gemeinden zurück, daher spielt

der Experte Mahmut Ö. kritisch diese „Wächterfunktion“ dieser Generation an, die jetzt selbst

eine Sozialkontrolle ausüben wollen.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 319

dingungen dort aktiv werden. Ich habe nur erfolgreich die Dialogarbeit mit den Kirchen

vorangetrieben in der Gemeinde, weil mich ein sehr engagierter Religionsattachée darum

bat. Ansonsten geht es den Gemeinden doch nur den Tag auf sich zukommen zu lassen

und irgendwie umzukriegen. Jetzt stellen Sie sich das mal vor. Der gewählte Vorstandsvorsitzende

hat genau eine Stimme und der aus der Türkei, nicht-gewählte, sondern nur

entsandte, hat auch eine Stimme. Der Beamte denkt doch nicht an die Probleme der

Muslime hier, sondern ihn geht es darum in den vier Jahren seiner Dienstzeit Profit zu

schlagen und zu gehen. Ich möchte niemanden Unrecht tun, aber 85-90 Prozent dieser

Beamten denken nur an ihr Profit.“ (Mahmut Ö., S. 126 f.)

Insgesamt ist zu konstatieren, dass es in Deutschland kaum einen muslimischen Wissenschaftler

gibt, der in den Säkularisierungs- und Individualisierungsdiskurs involviert wäre

und eine sozusagen muslimische Perspektive für die Gemeinden formulieren könnte, um

auch den Ängsten entgegenzutreten sowie eine realistische Analyse der gesellschaftlichen

Entwicklungen anschaulich zu machen. Da in Deutschland das dafür nötige qualifizierte

Personal fehlt, greifen die Gemeinden auf die Hilfe aus dem Ausland zurück:

„Auf jeden Fall. Wir fangen mit kleineren Untersuchungen an und beraten uns auch über

dieses Thema. Wir haben uns auch schon vorher Gedanken darüber gemacht, wie man

die religiöse Erziehung in den Familien gestalten sollte. Wir haben erst vor kurzem eine

Konferenz organisiert und einen Professor aus der Türkei als Referent eingeladen. Wir

wissen ja, dass es große Defizite in den Familien gibt, daher versuchen wir ja das was zu

tun.“ (Halim H., S. 192 )

Aufgrund der diffusen Ängste und der kaum untersuchten oder diskutierten Folgen des

gesellschaftlichen Transformationsprozesses für die Gemeinden kristallisierte sich aus den

Interviews heraus, dass man von der Illusion ausgeht, diese gesellschaftliche Entwicklung

mit mehr finanziellen und personellen Ressourcen aufhalten oder gar ins Gegenteil wenden

zu können. Mehr Räumlichkeiten, größere Moscheen, mehr Frauen in der Gemeindearbeit,

mehr Jugendangebote und die juristische Anerkennung als Religionsgemeinschaft sind nur

einige Lösungsvorschläge, um dem „gleichen Schicksal“ des sozialen Bedeutungsverlustes

wie bei den Kirchen zu entgehen:

„I.: Machen da die Moscheevorstände Gedanken darüber, wie man die Situation verbessern

kann?

Salih D.: Warum die Moscheevorstände? Ist das nicht die Pflicht des Jugendlichen selbst

beziehungsweise die Pflicht der Familien dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen kommen?

I.: Oder gibt es Diskussionen oder Pläne darüber vielleicht mal einen Runden Tisch mit

allen Gemeindevertretern zu gründen, um diese Situation zu diskutieren?

Salih D.: Es werden nur Worte darüber verloren, aber keine Umsetzung in der Basis.

I.: Oder Lösungsansätze, die man verfolgt?

Salih D.: Die Moscheen müssen sich erstmal zu Külliye entwickeln und ein Erziehungszentrum

in diesem Komplex haben, um dort wie in der Schule zu unterrichten. So wie

das derzeit geschieht, das heißt die Kinder auf den Boden sitzend zu unterrichten ist eine


320 B Empirischer Teil

Qual für die Teilnehmer. Wir müssen altersgerechte Klassen anbieten und altersgerecht

unterrichten. Für jüngere Kinder eher spielerisch usw., damit sie die Religion lieben lernen.

Ansonsten, wenn man es nur trocken gestaltet ist das so, als würde ein Fußballtrainer den

Kindern nur erzählen wie Fußball funktioniert ohne den Kindern je mal ein Ball in die

Hand zu drücken, ohne mal mit ihnen gespielt zu haben. Irgendwann hätten die Kinder

die Nase voll und würden den Fußballverein verlassen. Wenn wir in dieser Gesellschaft

deshalb in den Moscheen den Kindern nur theoretisches, trocknes Wissen vermitteln,

werden sie irgendwann von den Moscheen fernbleiben.“ (Salih D., S. 119 f.)

Man versucht also vor allem materiell auf die Säkularisierung und Individualisierung zu

antworten, ohne den gesellschaftlichen Diskurs wirklich zu verstehen. An dieser Stelle

muss nochmals wiederholt werden, dass die Kirchen über mehr finanzielle, personelle und

strukturelle Ressourcen verfügen und dennoch in dieser Frage „schmerzliche“ Erfahrungen

machen mussten. Darüber hinaus verfügen die Kirchen über zahlreiche Theologen und

Wissenschaftler, die sich seit Jahrzehnten mit dem genannten Diskurs auseinandersetzen.

Es hat sehr lange gedauert, bis sich die Widerstände – weitgehend, jedoch nicht gänzlich

– abgeschwächt haben und man sich zunehmend mit der gesellschaftlichen Realität nicht

nur arrangiert hat, sondern in diesem gesellschaftlichen Wandel auch Chancen sieht.

Die Muslime in Deutschland sind noch nicht in diesen Diskurs involviert. Unter den

derzeitigen Lehrstühlen an den Zentren und Instituten ist kaum ein Vertreter dabei, der

sich in engem Austausch mit den muslimischen Gemeinden mit diesen Fragestellungen

auseinandersetzt. Für die Versachlichung der gesamten Entwicklung und für die Vertrauensbildung

wäre diese wissenschaftliche Repräsentation mit ihrer Brückenfunktion

in die Gemeinden hinein von zentraler Bedeutung. Daher sind kurzfristige, eher materiell

orientierte Lösungsvorschläge, wie etwa „mehr Kicker- und Billardtische“, um Jugendliche

wieder in die Moschee zu bringen, eher als ein Verzweiflungsakt zu sehen. Diese stellen

also nur Versuche dar, die Kinder und Jugendlichen von dem als „riskant“ bewerteten

öffentlichen Raum fernzuhalten, um die islamische Identität zu schützen. Auf ähnliche

Einstellungen weist Uslucan in seiner Studie zu muslimischen Familien hin, wenn diese

aus Sorgen des Verlustes der kulturell-religiösen Wurzeln versuchen, ihre Kinder durch

eine stärkere religiöse Erziehung sowie durch das Fernhalten von den „Risikofaktoren“

zu schützen. Uslucan fragt im Kontext einer „überbehütend-kontrollierenden Erziehung“

zu Recht kritisch, inwieweit „religiös geschlossene Gruppen“ zur Reduktion dieser als

riskant bewerteten Erscheinungen nicht zugleich die „Auftretenswahrscheinlichkeit

für andere Risiken“ erhöhen, wie etwa „rigide Persönlichkeit“ oder „geringe Autonomie

im Denken“. 719 Wie Margit Stein anhand einer relationsorientierten Studie im Kontext

zur Werteentwicklung zeigt, haben Erziehungsstile in den Familien – inklusive der

Berücksichtigung weiterer Einflussfaktoren, wie strukturellen, sozioökonomischen und

soziokulturellen Bedingungen – einen maßgeblichen Einfluss auf die Werteorientierung

der Kinder und Jugendlichen. Die „Klimafaktoren“ in den Familien korrelieren daher

719 Vgl. Haci-Halil Uslucan, Erziehungsstile und Integrationsorientierungen türkischer Familien,

in: Kindheit und Jugend in muslimischen Lebenswelten. Aufwachsen und Bildung in deutscher

und internationaler Perspektive, 1. Auflage, Wiesbaden 2010, S. 206


2 Ergebnisse der empirischen Studie 321

stark mit Wertekategorien wie Macht, Konformität, Universalismus, Selbstbestimmung,

Mildtätigkeit oder Leistung. Dabei scheinen vor allem ein hoher psychologischer Druck

und eine hohe Leistungserwartung mit der gleichzeitigen Herabsetzung des Selbstwertgefühls

dazu zu führen, dass die Sozialisation in dieser Atmosphäre eher kontraproduktive

Ergebnisse im Blick auf Mildtätigkeit und damit eigentlich auf die Fähigkeit, Empathie

zu entwickeln, erbringen. 720 Berücksichtigt man diese Ergebnisse, dann können die allzu

hohen Erwartungen an die Kinder und Jugendlichen in den Familien sowie der aufgebaute

psychologische Druck im Hinblick auf die „Identitätskonservierung“ nur kontraproduktive

Ergebnisse zutage fördern:

„Also ganz ehrlich? Die größte Sorge für die Gemeinden ist derzeit die kritische Frage für

die Zukunft: Werden die nächsten Generationen diese von uns aufgebauten Gemeinden

übernehmen und weiterführen? Das ist die größte Sorge. Werden wir die junge Generation

erziehen, die die Moscheegemeinden weiterführen werden? Werden sie sich für diese

Gemeinden engagieren? Ich sage ihnen das offenherzig, dass man sich nur völlig ehrenamtlich

dieser Arbeit hingeben kann, wenn man nur Gottes Wohlgefallen als Ziel hat und nicht

wegen materiellen Hintergedanken. Jemand der sich ehrenamtlich einsetzt, muss auch sein

Privatleben, sein Familienleben einschränken. Solche engagierte Menschen heranzubilden

ist sehr schwierig, zumal die jungen Leute in dieser Gesellschaft etwas lockerer und freier

aufwachsen. Deshalb müssen wir als Moscheegemeinden uns anpassen. Wenn ich Geld

hätte und wenn ich dann ein Raum mit Dart, Kickerspielen usw. hätte in den Gemeinden,

dann würden die Jugendlichen sehr gerne in die Moschee kommen. […] Ich möchte mal

das an unserer Gemeinde veranschaulichen. Außer dem Religionsunterricht kann ich

den jungen Menschen nicht viel anbieten. Es gibt noch einmal im Jahre eine 14-tägige

Jugendherberge im Harz und ein Treffen mit christlichen Pfadfindern, das ist aber auch

schon alles. Mehr geht nicht. Ich möchte eigentlich, die Jugendlichen von den älteren

Mitgliedern trennen und ihnen Räumlichkeiten mit Kicker usw. anbieten, aber ich habe

dafür nicht die Möglichkeiten und die Mittel. Der Jugendliche möchte Spaß haben, locker

sein und sich entspannt hinsetzen können. Wenn da aber ein älteres Mitglied reinkommt

und mit ihm schimpft: ‚Hey, wie sitzt du eigentlich in der Moschee? Richte dich schnell

auf , setze dich ordentlich hin.‘, dann schreckt man die ab.“ (Hayrettin G., S. 139, 141)

Genauso fraglich ist die Auffassung, dass man durch die Ausweitung externer Institutionen

wie bei den Kirchen – so notwendig sie auch sein mögen – einer „Entmoscheeisierung“

entgegentreten kann. Auch diese Hoffnung ist eine Missdeutung der gesellschaftlichen

Realität, die man eben nicht mechanisch wie eine Uhr zurückdrehen kann. Pädagogische

Zentren, Akademien usw. sind notwendige Strukturen, um die Arbeit zu professionalisieren,

aber nicht um gesellschaftliche Entwicklungen rückgängig zu machen:

720 Vgl. Margit Stein, Familie als Ort der Wertevermittlung. Strukturelle, soziokulturelle und

erzieherische Bedingungen, in: Ursula Boos-Nünning/Dies. (Hrsg.), Familie als Ort von Erziehung,

Bildung und Sozialisation, Münster 2013, S. 188 ff.


322 B Empirischer Teil

„Wir haben jetzt für die Grundschulen ein Curriculum entwickelt, aber wenn sie in den

Moscheen nach einem vergleichbaren Lehrplan fragen, dann wir man ihnen keines vorweisen

können. Wir brauchen auch für die Moscheen ähnliche Lehrpläne, ein Moscheecurriculum

721 oder Moscheepädagogik. Man kann die wissenschaftliche Entwicklung,

die Bildungsentwicklung des Islam nicht nur von den Universitäten erwarten. Wenn man

diese Erwartung haben sollte, ist es eine falsche Erwartung. Diese Erwartung haben auch

die Christen nicht. Die christliche Lehre baut auf verschiedenen Grundlagen auf. Es gibt da

die Kirche, an der Kirche gibt es einen Kindergarten, es gibt die Kirchengemeinde, etwas

weiter weg dann ein christliches Jugendzentrum, eine Akademie auf höchstem Niveau.

Aus diesen unterschiedlichen Einrichtungen kann man schon erkennen, dass die Christen

unterschiedliche Erziehungsorte haben. Das zeigt, dass man die Kinder und Jugendliche

permanent begleitet. Dazu hat man eine Akademie gegründet, das sowohl die Verbindung

zu den Universitäten hergestellt als auch zur christlichen Bevölkerung. Genau dieselben

Einrichtungen wollen wir auch. Zuerst benötigen wir für die Moscheen Lehrpläne und

dafür auch Experten, die sich mit dem Moscheeunterricht auskennen. Dann brauchen wir

ein Jugendzentrum, Einrichtungen für Frauenarbeit und Kindergärten. Aber vor allem

benötigen wir eine Akademie, wie die Juden und Christen auch. Wir werden eingeladen

zu Juden und Christen in deren Einrichtungen und im Gegensatz zu denen haben wir

keinen zentralen Ort, eine Akademie, zu der wir einladen können. Eine muslimische

Akademie, in der wir wissenschaftlich arbeiten können, über politische Entwicklungen

sprechen können oder Rezensionen über Bücher schreiben lassen können usw., indem

wir uns auch der Gesellschaft öffnen können. Das ist unser Ziel. Wenn ich heute zehn

Jahre zurückblicke, dann hatten wir kaum glauben können, dass wir das heute mit dem

Islamunterricht und Islaminstitut haben. Aber heute haben wir die Strukturen, daher

glaube ich auch, dass wir die Akademie in der Zukunft aufbauen können.“ (Hamit A., S. 82)

2.3 Religiöse Erziehung in muslimischen Familien

„Wallāhi 722 , ich denke, das ist das Thema, wo wir das größte Problem haben, die religiöse

Erziehung und Bildung in den Familien. Das ist ganz schwach, leider. Wir müssen daher,

bevor wir uns den Kindern widmen, die Familien in die religiösen Grundlagen einweisen.

Denn wenn die muslimischen Familien in religiösen Themen nicht weitergebildet werden,

wird der Moscheeunterricht und der schulischen Religionsunterricht nur bedingt erfolgreich

sein und viele Lücken aufweisen, weil die Eltern die Kinder nicht in der religiösen

Erziehung begleiten können. Denn die Familie ist die Basis in der religiösen Erziehung,

721 Alacacioglu berichtet zwar von Unterrichtsplänen, aber in der Studie für Niedersachsen konnten

keine schriftlichen vorgelegt werden. Wahrscheinlicher ist es, dass schriftliche Unterrichtspläne

nicht flächendeckend in den Gemeinden vorhanden sind. Unabhängig hiervon basiert ein

Curriculum – im Gegensatz zu einem einfachen Kursplan – auf ein pädagogisches Konzept,

das didaktische Theorien berücksichtigt. Diese Konzepte werden von den Experten für die

Moscheegemeinden postuliert.

722 Arabisch für ‚Bei Gott‘.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 323

auf dem alles aufgebaut werden muss. Wenn diese Grundlage nicht gefestigt ist, dann

wird der Erfolg an den anderen Lernorten nur sehr begrenzt sein. Andersherum, wenn

die Grundlage in den Familien steht, dann kann man auf die Grundlage auch erfolgreich

bauen. Leider sieht derzeit die Situation so aus, dass die muslimischen Familien sehr

schwach sind. Sie haben weder das Bildungsniveau noch das Interesse an der religiösen

Erziehung ihrer Kinder. Wenn man das prozentual darstellen müsste, würde ich sagen,

dass nur 10 Prozent der Familien das erforderte religiöse Bildungsniveau und das Interesse

an der religiösen Erziehung aufweisen. Die restlichen 90 Prozent nicht.“ (Halim H., S. 186)

„Man bringt ja eigentlich schon den Kindern bei ‚Allāh kaçtir?‘ 723 Dann zeigen die kleinsten

Kinder dann schon immer Eins. Immer so typische Fragen ‚Wer ist unser Prophet? also

solche Sachen werden dann schon gefragt und auch verlangt oder ‚Bist du Muslim? Wie

antwortet man darauf?‘ So dann die Beschneidung bei den Jungen, das ganz wichtig. Ja

das man vielleicht auch schon betet mit den Kindern, also nicht nur vorbetet, sondern

auch die Kinder bewusst mitbeten. […] Der ist jetzt drei. Ja und er spricht, er hat auch

schon früh angesprochen, früh angefangen, zu sprechen und dann haben wir halt auch

versucht spielerisch so das arabische Alphabet zum Beispiel zusammen zu singen und wir

machen jetzt immer vor dem Schlafengehen machen wir halt immer ‚Dua‘ 724 zusammen.

Ja oder wenn wir dann mal spazieren gehen, dass man dann halt, wenn dann Fragen

kommen, dass man dann halt auf Allāh verweist. Also er muss ja nicht immer alles verstehen,

aber er hat das dann schon mal gehört. Er sagt das dann auch, also, das ist schon

wichtig.“ (Esra C., S. 469 f.)

Die bisherigen Ausführungen zu den Rahmenbedingungen der muslimischen Gemeindearbeit

zeigen die zentralen Voraussetzungen für die muslimische Erziehung in den Familien

mit Gemeindebezug, für die Moscheekatechese sowie – aus den Gesamterfahrungen und

aus dem Gesamtzusammenspiel aller Handlungsfelder heraus – die Einstellungen und

Erwartungen zum islamischen Religionsunterricht an Schulen. Die nächsten Ausführungen

zur religiösen Erziehung in den Familien, in Moscheen und sowie die Anforderungen

an den schulischen Religionsunterricht müssen daher immer im Kontext der skizzierten

Rahmenbedingungen interpretiert und bewertet werden. Wie in der theoretischen

Auseinandersetzung aufgezeigt, existieren im Hinblick auf die religiöse Erziehung in

muslimischen Familien keine empirischen Studien. Dies ist insofern für den schulischen

Religionsunterricht problematisch, weil der Lehrplan die unterschiedlichen religiösen

Sozialisationen der Kinder unberücksichtigt lässt. Die Moscheen dagegen sammeln seit

über 40 Jahren Erfahrungen damit, dass die Kinder mit ganz unterschiedlichen religiösen

Sozialisationserfahrungen zu den Wochenendkursen kommen. Aus den Gesprächen mit

den Eltern sowie den Erfahrungen mit den Kindern in den Kursen können die Moscheegemeinden

ein differenziertes Bild über die religiöse Erziehung in den muslimischen Familien

skizzieren, was wegweisende Impulse für weiterführende Forschungen liefern kann. Die

Informationen von den Experten können jedoch nur für die muslimischen Familien mit

Moscheebindungen ermittelt werden. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Kapitel

723 Türkisch für ‚Wie viele Gottheiten gibt es?‘

724 Arabisch für ‚ Bittgebete‘.


324 B Empirischer Teil

Informationen über die religiöse Erziehung in muslimischen Familien sowie ihre Kooperationen

mit den Moscheegemeinden analysiert.

2.3.1 Erwartungen der Moscheegemeinden an die religiöse Erziehung

in muslimischen Familien

Die Moscheegemeinden haben eine bestimmte Erwartung an das religiöse Bildungsniveau

der Kinder, wenn sie von ihren Eltern mit etwa sechs Jahren zur Moscheekatechese

angemeldet werden. Ihre Vorstellung von dieser vorbildlichen Erziehung basieren sehr

stark auf den Quellen des Islam, insbesondere auf den Ḥadīṭen, dem Grundwissen in den

Katechesebüchern sowie auf der allgemeinen Literatur zur religiösen Erziehung, wobei

immer die frühislamischen Gemeinden hinsichtlich der Religionsvermittlung in Mekka

und Medina als Referenzrahmen und als Vorbild gelten. Dabei wird von den muslimischen

Eltern also eine in Stufen eingeteilte, teilsystematisierte religiöse Erziehung und von den

Moscheen ein effizienter und komplementärer Unterricht erwartet. Wie die Analysen noch

zeigen werden, existieren an beiden Lernorten – Familie und Moschee – jedoch zahlreiche

Defizite, die sich sowohl auf die Lernbedingungen als auch auf die Kooperation beziehen.

Bezüglich der Erwartungshaltungen an eine ideale religiöse Erziehung wird in allen

Gemeinden zunächst auf die „monotheistische Veranlagung“ aller Menschen, die fiṭra,

verwiesen, mit der jeder Mensch auf die Welt komme. Diese natürliche Veranlagung des

Menschen, dieses sozusagen innere Potenzial, an den einen Gott zu glauben, zu aktivieren

und mit Liebe – nicht mit Angst – zu entfalten, sei die Ausgangslage jeder religiösen

Erziehung:

„Wenn das Kind auf die Welt kommt, muss es nach Dīn al-fiṭra erzogen werden. Auch wenn

das Kind ein oder zwei Jahre alt ist, sollte es sehen, dass man zu Hause die Pflichtgebete

als Eltern verrichtet. Die Kinder also nicht in einen anderen Raum schicken, damit man

in Ruhe beten kann, sondern die Kinder teilhaben lassen. Das hat der Prophet auch so

gemacht, er hat die Kinder auch nicht mal weggeschickt, als die um ihn herum gespielt

haben. Die Kinder sollen lernen, dass jeder Winkel im Haus mit muslimischen Leben

gefüllt ist. Wenn die Kinder zwei oder drei Jahre alt sind, können die schon mit dem Auswendiglernen

von Gebeten beginnen, auch wenn sie die Inhalte nicht immer verstehen.

Man kann auch schon mit einigen Ilmihal-Inhalten beginnen oder zu mindestens laut

vorlesen, dass die Kinder das mitbekommen. Dann bin ich sehr dafür, dass die Kinder

mit fünf oder sechs Jahren beginnen in den Moscheeunterricht zu gehen. Manche sind

dafür, die Kinder erst mit acht oder neun zu schicken, aber das ist nicht richtig, weil die

jüngeren Kinder wie ein leeres Blatt, wie eine leere Festplatte sind. Die Kinder bekommen

alles mit, weil sie vielleicht den Eindruck erwecken, dass sie in der Moschee nur spielen,

aber sie bekommen alles mit und lernen auch so vieles auswendig. […] Es sollte den

Kindern sehr früh beigebracht werden, dass wir einen Schöpfer haben, dass er alles kontrolliert

und lenkt und wir ihm dienen müssen. Dann muss man den Kindern erklären,

warum man fünf Mal am Tag zu Gott betet und ihm dankt. Das können Kinder sehr gut

nachvollziehen, wenn man es entsprechend erklärt. Nicht mit der Hölle drohen, sondern


2 Ergebnisse der empirischen Studie 325

den Himmel erklären. Dass man das Paradies bekommt, wenn man den Gottesdienst

verrichtet, die Gebote einhält. Man sollte also dem Kind dazu bringen, die Religion zu

lieben. Aber bei mir war das so, dass mein Imam immer mit der Hölle drohte: ‚Wenn

du das nicht tust, dann landest du in der Hölle und wirst bestraft.‘ Das ist eine falsche

Methode.“ (Yalcin K., S. 97 f.)

Weil der Mensch also mit der fiṭra geboren werde, wird der Atheismus – konkret als die

Ablehnung des erschaffenden und in das irdische Leben intervenierenden Gottes verstanden

– kategorisch ausgeschlossen, weil diese philosophische Überzeugung eigentlich

nicht möglich sei. Zwar könne man mündlich die Existenz Gottes verleugnen, aber nicht

gegen seine Natur zuwiderhandeln, insbesondere in Gefahrensituationen, wo diese fiṭra

immer in Erscheinung trete. 725

„Man beginnt in frühen Jahren damit, dem Kind dazu zu bringen, den Namen Gottes

auszusprechen. Dann auch das Beibringen von religiösen Wörtern wie ‚inscha Allāh 726 ‘,

‚mağalla‘ 727 ‚bismillāh‘. Also mit Begriffen, wo der Name Allāh vorkommt, damit die

Kinder sich an das prägen. Irgendwann beginnt sowieso das Kind, wenn man also oft

von Gott spricht, nach ihm zu fragen. In sehr jungen Jahren sollte man mit konkreten

Wörtern versuchen Gottes Existenz zu beschreiben und späteren Jahren mit abstrakten

Begriffen. Das Kind wird irgendwann nach Gott fragen, weil es im Koran heißt, dass

Gott den Menschen geschafften hat und sein Geist einhauchte. Das heißt, dass jedes

Geschöpf so veranlagt ist, an Gott zu glauben und nach ihm zu suchen. Der Mensch ist

bereit Gottes Existenz anzunehmen. Würde man ein Kleinkind in einem Dschungel für

dreißig Jahre allein aufwachsen lassen, würde er irgendwann von sich Gott finden, weil

der Mensch mit dieser Eigenschaft erschaffen ist. Die Gebote kann er natürlich nicht

finden, aber Gott kann er finden, weil etwas von Gott in jedem von uns steckt. Das Bedürfnis

an Gott zu glauben steckt in uns und wir wollen es finden. Man wird ihn nicht

Allāh oder Gott nennen, aber an die Existenz eines Schöpfers wird man automatisch in

der Einsamkeit im Wildnis finden. 728 Diese Veranlagung des Kindes muss man bei der

725 In religiösen Diskursen wird hier oft auf diesen Koranvers verwiesen, wenn Menschen sich in

Gefahr begeben und Gott um Hilfe rufen: „Sag: Wie ist es, der euch aus den finsteren Gefahren

vom Land und Meer rettet, (wenn) ihr demütig zu Ihm ruft und in der Verborgenheit eurer

Herzen: ‚Wenn Er uns nur aus diese (Bedrückung) rettet, werden wir ganz gewiß unter den

Dankbaren sein?“ (Koran, sūra 6, Vers 63) oder „Und immer, wenn euch eine Gefahr auf dem

Meer trifft, verlassen euch alle jene (Mächte), die ihr anzurufen pflegt, (und nichts bleibt euch)

außer Ihm: aber sobald Er euch sicher an Land gebracht hat, wendet ihr euch ab (und vergeßt

Ihn) – denn, fürwahr, bar aller Dankbarkeit ist der Mensch.“ (Koran, sūra: 17, Vers: 67)

726 So Gott will.

727 Gott möge es erhalten oder Gott wollte es so beziehungsweise möge dich schützen.

728 Der arabisch-andalusische Universalgelehrte Ibn Ṭufayl (1110–1185) greift das koranische fiṭra-Konzept

in seinem philosophischen Roman „Ḥayy Ibn Yaqẓān“ (Der Lebendige, Sohn des

Wachenden) auf. Diese Geschichte handelt von einem Menschen, der seit der Geburt auf einer

einsamen Insel lebt, von Tieren aufgezogen wird und somit nicht dem Einfluss eines sozialen

Umfeldes ausgesetzt ist. Die geistige Entwicklung und den Erkenntnisprozess seines Protago-


326 B Empirischer Teil

religiösen Erziehung berücksichtigen, wobei bestimmt die meisten Eltern oder Imame

gar nicht diese Veranlagung berücksichtigen. An Gott zu lieben, an Gott zu glauben

und ihm zu dienen ist eigentlich etwas natürlich einfaches, weil dieses Bedürfnis in den

Menschen gelegt worden ist. Der Erzieher oder der Imam kann nur diese Veranlagung

aktivieren, mehr nicht. Dagegen ist es viel schwieriger Gott zu leugnen, weil man gegen

das eigene Bedürfnis handeln würde. Deshalb haben es die Atheisten viel schwieriger und

haben etwas Schweres erreicht, wenn sie sagen, ich glaube nicht, wobei man es nur mit

der Zunge sagen kann, weil man immer noch die Veranlagung hat. Aber um nochmal

auf die Vermittlung des Gottesglauben zu kommen, man muss also in den Familien mit

Begriffen, Beschreibungen usw. diesen Glauben verfestigen. Das Schwierigste ist dabei

ist, das abstrakte Gottesbild im Islam irgendwie kindgerecht zu vermitteln. Dass man ihn

nicht sehen und hören kann oder die Frage, wo denn eigentlich Gott räumlich ist. Wir

kennen es doch von unserer eigenen Kindheit, wenn wir Gott als einen alten Mann mit

einem langen weißen Bart und einem Gehstock in der Hand vorstellen. Man möchte als

Kind also Gott mit konkreten Beispielen kennen, aber ab der Pubertät hat man in der

Regel schon das abstrakte Gottesbild verinnerlicht.“ (Halim H., S. 191)

Aufgrund der Kohärenz in den Aussagen eines Schura-Vorstandsmitgliedes, welches zugleich

seit 1971 Imam ist und seitdem mehrere Tausend Kinder und Jugendliche unterrichtet hat,

beginnt die religiöse Erziehung allerdings schon vor der Geburt des Kindes, und zwar bei

der Partnerwahl. Der Hintergrund dieser Ansicht ist ein Spruch des Propheten Muhammad,

nach dem ein Mann eine Frau aus vier Gründen heiratet: wegen ihrer Schönheit, wegen

ihres Besitzes, wegen ihrer edlen Abstammung oder wegen ihrer Frömmigkeit. Muhammad

riet seinen Gefährten, der Religiosität als der entscheidenden Motivation vor allen

anderen Kriterien bei der Partnerwahl Priorität zu geben, 729 damit die religiöse Erziehung

der eigenen Kinder und der nachfolgenden Generationen gewährleistet sei:

„Ich habe damals, also früher auch diese Frage beantwortet bevor hier Theologie usw.

kam, also vor dreißig Jahren. Eine Notar hatte mich mal gefragt: ‚Was machen Sie denn in

der religiösen Erziehung.‘ Und ich habe ihm geantwortet: ‚Ich habe meinen Sohn erzogen,

bevor er geboren ist.‘ Er sagte: ‚Wie?‘ und ich sagte: ‚Ich habe seine Mutter gewählt.‘ Die

nisten teilt der Autor in unterschiedliche Phasen ein, wobei die Gotteserkenntnis in der letzten

Phase (ab 50 Jahren) eintritt. Damit versucht der Autor Ibn Ṭufayl also zu beweisen, dass auch

ohne Offenbarungsreligionen der Mensch von sich aus in der Lage ist – durch Erfahrungen

und Einsichten anhand von Naturbeobachtungen – die Existenz des Schöpfers zu erkennen.

(Vgl. Lenn Evan Goodman, Ibn Ṭufayl’s Ḥayy Ibn Yaqẓān. A philosophical Tale, Chicago 2009)

729 Nach der Überlieferung von Abū Hurayra heißt es im Wortlaut: „Der Prophet sagte: Man

heiratet eine Frau aus vier Gründen: wegen ihres Vermögens, wegen ihrer vornehmen Herkunft,

wegen ihrer Schönheit, wegen ihrer Frömmigkeit. Bemühe dich, die zu bekommen, die

Frömmigkeit besitzt, sonst wirst du verarmen.“ (Übersetzt von Khoury, Der Ḥadīṭ. Urkunde

der islamischen Tradition. Bd. III. Ehe und Familie, Soziale Beziehungen, Einsatz für die Sache

des Islams, Gütersloh 2009, S. 21). Mit Verarmung ist nicht die materielle Dimension gemeint,

sondern die spirituelle. Nach einer anderen Überlieferung nach ‘Abdullah ibn ‘Amr wird diese

Aussage von Muhammad bekräftigt: „Der Prophet sagte: Das ganze Diesseits ist Nutznießung

und das Beste bei der Nutznießung ist die rechtschaffene Frau.“ (ebd.).


2 Ergebnisse der empirischen Studie 327

Wahl der Mutter auch, der Ehefrau, war der erste Schritt. Also was bringt das, wenn

die Frau nicht passt, das geht nicht. Daher habe ich von Anfang an eine Frau gesucht,

die mir auch hilft, mit mir zusammenarbeitet. Und der Vater meiner Frau, also mein

Schwiegervater, war auch Schulleiter, jahrelang auch. Ich hatte ihn gefragt, was wäre wenn

ich die Tochter heirate und nach Deutschland komme auch, ob es wichtig für ihn ist. Er

sagte: ‚Nein, wir verlangen nur, dass ihr eure Zukunft gemeinsam aufbaut. Schulter an

Schulter. Wir verlangen nichts finanzielles oder materielles, sondern das ihr gemeinsam

eine Familie aufbaut und der Rest kommt von alleine später. Ja, dann wird das Kind

automatisch religiös.‘“ (Bilal Z., S. 263)

Wie die ideale Erziehung zu Hause gestaltet werden müsste, exemplifiziert Bilal Z. an

seinen Kindern, die er alle nach dem Koran und der Sunna – also nach seiner Auffassung

frei von Fehlern und Aberglauben, die aus nicht-islamkonformen Tradition und Bräuchen

resultierten – erzogen hat. Dabei wird nicht wie bei traditionell orientierten Familien die

religiöse Erziehung der Ehefrau überlassen, sondern beide Ehepartner sind in die ideale

Erziehung involviert. Die nachstehende kohärente Darstellung eignet sich in diesem Zusammenhang

sehr gut zur Veranschaulichung der stufenweisen religiösen Erziehung in

muslimischen Familien, die über ein bestimmtes Bildungsniveau hinsichtlich der religiösen

Quellen verfügen. Die Begleitung des spirituellen Weges des Kindes bis in die Moschee

hinein beginnt vor diesem Hintergrund schon bei der Geburt:

„Bilal Z.: Ja, aber auch schon während der Geburt bismillāh, alḥamdulillāh, also duâ

(Bittgebete). Ich habe alles miterlebt. Dann, wenn das Kind auf die Welt kommt, dann sagt

man: ‚Allāhu akbar‘, also Gott ist am Größten. Dann in das rechte Ohr den aḏān und in

das linke Ohr die iqāmaat. Dann haben wir für uns auch eine Sunna gemacht, wir haben

uns damals so entschieden in Aachen, wir haben zwei Söhne in Aachen bekommen, bevor

wir aus dem Krankenhaus nach Hause kamen sind wir zuerst in die Moschee gegangen,

um duâ (Bittgebet) zu machen. Also bevor das Kind mit der Mutter nach Haus ging,

zuerst die Moschee, um zwei Rakat, also Gebetseinheiten zu beten.

I.: Haben Sie das bei allen Kindern gemacht?

Bilal Z.: Ja, bei allen. Ja, das ist nicht einfach, weil die Traditionen das nicht zulassen,

es ist nicht normal, weil man muss nach der Tradition nach Hause, auch nicht laufen. 730

Aber für uns war das wichtig, dass die Kinder zuerst in das Haus Gottes gehen. Das hat

uns geholfen und viele haben nach uns das nachgemacht.

I.: Also Ihre sunna?

Bilal Z.: Ja, sunna [lacht].

I.: Und dann? Das Kind ist dann zu Hause, Sie haben die duâ gemacht, wie sieht die

religiöse Erziehung weiterhin aus, also stufenweise?

730 Nach volksislamischen Bräuchen sollte das Kind 40 Tage nicht das Haus verlassen. Erst nach

dieser zeitlichen Phase kommen auch Bekannte, um das Kind zu sehen. Für diese Tradition

gibt es unterschiedliche Hintergründe, die jedoch von den eher religiös Gebildeten als ‚unislamischer

Brauch‘ zurückgewiesen werden.


328 B Empirischer Teil

Bilal Z.: Viele wissen ja, dass das Kind musikalisch vieles aufnimmt, daher viel Koran

lesen oder auch ein ḥadīṭ oder ein duâ.

I.: Also einfach hören?

Bilal Z.: Einfach hören. Und solche Sachen haben immer geholfen, dass die Kinder immer

islamisch denken. Und unsere Kinder, wir hatten keine großen Probleme gehabt in

der religiösen Erziehung. Alle unserer Kinder sind religiös, natürlich haben wir da auch

mitgeholfen, aber sie haben uns keine großen Umstände bereitet. […] Also wir kennen

da ein gutes, sehr gutes Beispiel, wo alle Beteiligten auch hier das sind, wo mein Sohn

geboren ist. Wir haben tarāwīḥ gemacht, bevor wir hier die Moschee gekauft haben, zu

Hause. Das Kind war im Kindersitz. Wenn wir mit der Gemeinde gesprochen haben, hat

er mitgesprochen. Sobald wir aber uns zum Gebet aufstellten, stand er sofort auf. Da Kind

stand, saß eine Stunde lang, ohne weinen ohne Kommentare, gar nichts. Denn er wusste

Bescheid, das ist jetzt ein Gebet. Weil das Kind hat schon mit einem Jahr mitbekommen,

dass das Gebet eine Sache ist, wo man still sein muss. Und wenn wir ‚As-salāmu ‘aleykum

wa-raḥmatullāh‘ 731 sagen, dann erst redete er. Automatisch. Wir haben auch andere

Beispiele, also meine Tochter auch, sie hat automatisch ein Kopftuch, und dieses weiße

Gebetskleidung angezogen beim Gebet, und auch ihre beiden Töchter machen es jetzt.

Beide sind 1½ Jahre alt, aber sobald sie ‚Allāhu Akbar‘ hören, ziehen sie ihre Gebetskleidung

an und machen mit, weil die das mitbekommen haben.

I.: Okay, aber wie vermitteln Sie, dass es Allāh gibt, Jenseits, Engel usw.?

Bilal Z.: Man vermittelt, indem man sagt ‚Allāh‘. Indem man immer Allāh auf seiner

Zunge hat und auch ‚ lā ilāha illa llāh‘, durch Gedichte, Lieder.

I.: Dass also Allāh selbstverständlich ist?

Bilal Z.: Ja, dass Allāh immer da ist. Wenn Kinder Allāh hören, dann wissen die, dass

Allāh bringt die ins Paradies mit einem Auto. Wenn man nicht betet, Allāh bringt sie mit

einer Schubkarre in den Müll. Allāh ist immer im Vordergrund ‚Allāh macht das und das‘.

I.: Ich verstehe. Wann kommen die Fragen, also die Fragen, wo Kinder genaueres wissen

wollen ‚Wo ist Gott‘ zum Beispiel oder …

IZ: Zwei Jahre, drei Jahre.

I.: Okay, also Gott wird vermittelt durch seine Selbstverständlichkeit. Gott ist das, weil

sie immer über Gott sprechen. Daher ist Gott für die Kinder eine Selbstverständlichkeit.

Was ist dann die nächste Stufe? Jenseits oder Engel oder die Prophetenliebe, also wie

machen sie das?

Bilal Z.: Zuerst eine wichtige Sache, bevor man diese Frage beantwortet. Wir versuchen

auch, dass die Kinder alles miterleben, wo die Eltern auch hingehen. Viele Familien wollen

ihre Ruhe haben, deshalb bringen sie ihre Kinder nicht mit in die Moschee. Oder wenn

man religiöse Familie besucht, die Kinder werden nicht mitgenommen. Die Kinder sind

immer ausgegrenzt, sitzen zu Hause und schauen Fernsehen oder so was. Bei uns war das

anders, damit die Kinder miterleben, was die Erwachsenen tun. Das habe ich oft gesagt

auf der Kanzel, bei der Predigt: ‚Bitte bringt eure Kinder mit in die Moschee.‘ Obwohl

sich viele dadurch gestört fühlen, trotzdem mitbringen, denn lieber eine Störung als dass

731 Dieser Friedens- und Segensgruß (Möge der Friede und die Barmherzigkeit Gottes mit Euch

sein) bildet den Abschluss des Pflichtgebets.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 329

sie gar nicht kommen später die Kinder in ihrem Leben. Gelobt sei Gott, bei uns kommen

die meisten Eltern mit ihren Kindern in die Moschee. Bei den anderen Moscheen nicht,

weil die Ruhe haben wollen.“ (Bilal Z: 262 ff.)

Aus den beiden Zitationen kann man also vorläufig folgende Elemente für die ideale religiöse

Erziehung zusammenfassen, wobei das theozentrische in der Erziehung herausragt:

1. Phase: Vor der Geburt

Die Auswahl einer religiösen Frau: Vorzug immaterieller Faktoren;

vor dem Geschlechtsakt, wenn man ein Kind plant, werden religiöse Formeln gesprochen

wie ‚Ich suche Zuflucht bei Gott vor dem Satan‘ 732 usw.;

die Periode während der Schwangerschaft: Koranrezitationen 733 , Bittgebete.

2. Phase: Geburt bis zum dritten Lebensjahr

Die Geburt: Koranrezitationen, Bittgebete;

unmittelbar nach der Geburt: die Gebetsrufe in das rechte und linke Ohr des Neugeborenen;

Namensgebung: Islamische Namen werden empfohlen, weil sich der Name im Laufe

des Lebens auf den Charakter des Kindes auswirke. Damit schaffe man eine Identität

und auch ein Bewusstsein, wenn man aufgrund ihrer historischen Bedeutung Namen

wie Yūsuf (Josef), ‘Īsa (Jesus), Mūsa (Moses) oder Muhammad trage. Der Name ist also

eine Art religiöse Verantwortung, die man im Leben einlösen muss.

Bei Jungen: Beschneidung (kann je nach ethnischer Herkunft und Tradition in den

ersten Jahren oder erst ab dem fünften Lebensjahr erfolgen).

Die ersten Worte des Kindes sollten „Allāh“ sein.

Auditive Erziehung: In den ersten Jahren wird dem Kind regelmäßig aus dem Koran

vorgelesen oder es werden ihm religiöse Lieder vorgetragen.

Imitation: Die Kinder sollen durch Nachahmung der Eltern lernen (auch schon erste

Texte nachsprechen können).

Beim Gebet sollen sich die Eltern nach dem Vorbild des Propheten Muhammad benehmen,

der seine Enkel um sich herum hatte und die während des Gottesdienstes auch

auf seinen Rücken stiegen, um zu spielen. Muhammad hatte also darauf Wert gelegt,

diese spirituelle Atmosphäre mit den Kindern zu teilen.

3. Phase: Bis zum sechsten Lebensjahr

Die Existenz des Jenseits und das Ziel des irdischen Lebens, das Paradies, werden dem

Kind zunehmend vermittelt (kindgerechte Darstellungen des Paradieses).

Die Prophetengeschichten aus dem Koran werden in der Nacht vorgelesen.

732 Diese Formel wird in der Regel in der islamischen Literatur zu Eheführungen empfohlen.

733 Der Rezitation des Korantextes wird eine spirituell-esoterische sowie medizinische Komponente

zugeschrieben. Man vertraut auf die Wirkung der Schwingungen des melodisierten Klanges

des Koran auf das ungeborene Kind.


330 B Empirischer Teil

Memorieren: Das erste Gebet ist in der Regel die subḥānaka 734 und die erste zusammenhängende

sūra ist die al-fātiḥa (zum Teil kann das Memorieren schon in der zweiten

Phase erfolgen).

Vorbereitung auf das Gebet: Dem Kind werden die kleinen sūra von der 105. bis zur

114. vermittelt.

Die Bittgebete at-taḥiyyātu 735 , allāhuma ṣallī und allāhumma bārik 736 , rabbanā ātinā

und rabbī īġfirlīi 737 und das âmentu-Gebet 738 – welche die zentralen Glaubenselemente

des Islam beinhaltet – werden erlernt.

Bei Moscheebesuchen, um die Atmosphäre kennenzulernen und einen positiven Bezug

zu ihr aufzubauen, wird auf einen häufigeren Besuch mit dem Vater geachtet.

Bevor die Kinder mit der Moschee beginnen, wird das arabische Alphabet gelernt, und

es werden sogar zum Teil schon erste Leseerfahrungen aus dem Koran gemacht.

Die Materialien, die bei dieser idealen religiösen Erziehung verwendet werden, sind:

Alifba (Arabisches Alphabetisierungsheft),

Koran in arabischer Sprache,

Kinderbücher,

Videomaterial,

Audiomaterial,

mittlerweile auch Internet-Homepages für muslimische Kinder,

Katechesebücher als Orientierung für die Eltern und als eine Art Lehrplan für das

notwendige islamische Grundwissen.

Die Methodik in der familiären Erziehung besteht also aus Imitation, Rezitation, memorieren,

spielen, erleben, lesen und hören. Funktionales und intentionales Lernen wird bewusst

eingesetzt oder unbewusst miteinander kombiniert. Nach Wolf-Eckart Failing entspricht

734 „Preis sei Dir, o Allah und Lob sei Dir und gesegnet ist Dein Name und hoch erhaben ist Deine

Herrschaft und es gibt keinen Gott außer Dir (Cemil Sahinöz, Das Gebetsbuch. Handbuch zum

Islamischen Gebet, Istanbul 2011, S. 121).“

735 „Grüße, Gebete und die guten Dinge gehören Allah. Friede sei über dir, Oh Prophet, und die

Barmherzigkeit Allahs und Sein Segen. Friede sei über uns und den aufrechten Dienern Allahs.

Ich Bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Allah, und ich bezeuge, dass Muhammad sein

Diener ist und sein Gesandter (a. a. O.).“

736 „Oh Allah, segne Muhammad und seine Nachfolger wie Du Ibrahim und seine Nachfolger

geseg- net hast. Wahrlich, Du bist der zu Lobende, der Ruhmreiche. O Allah, segne Muhammad

und seine Nachfolger wie Du Ibrahim und seine Nachfolger gesegnet hast. Wahrlich Du bist

der zu Lobende, der Ruhmreiche (a. a. O, S. 122).“

737 „O Allah, gib uns im Diesseits Gutes und im Jenseits Gutes und behüte vor der Strafe des

Höllen-feuers. O Allah, vergebe mir, meiner Mutter, meinem Vater und allen Muslimen, am

Jüngesten Tag (a. a. O., S. 122).“

738 „Ich glaube an die Existenz Gottes, an Seine Engel, an Seine Bücher, an Seine Propheten, an

das Jenseits, daran, dass das Gute und das Schlechte von Gott kommt und dass die Widerauferstehung

wahrhaftig ist. Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer dem einen Gott gibt. Ich

bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Gottes ist (a. a. O., S. 123)


2 Ergebnisse der empirischen Studie 331

diese Kombination auch dem „Klima und Lebensstil“ in Familien, weil die Religion im

komplexen Feld der Familie nur eine Dimension darstellt und die religiöse Erziehung

in die Alltagshandlungen eingebettet ist. Dies bedeutet daher nicht, dass von den Eltern

nur durchdachte Handlungen ausgeführt werden, sondern auch nicht-intentionale. 739 In

Anlehnung an Hermann Giesecke folgert Failing daher:

„Grundlegend organisieren sich inhaltliche Vermittlung und personale Beeinflussung im

Familienverband über die Kommunikations- und Interaktionsstrukturen. Wie die Eltern

miteinander umgehen, welches ‚Klima‘ sie schaffen, wie sie auf Vorurteile, einen unerwarteten

Besuch reagieren, wie sie Konflikte zu lösen versuchen, welche kulturellen und politischen,

welche religiösen und kirchlichen Interessen sie haben, in welchem Ton darüber gesprochen

wird – all dies ist wichtiger und prägender als planmäßige Erziehungsakte, sofern sie überhaupt

stattfinden.“ 740

Ein zentraler Aspekt in der religiösen Erziehung ist die Liebe, damit die Kinder – unabhängig

von Ritualen, memorierten Inhalten usw. – eine grundsätzlich positive Beziehung

zu Gott und zum Islam aufbauen. Daher wird dem emotionalen Aspekt ein höherer Wert

beigemessen als rein kognitiven Zielen:

„Ich möchte da gerne ein Bespiel von meiner Mutter geben. Meine Mutter hat bis zu

ihrem 23. Lebensjahr im Dorf noch nie etwas über Strom oder Fernsehen gewusst, bis

sie in die türkische Stadt, nach Artvin, bis sie in die Stadt kam. Als sie zum ersten Mal

einen Fernseher in einer Wohnung sah, verhüllten sie und ihre Freundinnen sich das

Gesicht, weil die dachten, die Männer im Fernseher könnten sie sehen. Sie wunderten

sich darüber, wie die Menschen in diesen kleinen Kasten reingekommen sind. Wir sind

vier Geschwister und alle sind fromme Muslime und beten jeden Tag. Meine Mutter sagte

mal zu uns: ‚Bevor ich nach Deutschland kam dachte ich, dass die ganze Welt an Gott

glaubte und ihn anbetete. Als ich nach Deutschland bekam ich meinen ersten Schock als

ich feststelle, dass niemand bei Eintritt in die Gebetszeit zum Gottesdienst aufstand und

diesen verrichtete.‘ Was ich damit sagen will ist, wenn die Eltern selber sehr gläubig und

überzeugt sind, dann färbt sich das auch auf die Kinder ab. Egal ob man ein Imam, Lehrer

oder Professor ist, bevor man viel darüber redet, müssen die erstmal mit ihrem Leben

zeigen, dass sie Gott gegenüber gehorsam sind und ihm dienen. Wenn man dann mit dieser

Überzeugung seinem Kind die Religion vermittelt, dann ist es effektiv. So gebietet es auch

unsere Religion. Wenn man seinem Kind dann aus ganzem Herzen sagt: ‚Mein Sohn, halte

deine Gebete ein. Gott gebietet es.‘ Meine Mutter hatte ihre eigenen Methoden. Sie hat uns

Kinder nie zu irgendeiner religiösen Handlung oder Moscheebesuch gezwungen. Sie sagte

dann nur: ‚Es ist eure Entscheidung, ob ihr in die Moschee gehen wollt oder nicht, aber

Gott wird mich als Mutter zur Rechenschaft ziehen und mich fragen, warum ich meine

Kinder nicht religiös erzogen habe.‘ Wir als Kinder haben dann die Religion praktiziert,

nicht weil wir Gott liebten, sondern weil wir unsere Mutter nicht eine schwierige Situation

739 Vgl. Wolf-Eckart Failing, Religiöse Erziehung in der Familie, in: Gottfried Adam/Rainer

Lachmann, Gemeindepädagogisches Kompendium, Göttingen 1994, S. 201 f.

740 A. a. O., S. 202


332 B Empirischer Teil

bringen wollten, bis wir natürlich mit fortschreitenden Alter verstanden haben, dass es

eigentlich um die Liebe zu unserer Mutter, sondern um die Liebe zu Gott ging. Deshalb

müssen wir die religiöse Erziehung auf der Grundlage von Liebe vermitteln. Genauso

wie die Liebe zu Fußballer oder zu einer tollen Serie entsteht, muss man die Kinder vom

Islam faszinieren und überzeugen.“ (Ikbal A.: 171 ff. )

Wie noch im nächsten Kapitel erörtert wird, machen die Moscheegemeinden seit Jahrzehnten

die Erfahrung mit den Fehlern in der religiösen Erziehung, wenn muslimische Familien

nicht auf Liebe und Freiwilligkeit setzen, sondern eher Zwang ausüben und ein nur rein

strafender Gott in den Vordergrund gestellt wird. Dieser kontraproduktive Ansatz „räche“

sich spätestens ab der Pubertät, wenn Kinder die religiöse „Maskerade“ ablegten, wie aus

den Erfahrungen der Moscheegemeinden deutlich wird. Diese Erfahrungen decken sich

auch mit empirischen Studien. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Kinder mit negativen

Erfahrungen infolge einer aufgezwungenen Glaubenspraxis in ihrer Sozialisation in späteren

Jahren von ihrem religiösen Bekenntnis distanzieren, sei hoch. 741

„Die religiösen Familien bringen den Kindern bei, die Basmala zu sagen oder mit der rechten

Hand 742 zu essen, religiöse Benimmregeln oder Bittgebete werden gelehrt. Ob das jetzt mit

Liebe oder Zwang geschieht, das ist eine andere Frage. Ich bin gegen Zwang, weil das das

Gegenteil bewirkt. Ich habe das oft erlebt, dass zum Beispiel religiös gebildete Mädchen aus

konservativen Kreisen, wenn sie mit ihrem Kopftuch sich auch ein Freundeskreis machen

wollen, sich aber oft nicht akzeptiert fühlen. Ihr Kopftuch können sie aber auch nicht

ablegen, weil die Eltern sie unter Druck setzen. Was macht nun das Mädchen? Sobald

sie morgens in den Schulbus steigt, nimmt sie ihr Kopftuch ab. Da bin ich dagegen, weil

es ja nichts bringt dieser Druck. Die Kinder sollen selbst glauben, sich selbst entscheiden.

Deshalb müssen wir in die Familien so ein Erziehungssystem etablieren, dass es keinen

Zwang gibt. Wenn ein Mädchen ein Kopftuch trägt, dann sollte sie es auch Überzeugung

tun. Daher habe ich einen großen Respekt für alle freiwillig kopftuchtragende Mädchen,

weil das für mich ein Zeichen für ein starkes Selbstbewusstsein ist. Aber ich kenne leider

auch viele Fälle, wo das eben nicht auf Freiwilligkeit beruht, sondern auf Zwang. Dieser

Zwang bringt gar nichts und schadet uns. Es muss mit Liebe erzogen werden, weil unsere

Religion eine Religion der Liebe ist.“ (Said Ö., S. 117)

741 Vgl. Anja Vellmer, Religiöse Kindererziehung und religiös begründete Konflikte in der Familie,

Frankfurt/M. 2009, S. 27 f.

742 Die linke Hand wird für die Reinigung des Intimbereichs benutzt, so dass sie als unhygienischer

gilt als die rechte Hand. Diese Aufteilung ist insbesondere in Gebieten dieser Erde

nachvollziehbar, wo man gemeinsam mit der Hand aus einer Schüssel speist. Die linke Hand

wird dabei eng am Körper gehalten und mit der rechten Hand wird gegessen. Diese Tradition

wird jedoch auch in vielen islamischen Ländern fortgeführt, obwohl dort Besteck benutzt wird.

Dabei folgt man der Tradition des Propheten Muhammad, dessen Gewohnheit es war, mit der

rechten Hand die Nahrung zu sich zu nehmen.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 333

2.3.2 Zwischen Ideal und Realität: Inhalte und Methoden der religiösen

Erziehung in religiös weniger gebildeten Familien

Die Moscheegemeinden unterteilen die Kinder in der Gemeindekatechse in zwei Kategorien:

Kinder, deren Eltern die Religion zu Hause praktizieren und religiöse Normen nicht nur oral,

sondern auch mithilfe von Materialien vermitteln, und Kinder, die aus nichtpraktizierenden

Familien kommen und eine muslimische Identität – als Bewusstsein, der islamischen

Gemeinschaft anzugehören – besitzen, Glaubensinhalte aber bis zum Eintritt in die Moscheekatechese

weitgehend oral vermittelt bekamen. Für die erstgenannten Familien gelten

als gemeinsamer Nenner weitgehend die oben skizzierten Inhalte und Ziele in der religiösen

Erziehung, bei der zweiten Kategorie haben die Kinder bis zum sechsten Lebensalter in der

Regel kaum einen Moscheebezug. Insgesamt wird die Qualität der religiösen Erziehung

bei den Familien aufgrund der Erfahrungen in Moscheekatechesen als negativ bewertet:

„Beides trifft zu. Kein Wissen und keine Praxis. Das waren die Erfahrungen, als meine

Tochter noch zu Schule gegangen ist. Sie ist 1981 geboren. Bei meinem Enkelkind ist

das wiederum anders, weil die Eltern sie besser religiös erzogen haben. Aber bei ihren

gleichaltrigen Freunden, deren Eltern auch in Deutschland geboren und aufgewachsen

sind, die sehr religionsfern aufwuchsen, später dann wieder religiöser geworden sind,

aber dafür nicht über die religiöse Bildung verfügen, um ihre eigenen Kinder zu erziehen.

Weil die Eltern nicht über religiöses Wissen verfügen, können sie auch die Religion nicht

praktizieren. Deshalb denken sich die Eltern oft: ‚Ich muss meine Kindern der Moschee

anvertrauen, damit sie die religiöse Erziehung übernehmen.‘“ (Haluk M., S. 155)

Obwohl diese Familien ihre Kinder also keiner intensiven religiösen Erziehung unterziehen,

werden doch bestimmte Rituale und zentrale Glaubenselemente vermittelt, um die

muslimische Identität – unabhängig davon, ob man sich als konservativ, liberal, säkular

usw. definiert – zu verankern. Insbesondere scheint nach Aussagen der Experten der

Formalismus eine zentrale Rolle zu spielen:

„Das sowieso. Also viele Eltern halten sich dann an das fest oder an dem fest, was sie

selber gelernt haben. Das sind dann also die Rituale, vielleicht wie man betet, und wie

man fastet und das man bestimmte Dinge nicht sagt, dass man den Koran nach oben

legt 743 oder an die Wand hängt oder ins Regal hochlegt, aber diese innere Dimension, finde

ich, die wird oft vermisst. Also das man das auch leben muss, was man da vermittelt,

das Gebet ist ja keine Sportübung, sondern das man da was mitnehmen muss und sich,

also im Grunde ist das Gebet ja alles, also das man auch, indem man mit den Mitmenschen

gut umgeht, ein Teil dessen erfüllt, solche Sachen. Ich glaube, dass das gerät oft zu

kurz […] Ja, das dieser Formalismus oft diese innere Dimension nicht überwiegt. Dass

Jugendliche in die Moschee gehen und Koranverse auswendig lernen und, also ich hatte

743 Da der Koran als Gottes Wort gilt, wird ihm in muslimischen Haushalten ein besonderer Respekt

gezollt. Das zeigt sich u. a. darin, dass das heilige Buch in den Regalen den höchsten Platz

einnimmt. Muslimische Kinder kommen relativ früh mit dieser Erfahrung in Berührung.


334 B Empirischer Teil

so ne klassische Situation zum Beispiel, mit einem Schüler in der 6., 7. Klasse, der war

Moslem und er holte sein āyat al-kursī 744 aus der Hosentasche und zeigte mir, dass er den

immer mit hat morgens, mittags, abends und das wär ja wohl das Ding, er konnte ihn

auch auswendig sagen, aber wusste überhaupt nicht, was es bedeutet. Hat mir aber dann

wirklich innerhalb von einer Minute, als wir dann darüber gesprochen haben, dass wir

gemeinsam als Truppe ins Kino gehen, erklärt, dass ich nicht diese Plätze bezahlen muss

für oben, sondern das ich die billigeren unten kaufen kann und wir könnten heimlich oben

sitzen, weil eh keiner kontrolliert. Das war eine Situation in fünf Minuten. Und er hat

im Grunde genommen diesen Link überhaupt nicht geschafft von diesem ‚āyat al-kursī‘

in der Hosentasche zu seinem persönlichen Verhalten. Und das ist in meinen Augen der

Knackpunkt, das haben wir auch in Vorständen, wenn Menschen dann da sich darum

streiten, wer irgendwas leitet oder Vorsitzender ist oder derjenige ‚Big Boss‘ ist, sage ich

mal oder das es Neid gibt, dass der eine jetzt erfolgreich ist und der andere Verband eben

nicht so, anstatt sich da zu erinnern, was eigentlich die Basis ist. Das klappt so, ich finde,

das ist das große Problem im Moment. Das Kopftuch zum Beispiel, das Gebet, ja solche

Sachen. Und ich glaube schon, dass Muslime auch sehr unter dem Druck der muslimischen

Gemeinschaft stehen. Dass natürlich auch Muslime das Gefühl haben ‚Oh jetzt gucken

alle, wie meine Kinder sind‘ und sich dafür rechtfertigen müssen, wenn jetzt Kind A kein

Kopftuch trägt oder das andere Kind, was macht, was der Gemeinschaft nicht gefällt und

ich glaube, dass dieser Druck sehr groß ist und aus dem Grund viele Muslime erstmal

darauf achten, dass dieser Formalismus da ist. Damit das Bild stimmt nach außen. Das

ist verständlich menschlich, aber nicht richtig.“ (Amina F., S. 419 f.)

Während der tawḥīd, der Glaube an den Koran sowie die Liebe zum Propheten Muhammad

die zentralen Glaubenselemente darstellen, wird auch ein Konglomerat an traditionellen

Inhalten in muslimischen Familien vermittelt. Anders als die oben dargestellten

„praktizierenden“ Familien, welche die religiöse Erziehung ihrer Kinder eher autonom

übernehmen, delegiert der hier dargestellte Familientyp wichtige Erziehungsaufgaben an

bestimmte Autoritäten im Verwandtschafts- und Bekanntennetzwerk und institutionell

an die Moscheegemeinden, wenn das Kind das entsprechende Eintrittsalter erreicht:

„In muslimischen Familien ist das so, das gilt auch für alevitische Familien, wenn ein Kind

auf die Welt kommt, und das ist wirklich bei allen Muslimen in der Welt so, dann stellt

sich die erste Frage: ‚Wer wird dem Kind seinen Namen geben?‘. In der Regel sucht man

sich den Ältesten aus der Familie oder der, die meiste religiöse Autorität hat. Man sagt

zum Beispiel: ‚Der Großvater hat am meisten religiöses Wissen und Ansehen, daher soll

er dem Kind seinen Namen geben.‘ Das ist in allen Familien so, auch bei den säkularen

Muslimen. Für diese säkularen Familien ist das dann so, dass für sie die ausgewählte

Person schon religiös ist, wenn er einmal in der Woche, also freitags, in die Moschee

geht. Diese Person soll dem Kind einen muslimischen Namen geben, soll dem Kind den

744 Diesem „Thronvers“ aus dem Koran (2/255) wird unter den Muslimen eine besondere Bedeutung

beigemessen, weil die Rezitation dieser Verse beziehungsweise das Tragen dieser Verse z. B. als

Amulett eine schützende Kraft im Alltag zugesprochen wird.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 335

aḏān und die iqāma in sein Ohr flüstern. Damit kommen sogar die säkularen Eltern in

Kontakt mit der Religion und für das Kind ist es auch seine ersten Erfahrungen mit dem

Islam. Die Eltern können also zwar ein religionsfernes Leben führen, aber mit der Geburt

ihres Kindes öffnen sich Türen der Moscheen für diese Menschen. Es hat auch was mit

Tradition, aber auch mit Aberglauben zu tun, dass man dann, vor allem bei den Frauen

ist das so, unbedingt auch ein Imam besteht, der das Kind in die Arme nehmen und den

Aḏān in das Ohr des Neugeborenen flüstern soll: ‚Also auf jeden Fall muss es ein Imam

sein, wir müssen da aufpassen. Das dürfen wir nicht einfach auf die leichte Schulter

nehmen dieses Ritual‘ sagen sich diese Frauen. Da ist man hochsensibel und dadurch

tritt man wieder in Kontakt mit der Moschee. Das ist vor allem bei türkischstämmigen

Muslimen der Fall. Auch wenn sich hier um Familien mit geringer religiöser Bildung

und Praxis handelt, so sind sie dennoch kulturelle Muslime, weil ihre ganze Tradition,

Sitten und Kultur vom Islam geprägt ist. Unsere ‚biologische Hefe beziehungsweise Teig‘

ist der Islam, wurde vom Islam sozusagen geknetet. Die Türken haben als Volk in der

Geschichte, als sie zum Islam konvertiert, vielleicht 98 Prozent ihrer heidnischen Kultur

aufgegeben und mit dem Islam ihre ganze Kultur neuaufgebaut. Viele säkulare wissen

gar nicht, dass sie daher unbewusst islamisch handeln. […]„ Die religiöse Erziehung

fängt bei allen muslimischen Familien – egal ob religiös oder weniger Religiös – mit dem

Aḏānruf 745 ins Ohr des neugeborenen Kindes an. Dann, bei religiösen Familien achtet

man darauf, dass Allāh das erste Wort oder zu den ersten Wörtern zählt, wenn das Kind

beginnt zu sprechen, dass das Kind Allāh sagt. Bei den weniger religiösen, auch wenn

sie säkular sind, legen sie Wert darauf, dass das Kind zu mindestens lernt bismillāh zu

sagen, also die basmala zu lernen. Wenn das Kind auf die Welt kommt, egal bei säkularen

oder nicht-säkularen Familien, werden die Jungen in sehr frühem Alter beschnitten,

weil es auf die Tradition des Propheten Muhammad zurückgeht. Bei weniger religiösen

beziehungsweise eher kulturellen Muslimen legt man Wert darauf, dass man die ganze

Zeremonie mit einer großen Feier, mit Freunden und Verwandten, angeht. Immer gibt

es irgendjemand in der Familie, der oder die dann sagt: ‚Wir müssen unbedingt einen

Imam holen, der dem Kind Koran rezitiert, die sūra al-fātiḥa liest.‘ Dieser religiöser

Anstrich muss also sein, auch wenn es später bei der Feier Alkohol zu trinken gibt. Das

Religiöse wird meistens vom Großvater, von der Tante oder von irgend einer älteren Person

empfohlen, weil es zur Tradition gehört. Bei religiösen Familien geht es in der Erziehung

so weiter, dass die Kinder zunehmend kleinere sūra und Gebete, angefangen mit der

Subḥānaka, lernen. Dann kommen die klassischen Fragen wie: ‚Wen liebst du am meisten?

Deine Mutter, deinen Vater?‘ Daraufhin sagt das Kind – weil es so gelernt hat: ‚Ich liebe

an erster Stelle Gott, dann den Propheten Muhammad und dann meine Eltern.‘ So wird

745 Der von den Experten mehrfach genannte islamische Gebetsruf, der jeweils in das rechte und

linke Ohr des Neugeborenen gesprochen beziehungsweise gefülster wird, hat folgende Bedeutung:

„Gott ist größer. Gott ist größer. Gott ist größer. Gott ist größer. Ich bezeuge, dass es keine

Gottheit außer dem einen Gott gibt. Ich bezeuge, dass es keine Gottheit außer dem einen Gott

gibt. Ich bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Gottes ist. Ich bezeuge, dass Muhammad

der Gesandte Gottes ist. Komm zum Gebet. Komm zum Gebet. Komm zur Rettung. Komm

zur Rettung. Gott ist größer. Gott ist größer. Es gibt keine Gottheit aus dem einen Gott (Cemil

Sahinöz, Das Gebetsbuch, S. 74).“


336 B Empirischer Teil

das in allen religiösen Familien beigebracht, damit die Liebe zu Gott und zum Propheten

in den Kindern fest verankert wird. Diese Methode kann man aus den religiösen Quellen

ableiten. Der Prophet Muhammad hat mal einen seinen Gefährten gefragt: ‚Wen liebst

du am meisten?‘ Der Gefährte antwortete: ‚Erst dich, dann den und den usw.‘ Darauf

erwiderte der Prophet: ‚Nein, erst sollst du Gott lieben, dann mich und dann andere.‘ So

erziehen die religiösen Familien ihre Kinder. Bei den weniger religiösen Fragen wird dem

Kind beigebracht: ‚Du sollst Gott lieben.‘ Und dann, da bin ich mir nicht ganz sicher, wird

beigebracht: ‚Du sollst Ehrfurcht vor ihm haben.‘ Aber die Achtung vor Gott ist auf jeden

Fall auch bei den säkularen Familien da. Unter den linksorientierten, kommunistischen

Türken – mein Onkel war ein sehr bekannter Linker, weil er 1977 die erste Gewerkschaft

für Lehrer gründete – habe ich z. B. nie erlebt, dass die sich abfällig über den Propheten

Muhammad geäußert hätten. Die säkularen Familien haben also wie gesagt zwar nicht

viel Wissen, aber die suchen dann immer so einen Vermittler. […] Bei den Säkularen ist

das so wie eine Parole: ‚Lerne den Islam, Wisse was ein Gebet ist, lerne ein Gebet gegen

den bösen Blick 746 [naẓar], um dich zu schützen, aber praktiziere ja nicht alle Grundregeln.“

(Hamit A., S. 74 f.)

Da wesentliche Aufgaben in der religiösen Erziehung ganz unterlassen oder delegiert

werden, fehle den Kindern eine Vorbildfunktion in der Kernfamilie. Eltern müssten den

Islam vorleben, damit die Kinder sie in den ersten Jahren imitieren können. Dies gelte

auch für die Bildung einer islamischen akhlāq (Moral):

„Der größte Fehler, den diese muslimischen Eltern in der religiösen Erziehung machen ist

der, dass sie keine Vorbilder sind und nur den Kindern mündlich diese religiösen Inhalte

746 Wie Murad Wilfried Hofmann eindrucksvoll über seine Erfahrungen in muslimischen Ländern

berichtet, ist die Kategorie des ‚bösen Blicks‘ fest im zwischenmenschlichen Leben etabliert.

Damit ist der Glaube verbunden, dass bestimmte Menschen aus Motiven wie Neid auf den materiellen

Besitz oder die immateriellen Eigenschaften seiner Mitmenschen einen ‚bösen Blick‘

auf diese Dinge werfen und somit Schaden zufügen können. Daher haben sich zwei Methoden

zur Bewältigung dieses ‚bösen Blicks‘ entwickelt (vgl. Murad Hofmann, Reise nach Mekka. Ein

Deutscher lebt den Islam, München 1996, S. 113 f.). Die eine Form geht auf den Koran zurück,

indem man folgende Schutzverse (Sūra 113, Verse 1-5) rezitiert: „Sag: ‚Ich suche Zuflucht bei

dem Erhalter der aufgehenden Morgendämmerung, vor dem Übel von etwas, dass Er erschaffen

hat, und vor dem Übel der schwarzen Finsternis, wann immer sie herabkommt, und vor dem

Übel aller Menschen, die auf okkulte Bestrebungen aus sind, und vor dem Übel des Neiders,

wenn er neidet.“ Die zweite Form, die eher in volksreligiösen Kreisen – von traditionellen bis

hin zu eher weltlich orientierten Personen – setzt man nach Hofmann auf die „magische Bewältigung“

dieses ‚bösen Blicks‘: „Schlimmer noch, manche Muslime neigen dazu, diese Suren

als magische Beschwörungs- bzw. Zauberformeln, auch als Amulett, einzusetzen. Selbst der

auf dem Koran fußende Ausruf ‚Mascha’alla!‘ kann abergläubisch verwendet werden. Man

ahnt kaum, in welchem Umfang manche muslimischen Frauen noch immer Magie betreiben.

In den Suqs marokkanischer Städte wie Fes gibt es Läden, die lediglich Zutaten für magische

Praktiken verkaufen: Säfte und Pülverchen, getrocknete Echsen und sogar Püppchen, mit

deren Hilfe man bestimmte Menschen verhexen oder behexen will, um ihnen zu schaden oder

um ihre Liebe zu wecken und zu erhalten. Die Rif-Kabylen, doch nicht nur sie, sind für diese

Schwarze Kunst berühmt (a. a. O., S. 115).“


2 Ergebnisse der empirischen Studie 337

vermitteln ohne selbst diese Werte vorzuleben. Einfach zu sagen: ‚Komm steh auf und

bete.‘ Wird nicht viel bringen. Stattdessen muss man selber aufstehen und beten, dann

wird das Kind die Eltern nachmachen. Ein anderes Beispiel ist auch oft, dass Eltern

ihren Kinder beibringen nicht zu lügen, aber selbst vor den Kindern zum Beispiel am

Telefon andere Menschen belügen. Kurzum Vorbild sein, sowie das Beispiel des Propheten

zeigt, mit seinem Leben ein Vorbild für die Menschen sein. Das ist der größte Makel der

muslimischen Eltern. Alle wollen, dass ihre Kinder gute Menschen werden solle, leben es

aber den Kindern selber nicht vor. Ich bekomme das ja oft zu hören von den Eltern: ‚Ja,

ich trinke leider Alkohol und bete auch nicht, aber ich möchte das meine Kinder anders

werden.‘ So geht das aber nicht. Und es gibt auch leider Familien, die mit dem Einsatz

von Angst und Druck versuchen, ihren Kindern die Religion zu vermitteln. Das ist ein

sehr falscher Ansatz, weil sich das irgendwann zu einer gegensätzlichen Reaktion, also

zur Distanzierung vom Islam, führen könnte. […] Ja, Unwissenheit. Die wissen nicht,

welche Erziehungsmethoden sie anwenden sollen. Diese Eltern wiederholen genau die

Fehler in der religiösen Erziehung, die sie wiederum von ihren Eltern erfahren haben.“

(Halim H., S. 188)

Ein typischer Fehler in diesen Familien sei, dass die Überforderung der Eltern mit der

religiösen Erziehung sie dazu verleite Angst als Mittel einzusetzen. Dabei greift man zum

einen auf das Konzept der ğinn zurück; diese sind im Koran erwähnte Geisteswesen, über

die nicht viele Informationen geliefert werden. In ländlichen Gebieten ist die Instrumentalisierung

der ğinn bei der religiösen und weltlichen Erziehung weit verbreitet, um Kinder

bei der Unterlassung bestimmter Verhaltensweisen zu stärken. Ebenso weit verbreitet

sind der Glaube an Besessenheit durch ğinne und Praktiken des Exorzismus in diesen

ruralen Gebieten. Auch in Deutschland trifft man zunehmend auf dieses Phänomen. Der

muslimische Psychiater und Psychotherapeut Ibrahim Rüschoff weist in diesem Kontext

darauf hin, dass muslimische Patienten bei psychischen Störungen wie der Schizophrenie

„auf kulturelle und gegebenenfalls religiöse Grundmuster“ zurückgreifen, wobei die

ğinn als Ursache eine Rolle spielen können. Im Volksislam habe man „die Existenz von

Dschinnen stark ausgestaltet und ihnen spezielle Gestalten gegeben und Einflusssphären

zugeordnet“, sodass man oft „traditionelle Heiler“ frequentieren würde; 747 darunter auch

Imame der Kategorie „traditionell-defensiv“, die in informellen Netzwerken bekannt sind

und weiterempfohlen werden. 748

„Oft wird damit gedroht von den Eltern: ‚Allāh Baba (Vater) wird ein Stein nach dir

werfen, dich bestrafen, dich verbrennen.‘ Falls sie es bemerkt haben, habe ich Allāh Baba,

also Allāh Vater gesagt. Das ist leider sehr oft verbreitet, dass immer mit Strafe und Hölle

gedroht wird in den Familien. Es ist eher bei Familien mit geringer religiöser Bildung

verbreitet, leider. Diese Erfahrung mache ich oft. […] Sie kennen das vielleicht auch die

Redewendung: ‚Der ğinn wird dich treffen, wenn du das oder jenes nicht machst.‘ Dass der

747 Vgl. Ibrahim S. Rüschoff, Psychiatrie, abgerufen unter: http://www.kultur-gesundheit.de/

konfliktfelder_in_der_praxis/fachbereiche/psychiatrie.php [28.12.2013]

748 Vgl. Ceylan, Die Prediger des Islam, S. 102 ff.


338 B Empirischer Teil

Satan als Person da ist usw. Woher soll denn ein Kind wissen, was der Satan ist? Deshalb

sollte man vordergründig Gottes schöne Eigenschaften vermitteln, den Kinder die Gebote

beibringen und ihnen den dafür vorgesehen Lohn erzählen in Form von Gesprächen und

nicht die Strafen bei Unterlassung von Pflichthandlungen. Die Kinder werden ohnehin von

sich aus irgendwann auf die Frage kommen, was bei Unterlassung dieser Gebote passiert

oder was das Gegenteil von Paradies ist.“ (Yalcin K., S. 98)

Diese Aussagen der Experten aus den Gemeinden ergänzen insofern die Forschungsergebnisse

der im theoretischen Teil zitierten Tübinger Forschungsgruppe um Albert Biesinger,

als dass der strafende Aspekt in weniger religiös gebildeten Familien häufiger auftritt.

Wenn Biesinger zudem darauf hinweist, dass die religiöse Erziehung bei Kindern weniger

institutionalisiert sei und diese Familien daher auf sich selbst angewiesen seien, so ist dies

wiederum ein Hinweis darauf, dass die religiös gebildeten Familien und diejenigen mit

Gemeindegebundenheit eine bessere religiöse Erziehung anbieten.

Das religiöse Betreuungspersonal in den Moscheegemeinden ist daher mit dem Problem

konfrontiert, dass die Kinder aus den weniger religiös gebildeten Familien eher den strafenden

Gott kennenlernen, sodass die Folgen dieser Pädagogik kompensiert werden müssen:

„Reyhan H.: Das kommt daher, weil die keine richtige Grundbildung haben, von Oma,

Opa oder Mama gelernt, sie sind ja auch nicht so richtig gebildete Leute, daher kommt

das. Natürlich sind auch einige Mütter richtig gebildet, dagegen sage ich ja nichts. Sie

sollen auch mithelfen, aber die nicht gebildeten Eltern sollen ihre Kinder nicht religiös

erziehen zu Hause, ohne uns zu fragen.

I.: Was sind so typische Fehler, die man zu Hause macht?

Reyhan H.: Also zum Beispiel über Gott etwas zu erzählen, über Allāh, also das man sagt:

‚Allāh wird dich verbrennen, wenn du nicht brav bist‘ und solche Sachen. Das dürfen sie

ja Kindern nicht sagen. Das ist schon mal das Allerallerwichtigste. Die Kinder lieben den

Propheten, weil der Prophet Muhammad wird dargestellt, dass er Kinder geliebt hat, er

war immer Barmherzig, aber Allāh verbrennt, er ist der Bestrafende, tötet und was weiß

ich. Er nimmt dir etwas weg, was weiß ich, du kannst bestimmte Sachen daher nicht

behalten usw. Also über Allāh nur immer etwas negatives.

I.: Also arbeiten die eher also mit Angst?

Reyhan H.: Ja, ja, mit Angstpädagogik nennt man ja das.“ (S. 332)

2.3.3 Bedeutungsverlust muslimischer Familien in der religiösen

Erziehung und Auswirkungen auf die Erwartungshaltungen

an die Moscheekatechse

Trotz der oben vorgenommen Kategorisierung durch die Experten scheint die Tendenz

dahin zu gehen, dass in der religiösen Erziehung zunehmend ein Bedeutungsverlust der

Familien eintritt. Zwar steige das allgemeine Bildungsniveau höher an, zugleich aber sei

das Phänomen der Institutionalisierung zu beobachten. Dies heißt, dass auch gebildete

muslimische Familien, auch wenn sie Wert auf eine religiöse Erziehung in der Familie


2 Ergebnisse der empirischen Studie 339

legen, doch in anderen Bereichen, wie Bildung, Freizeit usw., ihre Kinder zunehmend an

Institutionen abgeben. Allerdings seien damit auch Unsicherheiten verbunden:

„Ja, ja wenn die Kinder später Institutionen besuchen wie Kindergarten, Schule und

später Ausbildungsplatz suchen, dann beginnt schon das Dilemma. Das ist schon eine

große Herausforderung für die Eltern, weil sie wissen auch nicht wie sie damit umgehen

sollen und wo sie da ansetzen sollen. Sie haben auch Ängste gegenüber Institutionen auch

mal zu sagen: ‚So und so, diese Rechte habe ich und ich möchte die mal leicht einfordern.

Bitte achten sie mal darauf.“ (Anna S., S. 209)

Haci-Halil Uslucan beschreibt dieses Spannungsverhältnis in der Erziehung in Migrantenfamilien,

welches dadurch entsteht, dass die Eltern einerseits für die Integration in die

Gesamtgesellschaft sorgen wollen (oder müssen) und sich andererseits damit konfrontiert

sehen, ihre ethnisch-kulturellen Wurzeln (ganz) zu verlieren. Je schneller sich die eigenen

Kinder im Prozess der Akkulturation von ihren Wurzeln entfernen, desto größer werden

die Unsicherheiten bei den Eltern. Daher kann es – wie etwa bei türkischstämmigen Familien

– eher zu einem „behütenden und kontrollierenden Erziehungsstile“ führen als im

Herkunftskontext. 749

Aufgrund dieser Unsicherheiten erhält die Moscheekatechese auch den Charakter einer

Institution, welche nicht nur einen religiösen Auftrag, sondern auch einen allgemeinen

Erziehungsauftrag übernehmen soll:

„Bei den einzelnen Familien oder sogar bei den meisten ist das schon so, dass es schon

in ihren Räumlichkeiten, also Lebensräumen schon so ist, aber die können diese Ängste

nicht allein bewältigen, deshalb suchen die Moscheen, Gemeinden auf. Familien, die

vielleicht gleich denken oder sich für Religion interessieren, suchen Hilfen in Moscheen.

Viele Familien kommen zu uns und sagen: ‚Wir wollen nur, dass ihr für unsere Jugendlichen

ein Programm, egal was, anbieten. Ihr solltet die hier beschäftigen mit Spiel, Sport

oder Spaß, damit sie auch Lust bekommen, weil die Eltern das nicht können. Wir haben

es damals das automatisch kennengelernt von unseren Familien, Nachbarn, Freunden

in Afghanistan, weil wir waren alle so. Wir allen haben das Gleiche gelebt und erlebt,

aber hier in Deutschland ist das nicht so, oder in nicht muslimischen Gesellschaften.

Wir wollen unsere Kultur, besonders unsere Religion nicht verlieren oder vergessen. […]

Ich würde also sagen, dass nur höchstens 10 Prozent der Eltern würden diese Bildung zu

Hause hinkriegen. Meine Kinder gehen an den Wochenenden auch in die Moschee und

dort sieht man einfach Kinder, die mit fünf oder sechs Jahren in die Moschee kommen,

manche von denen können gar nichts. Die Eltern haben sich mit denen überhaupt nicht

beschäftigt. Dann hat man Kinder, die schon den Koran können und etliche sūren auswendig

können, wo die schon eine religiöse Bildung haben von zu Hause aus her. Dort

merkt man das schon recht deutlich.“ (Murtaza F., S. 252)

749 Vgl. Uslucan, Erziehungsstile und Integrationsorientierungen türkischer Familien, S. 200 f.


340 B Empirischer Teil

Hinsichtlich der Delegierung der religiösen Erziehung sei die Erwartungshaltung der

Eltern an die Lernziele sogar noch größer:

„Sie erwarten, und das ist meiner Meinung falsch, dass sie einfach ihre Verantwortung in

der religiösen Erziehung an die Moschee abgeben können und sich von dieser Verpflichtung

befreien. Man sagt, der Imam soll mein Kind in der Form erziehen, dass er in islamisches

Format bekommt. Diese Erwartung ist aber nicht zu erfüllen, wenn die Kinder nur für

zwei Stunden an den Wochenenden und mit dreißig Kindern pro Imam unterrichtet werden.

Das würde nur funktionieren, wenn das ganze Umfeld des Kindes, seine Eltern, die

Familie, Freundeskreis usw. auch sehr religiös wären. Daher versuchen sich die Eltern sich

von dieser Verantwortung zu drücken. Sie sagen: ‚Es reicht, wenn mein Kind die Existenz

und Einzigkeit Gottes lernt, den Koran rezitieren und einige Gebete auswendig lernt, um

dann bei unseren Tod, an unseren Grab den Koran lesen, Gebete sprechen kann. Mein

Kind soll auch die 32 Farḍ 750 lernen, aber alles soll der Imam lehren.‘ Natürlich spielt

der Imam eine Rolle in der religiösen Erziehung, aber nur dreißig Prozent und die siebzig

Prozent müssen die Eltern übernehmen. Denn die Kinder sind in der Woche maximal

fünf Stunden beim Imam, die restlichen Stunden und Tage verbringen sie in der Familie.

Deshalb kann man die Verantwortung nicht einfach auf den Imam abwälzen, weil er

sich nicht nur um ein Kind, sondern um dreißig weitere kümmern muss. Sie wissen doch

das besser als ich. Nehmen Sie doch einfach mal die kürzeste Sūra, die Ih˘

lāṣ. Wenn ein

Imam beim richtigen Rezitieren dieser kleinen Sūra mit etwa fünf knappen Versen sich

bei einem Kind im Unterricht bemühen würde, auf alle Rezitationsregeln zu achten, wäre

die Stunde um ohne dass die anderen Kinder drankommen würden. Das war zu meiner

Zeit sogar noch schlimmer, weil wir 70, 80 Kinder im Unterricht waren. Wenn jeder mal

in der Runde ein Vers rezitieren sollte nach der Reihe, war ja fast der Unterricht um. Ich

kann mich mal erinnern, dass ich nur die Sūra ‚Kevser‘ einmal im Unterricht rezitierte

und dann wieder nach Hause ging.“ (Ikbal I., S. 174)

Die Moscheegemeinden sind aufgrund der hohen und vielfältigen Erwartungen der

muslimischen Familien überfordert. Das idealisierte Bild der Moscheen spiegele nicht

die realen Bedingungen wider, unter denen die Imame und das ehrenamtliche religiöse

Betreuungspersonal den Unterricht anbieten:

„Die erwarten viel und das ist unfair, weil sie glauben die Moschee ist ein Heiligtum, wo

man alles erreicht und wenn die Moschee einen Fehler macht, dann ist das eine Katastrophe.

Dann kommen sie, beschimpfen sie und reden darüber, aber merken nicht, dass

ihre Geldbeiträge für die Moschee sehr gering sind. Sie verstehen nicht, dass die Moscheen

keine Fachleute haben und nur Ehrenamtliche haben, die bis zu 20 Stunden in der Woche

in der Moschee arbeiten. Wir in der Schura arbeiten alle ehrenamtlich. Manchmal bin

ich drei Tage unterwegs mit dem Vorsitzenden und wir sehen uns fast jede Woche oder

750 Hierbei handelt es sich um die 32 Pflichtgebote, welche die zentralen Elemente der rituellen

Waschungen, der Liturgie sowie des Glaubens beziehungsweise Glaubenspraxis zusammenfasst

(vgl. Hasan Arikan, Ilmihal. Illustriertes Gebetslehrbuch, Köln 1998, S. 184 ff.).


2 Ergebnisse der empirischen Studie 341

wir telefonieren regelmäßig. Alles für Allāh und das mache ich seit 25 Jahren. Nicht nur

für die Schura, auch vorher. Wenn man dann von mir viel erwartet, dann sage ich: ‚Moment,

bringt mehr Geld, mehr Fachleute, und ich baue euch ein Paradies in der Moschee

auf.‘ Ich arbeite ja alleine oder in der Gruppe, wo die meisten auch aufhören, weil zu viel

ehrenamtliche Arbeit ansteht. […] Die muslimischen Eltern erwarten von den Moscheen

viel, aber verstehen nicht, dass die Kapazität der Moschee begrenzt ist. Außer dass man

den Kindern etwas arabisch, die ‚ğuz’‘āmma‘, die letzten kurzen Kapiteln des Koran, und

etwas allgemeine Grundlagen des Islam so zwei oder drei Stunden in der Woche, mehr

kann die Moschee momentan nicht leisten.“ (Sharif M., S. 320)

Die angesprochenen Kriterien haben für die Moscheen die Konsequenz, dass Kinder mit

völlig unterschiedlichen Lernvoraussetzungen zum Unterricht kommen. Wie im nächsten

Kapitel noch aufzuzeigen ist, haben die etwa 160 Moscheegemeinden in Niedersachsen

mit dem Problem zu kämpfen, dass die meisten nicht über Klassensysteme verfügen. Das

heißt konkret: In einer Klasse werden vom Imam oder vom religiösen Betreuungspersonal

Kinder mit einem unterschiedlichen Niveau ihres religiösen Wissens sowie unterschiedlichen

Alters in den Glauben eingewiesen:

„Sie wollen, dass wir den Kindern ihre Religion und Kultur beibringen. Die Frage ist aber,

ob die Moscheen wirklich dieses Ziel erfüllen können. Die Kinder haben höchstens vier

Stunden in der Woche Moscheeunterricht. Wir müssen den gesamten Unterricht an den

Wochenenden anbieten. Und in diesen je zwei Stunden am Samstag und Sonntag werden

alle Kinder gemeinsam unterrichtet. Deshalb haben sie Kinder von sieben bis fünfzehn

Jahren. Neben dem großen Altersunterschied gibt es große Unterschiede zwischen den

Anfängern und den Fortgeschrittenen, die auch alle in der gleichen großen Gruppe unterrichtet

werden. Während die Fortgeschritten schon fast als Mu’aḏḏin anfangen können,

können die Neuen nicht mal das arabische Alphabet.“ (Said Ö., S. 118 f. )

Die Auswertung aller Experteninterviews zeigt in allen niedersächsischen Moscheegemeinden

das gleiche Bild: Einerseits gibt es einen großen Kontrast zwischen den Erwartungen

der Eltern und den dafür erforderlichen personellen und strukturellen Ressourcen des

Lernortes, zum anderen existieren innerhalb der Gemeinden kein Konsens und keine Reflexionen

über die Inhalte und Ziele der Moscheekatechese, die entsprechend der begrenzten

Ressourcen konkretisiert werden könnten; es scheinen vielmehr in den 1970er-Jahren

eingeführte und überwiegend aus dem Herkunftskontext importierte Vorstellungen zu

Moscheekatechesen einfach – wenn auch mit leichten Erweiterungen und Ergänzungen

– unreflektiert weitergeführt zu werden. Die Frage lautet, ob die Moscheegemeinden seit

nunmehr 40 Jahren den Integrationsprozess der muslimischen Kinder und Jugendlichen

in der Vorschule, der Schule, der Gesellschaft, der Freizeit begleiten können? Ob sie mit

der starken Medialisierung der Gesellschaft mithalten und in ihren Kursen diesen Entwicklungsprozess

berücksichtigen können?

„Es gibt Eltern, die wollen, dass ihre Kinder zu guten Menschen in der Moschee erzogen

werden. Dann gibt es Eltern die wollen, dass ihre Kinder den Koran lesen, dann die


342 B Empirischer Teil

hatim machen, sūren auswendig lernen usw. Das sind aber falsche Erwartungen. Wenn

wir es schaffen, dass die Kinder zu guten Menschen werden, dann haben wir das richtige

Ziel erreicht. Wir können nicht mit einer wöchentlichen Stundenzahl von maximal vier

Stunden den Kindern und Jugendlichen die ganzen religiösen Grundlagen beibringen.

Wir können aber dafür sorgen, dass die Kinder die Moschee und die Religion lieben. Nicht

mit Angst und Zwang, sondern sie sollen lieben und schätzen lernen ihre Religion, ihren

Imam und die Moschee. […] Erstens muss man die muslimischen Familien in religiösen

Fragen fortbilden. Das ist die erste Voraussetzung für einen optimalen Moscheeunterricht.

Dann können diese Eltern ihre Kinder bis zum Beginn des Moscheeunterrichts

mit sechs, sieben Jahren soweit die religiösen Grundlagen vermitteln, sodass die Kinder

dann nur noch wegen der Praxis zum Moscheeunterricht kommen. Denn die Moschee

sollte nicht dafür da sein, die ganzen Grundlagen zu lernen, sondern diese umzusetzen

und ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Dann können wir dem Kind die Liebe zu

den Moscheen sowie ihre herausragende Rolle im sozialen Leben vermitteln. Das ist der

größte Fehler in allen Moscheen, weil man den sieben, acht und neunjährigen Kindern

so mit Wissen füllen möchte, als ob man sie zu Imamen oder Theologen ausbilden will.

Das ist es nicht, sondern die Liebe und das religiöse Bewusstsein sind wichtig. Darüber

hinaus sollte der Moscheeunterricht allgemeine ethische Grundlagen und religiöse Lebensregeln

wie Verbote und Gebote vermitteln und damit hätten die Moscheen schon ihr

Ziel erreicht. Aus dem Kreis dieser Kinder muss man diejenigen aussuchen, die besonders

begabt und besonders motiviert sind, weiter zu lernen. Diese Kinder müssen wir dann

einen Privatunterricht anbieten und sie zu Imamen ausbilden, damit sie die Kanzelrede,

den Gottesdienst usw. lernen. Um es nochmal zu wiederholen, das wichtigste Ziel des

Moscheeunterrichts sollte sein, den Kindern die Bindung zu den Moscheen, die Liebe zur

Religion und die Entwicklung einer religiösen Identität zu vermitteln. Das Erlernen des

religiösen Wissens kann dann auf der Grundlage dieser Identität zu einer späteren Phase

verlagert werden. […] Die Moschee sozialisiert das Kind zu einem Muslim, dort lernt es

die Gemeinschaft kennen und findet zu seiner islamischen Identität. Das gilt für Jugendliche

gleichermaßen wie für ältere Gläubige. Die Moschee ist der Ort, wo der Gläubige

seine religiöse Zugehörigkeit im Gemeinschaftsleben erfährt. Das kann die Familie nicht

bieten, daher ist ja auch das Freitagsgebet eine religiöse Pflicht, damit sich die Muslime

als Teil der islamischen Gemeinschaft in der Moschee erleben können. Zweitens ist die

Moschee dafür da, die religiöse Praxis zu erlernen. Drittens hat die Moschee mit seinen

Predigten, seinem Islamunterricht usw. die Funktion, die vermittelte Ethik und Moral

in den Familien auf einer noch höheren Wissensebene zu ergänzen, um die islamische

Identität des Kindes zu vervollständigen.“ (Halim H., S. 191f.)


2 Ergebnisse der empirischen Studie 343

2.4 Zwischen Anspruch und Realität: Situation, Struktur und

Entwicklung der Moscheekatechese und Ergänzungen

bisheriger Untersuchungen

„Nein, das verstehen sie nicht. Gerade hier in den bosnischen Gemeinden, was mich so

ein bisschen irritiert, ich habe jetzt den Imam vertreten nach dem Ramadan, während

seines Urlaubs und in der letzten Freitagspredigt, bevor er zurückgekehrt ist habe ich

über die Wichtigkeit des Religionsunterrichts gesprochen und auch an einer erweiterten

Sitzung des Vorstandes, eine Woche später, habe ich dasselbe nochmals angesprochen.

Für mich besteht die Hauptaufgabe eines Imams nicht darin, dass er regelmäßig zu den

Gebetszeiten da ist, sondern die Hauptaufgabe ist der Religionsunterricht. Für mich ist

wichtig, dass in zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren eine Moscheegebäude, eine Moscheegemeinde

in andere Hände übertragen werden kann, d. h. in die Hände der heutigen Kinder

und Jugend. Wenn wir nicht ausbilden, das heißt wenn wir nicht entsprechende Bildung

anbieten und sie sowohl in der Familie und in den Moscheegemeinden nicht entsprechend

religiös erziehen.“ (Esref B., S. 38)

„Als ich vor Jahren angefangen habe in unterschiedlichen Arbeitsgruppen für religiöse

Erziehung aktiv zu werden, habe ich einmal dem Religionsattachée in Niedersachsen

gesagt: ‚Wir, die türkischen Muslime, stellen die größte Gruppe unter den Muslimen in

Deutschland dar. Etwa 70 bis 75 Prozent aller Muslime sind türkisch. Wenn das so weiter

geht mit der schlechten religiösen Erziehung in den Gemeinden, haben wir bald zwar als

DITIB die schönsten Moscheen, aber die religiöse Erziehung können wir dann der Milli

Görüs überlassen und unsere türkische Identität den Grauen Wölfen anvertrauen. Das

wäre eine falsche Entwicklung. Davor habe ich bereits vor fünfzehn Jahren hingewiesen.

Wir können zwar die großen und teuren Moscheen bauen, um damit beim Tag der offenen

Moscheen oder Dialogveranstaltungen repräsentative Einrichtungen vorzuweisen,

aber was haben wir davon, wenn wir die Moscheen nicht mit Leben und mit Personal

füllen können? Das wird soweit kommen, weil die meisten Familien leider nicht über das

entsprechende religiöse und kulturelle Grundlagen verfügen.“ (Salih D., S. 118)

Im Zuge der immer schärfer werdenden Konturen und Konkretisierungen elementarer

Inhalte der religiösen Bildung in der islamischen Lehr- und Lerntradition zur Internalisierung

der Glaubensartikel sowie der Praktizierung der arkān al-islām, der Aneignung der

akhlaq sowie der Ausübung der ‘amal ṣāliḥ (gute Handlungen) entstanden in der islamischen

Geschichte kleinere Schriften, mit denen in Gemeinden Kinder und Erwachsene in

den Glauben eingeführt wurden. Die bereits genannten Ziele ta‘līm und tarbiyya werden

noch heute in den Gemeinden fortgeführt. Die oben differenziert dargestellten Lernvoraussetzungen

sowie die unterschiedlichen Erwartungshaltungen der Eltern fordern die

Moscheekatechese bei der Umsetzung der genannten Lehr- und Lerntradition heraus, weil

diese auf eine heterogene Zielgruppe muslimischer Kinder und Jugendlichen reagieren

müssen. Da also von der Resonanz der Moscheekatechese die Zukunft der Gemeinden

abhängt, konzentrieren sich dort alle dargestellten bisherigen Herausforderungen in besonderer

Weise. Aus diesen Erfahrungen kristallisieren sich die Erwartungshaltungen an den


344 B Empirischer Teil

islamischen Religionsunterricht heraus. Zahlreiche soziale Mechanismen führen in dem

umrissenen komplexen Geflecht dazu, dass der islamische Religionsunterricht als neues

Handlungsfeld für die Moscheegemeinden immer wichtiger wird. In diesem Kapitel wird der

Frage nachgegangen, inwieweit es den Moscheegemeinden gelingt, diese Herausforderung

angemessen zu bewältigen. Dabei werden die im theoretischen Teil zusammengefassten

empirischen Ergebnisse von Hasan Alacacioglu aus dem Jahr 1999 sowie die vom Verfasser

unter anderem in den Bereichen ‚Anmeldeprozess‘, ‚aktuelle Entwicklungen‘ ‚Lehrpläne‘,

‚positive und negative Erfahrungen in den Moscheekatechesen‘ sowie ‚Kooperationen

mit dem Elternhaus‘ ermittelten Daten ergänzt und erweitert werden. Darüber hinaus

werden, wie in den alten Studien üblich, nicht nur türkischstämmige Moscheen, sondern

alle ethnisch-kulturellen Gemeinden erfasst.

2.4.1 Reichweite und Anmeldungsverfahren

Die wöchentliche Moscheekatechese beginnt in fast allen Gemeinden an den Wochenenden

sowie in den Schulferien um 9 oder 10 Uhr. Je nach Jahreszeit bildet das gemeinsame

Mittagsgebet den Abschluss des Unterrichts. 751 Die Kinder werden in der Regel mit sechs

Jahren, also parallel zur Einschulung, zu diesen Islamkursen angemeldet. Es gibt aber

bereits Moscheegemeinden, die für jüngere Kinder eine Art religiösen Hort eingerichtet

haben. Die Altersgrenze nach oben ist dagegen zwar für die Moscheekatechese nicht strikt

festgelegt, aber, wie später noch gezeigt wird, scheint der Beginn der Pubertät den Markstein

zu bilden, an dem viele junge Menschen beschließen, die Moscheekatechese nicht mehr

aufzusuchen und nur noch am Freitag oder gar nicht mehr in die Gemeinden zu kommen.

„Natürlich die Zahl der Kinder. Je mehr Kinder kommen, desto besser ist der Moscheeunterricht.

Das große Interesse der Eltern, daran misst man die Qualität, was aber meiner

Meinung falsch ist und nicht die Tatsachen widergibt. Für mich gibt es zwei Kriterien:

Wie viel lernt das Kind und wie viele Kinder können wir für die Gemeinde und für die

Gesellschaft langfristig einbinden. Von den Kindern die sagen wir mal mit zehn Jahren

für vier bis fünf Jahre in den Moscheeunterricht kommen, bleiben nur wenige noch in den

Moscheen. Die Gemeinden sollen mal mir diese Frage beantworten: Wie viele Jugendliche

ab 15 Jahren kommen noch in die Moschee, obwohl sie jahrelang den Moscheeunterricht

751 Ein Beispiel bildet der Stundenplan für den Wochenend-Unterricht einer IGMG-Moschee, der

in vier Lerneinheiten eingeteilt ist. Um 9.50 Uhr müssen die Kinder in der Moschee sein und

haben eine zehnminütige Vorbereitungszeit für den Kurs. Pünktlich um 10 Uhr beginnt der

Kurs mit Alphabetisierung und Koranlesen. Nach einer fünfzehnminütigen Pause werden von

11.00 bis 11.45 Uhr Koranverse oder Bittgebete auswendig gelernt; das Gelernte wird gemeinsam

aufgesagt. Von 12.45 Uhr bis 13.45 Uhr wird – wieder mit einer fünfzehnminütigen Pause

zwischendurch – Grundlagenwissen (Glaube, Moral/Ethik, Türkisch und Prophetenaussprüche)

behandelt. Ab 13.45 Uhr hat man etwa fünf Minuten Zeit, um sich auf den gemeinsamen

Gottesdienst in Form der rituellen Waschung vorzubereiten. Das Gebet beginnt um 13.50 Uhr,

die Zeremonie endet um 14.20 Uhr. Die Kinder und Jugendlichen verbringen also über vier

Stunden im Kurs. In den Schulferien sind vier Tage in der Woche vorgesehen.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 345

besucht haben? […] Von 30, 50 Kindern, die fünf Jahre lang den Moscheeunterricht besucht

haben ab ihrem 15 Lebensjahr, bleiben nur noch drei oder vier Kinder in den Moscheegemeinden,

der Rest ist weg. Die Ursachen müssen wir ermitteln, weil das niemand genau

sagen kann. Warum bleiben nicht 20 oder 30 von 50 Kindern und leider nur drei oder

vier?“ (Salih D., S. 119)

Der etwa vierstündige Moscheekurs an den Wochenenden – in politischen und medialen

Diskussionen oft „Koranschule“ genannt – steht zwar seit einer längeren Zeit im Fokus der

Öffentlichkeit, es existieren jedoch keine Daten über die Reichweite und die Teilnehmerzahlen.

Wie bei den Schätzungen der Mitgliederzahlen und bei der Reichweite der religiösen

Dienstleistungen insgesamt, verfügten die befragten Experten nur über durchschnittliche

Schülerzahlen an den Wochenenden, die bereits die sehr hohe Resonanz zeigen, wie folgendes

Beispiel einer Osnabrücker Gemeinde verdeutlicht:

„I.: Wie viele Kinder und Jugendliche kommen denn zum Moscheeunterricht?

Halim H.: Wir haben hier 150 Schülerinnen und Schüler im Moscheeunterricht.

I.: Die Freitag, Samstag kommen?

Halim H.: Nein, Samstag und Sonntag.

I.: Ah, okay.

Halim H.: So 150, nein mehr. Ein Moment, ja fast 200 Schülerinnen und Schüler, weil

wir in den letzten Monaten neue Anmeldungen erhalten haben. Wenn die Eltern ihre

Kinder in die Moschee zum Unterricht bringen oder abholen, nehmen sie auch an den

Gottesdiensten teil. Dann habe ich noch religiöse Gesprächskreise mit den Jugendlichen an

den Wochenenden, die abends stattfinden. Also an den Wochenenden kommen Muslime

mit unterschiedlichen religiösen Profilen.“ (S. 185)

Bevor in Niedersachsen der Landesverband Schura gegründet wurden und bevor die

Gespräche zur Einführung eines Schulversuchs ‚islamischer Religionsunterricht‘ mit den

verantwortlichen Ministerien begannen, ermittelten Initiatoren wie Hamit A. im Jahre 2000

die Schülerzahlen in den Moscheen – außer den DITIB-Gemeinden –, um das Potenzial

für den geplanten schulischen Unterricht einzuschätzen:

„Ja, wir haben Hannover als Ausgangort genommen, um das auszurechnen. Ein Beispiel,

wir wussten zum Beispiel das hierhin an den Wochenenden ca. 100 Kinder und Jugendliche

kommen, zu Haci Bayram-Moschee etwa 200 usw. Auf der Grundlage der Zahlen

in Hannover haben wir dann für das gesamte Bundesland Niedersachsen eine Zahl von

über 5000 Kinder und Jugendliche ermittelt, die an Wochenenden im Jahre 2000 einen

Koranunterricht besuchten.“ (Hamit A., S. 61)

In den letzten zehn Jahren soll die Resonanz gestiegen sein, allerdings lagen hierüber

keine aktuellen Zahlen vor. Das Anmeldeverfahren – das immer eher informell war, die

Kinder und Jugendlichen wurden also nicht registriert und konnten einfach an den Wochenenden

ohne Verpflichtung teilnehmen – wurde in den letzten Jahren formalisiert. In


346 B Empirischer Teil

einigen Moscheegemeinden ist die Resonanz so groß, dass die Kinder zwangsläufig auf

Wartelisten gesetzt wurden:

„Ja, wir haben Anmeldebögen mit Namen, Adresse und Telefonnummer. Wenn mal

ein Kind nicht kommen sollte in den Unterricht, haben wir extra für solche Fälle einen

ehrenamtlichen Mitarbeiter, der dann bei den Kindern zu Hause anruft. Leider ist bei

den Eltern es so, dass sie den Moscheeunterricht nicht so ernst nehmen wie die Schule.

Manchmal schwänzen die Kinder einfach oder manchmal sagen die Eltern dann am Telefon,

wenn man sie nach dem Kind fragt, dass sie heute ausgehen wollen oder irgendeine

Hochzeitsfeier ansteht. Also oben sitzen etwa 60 Mädchen bis zum 12. Lebensalter und

dann kommen noch etwa 40 Jungen in dem unteren Raum. Es gibt eine sehr große Anfrage,

aber leider haben wir Aufnahmestopp, weil unsere Kapazitäten nicht ausreichen.“

(Hayrettin G., S. 137)

Da der Andrang zu groß ist, wurden zudem in einigen Gemeinden monatliche Beiträge

von bis zu 40 Euro eingeführt, 752 um einige Hilfskräfte einzustellen. Zudem nimmt auch

die Heterogenität der Schüler zu, da sie nicht nur aus praktizierenden muslimischen Familien

stammen:

„Hakki K.: Das was ich beobachte ist, dass unsere Kapazitäten nicht ausreichen. Die

Moscheen sind überfordert. Ich möchte nur das Beispiel unserer Gemeinde geben. Zur

Zeit genießen 450 Kinder religiösen Unterricht in der Moschee und auf der Warteliste

sind immer noch 300 Kinder, die wir nicht dran nehmen können.

I.: Eine einzige Gemeinde?

Hakki K.: Eine einzige Gemeinde und ich denke, das spricht Bände. Also fast so viele

Kinder auf der Warteliste wie im Unterricht. Man versucht die jetzt in der Woche unterzubringen,

dann fehlen halt wieder die ehrenamtlichen Lehrer. Es ist also sehr schwer zu

752 Die hohen Beiträge haben jedoch auch den Effekt, dass die von relativer Armut betroffenen

Familien Schwierigkeiten haben, ihre Kinder in diese gebührenpflichten Moscheen anzumelden:

„Diese Entwicklung ist seit sieben, acht Jahren eingeführt worden. Man hat dann das Klassensystem

eingeführt, in manchen Gemeinden sogar diese Aufgabe vom Imam genommen und anderen

Lehrern übertragen, außer bei der VIKZ. Man hat gewisse Lehrpläne entwickelt, die dann auch

von anderen Moscheegemeinden übernommen beziehungsweise kopiert wurden. Diese basierten

auf die Inhalte des türkischen Schulministeriums oder auf bestimmte Bücher usw. Daher ist man

heute mit diesen Lehrplänen auf ein Klassensystem umgestiegen. Es kann sein, dass wir heute

sogar Zehntausend Kinder und Jugendlichen in den Moscheen haben, aber das ist durch dieses

neue System schwer einzuschätzen. Zudem werden fortgeschrittenen Jugendlichen als Lehrkraft

in den jüngeren Klassen eingesetzt. Das ist zwar jetzt anders strukturiert, aber dafür wird jetzt

ein Monatsbeitrag gezahlt. In einer Moschee sind das vielleicht 25 Euro, in der anderen 30 Euro,

in der anderen 40 Euro. Dadurch haben sie versucht ein schulisches System versucht aufzusetzen,

sodass man alle Bedarfe wie Materialien notierte und auch Teilnehmerlisten beziehungsweise

Präsenszeiten aufschrieb. Durch diese Beiträge hat man es den Harz IV-Familien sozusagen fast

unmöglich gemacht, ihre Kinder in den Unterricht zu senden. Durch die Beiträge hat man zwar

die Schülerzahlen konstant halten können und sogar die Räumlichkeiten ausgeweitet, doch damit

war man letztlich nicht so erfolgreich.“ (Hamit A., S. 61)


2 Ergebnisse der empirischen Studie 347

koordinieren. Die Ansprüche sind auch halt hoch, die sich die Moscheen selber setzen.

Die machen viel, leisten viel, bilden die Leute selber aus die sie einstellen und bezahlen

sie auch. Und religiöser Unterricht ist nicht mehr kostenlos wie es mal früher war.

I.: Was kostet es?

Hakki K.: Wir bezahlen zurzeit für ein Kind 36 Euro im Monat und ich denke man muss

auch dafür bezahlen, weil man kann ja nicht erwarten, dass alles umsonst ist. […] Ja, da

muss ich sagen, diese Entwicklung macht mich schon sehr stolz. Ich sehe wie in unserem

Umfeld viele Eltern, wo man sich denkt: ‚Die sind überhaupt nicht religiös, die sehe ich

nie in der Moschee‘, aber sie schicken ihre Kinder an den Wochenenden in die Moschee

und das wirklich konsequent. Was mich auch wirklich sehr verwundert, weil die diese

Konsequenz beibehalten.

I.: Seit wann nehmen sie das wahr, wie lange nehmen sie schon diese Entwicklung wahr?

Hakki K.: Also seitdem ich meine Kinder in die Moschee schicke. Jetzt so sechs Jahre,

sieben Jahre, seitdem nehme ich das wahr.

I.: Und diese Eltern haben die gleichen Erwartungen?

Hakki K: Diese Hemmschwelle, von dem ich vorhin gesprochen habe, also dass man

früher sagte: ‚Ihr seid die Moscheegemeinde, wir sind die Nicht-Moscheegemeinde. Ihr

seid Extremisten, wir wollen euch nicht.‘ Diese Hemmschwellen sind jetzt weg. Vielleicht

trauen sich die Eltern selbst immer noch nicht in die Moschee, aber sie denken sich: ‚Ich

habe es nicht geschafft, warum soll es mein Kind es nicht schaffen können?‘ Oder auch

die Hemmschwelle, dass man die Angst hat abgestempelt zu werden, wenn sich das Kind

in der deutschen Gesellschaft als Muslim outet. Das ist auch nicht mehr so groß, diese

Ängste sind jetzt auch weg.“ (Hakki K., S. 281)

Die Eltern erfahren von den Kursen durch Ankündigungen vor oder nach der Freitagspredigt

durch den Imam, durch Bekanntmachungen am Schwarzen Brett und Infobriefe sowie

teilweise durch das Internet, vor allem aber durch Mundpropaganda. Die Moscheegemeinden

setzen übrigens bei der Anmeldung der Kinder nicht die Moscheemitgliedschaft der

Eltern voraus:

„Also, man muss nicht in einem Elternverein Mitglied sein. Die Eltern können ihre Kinder

Problemlos anmelden auch ohne Mitglieder zu sein, das passiert auch, wobei durchaus

nach einer bestimmten Zeit, entweder man aufhört die Kinder dahin zu bringen oder

selbst Mitglied wird. Nicht weil der Druck in den Moscheegemeinden vorhanden ist,

sondern die Eltern bestimmte Gewissensbisse haben, würde ich sagen: ‚Ja, ich kann es

mir nicht leisten oder möchte die Mitgliedsbeiträge gar nicht zahlen. Ich möchte aber

auf der anderen Seite fair sein.“ Und dieses Fair sein spiegelt sich dann darin wider, dass

man das Kind vom Religionsunterricht abzieht. Oder sie werden Moscheemitglied und

die Kinder machen mit dem Religionsunterricht weiter. Und die erfahren davon, eigentlich

dadurch, dass sie eigentlich wissen, dass in jeder Moscheegemeinde der Unterricht

am Wochenende stattfindet. Das ist auch schon seit früher so, dass haben die schon aus

Bosnien mitgebracht, wobei einige Moscheegemeinden machen das heute so, dass sie über

Facebook, zum Beispiel über Infopost über bestimmte Aktivitäten informieren. Die sind

Gott sei Dank so weit, dass sie das machen, durchführen und das sie angeben, dass ‚an


348 B Empirischer Teil

dem und dem Tag‘ angeben findet Schulung in der Moschee im Religionsunterricht und

es kommen Kinder und es werden kleinere Veranstaltungen werden vorbereitet teilweise

und das ist etwas innovatives. Wobei ein großer Teil einfach diese Aktivität, dieses Angebot

macht ohne über die Mauer der Moschee hinaus aktiv zu werden. Also sie machen

dieses Angebot, was eigentlich im Gebäude bleibt. Auf diese Angebote, Aktivitäten müssen

dann die Eltern, die Verwandten und wer auch immer selbst aufmerksam werden und

aus sich heraus kommen und sind natürlich willkommen, wenn nicht, dann mach sich

kaum einer Gedanken. Da ist auch eine bestimmte Diskrepanz und Vielfalt vorhanden.

Und es ist mir wichtig zu sagen zu den Inhalten, vor allem im bosniakischen Bereich.

Neben dem imān, also den Glaubensinhalten und den praktischen Inhalten, neben der

Ahlak-Inhalten.“ (Esref B., S. 36)

2.4.2 Selbstverständnis und Ziele

Die Moscheen werden als „Filialen“ der Ka‘ba gesehen und damit als die Vertretungen

des Haupttempels des Ur-Monotheismus in Mekka. Die Moscheen sind im Kontext von

Moscheekatechese Orte, wo nach dem Selbstverständnis der Gemeindevertreter die muslimischen

Grundlagen vermittelt werden sollen, um zu einem praktizierenden Muslim

sozialisiert zu werden.

„Ja, erstmal auf jeden Fall ist es das Wichtigste, dass man den Kindern beibringt diese

Grundsätze, weil die meisten von denen werden sich nicht mit den großen Fragen befassen.

Für die reicht es, wenn sie beten und die fünf Grundpfeiler umsetzen, und Tag

und Nacht das auswendig lernen. Am Wichtigsten ist es, dass sie das Gefühl bekommen,

weil man kann ja nicht hundertprozentig wissen kann, ob man das erreichen kann mit

den Kindern, aber nach fünf bis sechs Jahren, wenn sie mit dem Mektep, mit der islamischen

Schule, fertig sind und die sind 15, 16 Jahre sind, dann gehen sie nicht mehr in die

Mektep, weil die sagen: ‚Da sind nur Kinder.‘ Man sollte diesen Jugendlichen auf jeden

Fall dieses Gefühl vermitteln, dass sie Muslime sind, dass sie an Gott glauben, dass wie

wissen, dass man die Gebete ausführen muss, weil das streng befohlen ist. Also, dass sie

wirklich eine Gewissheit bekommen, Wissen bekommen, dass es einen Gott gibt, aber

wirklich, nicht nur einfach so: ‚Ja, ich habe das gelernt.‘ Denn wenn man dieses Gefühl

hat, wird man alles andere, also kommt alles von selber wie die Gebete. Aber das ist am

Schwierigsten.“ (Necat I. S. 231)

Neben religiösen Inhalten können, wie in bosniakischen Moscheen üblich, auch ethnisch-kulturelle

Inhalte eine Rolle spielen. Während in den anderen ethnisch-orientierten

Moscheegemeinden dieses Geschichtsbewusstsein kaum oder nur als islamische Historie

vermittelt wird, scheint für die Minderheitensituation der Bosniaken das neue ethnisch-religiöse

Selbstbewusstsein ausschlaggebend zu sein:

„Die Inhalte sind generell in den bosnischen Verbandslandschaften, also generell die

islamischen Inhalte zu vermitteln. Es geht um die Glaubensgrundsätze, es geht um die


2 Ergebnisse der empirischen Studie 349

fünf Säulen des Islam, es geht um die ethischen Grundsätze. Also das bearbeitet man so

ziemlich umfassend in den Moscheegemeinden im Religionsunterricht in den bosnischen

Moscheegemeinden. Das ist nicht selten so, dass man diese drei Bereich theoretisch durchläuft

bevor man überhaupt die arabische Schrift lernt und dann erst den Koranunterricht

macht, also erst den Koran liest. […] Es geht im Religionsunterricht, in den bosnischen

Moscheegemeinden, geht es auch um die Geschichte, und in diesem Fall, speziell um die

Geschichte Bosnien-Herzegowinas. Also das bearbeitet man und das finde ich sehr sehr

gut.“ (Esref B., S. 35 f., 37)

Die Moscheekatechese soll Kindern und Jugendlichen zur Identätitätsbildung verhelfen,

damit sie ein Bewusstsein dafür entwickeln können, ein Teil der Umma – der muslimischen

Weltgemeinschaft – zu sein. Dieses Selbstverständnis und diese Zielsetzung stehen

zum Teil konträr zu den eher ethnischen Orientierungen und Zusammensetzungen vieler

Gemeinden:

„Ja, das Wichtigste, was dort vermittelt werden sollte, ist erstmal ein Gefühl zu entwickeln

für die Umma, für die Gemeinschaft. Das wäre für mich so ein ganz wichtiger Punkt.

Dass die Kinder, die zu uns kommen, so ein Gefühl aufbauen: ‚Ich gehöre irgendwo zu,

ich gehöre hierhin.‘ Und das habe ich von vielen Eltern bestätigt bekommen, weil viele

wohnen so ländlicher und haben dort keine Anbindung an Muslime und die sind halt auf

so etwas angewiesen und haben lange gesucht. Die haben mir gesagt: ‚Mensch, toll, dass es

eure Kindergruppe gibt. Wir haben sonst nichts in der Umgebung. Wir wollen, dass unsere

Kinder die Gemeinschaft kennenlernen.‘ Der Grundsatz ‚Ich gehöre hier zu‘ muss denke

ich erst mal bei den Kinder verankert werden sollte und wenn das steht, dann kann man

weitere Werte vermitteln. Bezüglich des religiösen Wissens sollten kein abstraktes Wissen

vermittelt werden, sondern eben auf spielerische Art, altersgerecht halt.“ (Anna S., S. 210)

Die Moscheekatechese soll jedoch nicht nur die Grundlagen vermitteln und zur Glaubenspraxis

verhelfen, sondern auch die Gemeindegebundenheit stärken, damit die junge

Generation zukünftig ehrenamtliche Rollen und Funktionen übernehmen will. 753 Die

753 Bei dieser Frage kommt es zu einer Interessenkollision der Gemeinden und der Eltern, weil für

Letztere die Aneignung der religiösen Grundlagen und einer muslimischen Identität bereits

ausreicht, ohne zu praktizieren oder später Gemeindemitglied zu werden: „Ja, das man einfach

vermittelt, als Muslim, sobald man irgendwie beten kann, diese Grundlagen beherrscht, auch

sozusagen vom Wissen, sagt man nicht selten: ‚Okay, für mich ist in Ordnung. Oder selbst, wenn

man das ganze durchlaufen hat, das Ganze – in Anführungszeichen – informelle Programm,

Glaubensgrundlagen, praktische Grundlagen, ethische Grundlagen, den Koran, ist es nicht selten

so, dass selbst das Kind sagt: ‚Okay, ich habe alles durchlaufen, ich kann das jetzt zur Seite

schieben.‘ Warum ist das so? Nicht wenige Familien kenne ich, die sozusagen keine Nachhaltigkeit

haben bei sich selbst, Eltern, und keine Nachhaltigkeit bei den Kindern im Sinne, im Sinne

dass die Eltern kein Beispiel geben in der Anwendung der religiösen Praxis. Und wenn ein Kind

diesen Prozess durchlaufen ha und die Eltern das Kind aufmuntern weiterzumachen, vielleicht

nicht offiziell in einem Religionsunterricht, aber das auch im eigenen Leben anzuwenden. Man

macht da ein Cut, als ob mein ein Studium abgeschlossen hat: ‚Jetzt möchte ich damit nichts zu

tun haben.‘ Wenn der Religionsunterricht natürlich einen sehr realen Bezug zur Wirklichkeit hat,


350 B Empirischer Teil

Moscheekatechese ist somit die zentrale Plattform, um den Nachwuchs zu qualifizieren,

die Gemeindebindung zu stärken und die Weiterführung der Gemeinden zu gewährleisten.

Die Zielsetzung der Bildung einer zukünftigen Generation als Verantwortungsträger der

Moscheegemeinden in Deutschland bildet eine Art „hidden curriculum“:

„Einmal das grundlegende Rüstzeug, was man als Muslim braucht. Wie man betet, aber

auch die Kinder an die Gemeinde zu binden und darüber hinaus auch die Jugend zu halten

und die Kinder dazu zu bringen, Verantwortung zu tragen und sich für die Gemeinde zu

engagieren. Das ist der größte Einfluss, die die Moschee hat. […] In den kleinen Moscheen

ist es hauptsächlich der Imam, aber in den größeren Städten und Gemeinden sind es

auch Jugendliche, die selbst herangezogen wurden, so wie es auch hier in der Gemeinde

ist. Viele sind, nachdem sie die Bildung durchlaufen haben, werden hier als Hilfskräfte

eingestellt und werden natürlich auch mit einem kleinen Obolus entlohnt. Ich denke, dass

es ihnen aber bestimmt Spaß macht zu sehen, wie jetzt Kinder aufwachsen wie sie auch

selber aufgewachsen sind.“ (Hakki K., S. 280)

Schließlich soll eine effiziente Moscheekatechese auch Synergieeffekte im sozialen Umfeld

der teilnehmenden Kinder und vor allem der Jugendlichen dazu erzielen, um neue Mitglieder

für die Moscheegemeinden zu gewinnen:

„Wir müssen ständig Programme haben, besonders für junge Leute. Die Älteren kennen

das Ganze aus dem Heimatland. Die haben schon ihren Weg gefunden. Ob das jetzt für

jeden Einzelnen richtig oder falsch ist, also die haben schon ihren Weg gefunden. Für die

Jugendlichen hier in Deutschland aber, wir können die nicht zwingen, also das darf nicht

sein. Es gibt Familien, die Eltern sind gar nicht gläubig und plötzlich interessiert sich ein

junger Mann oder Frau aus dieser Familie ganz bewusst, also nicht einfach aus dem Bauch

heraus: ‚Mein Vater und meine Mutter haben das gemacht, und ich mache das auch‘.

Bei uns war das am Anfang auch so und jetzt nicht. Oder auch viele Familien, die sehr

religiös waren und auch einen Namen hatten in ihrer Stadt, in ihrer Umgebung, deren

Kinder wollen sich nicht für die Religion interessieren und wenn es mal ein Programm

in der Moschee gibt, dann kommen diese Kinder aus Gefälligkeit den Eltern oder den

Nachbarn gegenüber.“ (Murtaza M., S. 250)

2.4.3 Die Situation der Lehrkräfte

Der Hauptverantwortliche für die Moscheekatechese ist nach wie vor der Imam. Wie in

der eigenen Studie des Verfassers demonstriert wurde, lehren ganz unterschiedliche Arten

von Imamen, die sich nicht nur hinsichtlich ihrer religiösen Orientierungen unterscheiden,

sondern auch in ihrer Qualifikation und vom Aufenthaltsstatus her. Darüber hinaus

es ist nicht nur das Erlernen der Inhalte, sondern auch das praktizieren der Inhalte und dieses

Praktizieren hört nicht selten auf mit dem Erlernen, dass man diesen Prozess irgendwie zu Ende

geführt hat und sagt: ‚Die Praxis? Ich weiß worum es geht.‘“ (Esref B., S. 40)


2 Ergebnisse der empirischen Studie 351

steht in den meisten Moscheegemeinden den Imamen ein religiöses Betreuungspersonal

zur Seite, welches ehrenamtlich arbeitet und die Hospitation übernimmt. Der Rückgriff

auf das ehrenamtlich tätige religiöse Betreuungspersonal geht auf die ungleiche Relation

von Imam und Schülerzahl in den Moscheekatechesen zurück. Je nach der Größe der Moscheegemeinde

können auf einen Imam bis zu 200 Kinder und Jugendliche kommen, die

er – je nach zeitlichen und räumlichen Kapazitäten – in kleinere Gruppen aufteilen muss,

wobei häufig immer noch die Gruppengröße 754 einen effizienten Unterricht nicht zulässt:

„Eigentlich brauchen wir mehr Imame, weil es einen Unterschied macht, ob ein Imam zehn

Kinder unterrichten muss oder nur fünf Kind. Das ist ein großer qualitativer Unterschied.

Je mehr wir Betreuungspersonal haben, desto höher die Qualität des religiösen Lernens

bei den Kindern.“ (Murtaza M., S. 156)

Die Konstellation dieser Hilfs-Imame ist sogar noch heterogener als die unterschiedlichen

Imamtypen. Darunter sind pensionierte Imame, Imam-Hatip-Absolventen, die

Heiratsmigranten sind, Autodidakten, fortgeschrittene Schüler oder einfach nur enagierte

Mitglieder sowie Renter der ersten Gastarbeitergeneration, die diese Funktion schon in

den 1970er-Jahren ausübten:

„Sehr viele Probleme, sehr viele. Das Bildungsniveau des ehrenamtlichen Personals ist

gering und sie bringen in der Regel keine Grundlagen für diese Tätigkeit in den Gemeinden

mit, wir haben methodische Probleme in der Kindererziehung und in der Gemeindearbeit

und ein weiteres Problem ist es, dass wir nicht genügend ehrenamtliches Personal

finden. Materielle Probleme zwar auch, aber ist nicht so ein gravierendes Problem wie

das Problem, gut qualifizierte Mitarbeiter zu finden. Das umfasst den Imam bis zu den

ehrenamtlichen Mitarbeitern, die zwar gute Absichten haben und nach ihren eigenen

Möglichkeiten und Kapazitäten sich bemühen – Gott möge es ihnen vergelten – aber das

reicht leider nicht für eine gute Arbeit aus. […] Grundsätzlich vertraut man diesem gut

ausgebildeten Imam und hört auf ihn, allerdings kommt es hin und wieder zu kleineren

Schwierigkeiten, wenn der Imam zum Beispiel eine langfristige Planung beziehungsweise

Ziel von fünf bis zehn Jahren vorlegt und der Vorstand das nicht versteht. Weil die eben

nicht den Blick auf die Dinge haben, wie die Imame. Der Vorstand hat eher oder oft einen

materiellen Blick auf die Vereinsarbeit, der Imam dagegen eher auf die inhaltlichen,

pädagogischen Aspekte. Da kommt es zu Schwierigkeiten, aber grundsätzlich genießt der

Imam Vertrauen in der Gemeinde und man versucht, sobald die Möglichkeiten dafür

gegeben sind, seine Vorschläge umzusetzen.“ (Halim H., S. 181 f.)

Diese bunte Konstellation ist jedoch mehr eine Notlösung:

754 Im Bildungssystem treten ähnliche Effekte der Klassengröße auf den Lernerfolg sowie auf die

soziale Bildungsungleichheit auf. Bildungsverlierer sind in der Regel Schüler aus bildungsfernen

Schichten, weil die Familien die mangelnde individuelle Förderung in großen Schulklassen

nicht kompensieren können; (vgl. Raphaela Schlicht, Determinanten der Bildungsungleichheit.

Die Leistungsfähigkeit von Bildungssystemen der deutschen Bundesländer, Wiesbaden 2011,

S. 69 ff.).


352 B Empirischer Teil

„Wir haben Probleme mit dem Personal und mit den Imamen. Die freiwilligen Helfer

sind nicht ausgebildet und bilden sich auch nicht weiter. Ich hoffe und bete daher, dass

das Institut für Islamische Theologie in Osnabrück, dass die Studenten nach ihrem Abschluss

sich in die Moscheen verteilen und dort aktiv werden. Wenn diese Studenten sich

in sozialen und religiösen Aktivitäten engagieren, dann wird sich vieles verbessern. Die

freiwilligen Helfer dagegen, die derzeit den Imam im Unterricht unterstützen, fehlt es an

pädagogischen Grundlagen. Im besten Fall hat man als Kind in der Türkei einen Korankurs

besucht, dann ist man nach Deutschland gekommen, engagiert sich im Moscheeunterricht,

aber entwickelt sich pädagogisch nicht weiter. Was soll man dann großartiges den Kindern

vermitteln können? In der Regel sind es Ehrenamtliche, die durch wegen der Heirat nach

Deutschland gekommen sind und wir ihnen etwa 100 Euro im Monat anbieten, damit

sie den Koranunterricht mit übernehmen. Das ist zwar besser als nichts, aber trotzdem.

Wir haben vier solcher Hilfsimame und den Hauptimam aus der Türkei, der Rentner ist

und überhaupt kein Deutsch spricht, daher auch keine Kommunikation zu den Kindern

und Jugendlichen aufbauen kann. Dieser Imam erzählt dann was vom Gebet und von der

rituellen Reinigung und die Hälfte davon verstehen die Kinder nicht. Und die Hilfsimame

sind zwar seit längerer Zeit hier, haben aber in ihrer Kindheit vom dem Hauptimam in

der Türkei gelernt.“ (Hayrettin G., S. 144)

Das große Gefälle hinsichtlich der Qualifikationen und Kompetenzen bringt für die

Moscheekatechese insofern Probleme mit sich, weil eine gemeinsame Abstimmung über

Inhalte und Materialien sowie die Koordination und Organisation der religiösen Unterweisung

oft nicht möglich sind. Ferner kann eine sehr gut qualifizierte Hilfskraft aufgrund

der Position des Imam in der Moscheehierarchie Schwierigkeiten haben, innovative Ideen

umzusetzen. Je nach der Offenheit der Gemeinde und des Imam haben gut qualifizierte

Kräfte einen mehr oder weniger großen Handlungsspielraum:

„Also, es sind größtenteils ehrenamtliche Personen, die nicht unbedingt eine pädagogische

Ausbildung haben. Also ich habe eine pädagogische Ausbildung, ich bin Erzieherin vom

Beruf. Ich habe halt das Glück, dass ich in dieser Moschee tätig sein kann, aber ansonsten

sind wir alle einfach nur Laien, sag ich mal. Da ist eben eine große Schwierigkeit, wie

wir bestimmte Materialien einsetzen können, wie wir bestimmte Inhalte und Themen

rüberbringen den Kindern, dass das nicht langweilig ist für die Kinder, dass das nicht so,

wie soll ich sagen, mit dem Leben was zu tun hat.“ (Anna S., S. 210)

Das Hauptproblem für die Imame und für die Hilfskräfte ist die enorme Belastung aufgrund

der Gruppengröße, der Heterogenität und der fehlenden pädagogischen Materialien. Die

Folge dieser Konstellation sind Frustration, Burn-out-Gefahr und oft die Fluktuation der

Hilfskräfte, da diese ohnehin keine vertragliche Verpflichtung eingegangen sind. Trotz

des großen Bedarfs für die Reflexion der Kurse und der persönlichen Schwierigkeiten

des Imam bieten die beiden Landesverbände keine Supervision für das religiöse Betreuungspersonal

an. Daher organisieren die Imame unterschiedlicher Gemeinden informelle

Treffpunkte, wie das Osnabrücker Imam-Frühstück, oder innerhalb der Gemeinden mit

den Hilfs-Imamen, um sich einmal in der Woche zu treffen. Unabhängig vom sicherlich


2 Ergebnisse der empirischen Studie 353

positiven Effekt eines persönlichen Austauschs können diese informellen Angebote jedoch

keine professionellen Hilfen ersetzen, denn die professionelle Supervision – in der Regel

von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen angeboten – erfüllt zahlreiche Funktionen für

Menschen in sozialen Berufen und reicht vom Monitoring sowie der Begleitung des jeweiligen

beruflichen Feldes über das Konfliktmanagement in Teams bis hin zum Mentoring

und zur Burn-out-Prävention. Durch diese Betreuungsmaßnahmen mit entsprechenden

Zielvereinbarungen wäre eine permanente Reflexion der beruflichen und persönlichen

Entwicklung gewährleistet. 755 Die Imame sowie das religiöse Betreuungspersonal in den

Gemeinden müssen auf diese wichtige Begleitung verzichten:

„Nein, gibt es nicht. Wir treffen uns nur innerhalb der Gemeinden mit den Hilfsimamen,

die beim Unterricht den Imam unterstützen. Wir tauschen uns aus und sprechen über

die Probleme im Unterricht, aber darüber hinaus existiert keine Anlaufstelle für uns.“

(Halim H., S. 189)

2.4.4 (Fehlende) Lehrpläne und ineffiziente Reformversuche durch

Verschulung der Moscheekatechse

Im theoretischen Teil wurde auf der Basis früherer Untersuchungen dargestellt, dass für

die Moschee kein einheitlicher Lehrplan existiert. Nur die wenigsten Moscheegemeinden,

wie die VIKZ, können einen durchdachten, stufenweise aufbauenden Lehrplan vorlegen.

Dieser systematische, orthopraktisch orientierte Lehrplan richtet sich jedoch eher an den

eigenen Kader, also diejenigen Kinder und Jugendlichen, die in Zukunft in der Gemeinde

wichtige Aufgaben übernehmen sollen. Für die anderen Schüler und Schülerinnen

beschränkt sich der Unterricht auf Inhalte, die auch in anderen Gemeinden anzutreffen

sind. Ob mit oder ohne Lehrplan, für alle Gemeinden sind die Glaubenspraxis und die

Gemeindegebundenheit das Ziel der Moscheekatechese. Vor diesem Hintergrund stehen

das Erlernen der arabischen Buchstaben, die Rezitation des Korantextes, das Memorieren

kleinerer sūren und Bittgebete sowie das Aneignen der islamischen Glaubensgrundsätze

und der Rituale im Mittelpunkt.

Das Fehlen eines (einheitlichen) Lehrplans im Sinne eines (religions-)pädagogischen

Konzeptes, um Ziele, Inhalte, Methoden und Medien zu explizieren und den Lernprozess

nach Entwicklungsstufen zu gestalten sowie das Qualifikationsergebniss konkret zu formulieren,

bringt enorme Schwierigkeiten mit sich. Der Erziehungswissenschaftler Herbert

Gudjons fasst in diesem Zusammenhang die wichtigsten Kriterien für ein Curriculumsentwicklung

wie folgt zusammen:

„statt subjektiver Willkür und irrationaler Kompromisse – rationale Begründung,

Offenlegung der Kriterien, nach denen Lehrplanentscheidungen getroffen werden;

statt unkontrollierbarer Einflüsse und Vorherrschaft einzelner gesellschaftlicher Gruppen

– gesellschaftlicher Konsens auf wissenschaftlicher Grundlage;

755 Nando Belardi, Supervision. Grundlagen, Techniken, Perspektiven, München 2002


354 B Empirischer Teil

statt vager Formulierung von Inhalten und schwammiger Ziele – klare Definition von

Qualifikation, denen eindeutige Inhalte zugeordnet werden können;

statt Beliebigkeit der Umsetzung – konkrete Informationen, mit welchen Operationen

die im Lehrplan geforderten Ziele erreichbar sind; erst exakte Zielangaben in der

Form beobachtbaren und kontrollierbaren Verhaltens ermöglichen die Überprüfung

intendierter Ziele;

statt Durchsetzung mit politischer Macht – wissenschaftlich zu erforschende Implementationen

(wie kann das neu Entwickelte effektiv eingeführt/ „eingefüllt“ werden?) und

Evaluation (wie kann der Erfolg überprüft und wie kann dieser für die Veränderung

des Curriculums rückgekoppelt werden?).“ 756

Bewertet man nun die Situation in den Gemeinden nach Gudjons Kriterien, so entsteht

folgendes Bild:

Die derzeit existierenden formellen oder informellen Lehrpläne sind nicht das Ergebnis

rationaler Entscheidungen, sondern die unreflektierte Weiterführung der Moscheekatechese

aus dem Herkunftskontext, der – wie in Kapitel 3 skizziert – auf einer jahrhundertelangen

Tradition basiert. Die Kriterien für die Inhalte und Ziele sind daher nicht

offengelegt, weil diese Tradition einfach vorausgesetzt wird.

Die Lehrplanfrage ist nicht das Ergebniss einer breiteren Diskussion, sondern ist nur

in kleineren Kreisen virulent.

Die Qualifikationsziele in den Moscheekatechesen sind nicht klar definiert, sondern es

herrscht nur ein Grundkonsens darüber, dass die Kinder zu praktizierenden Muslimen

erzogen werden sollen. Dies ist unter anderem das Ergebnis davon, dass die Inhalte

nicht nach Alters- und Lernstufe konkretisiert sind.

Da in der Regel der Imam die Referenz in den Kursen ist und auch keine pädagogische

Fachaufsicht oder externe institutionelle Betreuung vorhanden ist, ist die Gefahr der

Beliebigkeit der Inhalte der Moscheekatechese sehr hoch. Dieses Defizit erklärt auch

die Tatsache, dass sich die Experten über mangelnde einheitliche Inhalts- und Zielbestimmungen

beklagen.

Ohne einheitliche Standards und ohne exakte Zielvorgaben ist weder der Lernerfolg

überprüfbar noch ist eine Evaluation möglich. Auch der Vergleich der Lernerfahrungen

ist in den einzelnen Gemeinden nicht realisierbar.

Es gibt keine Diskussionen und Reflexionen über die Methoden und Mittel, wie diese

zu allgemein formulierten Inhalten und Zielen umzusetzen sind. Die offenen Fragen

bewegen sich zwischen den traditionellen und den zeitgemäßeren Methoden, wie etwa

die Frage der Gruppenzusammensetzung, die Frage klassischer Möbel im Unterricht

(ob man also eher auf dem Boden zu sitzen hat oder in mit Stühlen und Tischen möbilierten

Klassenräumen), und schließlich die Frage, ob man durch Memorieren oder

durch Einsicht lernen soll usw., ist eine weitere Konsequenz in der Kumulation der

genannten Defizite.

756 Herbert Gudjons, Erziehungswissenschaft kompakt, Hamburg 1993, S. 157 f.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 355

Zu guter Letzt können die von Gudjons postulierten „wissenschaftlich zu erforschenden

Implementationen“ auch nicht umgesetzt werden, da die Moscheen nicht wie die

Kirchen auf eine praktische Theologie an Universitäten zurückgreifen können. Die

Moscheegemeinden in Niedersachsen benötigen eine wissenschaftliche Begleitung

für eine Moscheekatechese, um zum einen die Erkenntnisse der Theologen an den

Universitäten auf die Gemeinden anzuwenden und zum anderen die Gemeindearbeit

kritisch-konstruktiv zu reflektieren. Da sowohl die islamische Religionspädagogik noch

in den Kinderschuhen steckt als auch noch keine Professuren oder Lehrstühle für eine

islamisch-praktische Theologie an den bisher etablierten Instituten vorgesehen sind,

wird die hier skizzierte Misere noch jahrelang andauern. Die Folge davon ist, dass

die Moscheegemeinden bei einer auf die Lebenswelt der muslimischen Kinder und

Jugendlichen ausgerichteten Lehrplan- und Materialienentwicklung auf sich allein

gestellt sein werden.

Diese (religions-)pädagogische Misere führte bei einzelnen Verbänden, wie beim DITIB, zu

Reformversuchen, wie etwa der Einführung eines Klassensystems, um die Gruppengröße

zu reduzieren sowie die Kinder nach Altersstufen zu trennen. Ebenso wurde dem Verfasser

der Arbeit von einem interviewten Experten die vorläufige Version eines Lehrplans

weitergeleitet, der im Rahmen der Meinungsumfrage an ausgewählte Imame gesandt

wurde. 757 Das Dokument ist in drei Schwerpunkte gegliedert, und zwar aufgeteilt in einen

allgemein theoretischen Teil, in zentrale Lernfelder und Themen sowie in Beispiele für die

konkrete Umsetzung des Lehrplans. Die Zielgruppen der Islamkurse sind dabei folgende

Altersgruppen: Gruppe A (7–10 Jahre), Gruppe B (11–13 Jahre) und Gruppe C (14–18 Jahre).

Als Lernziele werden unter anderem genannt:

das Erlernen des islamischen Glaubens, seiner Ethik sowie Werte,

Grundlagenwissen für alltagspraktische Fragen,

die Fähigkeit, mit der eigenen islamischen Identität friedlich in einer multikulturellen

Gesellschaft zu leben,

die Fähigkeit, das erlernte religiöse Wissen mit Empathie in sozialen und kulturellen

Kontexten entsprechend zu interpretieren und anzuwenden,

die Kompetenz, sich die erforderlichen religiösen Rituale und Praktiken, wie etwa das

Aufsagen von Bittgebeten, anzueignen und das Memorieren und Rezitieren des Koran

sowie dessen Bedeutung zu beherrschen,

aus dem Leben des Propheten Muhammad für sich vorbildliche Verhaltensweisen

abzuleiten,

mit seiner religiösen Identität soziale Verantwortung zu übernehmen sowie

demokratische Normen und Werte zu verinnerlichen. 758

757 Ali Dere (Hrsg.), Kur’an-I Kerim ve Dini Bilgiler Kursu Ögretim Programi, Diyanet Isleri Türk

Islam Birligi (DITIB), Köln 2012 (unveröffentlichtes Dokument)

758 Vgl. a. a. O., S. 11


356 B Empirischer Teil

Der Lehrplan ist aufgegliedert in die Lernbereiche ‚Koran‘ und ‚Religiöses Grundlagenwissen‘.

Im ersten Teil des Koran geht es um die Kompetenz, ihn auf Arabisch zu lesen,

selektive Verse und sūren auswendig zu können sowie die besonderen Rezitationsregeln

zu beherrschen. Im Teil ‚Religiöses Grundlagenwissen‘ sollen Inhalte wie Glauben, Gottesdienst,

Ethik, Grundlagenwerke (Koran und Ḥadīṭ-Sammlungen), die Biografie des

Propheten Muhammad sowie allgemeine Informationen zu Glaube, Kultur und Wissen

behandelt werden. 759 Allerdings bildet das 188-seitige Dokument ein anderes Extrem zu

der skizzierten Situation in der Moscheekatechese, weil der akribisch erarbeitete Lehrplan

nicht die strukturellen, finanziellen, personellen und zeitlichen Ressourcen der Moscheegemeinden

berücksichtigt. Die wichtigsten Kritikpunkte können folgendermaßen

aufgeführt werden:

Der Lehrplan wurde nicht in einer Arbeitsgruppe oder auf der Grundlage der Erfahrungen

der Imame, sondern von der Zentrale konzipiert. Die Imame sollen der Zentrale

lediglich ihre Meinung zu diesem Curriculum mitteilen. Dies heißt also, dass die

Grundstruktur schon vorgegeben ist, ohne bei der Generierung des Lehrplans mit den

zentralen Akteueren in Kommunikation gestanden zu haben.

Die postulierten Inhalte und zeitlichen Angaben des Lehrplans berücksichtigen nicht

die personellen und strukturellen Voraussetzungen der Moscheen insgesamt sowie das

große Gefälle zwischen den Hinterhofmoscheen und den repräsentativen Moscheen

mit Kuppel usw., die über ganz andere Möglichkeiten verfügen.

Der Kurs findet nur in türkischer Sprache statt. Der Vorteil ist, dass die Muttersprache

– die sonst in Bildungsinstitutionen kaum gefördert wird – gepflegt wird, der Nachteil

ist, dass sich die Kinder und Jugendlichen theologisch nicht in deutscher Sprache artikulieren

können. Zwar könnte der deutschsprachige islamische Religionsunterricht

diese Frage der Artikulationsfähigkeit kompensieren, allerdings wird es – bei über

2000 Lehrer/innen für 900 000 muslimische Schüler/innen – noch Jahre bis zu seiner

flächendeckenden Einführung dauern.

Die Kritik des Experten Halim H., der einer der Imame ist, der den Lehrplan begutachtete,

deckt sich in weiten Teilen mit der Bewertung des Verfassers:

„Wallāhi, die Curricula werden sehr gut, professional entwickelt, aber diese kann man

nicht auf die Moscheerealität anwenden. Erstens fehlen die Voraussetzungen für die

Umsetzung. Zweitens sind die Moscheegemeinden von ihrem Profil sehr unterschiedlich.

Es gibt Moscheen, wo ein Imam ganz alleine fast fünfzig Kinder unterrichten muss. Dann

gibt es Moscheen, die schon ein Klassensystem haben und dazu noch vier, fünf Lehrer für

den Unterricht organisiert haben. Dann haben wir die Situation, dass in einer Gruppe

Kinder unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen Lernfortschritten unterrichtet

werden. Wir haben Kinder, die zu Hause schon Grundlagen gelernt haben, dann wiederum

Kinder ohne Vorbildung. Also Altersunterschiede und Bildungsunterschiede. Zu

dem größten Problem zählt auch das Sprachproblem, weil wir den Moscheeunterricht in

759 Vgl. a. a. O., S. 14


2 Ergebnisse der empirischen Studie 357

türkischer Sprache anbieten, aber die Kinder Deutsch besser sprechen können. Zusätzlich

zu dem Ganzen kommt hinzu, dass viele Moscheen gar nicht über die Räumlichkeiten

für den Moscheeunterricht verfügen. Unter diesen genannten Bedingungen kann man

nicht einfach ein zentrales Curriculum entwickeln und auf alle Moscheegemeinden ohne

Rücksicht auf die unterschiedlichen Bedingungen anwenden. Man kann diesen Lehrplan

nur in solchen Einrichtungen einsetzen, wo ein Klassensystem ähnlich wie an Schulen

existiert anwenden. […] Eigentlich ja, aber sie wollen den idealen Lehrplan entwickeln,

aber ohne die gesamten Unterschiede in den Moscheen zu berücksichtigen. Der Lehrplan

von der DITIB beispielsweise ist sehr gut gemacht, in dem man den Lehrplan nach drei

Entwicklungsstufen geteilt hat. Sie haben auch die Lerninhalte nach Altersgruppen definiert,

aber trotzdem kann man diesen Lehrplan nur an Moscheen anwenden, die wie

die Schulen Räumlichkeiten und ein Klassensystem haben. In den meisten Moscheen

kann man das nicht anwenden, vor allem nicht von Imamen, die nach dem alten System

unterrichten. In derselben Klasse ist in diesem alten System ein Anfänger, der gerade mal

die Alif-Ba lernt, dann ein Kind mit Korankenntnissen. Das geht nicht. Was machen also

die meisten Imame? Entsprechend ihren Voraussetzungen und Bedingungen entwickelt

jeder seinen eigenen Lehrplan. Der beste Lehrplan ist also eigentlich gar kein Lehrplan.“

(Halim H., S. 190)

In den meisten Moscheegemeinden gibt es nicht einmal Reformdiskussionen, da man

eher an den festgefahrenen, statischen Binnenstrukturen und an der bisher fortgeführten

Tradition festhalten möchte. Ein Grund dafür sind die Reformgegner, weil sie den Bedarf

hierfür nicht sehen, denn nach wie vor sei ja die Anzahl der Kinder in den Moscheekatechesen

hoch.

„Also, ich finde auffällig, dass immer dieser Glaube daran, dass ein Kind so und so viel

sūra auswendig kann und Arabisch lesen kann, dann wird das auch ein guter Moslem.

Und auch dieser Zweifel, dass ein Religionsunterricht gut sein kann, wenn man nicht so

viele Sūren auswendig lernt. Also es gibt da diese sehr „straighte“ Vorstellung, dass das

so sein muss. Ich persönlich denke, es fehlt einfach zum Beispiel der Rahmen und auch

der Mut, dass man zum Beispiel über Zweifel spricht, dass man zulässt, dass jemand

kommt und sagt, ‚Ich bete nicht, ich find das Beten doof, ich finds langweilig, bringt mir

nichts, gibt mir nichts, warum soll ich beten?‘ Diesen Mut muss man haben, wenn man

das nicht mit den Jugendlichen bespricht, und ihnen auch nicht diese Möglichkeit gibt,

das selber zu artikulieren, dann braucht man auch nicht mit ihnen zu reden. Weil diese

sūra auswendiglernen, die helfen ihnen nichts, die helfen im Grundschulalter, dann sagen

sie das noch, weil Mama und Papa ihnen das so beigebracht haben, aber in der Pubertät

fangen sie an und stellen alles in Frage und müssen daran glauben, was sie tun, müssen

auch an den, sie müssen auch den gegenüber glauben. Und wenn sie zum Beispiel, und

die Jugendlichen, pubertierende Jugendliche, sind extrem unbarmherzig Erwachsenen

gegenüber. Also wenn sie zum Beispiel jemanden sehen, der immer predigt, dass man

beten muss und wie auch immer, und sie machen eine Reise mit denjenigen und sehen,

derjenige steht beim Morgengebet aber als Letztes auf oder derjenige nimmt sich zuerst

vom Essen oder isst drei Brötchen mehr als alle anderen, obwohl so wenig da ist. Das sind


358 B Empirischer Teil

Kleinigkeiten über die wir als Erwachsene lächeln, aber die machen ganz viel kaputt.

Also Jugendliche brauchen jemanden, der ihnen gegenüber sitzt und der wahrhaftig ist

und nicht einfach der ihnen was erzählt, sondern der auch zulässt, dass man Fehler hat,

das man was nicht kann oder das man was nicht gebacken kriegt.“ (Amina F., S. 497)

Die Effizienz wird also viel mehr an den Teilnehmerzahlen festgemacht und nicht am

persönlichen Lernerlebnis und Lernerfolg der Teilnehmer. Die Quantität ist also zugleich

ein Beleg für die Qualität der Moscheekatechese:

„Sein Handlungsspielraum ist eher begrenzt, wobei es vereinzelt Imame gibt, die wirklich

so in den Moscheegemeinden einflussreich sind, dass man dann in den Moscheegemeinden

für diese Ideen vollkommen offen ist. Dass die Vorstände dann zum Beispiel sagen: ‚Okay,

der Imam braucht jetzt einen Beamer. Wir kaufen sofort einen Beamer.‘ Aber das Problem

ist es, dass diese ältere Generation in den Vorständen, dass sie diesen Moscheeunterricht

einfach in diesen festgefahrenen, starren Formen sich vorstellen, wo die Kinder, und das

habe ich letztens auch hier angesprochen, dass die Kinder einfach auf den Knien, auf dem

Boden zu sitzen haben und ich habe gesagt: ‚So wird ein Religionsunterricht nie Erfolg

haben. Wir müssen entsprechende Räume haben und diese entsprechenden Räumlichkeiten

müssen dann entsprechend ausgestattet werden mit den modernsten Hilfsmitteln,

Computer. […] Die gibt es, aber inwiefern sie als pädagogisch zu bezeichnen sind, da bin

ich äußerst skeptisch, weil man das sozusagen immer ausgearbeitet hat auf eigenen oder

privaten Initiativen der Imame, wo die pädagogischen und didaktischen Kompetenzen

vielleicht überhaupt nicht vorhanden oder sehr wenig vorhanden sind. Und es überhaupt

zu fragen, inwiefern diese für einen Religionsunterricht unter solchen Umständen überhaupt

geeignet sind. Ich habe vor ein paar Tagen mit einem Mitglied des Bundesvorstandes

gesprochen, dass der Bundesvorstand eigentlich eine externe Expertise eingeholt werden

müsste, dass endlich ein Lehrplan ausgearbeitet werden soll. Dass man also nicht nur auf

die, in Anführungszeichen, erfolgreichen Imame setzen kann, sondern dass man auch

externen Expertisen einholen muss, sprich aus dem Bereich der Schule, aus dem Bereich

der Universität usw., dass man einfach irgendwann mal, nach zwanzig Jahren des Bestehens

des Verbandes, endlich mal ein verpflichtendes, sozusagen, Kerncurriculum hat in

den Moscheegemeinden und die verpflichtenden Lehrmaterialien.“ (Esref B., S. 34, 39)

Einige wenige Imame, wie Necat I., versuchen auf eigene Initiative, Veränderungen zu initiieren,

indem sie für ihre Moscheekatechese das Schulsystem inklusive der Notengebung

adaptieren, um die traditionellen Methoden zu durchbrechen:

„Weil letztes Jahr bin ich einfach mit meinen Themen durchgegangen und ich wusste auch

nicht, wie viel sie wissen. Ich habe gehofft, dass es vielmehr ist, aber ist es nicht. Die haben

auch nicht viel geschrieben. Jetzt habe ich es aber so gemacht, dass es wie in den Schulen

ist. Also auf den Knien sitzen und das wiederholen, was der Imam sagt wie früher, das

geht heute nicht. […] Ja, weil das geht nicht. Wie in der Schule geht besser, weil ich auch

Noten eingeführt habe für die verschiedene Bereiche, Ilmihal, zur Einführung im Koran

usw., damit ich am Ende sagen kann: ‚Ja, kommen sie. Das sind die Noten hier.‘ Früher


2 Ergebnisse der empirischen Studie 359

gab es keine Noten und in Bosnien gibt es auch keine Noten, noch nicht. Es ist noch

wie früher, also früher jetzt nicht auf dem Boden, sondern die haben jetzt schon Stühle

und Tafel, aber das ist insgesamt nicht gut. Und man sieht das am Ende, wenn man ein

Fest macht, wenn die Kinder gelernt haben, eine sūra oder eine Frage, dann können die

anderen sehen, welches Kind am besten liest oder welches Kind mehr gelernt hat als die

anderen Kinder. Hier kann ich sagen, wie in der Schule: ‚Ja, hier ist ihr Kind und sind

seine Noten.‘ […] Und die Kinder bemühen sich, die Lernen, weil die haben ein Gefühl

wie in der Schule: ‚Wir müssen hier lernen. Wir müssen uns für die Noten bemühen.‘ […]

Man muss auf jeden Fall die Methode ändern. Nicht hinknien, nicht nur wiederholen,

das geht auf keinen Fall nicht mehr. Man muss Bereiche wie im Ilmihal machen, aber wie

in der Schule. Lernen, sie schreiben ab, sie haben ein Buch wo sie lernen und die Praxis

auch. Man kann ein Gebet auswählen und zeigen, wie das geht, also weil das ist auch

für das Gebet gedacht, also, das ist ein Element. Als Zweites müsste man den Unterricht

an das Niveau der Kinder anpassen und dann müsste man, ich spreche jetzt für meine

Gemeinde, ein bisschen Deutsch lernen und ein bisschen Deutsch verstehen. Man muss

auch die Dinge lesen und versuchen zu verstehen.“ (Necat I., S. 229)

Eine weitere Frage dieser althergebrachten Tradition in der Moscheekatechese bildet das

pädagogische Problem, dass die Inhalte keinen Bezug zur Lebenswirklichkeit der muslimischen

Kinder und Jugendlichen aufweisen. Darüber hinaus werden wichtige Umbrüche

und Krisen im Leben, wie der Tod in der Familie, nicht theologisch und pädagogisch aufgegriffen,

sodass vor allem die Kinder die Leidtragenden sind. Während der Imam vielleicht

die Erwachsenen seelsorgerisch betreuen kann, ist beim Thema ‚Tod und Trauer‘ keine

kindgerechte Betreuung vorhanden. Auch in der Moschee wird das Thema nicht behandelt:

„Ja, der Tod. Das ist schwierig, das den Kindern zu vermitteln. Es gibt auch wenige Materialien

darüber. Wie man da, mit solchen Themen umgehen kann. Da findet man nicht

viel und da wissen wir auch nicht, wie wir das Kindern vermitteln sollen.“ (Anna S., S. 217)

2.4.5 Materialien der Moscheekatechese

Die Qualität der Materialien in den Moscheekatechesen hängt eng mit der oben skizzierten

Situation der Lehrpläne zusammen, weil diese nicht nur das „Wie?“ beantworten müssen,

sondern auch die Frage, mit „welchen Mitteln?“ die Ziele erreicht werden sollen. Ohne eine

Konkretisierung der Inhalte, Ziele, Methoden sowie der Medien und schon gar nicht ohne

einen bestehenden Lehrplan können keine adäquaten Lehrmaterialien erwartet werden.

Zunächst werden noch einmal die Standardmaterialien aufgelistet, die in allen Moscheegemeinden

zum Einsatz kommen. Diese sind:

Alphabetisierungshefte für die arabische Sprache,

Koran in arabischer Sprache

sowie Katechesebücher (Ilmihal).


360 B Empirischer Teil

Da der Koran als Gottes Wort gilt, wird bereits bei seiner Rezitation Gottes Lohn versprochen.

Daher liegt der Schwerpunkt in den Moscheekatechesen vor allem im Erlernen

der Koranrezitation, sodass zunächst die arabischen Buchstaben durch die Alphabetisierungshefte

und dann die zusammenhängende Lesefähigkeit arabischer Wörter und Sätze

vermittelt werden, um schließlich das heilige Buch rezitieren zu können. Darauf aufbauend

wird diese Kunst durch die tağwīd (die vielschichtigen Rezitationsregeln) verfeinert. Wenn

Kinder dann noch zusätzlich die zentralen Glaubensgrundlagen aufsagen können und die

Rituale gelernt haben, dann sind die meisten Eltern bereits zufrieden. An der Zahl der

Kinder mit diesem Lernergebnis wird übrigens auch der Erfolg eines Imam gemessen. Die

Krönung der Moscheekatechese bilden schließlich diejenigen Schüler, welche selbstständig

Gottesdienste leiten und auch die Freitagspredigt übernehmen sowie mit besonders schöner

Stimme den Koran rezitieren können. Dies ist in der Regel nur ein kleiner Kreis, und in

jeder Moschee hat der Imam eine Gruppe junger Menschen, die ihn in seiner Abwesenheit

vertreten könnten. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass die Alif-Ba, der

Koran und die Ilmihal-Bücher die Hauptmaterialien der Moscheekatechese bilden.

„Für Moscheen und Familien fehlen leider die ganzen Bücher, also auch der Koran sollte

in deutscher Sprache sein, also übersetzt sein, das heißt nicht, dass ein anderes Buch

herauskommen soll. Die jungen Leute müssen wissen, was sie im Koran lesen und das

verstehen. Nicht nur lesen, natürlich gibt es dafür ṭawāb 760 , aber der Koran ist ein Buch,

wo man danach leben kann. Es ist nicht nur ein Buch, wo ich danach begnadigt werde,

also: ‚Jetzt lese ich Koran und danach wird alles‘ oder so. Man muss auch im Leben den

richtigen Weg gehen. Was uns fehlt in den Moscheen, in den Moscheegemeinden, sind

natürlich Materialien. Wir, ich denke auch die anderen Gemeinden, holen ihre Materialien

aus den islamischen Ländern. Das sind Bücher, die für eine islamische Gesellschaft, eine

rein islamische Gesellschaft geschrieben sind. Was wir nicht hier haben, also wir haben

hier eine gemischte Gesellschaft, wo wir auch zusammenleben und zusammenleben müssen

und dafür sind manche Regeln nicht praktizierbar.“ (Murtaza F., S. 258)

Die Katechese-Bücher wurden bis dato aus dem Herkunftskontext importiert, sind daher

in der Herkunftssprache verfasst und orientieren sich von ihrem inhaltlichen Aufbau her

an den klassischen Unterrichtsthemen. Daher haben die Imame oft Schwierigkeiten, diese

im Ausland konzipierten Materialien in der Moscheekatechese anzuwenden, es sei denn

man versucht, damit etwas flexibler umzugehen:

„Ja, neue Materialien. Das wollte ich sagen, neue Materialien, weil ich habe die Bücher

ein bisschen im Unterricht verändert, weil die aus Bosnien sind. Zum Beispiel die Ilmihal,

die erste Lektion ist Kalimat aš-šahāda, das arabische und die Übersetzung, sind ist nicht

schwierig. Die zweite und dritte Lektion sind die ṣifatu’llāh, die Beschreibungen Gottes,

und diese lernt man eigentlich in der Madrasa, so 10 oder 20, ich weiß nicht genau wie

viele Eigenschaften, aber das ist schwierig. Die erste Lektion ist einfach, dass kommt

die zweite und dritte Lektion, die schwierig sind. Vielleicht gibt es aber ja auch gute

760 Arabisch für ‚Gotteslohn‘.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 361

Materialien, die ich vielleicht nicht kenne. […] Sie können es nicht verstehen. Wie kann

man die Eigenschaften Gottes verstehen und man hat erst vor drei Tagen die islamische

Glaubensformel ausgesprochen. Das ist zu schwierig.“ (Necat I., S. 230)

Um den Bedarf an deutschsprachigen Katechesebüchern abzudecken, kamen in den letzten

Jahren mehrere Übersetzungen auf den Markt. Für die bosnischen Moscheen etwa Ilmihal

von Enes Svraka oder von Bilal Hasanovic. Der Ilmihal von Svraka ist – wie der Untertitel

aussagt – für die Grundstufe im Religionsunterricht gedacht. Im Vorwort heißt es dazu:

„Dieser Ilmihal ist aus dem Bedürfnis der Muslime heraus entstanden, die ihren Lebensmittelpunkt

und ihre Familien im westlichen Europa haben. […] Ihr Wunsch, den Glauben

zu bewahren und ihren auf ihre Nachkommenschaft zu übertragen, ist aber nur sehr

schwer erfüllbar. Eines der schwerwiegendsten Probleme ist die mangelnde Beherrschung

der Sprache des Landes in dem sie leben. Die Kinder wiederum beherrschen die Sprache

des Landes ihrer Eltern kaum und so ist es für sie unmöglich Zugang zur gängigen Literatur

zum Thema Islam zu finden. Die Kinder, die z. B. in Deutschland geboren wurden,

verstehen nun mal viel besser Deutsch als die Muttersprache ihrer Eltern.“ 761

Positiv ist zunächst die Entwicklung, dass in den Gemeinden zunehmend deutschsprachige

Literatur Einzug hält. Zu monieren ist allerdings, dass es sich überwiegend um reine

Übersetzungen handelt, ohne den deutschen Kontext adäquat zu berücksichtigen. Auch

sind diese Bücher pädagogisch nicht den Altersstufen entsprechend aufbereitet. Dies

kann an dem Ilmihal von Svraka verdeutlicht werden, welcher den Anspruch vertritt, die

Grundschulkinder und die Grundstufe in den Moscheegemeinden anzusprechen. Zwar

wird in dem Buch mit vielen Illustrationen gearbeitet, allerdings ist es zu textlastig und

erinnert mehr an ein „Paukbuch“. Die Glaubens- und Praxiselemente, wie die Glaubensformel,

die Existenz Gottes, die Speisegebote und Bittgebete, die Glaubensgrundlagen und

-bedingungen, der Gottesdienst und die Rituale sowie Feiertage sind zu abstrakt und zu

lebensfern gestaltet und erinnern eher an eine Gebrauchsanweisung. Zwar hat die Katechese

sicherlich auch den Charakter des Memorierens zentraler orthopraktischer Elemente,

allerdings bedarf dies zum Teil sehr „technischer Anweisungen“, um eine kindgerechte,

pädagogische Aufbereitung zu gewährleisten. Parallel zur schulischen Entwicklung müssten

die Materialien von sehr konkreten zu zunehmend höheren Abstraktionsleistungen

konzipiert werden. Der zweite deutschsprachige Ilmihal von Bilal Hasanovic – ebenfalls

eine Übersetzung aus dem Bosnischen – ist zwar weniger textlastig, weist aber dafür die

gleichen, oben genannten didaktischen Defizite auf. 762 Als eines der ersten, vollständigen

und zugleich prägnanten Katechese-Bücher in deutscher Sprache ist das von der VIKZ

veröffentlichte Werk Der kurzgefasste Ilmihal. Illustriertes Gebetslehrbuch inklusive eines

deutschsprachigen Glossars anzuführen, das eine Art Elementarisierung darstellt. Die

761 Enes Svraka, Ilmihal für die Grundstufe des islamischen Religionsunterrichts, München 2012,

S. 4

762 Vgl. Bilal Hasanovic, Ilmihal. Ausgabe in deutscher Sprache, Sarajevo 2007


362 B Empirischer Teil

Notwendigkeit dieser deutschsprachigen Publikationen wird für den Migrationskontext

aus folgendem Grund gesehen:

„Das Fehlen eines geregelten Religionsunterrichts in den Schulen, aber auch die unzureichende

Vermittlung religiöser Kenntnisse im muttersprachlichen Ergänzungsunterricht, der nur

von einem kleinen Teil der Schulkinder besucht wird, führt dazu, daß viele Muslime sich in

ihrer Religion nicht auskennen und somit heimatländische Bräuche und Sitten vom Islam

nicht unterscheiden können. Dies hat zur Folge, dass viele mit einem falschen Verständnis

des Islam oder ohne jegliche islamische Identität aufwachsen.“ 763

Aus der Begründung dieser Publikation in der Einleitung dieses Werkes und anhand der

angesprochenen Themen, wie muttersprachlicher Unterricht, Akzentuierung der Unterschiede

in der Tradition oder Identitätsfrage, sind die latenten oder auch manifesten Ängste

der Gemeinden am Ende der 1990er-Jahre ableitbar, und hier vor allem die Identitätsfrage

als Minorität in Deutschland und die Frage der Weiterführung ihrer Traditionen.

Ein Gegentrend zu den reinen Übersetzungen sind die neueren katechetischen Werke.

Die religionspädagogisch anspruchsvoller konzipierten Publikationen, wie die von der

IGMG herausgegebene dreiteilige Reihe Temel Bilgiler, ist allerdings ausschließlich in

türkischer Sprache verfasst. Sie arbeitet mit vielen Bildern und Illustrationen, mit vielen

Lernwiederholungen, Spielen usw.; allerdings sind auch hier die gleichen, oben bereits

angesprochenen didaktischen Defizite anzuführen. Das beginnt schon mit dem ersten

Teil der Reihe, der für die Grundschulkinder konzipiert ist, aber sehr textlastig arbeitet. 764

Die deutschsprachige Literatur, besonders die Neuauflagen der letzten Jahre wie Das

islamische Gebetsbuch oder Das Gebetsbuch. Handbuch zum Islamischen Gebet werden

zunehmen, aber die Autoren sind in der Regel keine Religionspädagogen. Allerdings ist

der Autor des letztgenannten Werkes – Cemil Sahinöz – ein in Deutschland sozialisierter

Soziologe. Daher fällt im Vergleich zu den anderen deutschsprachigen Katechesewerken

auf, dass er vor den katechetischen einen theoretischen Teil eingeschoben hat. Dort stellt

Sahinöz die Glaubenspraxis in einem übergeordneten Kontext dar, indem er auf der

Grundlage der Schriften des islamischen Gelehrten Said Nursis die philosophischen und

theologischen Hintergründe des Gottesdienstes begründet. 765 Auch der DITIB hat in den

letzten Jahren türkischsprachige Katechesebücher in Deutschland vermarktet 766 und sogar

aktuell für die Imame in Deutschland Kur‘anı Kerim ve Temel Dini Bilgiler Öğretim Programi

publiziert. Allerdings sind die meisten Verbände heute eher zweisprachig orientiert

und die Tendenz geht – trotz der Versuche der Pflege der Muttersprache – in Richtung

Deutschsprachigkeit. Dennoch ist es nicht nur eine Frage der Sprache, sondern es geht

primär um die wissenschaftliche und (religions-)pädagogische Begleitung der Gemeindepraxis

sowie um die Konzipierung neuer Materialien für die Moscheekatechese. Aufgrund

dieses Mangels versuchen einige Lehrpersonen in der Moscheekatechese zu improvisieren,

763 Vgl. Hasan Arikan, Der kurzgefasste Ilmihal. Illustriertes Gebetslehrbuch, Köln 1998, S. 5

764 Vgl. Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (Hrsg.), Temel Bilgiler 1, Köln 2012

765 Vgl. Das islamische Gebetsbuch. Das Gebetsbuch für Muslime Frankfurt/M 2010; Cemil Sahinöz,

Das Gebetsbuch. Handbuch zum Islamischen Gebet, Istanbul 2011

766 Vgl. z. B. Seyfettin Yazici, Temel Dini Bilgiler. Itikad, ibadet, Ahlak, Siyer, Ankara 2007


2 Ergebnisse der empirischen Studie 363

indem sie gängige Spiele aus dem Vorschul- beziehungsweise Elementarbereich umfunktionieren

und sogar Arbeitshefte für den schulischen Islamunterricht 767 so modifizieren,

dass sie auch in der Gemeinde Anwendung finden können:

„Ist so ein Kartenspiel. Dann gibt es so Holzpuzzlespiel, so verschiedene. Ja, das sind so

Sachen, die haben wir uns angeschafft von den Elternbeiträgen. Fünf Euro. Das ist nicht

viel, aber wir haben uns schon einiges angeschafft. Immerhin. […] Nicht immer, nicht

immer. Die helfen natürlich Themen auszuwählen und auch, ja, manchmal sind da Geschichten

drin, Lieder drin gute. Viele Inhalte kann man übernehmen, aber einige bastele

ich dann um. Zugeschnitten auf unsere Gruppe halt, weil wir auch jüngere Kindere haben,

die das nicht verstehen unbedingt. Ich glaube, die Bücher sind jetzt erste Klasse, zweite

Klasse. Wir haben dann auch so Fünfjährige bei uns, die das nicht so ganz verstehen. […]

Ja, wir mussten am Anfang Überzeugungsarbeit leisten, weil das am Anfang wurde das

belächelt, sage ich mal oder so Kindergartenkram. Es wurde nicht verstanden, warum

wir das machen. Dann aber haben viele Eltern mal reingeschaut und sind auch mal

geblieben in der Gruppe, haben dann mal einfach mitgemacht und haben gesehen, dass

wir, ja, gute Arbeit machen. Die nehmen das auch mit nach Hause. Viele sagen uns auch:

‚Gute Arbeit, macht weiter.‘ Das spricht sich dann auch hier im Hause rum. […] Ja, bei

den Kindern ist das auch schon, die zu begeistern für die Inhalte der Religion, für die

religiöse Praxis, für die Gebräuche auch. Ja, das ist schwierig die zu begeistern wirklich.

Wenn ich das nur langweilig rüberbringe, dann schalten die ab. Ja, dann muss auch die

Materialien bewusst aussuchen, um das etwas herauszuholen. […] Ja, weil wir gesehen

haben, dass stumpfer Religionsunterricht oder stumpfes Auswendiglernen nicht viel bringt.

Ich meine, wir haben bei uns noch den Koranunterricht als eine extra Sache und das ist

auch wichtig und wird beibehalten, aber wenn ich den Kinder damit komme: ‚So Schule

ist aus, jetzt auf zum Koranunterricht‘, ich glaube die würden dann irgendwann schnell

dicht machen. Da haben wir einfach den Bedarf gesehen, dass die Kinder einen anderen

Zugang brauchen, über Geschichten, Kunst, Musik usw. Damit das bei den Kindern

drin bleibt, da lernen ja auch besser dadurch. Wir machen mit den Kinder auch ganz oft

Exkursionen. Wir gehen da mal zum Maislabyrinth oder auch mal in den Wald, damit

die Kinder die Natur entdecken. Dort behandeln wir dann ein Thema im Wald, die dann

auf die Exkursion zugeschnitten ist.“ (Anna S., S. 215 f.)

767 Über das gleiche Problem wird im islamischen Religionsunterricht berichtet, weil die Materialien

auch im Grunde überwiegend von christlichen Religionsbüchern inspiriert sind:

„Anna S.: Also wir haben einfach viel zu wenig Lehrmaterial, wir haben kaum Lieder, wir haben

kaum Spiele, wir haben im Grunde genommen auch kaum eine Religionspädagogik, die uns diesen

Rahmen gibt, dass ich jetzt weiß als Lehrer, wohin ich laufen darf. Also was ich auch theologisch

betrachtet benutzen kann und was nicht, ich muss mir das immer selber ausdenken und dann

nicht nur religionspädagogisch überlegen, sonder ja auch immer theologisch überlegen, Ist das

innerhalb einer Religion so in Ordnung? Das ist ne große Herausforderung, die Zeit und Kraft

braucht, die viele Lehrer nicht haben, also das fehlt einfach.

I.: Haben Sie ne professionelle Anlaufstelle?

Anna S.: Ne, ich guck immer, was die Christen machen, aber dann muss man einfach gucken,

was kann ich nehmen und was nicht oder holt’s halt als Ball ne, für die eigene Arbeit.“ (S. 434)


364 B Empirischer Teil

Neben der Modifizierung von Materialien aus der christlichen Religionspädagogik werden

aufseiten der Theologie-Studenten, die als „Hilfs-Imame“ versuchen, neue Impulse für die

Moscheekatechese zu geben, auch wissenschaftliche Publikationen herangezogen:

„I.: Welche Materialien benutzen Sie bei Ihrer Erziehung? Also wenn Sie zum Beispiel den

Kindern den Islam beibringen, was für Materialien haben Sie da? Also Kinder, Jugendliche

gibt es da unterschiedliche Materialien?

Ṯurayya K.: Ich benutze eigentlich die gleichen Materialien, die, die ich halt für mein

Studium benutze oder die Bücher die ich so zu Hause habe oder Internet natürlich.

Und ich schreibe mir das alles zusammen aber erzähle es verschieden. Also den kleinen

Kindern erzähle ich.

I.: Haben Sie extra Bücher dafür, für Kinder oder ist das, was Sie selbst so zusammen?

Ṯurayya K.: Nein, das sind wissenschaftliche Bücher die ich habe.

I.: Und dann, wie machen Sie das dann kindgerecht?

Ṯurayya K.: Ich versuche es kindgerecht zu erzählen.

I.: Also im Grunde genommen …

Ṯurayya K.: Ich vereinfache es.

I.: Sie basteln sich Ihre Materialien, durch eigene Recherchen zusammen?

Ṯurayya K.: Ja! Ja!

I.: Und es gibt keine …, also gibt es Bücher für Moscheen so wie bei Grundschulbuchverlagen

zum Beispiel?

Ṯurayya K.: Nein, das gibt es nicht. Es gibt das was, so Fragebüchlein gibt es, womit sich

die Kinder auf Wettbewerbe vorbereiten. Die helfen manchmal, dass man die Fragen von

dort aus zu stellen und versucht dann die Antworten bisschen ausführlicher zu geben,

aber sonst so richtige Bücher gibt es so weit ich weiß nicht.“ (S. 395 f.)

Dass die bisherigen Lehrmaterialien unzureichend sind, wird zunehmend registriert, auch

weil durch die Arbeitsbücher und -hefte für den schulischen Islamunterricht vor Augen

geführt wird, wie ein religionspädagogisch konzipierter Unterricht auszusehen hat. Daher

wird dieser Bedarf für die Moscheekatechese in den nächsten Jahren sicherlich ein

Diskussionsgegenstand sein:

„Es gibt leider keine Materialien. Ich habe mir so gewünscht, dass jemand so ein Handbuch

für die Moschee schreibt. Ein Buch, der zeigt den Imam und den Leute, die in der

Moschee tätig sind, ihre Aufgaben zeigt, was sie machen sollen, die Grundbausteine für

zum Beispiel eine Rede bei ‚Bayram‘ oder eine ‚H˘

uṭbat al-‘īd›, die Kanzelreden bei Feiertagen,

eine zum Beispiel Bedingungen für Freitagansprache, was muss erfüllt werden,

wenn der Imam zum Beispiel eine Rede hält einmal bei eine Beerdigung, was er sagen soll

und solche Sachen so und, und auch was man die Kinder und Jugendlichen unterrichtet,

so ein Lehrplan für die Moscheegemeinde und so weiter. Wenn man so ein Handbuch für

die Moschee entwickelt, das ist sehr hilfreich, das kann man auf die sehr viele Moscheen,

die jetzt da vorhanden sind, verteilen. Und nicht das jeder macht so nach seine eigenen

Vorstellungen […]. Jeder macht, was er für richtig hält. Es gibt Gemeinden, wo viele


2 Ergebnisse der empirischen Studie 365

gebildete Menschen da sind und Gemeinden, wo nur Arbeiter da sind und die können

nicht viel geben.“ (Omar S., S. 530 f.)

2.4.6 Erfahrungen in der Moscheekatechese – die Auflistung

der größten religionspädagogischen Herausforderungen

in den Gemeinden

In der Auswertung der Experteninterviews wurde bereits die Tendenz des Bedeutungsverlustes

der muslimischen Familien in der religiösen Erziehung angesprochen, was eine

entsprechend größere Erwartungshaltung an die Moscheekatechese entstehen lässt. In den

vorausgegangenen Ausführungen konnte schon ansatzweise auf die damit verbundenen

religionspädagogischen Herausforderungen sowie auf die strukturellen Rahmenbedingungen

der Gemeinden eingegangen werden. Dabei wurde bereits der Kontrast zwischen

den Erwartungshaltungen und den realen Möglichkeiten der Gemeinden deutlich. Im

Folgenden werden die zentralen religionspädagogischen Herausforderungen in der Moscheekatechese

für die Imame, für das religiöse Betreuungspersonal, für die Kursteilnehmer/innen

sowie für die Vorstände herausgearbeitet und konkretisiert. Diese Darstellung

hat den Charakter einer Auflistung, um die gegenwärtige Situation in den Gemeinden

nochmals zu verdeutlichen. Zum einen liegen die Probleme auf der Ebene der Akteure,

zum anderen auf der strukturellen, organisatorischen Ebene; beide Ebenen stehen in einer

wechselseitigen Abhängigkeit zueinander.

Die Hauptkritik der Experten auf der Akteursebene liegt bei der unzureichenden

pädagogischen und sprachlichen Qualifikation der Imame, die überwiegend im Ausland

sozialisiert sind und nicht angemessen auf die Bedürfnisse junger Menschen in den Gemeinden

eingehen könnten:

„Nein, die Imame verstehen das Problem nicht. Die sind nicht erfolgreich, weil sie sich

weder in der Jugendarbeit noch in der Sozialarbeit auskennen. Zweitens kenne sie die

Lebensbedingungen in Deutschland nicht. Und drittens können sie nicht in einer Sprache

sprechen, in der sie die Jugendlichen erreichen können. Entweder können die gar kein

Deutsch oder sie können nicht auf einer Ebene sprechen, auf welcher die Jugendlichen den

Imam verstehen könnten. Ein weiteres Problem ist es, nicht nur in Niedersachsen, sondern

in ganz Deutschland, dass über 90 Prozent der muslimischen Kinder und Jugendlichen nur

einen Bruchteil an islamischen Grundlagenwissen in den Moscheegemeinden vermittelt

bekommen, um einigermaßen beten zu können usw. Daher spreche ich die ganze Zeit von

einem traditionellen Islam. Das ist deshalb schwierig zu vermitteln, weil die Kinder mit

schlechten Grundlagenwissen in die Moscheen kommen.“ (Hamit A., S. 62)

Da die meisten Imame aus dem Ausland kommen, haben sie in den Kursen Schwierigkeiten

mit ihrem autoritären Lehrstil, weil die Kinder und Jugendlichen gegenüber Autoritäten

viel selbstbewusster und kritischer auftreten.


366 B Empirischer Teil

„Sie sind schon eher selbstbewusst, versuchen dann ihre Meinung auch dem Imam zum

Beispiel auch klarzumachen. Wobei der Imam damit nicht umgehen kann, sage ich mal, weil

er ja auch mal die Imame für die Ditib-Gemeinden aus der Türkei kommen. Sie kommen

von dort aus einer ganz anderen Kultur und schlüpfen hier in eine total andere Kultur

rein, wo ich hier zum Beispiel Meinungsfreiheit gang und gäbe ist. Wo die Jugendlichen

auch ihre Meinung offen und ehrlich ins Gesicht sagen können, auch mal vielleicht Frust

rauslassen können, womit der Imam meistens auch nicht oder wenig umgehen kann. […]

Also er sucht schon Rat. Er versucht dann mit dem Vorstand zu sprechen oder auch an

erster Stelle mit den Eltern, wobei die Eltern dann auch nicht mit dem Imam klarkommen

können, weil sie auch hier in die eigene, in diese Kultur hineingewachsen sind, sage

ich mal. Und sie dann halt Verständnis von dem Imam erwarten und auch ihre Kinder

von dem Imam schonen möchten, dass sie der Imam jetzt nicht, sage ich mal, auf einer

lauten Ebene seine Meinung auch sagt. Und auch dem Kind oder dem Jugendlichen auch

versucht klarzumachen, dass er eine gewisse Autoritätsperson ist, wobei die Eltern damit

halt auch nicht mehr klarkommen. Da stoßen sich schon die Fronten.“ (Esma B., S. 417 f.)

Zum Teil wird dieses „respektlose“ Verhalten unreflektiert darauf zurückgeführt, dass

die Leistungen im freiwilligen Unterricht keine negative Konsequenz für die Kinder und

Jugendlichen haben.

„Die erste Generation war von seinem Verhalten und Einstellungen gegenüber den

Imam, dem Vorstand, dem Vorsitzenden viel respektvoller und wusste diese Personen

zu schätzen. Sie waren gehorsamer, weil sie deren Autorität akzeptierten. Dieser Respekt

ist heute bei der jungen Generation zwar nicht ganz verloren, aber die Hälfte ist bereits

weg.“ (Said Ö., S. 164)

Neben der fremden Lebenssituation in Deutschland sind die Imame ebenso damit konfrontiert,

dass die Kinder mit ganz unterschiedlichen Lernständen in religiöser Bildung

zur religiösen Unterweisung in den Gemeinden angemeldet werden:

„Da sind die Unterschiede zwischen den Kindern sehr groß. Es gibt Kinder, die direkt bei

den Fortgeschrittenen einsteigen, weil sie eben schon viel Wissen mitbringen. Dann gibt

es Kinder, die gar nichts wissen, die nicht einmal die Basmala kennen. Und die Eltern

dieser Kinder können dann auch nicht wirklich was vermitteln, weil sie selbst überhaupt

über keine religiöse Bildung verfügen.“ (Murtaza F., S. 165)

In einigen Moscheegemeinden wird seit einigen Jahren versucht, ein Klassensystem zu etablieren,

um die Altersgruppen nach Anfänger und Fortgeschrittene aufzuteilen. Dennoch

führen die meisten Gemeinden immer noch die traditionellen Gruppenzusammensetzungen

fort. Dies beeinträchtigt die Lerneffizienz beträchtlich:

„Alle sind in einer Klasse und das ist ein Fehler. Mit diesem Erziehungssystem können

wir den Kindern nicht viel beibringen. In den Gesprächen mit den Eltern stelle ich immer

wieder fest, dass die Eltern sich Regelmäßigkeit und Fortschritte wünschen. Einmal gibt es


2 Ergebnisse der empirischen Studie 367

Imame, die für jedes Kinder, individuell zum Beispiel das Auswendiglernen bestimmter

sūra aufgeben, die sie dann zu Hause lernen und in der Moschee aufsagen müssen. Dann

wiederum gibt es Imame, die ein Thema, eine sūra für die gesamte Gruppe aufgeben.

Alle nehmen dann das gleiche vor, unabhängig ihres Lernfortschritts. Dabei können die

Familien, bis auf wenige, die wirklich über religiöse Bildung verfügen, können die meisten

ihre Kinder zu Hause nicht unterstützen. Es gibt viele Eltern, die können nicht einmal

die subḥānaka.“ (Salih D., S. 119)

Diese Einheitsgruppen sind seit den 1970er-Jahren in den muslimischen Gemeinden Praxis

und führen dazu, dass der Imam pro Kind maximal fünf bis zehn Minuten Zeit für eine

individuelle Förderung hat:

„Wir sind da ja einfach hingegangen und es war nicht einmal gewiss, ob wir drankommen,

weil wir hatten einfach den einen Imam der da vorne war und wir irgendwie 50 bis 60

Kinder, die sich da hingesetzt haben und leise vielleicht gelernt haben oder auch unter

sich ein bisschen gespielt haben und wenn wir drankamen, hatten wir halt Glück, dann

sind wir halt drangekommen und wenn nicht dann nicht. Das war dann Pech. Dann halt

Sonntag oder gar nicht bis zur nächsten Woche. Aber jetzt mit dem Schulsystem, können

wir wirklich garantieren, dass wirklich jedes Kind drankommt., dass wir sagen, dieses

Kind hat heute gelesen, hat heute alles gemacht und wenn die Eltern sagen ‚Nein‘, dann

können wir das auch zeigen in der Mappe.“ (Ṯurayya K., S. 445)

Dieser individuelle Teil im Moscheekurs sieht in der Regel so aus, dass die Teilnehmer/innen

aus der Alif-Ba beziehungsweise aus dem Koran zu lesen haben sowie ihre wöchentlichen

Hausaufgaben, die in der Regel im Memorieren einer kurzen Koran-Sūra oder Bittgebete

bestehen, aufzusagen. Das individuelle Ziel ist zunächst erreicht, wenn ein Kind die für

ihn vorgesehene kurze sūra aus dem Koran auswendig kann. Dabei spielt die Rezitation

des Koran eine wichtige Rolle, auch wenn die Kinder die arabische Sprache nicht verstehen

und daher auch die Inhalte geistig nicht erfassen können. Zwar wird diese Kritik zunehmend

geäußert, aber diese Lerntradition ist zu sehr verankert, als dass es zu schnellen

Reformen kommen könnte:

„Eine Kritik habe ich seinerzeit gehabt, und zwar eine Gruppe ‚ Ḥağğī 768 ‘ haben den Kindern

den Koran gelehrt, auswendig. Aber ich habe gesehen, wenn der Unterricht zu Ende

war, sind sie gleich raus geflogen, aus dem Raum. Dann habe ich gesagt ‚Diese Kinder sind

768 Titel für Gläubige, die bereits die Pilgerfahrt nach Mekka vollzogen haben. In der Vergangenheit

waren es eher ältere Menschen, die diese wichtige Pilgerfahrt unternommen hatten. Mittlerweile

verschiebt sich das Alter nach unten und immer mehr junge Menschen – vor allem aus

Europa – unternehmen diese Reise. In den islamischgeprägten Ländern hängt die Verlagerung

dieser Pilgerfahrt in eine späte Lebensphase u. a. mit den materiellen Kosten zusammen, da

sie – je nach Transportmittel und Aufenthaltskosten (in der Regel 3-4 Wochen) – zwischen

4 000 und 5 000 Euro betragen kann. Hierfür müssten Muslime aus Indien oder Bangladesch

ein Leben lang sparen. Oft bleibt dieser Wunsch auch unerfüllt, weil man das Geld hierfür nicht

ansparen kann. Da aus theologischer Sicht beim Vorliegen von finanziellen Möglichkeiten und


368 B Empirischer Teil

wahrscheinlich gezwungenermaßen hier, die verstehen das Ganze wohl wahrscheinlich

nicht. sie lernen etwas, aber wahrscheinlich gezwungenermaßen, weil die Eltern es wollen.‘

Ich habe sogar Kinder gesehen, dessen Eltern nie in der Moschee gewesen sind, aber sie

wurden geschickt in die Moschee, um Koran zu lernen, das habe ich auch erlebt. Und

das habe ich gesagt, das ist absurd sowas. Ich habe immer wieder gesagt, dann habe ich

einen ‚Ḥağğī‘, den ich gerne gut kenne ‚Ḥağğī‘ sage ich ‚du lehrst einem Kind den Koran.

Hast du ihm auch gesagt, weshalb er das lernen muss?‘ ‚Ihr müsst Koran lernen, ja, aber

wofür? Wozu ist das gut? Weshalb soll man das machen? Wozu wird das eines Tages gut

sein? Kennen die Kinder denn das?‘ ‚Ne‘ das habe ich nicht.‘ Genau hier ist das Problem.

Wenn ich gezwungen werde, etwas zu lernen, ein Gedicht, ohne das ich weiß wozu, also

was das für eine Bedeutung hat, dann ist das/ich werde ihn sofort vergessen, irgendwann,

weil das nicht irgendwie in meinem Speicher richtig reinkommt. Und dieses Problem

haben wir. In verschiedenen Moscheen werden die Kinder wahrscheinlich, ohne dass sie

es wissen, weshalb sie den Koran lernen sollen einfach dazu bewegt, ‚lernt das erstmal.

Dann werdet ihr erfahren, wozu das gut ist.‘ ich, vom Person her, bin ich immer dafür,

ich muss erstmal wissen, weshalb ich das lernen soll, damit ich, dann sitze ich davor mit

einem ganz anderen Gefühl.“ (Bayram C., S. 445)

Aufgrund des freiwilligen Charakters der Moscheekatechese komme es zu häufigen

Fehlstunden, womit sich der Kontrast in den Lernschritten bei den Kindern in dieser

Einheitsgruppe nur noch vergrößere.

„Das ist sehr unterschiedlich und das ist eigentlich die größte Schwierigkeit für einen

Imam, der vernünftig seinen Religionsunterricht in den Moscheen durchführen möchte,

und zwar, dass er im gleichen Alter Kinder hat, die zum Religionsunterricht, die einerseits,

oder ein Teil davon ist ziemlich fortgeschritten, was die Glaubensinhalte, die religiösen

Glaubensgrundlagen angeht, zumindest die Kenntnisse darüber, und im gleichen Alter

wiederum eine zweite Gruppe, die überhaupt kein oder nur wenig wissen hat. Da muss

ein Imam gucken, wie er die ganzen Gruppen zusammenführen kann, weil es oft nicht

geht, dass man mit anderen, die Religion, oder von der Religion abhängigen, also es

ist eigentlich auch wegen der Ausstattung der Moscheen nicht möglich, dass man die

Kinder, die schon bestimmtes Vorwissen haben und diejenigen, die dieses Vorwissen

nicht haben, dass man sie trennt, weil einfach ein entsprechender Raum fehlt oder auch

Zeit nicht aufbringen kann, weil der Religionsunterricht wird nur an den Wochenenden

durchgeführt. Nur in den Ferien teilweise etwas mehr, wobei wiederum viele abwesend

sind. Dann ist natürlich das Problem, des regelmäßigen Kommens und auch dadurch

entstehen bestimmte Lücken. Die immer anwesend sind, kontinuierlich dabei sind, die

gehen weiter, die schreiten sozusagen voran. Diejenigen, die ab und zu mal fehlen, die

dann hinterher sind und bringen Probleme. Und für die Imame ist es äußerst schwierig

von diesem inhaltlichen bis hin zu diesem organisatorischen ist es auch ein Problem der

Sprache. Viele Imame sprechen nicht entsprechend Deutsch, während für die Kinder

gesundheitlichen Voraussetzungen die Pilgerfahrt eine religiöse Pflicht darstellt, sind die von

absoluter Armut betroffenen Muslime ohnehin von dieser Verpflichtung befreit.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 369

eigentlich Deutsch die Muttersprache ist. Das nächste Problem sind die Materialien mit

denen man arbeitet. Die sind überwiegend auf Bosnisch.“ (Esref B., S. 33 f.)

Den Kindern fehle es zudem aufgrund der fehlenden Attraktivität der Moscheekatechese

an Motivation, an den Wochenenden hinzugehen.

„Zuerst benötigen wir qualifiziertes pädagogisches Personal. Dann müssen wir ein Klassensystem

einführen. Drittens müssen wir in den Moscheen eine Atmosphäre schaffen,

damit die Kinder motiviert und mit Freude zum Islamunterricht kommen. Ich habe doch

dieselben Probleme mit meinen eigenen Kindern gehabt. Wir hatten große Schwierigkeiten

unsere Kinder dazu zu bringen, in die Moschee zu gehen. Ich habe dann begonnen

jedes Mal meinen Kindern fünf Euro zu geben, als Belohnung, wenn sie in die Moschee

gegangen waren. Auch wenn das Kind vielleicht nicht so viel in der Moschee lernt, soll

es doch wenigstens die Atmosphäre dort kosten. […] Diejenigen Eltern die nicht religiös

gebildet sind, aber dafür einer Gemeinde angehören, vertrauen ihre Kinder einfach diesen

Gemeinden an. Sie erhalten dann dort die religiöse Grundbildung, aber das Problem ist,

dass sie dann nur einseitig auf bestimmte Dinge schauen, weil es sie eben nur die Gemeindelehre

erhalten. Die größten Probleme in der religiösen Erziehung sehe ich aber vielmehr

in muslimischen Familien, die überhaupt keine Bindung zu muslimischen Gemeinden

haben. […] Das religiöse Bildungsniveau der Eltern ist das Problem. Ich habe erste heute

Morgen etwas Interessantes beobachtet. Vor meinem Büro ist ein Großvater mit seinem

Enkelkind vorbeigelaufen. Das Enkelkind hatte seine Korantasche dabei und sah aber

nicht ganz glücklich aus, weil ich weiß, dass das Kind nur mit dem Druck der Eltern oder

Großeltern in die Moschee geht. Die Kinder müssen doch eigentlich sich auf die Moschee

freuen, aber das kriegen wir nicht hin. Meine Tochter ist im Kindergarten und sie macht

mir jeden Morgen Druck, um pünktlich anzukommen, damit sie nicht den Morgenkreis

verpasst.“ (Mahmut Ö., S. 133 f.)

Die sprachlichen Probleme der Imame führten des Weiteren dazu, dass diese religiösen

Autoritäten kein positives Lehrer-Schüler-Verhältnis aufbauen könnten. Wie in der Schule

auch, besteht dieses formelle Verhältnis zwischen den beiden Personen über einige Jahre. Je

nach Qualität und Intensität dieser Beziehung wird der Lernerfolg der Lernenden bestimmt. 769

Eine zentrale Voraussetzung für den Aufbau einer fruchtbaren Lehrer-Schüler-Beziehung

ist die Kommunikation, die anscheinend in den Moscheekatechesen – trotz jahrelanger

Besuche der Kinder und Jugendlichen – defizitär zu sein scheint:

„Das größte Problem für die Familien ist es, dass sie keine Kommunikation zu ihren

Kindern aufbauen können. Sie versuchen ihren Kindern etwas islamisches beizubringen,

finden aber keinen Draht zu ihnen, weil die Kinder hier in deutscher Sprache aufwachsen

und die Eltern aber arabisch oder türkisch die Religion vermitteln wollen. Daher entsteht

da eine Kluft zwischen Eltern und Kindern. Das ist in der Moschee nicht anders, weil wir

769 Vgl. Werner Helsper/Merle Hummerich, Lehrer-Schüler-Beziehung, in: Karl Lenz/Frank

Nestmann, Handbuch Persönliche Beziehungen, Weinheim und München 2009, S. 605 ff.


370 B Empirischer Teil

unsere Imame alle aus der Türkei holen, die ebenfalls kein Deutsch sprechen. Wenn wir

deutschsprachige Religionslehrer hätten, die hier aufgewachsen und hier in Deutschland

ausgebildet worden wären, dann wäre es sehr sehr gut für uns. Aber derzeit haben die muslimischen

Kinder große sprachliche Schwierigkeiten im Unterricht.“ (Hayrettin G., S. 138)

Eng mit den sprachlichen Kompetenzen hängt auch die Artikulationsfähigkeit der Kinder

und Jugendlichen in religiösen Fragen zusammen. Da viele islamische Terminologien und

Grundbegriffe nicht in deutscher Sprache vermittelt werden, können die muslimischen

Kinder und Jugendlichen nicht mit ihren nichtmuslimischen Altersgenossen in einen Dialog

treten. Nicht nur das Fehlen deutschsprachiger Materialien, sondern auch die fehlenden

Sprachkompetenzen bei den Imamen sind die Ursache hierfür:

„Ich war der Erste in Hannover, der die arabische Predigt simultan ins Deutsche übersetzt

hat. Zuerst so mit Kopfhörer, nein, zuerst so in einer kleinen Gruppe in der Moschee, später

dann mit Draht-Kopfhörer. Ich saß im Büro und war direkt mit dem Imam verbunden und

die Leute auch mit Draht-Kopfhörer, aber jetzt haben wir drahtlos. Jetzt machen alle das

nach, auch die Türken machen das nach. Konkurrenz belebt das Geschäft, tatsächlich.

Jetzt weiß ich, dass mehrere türkische Moscheen das auch machen oder die machen zwei

Teil. Ein Teil der predigt auf Türkisch, der andere Teil auf Deutsch. Manche machen es

simultan und manche machen es überhaupt nicht. Das finde ich für die Jugendlichen

mangelhaft. Ich habe eine Gruppe von Jugendlichen, so 14- bis 19-jährige, getroffen. Ich

fragt sie: ‚Wie definiert ihr waḥiy auf Deutsch?‘. Ich bin ja Araber, ich verstehe das und

die Jugendlichen waren Türken. Dann antworteten die: ‚Waḥiy ist Allāhs Botschaft.‘ Dann

sagte ich: ‚Ja, aber wie könnt ihr, wenn ihr waḥiy für Christen erklären muss, wie könnt

ihr das genau übersetzen, dass der Christ versteht, was der Unterschied ist?› Nur einer

wusste es ungefähr, aber die anderen nicht. Dann musste ich eine Gruppe aufbauen, nur

um zu diskutieren, wo wie Probleme haben zu verstehen und zu diskutieren. Wie translatiert

ihr das. Das macht ja die Uni Osnabrück genauso wie andere, ihr translatiert. Aber

auch die Zeitschrift Al-Islam seit 1946 oder 1956, die genau übersetzen oder die Frage, ob

man das Original behält und nur mit dem Sinn erklärt? […] Nein, die meisten verstehen

das nicht, das ist ja das Problem. Ich habe oft Schwierigkeiten einen türkischen Imam

zu fragen: ‚Was heißt das? So ist das!‘ Ich mehrmals mit Imamen gesprochen, auch letzte

Woche habe ich Imame gewarnt: ‚Pass mal auf. Ihr werdet in Zukunft die Jugendlichen

verlieren, wenn ihr in den Moscheen nicht Doppelsprachig seid. Warum? Dann verstehen

die Jugendlichen türkisch und arabisch, die Liebe zu der Sprache, zu den Eltern ist da,

aber in der Schule sprechen die Kinder deutsch. Das ist absolut etwas anderes als das

klassisch-traditionelle, vor allem wenn ein Türke aus dem Dorf kommt, dann befiehlt er:

‚Tu mal das‘ zu einem Kind. Aber die muslimische Überlieferung sagt, ich glaube nach

Umar: ‚Erzieht eure Kinder in den ersten sieben Lebensjahren, dann begleitet sie weitere

sieben Jahre, und in den nächsten sieben Jahren, seit wie Freunde zu euren Kindern.‘ Das

ist eine Weisheit. Also sieben, sieben, sieben, nicht 18 Jahre man volljährig, sondern mit

21 Jahren. Damit ist auch die Spalte zur deutschen Gesellschaft zum Leben in der Familie

zu erklären. Wenn wir zu Hause sind, sind wir Türken mit unserem Essen, Trinken, mit

Papa, mit Handküssen, aber wenn die Kinder älter sind, der Respekt zu den Eltern bleibt


2 Ergebnisse der empirischen Studie 371

zwar, aber sie denken dann Deutsch. Deshalb müssen wir eine Brücke bauen, zwischen

dem deutschen Fiqh und dem alten islamischen Fiqh. Das ist der Haken. […] Zu Missverständnissen

und zu Abkapselungen. Im Arabischen heißt das ‚Eine Sprache, ein Mensch.

Zwei Sprachen, zwei Menschen. Drei Sprachen, drei Menschen oder Persönlichkeiten.‘

Wenn die Kinder natürlich sich nicht artikulieren können, dann werden nur unter sich

bleiben und sich abkapseln. Denn der Dialog mit der deutschen Gesellschaft fehlt, auch

die da‘wa.“ (Sharif M., S. 310)

In den Biografien der Kinder und Jugendlichen sind bezüglich ihrer Gemeindegebundenheit

zudem Brüche festzustellen, die nach den eigenen Aussagen der Experten meist in der

Pubertät beginnen und sich im öffentlichen Raum „verlieren“:

„Yalcin K.: Wir haben als Landesverband eine Statistik in den Gemeinden erstellen lassen

und haben festgestellt, dass die Kinder bis zum 12. beziehungsweise 13. Lebensjahr in die

Moschee kommen, vielleicht auch nur infolge des Drucks zu Hause. Von 14 bis 25 Jahren

sind man einige dann nur bei den Freitagsgebeten oder nur zwei Mal im Jahr bei den

Feiertagsgottesdiensten. Sonst sind sie nicht mehr in der Moschee anzutreffen. Sie sind

irgendwo draußen und nehmen die Angebote dieser Gesellschaft an, um ihre Gelüste zu

befriedigen. Oder hängen einfach nur zu Hause, im eigenen Zimmer rum und sind isoliert

vor ihrem Computer. In der Altersgruppe zwischen vierzehn und fünfundzwanzig gibt es

einen großen Bruch in den Gemeinden bis man heiratet. Dann sucht man nochmal den

Imam auf, um sich trauen zu lassen und lässt sich dann wieder solange nicht blicken bis

man eigene Kinder hat, die man dann in den Moscheeunterricht schickt.

I.: Ist das bei allen Familientypen so oder …

Yalcin K.: Bei den meisten Familien ist das so.

I.: Warum kommen die dann nochmal zurück, also warum senden sie wieder ihre Kinder

in den Moscheeunterricht?

Yalcin K: Das hatte ich ja vorhin erwähnt. Man erwartet es von den Moscheen, von den

Imamen, dass sie komplett die religiöse Erziehung übernehmen und die Familien nichts

tun müssen in der Hinsicht. Man möchte, dass die Kinder nicht areligiös werden. Wir

wissen das genau, weil wir die Statistik auch nochmal bei einem Treffen der Landesverbandsvorsitzenden

in Deutschland präsentiert und intensiv diskutiert haben, um zu

erfahren, wie das in den anderen Bundesländern der Fall ist. Wir haben das anonymisiert

und das Bundesland sowie die Moscheegemeinden nicht genannt. Alle Teilnehmer

aus den anderen Bundesländern habe diese Studie bestätigt. Alle haben von ähnlichen

Erfahrungen berichtet.

I.: Wie haben Sie das ermittelt?

Yalcin K.: Wir haben das in zwei Moscheen erhoben.

I.: Könnten Sie da konkrete Zahlen nennen?

Yalcin K.: Wir haben herausgefunden, dass 75 Prozent aller Teilnehmer des Moscheeunterrichts

nicht mehr kommen, wenn sie das 12. beziehungsweise 13. Lebensjahr erreicht

haben.

I.: 75 Prozent?


372 B Empirischer Teil

Yalcin K.: Ja, 75 Prozent dieser Kinder und Jugendlichen verlieren wir, obwohl wir sie in

der Moschee unterrichtet haben, obwohl die Eltern die Kinder mit dem Ziel der religiösen

Lernens in die Moschee schicken, bleiben sie ab diesem Alter fern von den Gemeinden.

Das ist auch kein Wunder, wenn man dieser Altersgruppe keine Angebote machen kann.

I.: Wissen Sie, wo sich dann die Jugendlichen aufhalten?

Yalcin K.: In Spielotheken, in Fußballvereinen, zu Hause oder lungern einfach nur ziellos

herum. Deshalb ist auch kein Wunder, dass die Anzahl der türkischen Kinder im Vergleich

zu den deutschen Kinder an Hauptschulen so erschreckend hoch ist. Bei den Realschülern

niedriger und Gymnasium noch weniger.“ (Yalcin K., S. 100)

Der Verlust eines Teils der Jugendlichen ab der Pubertät wird in der eigenen Analyse mit

unterschiedlichen Faktoren begründet. Zum einen gingen die Moscheegemeinden nicht

auf Themen wie Sexualität ein, obwohl die Jugendlichen Bedarf an sexueller Aufklärung

aus einer islamischen Perspektive haben. Auf ein ähnliches Problem weist Spiegel für

den christlichen Religionsunterricht hin, wenn Religionslehrer/innen aufgrund eigener

Hemmnisse, aufgrund „des eigenen ungeklärten Umgang mit Sexualität“ sexuelle Themen

taubuisieren. Daher plädiert er für eine Enttabuisierung der Sexualität – mit ihren

positiven und negativen Aspekten – im Religionsunterricht, und zwar vor allem in „ihrer

kommunikativen Funktion zwischenmenschlicher Erotik“, um im Unterricht einen offenen

Austausch zu ermöglichen. 770

„Oh, oh. Wenn gute Imame da sind, dann ja. Wenn nicht, um Gottes Willen, das ist eine

Katastrophe. Wenn ich mal selbst in unserem Kurs Seelsorge mache, da habe ich auch

über solche Fälle zur Sexualität gesprochen, da haben manche einfach wegguckt. Da sage

ich immer: ‚Mein Gott, unser Prophet hat offen darüber geredet.‘ Das ist gegen die Lehre.

Hole mal alle Bücher und Aussagen zum Propheten und lies mal was er über Sexualität

gesagt hat. Und in der Moschee ist das nicht erlaubt nach dem Motto: Das ist obszön.

Das ist eine falsche Haltung in der Gemeinschaft. […] Das ist die falsche Erziehung der

Imame, obwohl die Imame selber kein Tabu haben, aber ich denke das die Erziehung der

Imame nicht ausreicht und auch, dass man wegen der Gesellschaft hier glaubt, alles ist

obszön was mit Sexualität zu tun hat. […] Ja, dann gibt es Konflikte, aber der Imam muss

sich durchsetzen: ‚Ich lehre alles.‘ Zum Beispiel habe ich gerade ein Problem mit einem

Verwandten, der in einem europäischen Land lebt. Ich habe ihn gefragt: ‚Bekommen die ihr

Orgasmus?‘ Also in der Nacht, so im Traum. Da sagt er: ‚Ich weiß nicht.‘ Da sagte ich: ‚Ja,

dann frag mal deine Frau oder rede mit denen doch, aus einem einfachen Grund. Wenn

sie in die Moschee kommen, zum Freitagsgebet gehen, dann müssen die wuḍū’ machen

vorher. Da sagt er: ‚Das ist wahr, da hast du recht.‘ Ich sagte: ‚Dann guck mal bitte auf

ihren Slip, ob da große Flecken sind. Lehre mit deinen Kinder offen oder ich kann das,

wenn ich sie treffe und kann ihnen diese Lektion der ġusl 771 zeigen.‘ Da bedankte er sich

770 Vgl. Egon Spiegel, Religionspädagogik in der Mitte des Lebens. Unterrichtskonzeptionelle

Orientierungen für den Religionsunterricht, S. 12 f.

771 Diese Vollwaschung wird nach dem Geschlechtsverkehrt beziehungsweise nach der Ejakulation

beziehungsweise nach der Phase Menstruation vollzogen. Bis diese Ganzkörperwaschung


2 Ergebnisse der empirischen Studie 373

bei mir. Wenn man mit den Kindern das durchnimmt, dann lernen sie das auch. Man

sieht ja schon jetzt die Kinder, das manche schon in dem Alter sieht. Bei den Mädchen

ist das leichter, weil die es sofort an ihrer Blutung erkennen. Die Jungs erkennen das

komischerweise nicht. Da muss man , also bei uns in der arabischen Moschee wird über

Reinheit, Sexualität ohne Tabu gesprochen, aber die meisten Moscheen, rede mal dort

mit den Menschen, oh Gott. Wenn man aber den richtigen Zugang zu den Jugendlichen

finden kann, dann erzählen sie auch und überwinden sich. […]Da müsste man einfach

die Lehre des Propheten umsetzen. Ich war überrascht, als eine Rede von mir mal negativ

bewertet wurde. Da wurde gesagt, dass ich auch über Sexualität gesprochen von deutscher

Seite. Ich war sehr überrascht, weil man denkt, die Deutsch-Marokkaner, also ob das

etwas Außergewöhnliches wäre. Einige islamische Geschwister dagegen wären sicherlich

nicht erfreut, aber Sex wird in der islamischen Normenlehre offen behandelt. Dann sage

ich diesen Kritikern: ‚Seid ihr besser oder der Prophet Muhammad‘. Da sieht man an

diesem Beispiel, dass die Erziehung zur Sexualität eigentlich im Islam ganz anders ist.“

(Sharif M., S. 318 f.)

Zum anderen liege es daran, dass eben keine Räumlichkeiten für junge Menschen in

Moscheen zur Verfügung gestellt würden, wo sie nicht nur einen Religionsunterricht

erhalten, sondern auch ihre Freizeit verbringen können, um eben nicht im öffentlichen

Raum „verloren“ zu gehen.

„Es kommen wenige Leute, weil die Mittel einfach nicht da sind. Es fehlt da an irgendetwas.

Es fehlt an Räumlichkeiten. Ich sage mal so, wenn sie einen Jugendlichen haben,

der verantwortlich ist für die Gemeindemitglieder, für die Jugendlichen. Der muss doch

seine eigenen Räumlichkeiten haben. Ich meine, okay, der eine verbockt das vielleicht

und dann kommt ein anderer, der verbockt das auch, aber irgendwann kommt einer. Wir

können nicht einfach auf gut Glück los, sondern müssen auch daran arbeiten. Ich habe

vier Jahre mit einem Imam zusammengearbeitet, puh, dieser Mann ist einfach perfekt.

Der hat so gut Deutsch gelernt, irgendwann kam ich mir blöd vor, irgendeinem Imam

etwas zu übersetzen. Verstehen Sie, was ich meine? Ich meine, dieser Mann hat studiert.

Die Türkei ist kein Kleinstaat. Die Ressourcen sind da, die Mittel sind da. Das ist einfach

nur ein Ding, dass sie einen Menschen dahin schicken, der sich für die Menschen hier

einsetzt. Klar setzen die sich ein. Es hapert immer an der Sprache. Wenn sie da vor jemanden

stehen und sie können sich selbst nicht einmal ausdrücken. Wenn ich die ganze

Zeit übersetzen müsste, dann könnte ich nur 50 Prozent von dem übermitteln, was sie

mir sagen, wenn überhaupt. Auch diese Emotion, auch dieses Prägende, das geschieht ja

auch durch Augenkontakt, da schließt sich ja einiges zusammen. Da ist ja nicht einfach

so. Stellen Sie sich vor, ich würde mit Ihnen sprechen und Sie würden irgendwo in die

Ecke gucken. Das ist doch ganz was anderes, wenn ich das direkt vermittele. […] Wie

gesagt, das Angebot ist das da. Die Präsentation ist einfach nicht da. Es gibt kein Geld,

keine Räumlichkeiten oder die stellen sich einfach quer und sagen: ‚Wieso sollen wir das,

vollzogen ist, dürfen religiöse Praktiken wie das Pflichtgebet nicht ausgeübt werden.


374 B Empirischer Teil

wieso sollen wir das?‘ Aber irgendwann, wenn die Moscheen leer sind, keine Jugendlichen

mehr da sind.“ (Mehmet A., S. 296)

Aufgrund der Außenorientierung dieser jungen Menschen und der fehlenden Freizeitmöglichkeiten

in den Gemeinden könne man gegenwärtig diesen Verlust nicht aufhalten:

„Ja. Also nach einem bestimmten Alter ist es, dass dieser Bruch kommt. Das war in der

Vergangenheit so und das ist jetzt auch so. Dass sie nach einer bestimmten Zeit sagen:

„Okay, ich kann den Koran flüssig lesen. Ich weiß halt ein bisschen über meine Religion

Bescheid.“ Und dann spielt halt am Wochenende nicht mehr die Moschee eine große Rolle,

sondern halt die Hobbys. Und die Eltern mischen sich dann auch nicht mehr ein. Die

sagen: „Okay, wenn er nicht kann hat, dann geht er nicht mehr und wenn er nicht kann,

dann ist halt seine Sache.“ Und danach kommt der große Bruch. […] Alle kommen nicht

zurück. Das ist wirklich nur ein Teil der zurückkommt. Das sind halt dann die, meistens

die, bei denen man auch vorher gesagt hätte: ‚Okay, der kommt irgendwann zurück. Der

halt hat dieses Know-how. Der hat diese Basis einfach zurückzukommen.‘ Warum die

zurückkommen, ist meistens so, durch die Jugendvorstände, wenn die etwas Interessantes

machen, das halt kontinuierlich machen, dann kommen die. Dann gewöhnen die sich halt

an die Moschee. Das ist halt wirklich unsere Aufgabe, diesen Druck so minimalistisch zu

halten, wie möglich. Dass wir die ganze Zeit irgendwelche Aktivitäten machen, dass dieser

Kontakt nicht ganz verloren geht, weil es gibt auch Jugendliche, die von heute auf morgen

wirklich alles abbrechen, die nicht mal die Straße benutzen wo die Moschee ist, gar nichts,

auch nicht an Veranstaltungen teilnehmen, nichts. Aber dann halt auch Jugendliche, die

zwischendurch kommen. Bei denen ist es einfacher die wieder zurückzuholen, wie bei

denen die wirklich den ganzen Bruch haben. Um das zu verhindern, müssen wir wirklich

so im Alter von 12 bis 13, die an die Moschee zu gewöhnen, ihnen Aufgaben verteilen,

an Veranstaltungen teilnehmen. […] Also natürlich gibt es bei den größeren Moscheen

Angebote, die die leiten. Dass die sagen: ‚Wir haben ein Fußballverein, komm, spiel bei

uns mit.‘ Aber bei kleineren Moscheen ist das einfach nicht gegeben. Da ist der Bruch und

neben der Pubertät ist es halt einfach auch dieses Problem mit den Respektpersonen, mit

den Älteren.“ (Ṯurayya K., S. 397)

Ein zweiter Grund für das Wegbleiben sind zugleich die religiös-orientierten und gebildeten

jungen Menschen, die die Moscheegemeinden verlassen, um eigene Strukturen aufzubauen.

Dieser Prozess der Wissensweitergabe führt dazu, dass im ganzen Bundesgebiet

eigene Vereine entstanden sind – ein ambivalent zu beurteilender Prozess, weil einerseits

hochqualitative Strukturen entstehen, andererseits aber wichtige Motoren für Reformen

verloren gehen:

„Nee, in der Moschee selbst habe ich keinen Unterricht gegeben […] also zunächst, das

kam erst später. Ich habe selbst keinen Unterricht gegeben in der Moschee. Ich habe später

dann außerhalb der Moscheen auch Kreise oder Runden eröffnet, wo dann auch über

religiöse Themen diskutiert wurde. Das war dann mit dem Unterschied, dass ja, dass mehr

ausgerichtet war auf die Zielgruppe, die ich hatte. Das waren meistens gleichaltrige oder


2 Ergebnisse der empirischen Studie 375

vielleicht bisschen jüngere oder bisschen Ältere so. Und das haben wir deswegen anderen

Räumlichkeiten auch oft gemacht, weil wir das Gefühl hatten, dass wir dadurch mehr

das ganze mehr in unserem Sinne gestalten können. In der Moschee selber war das so,

kamen wir, da hatten wir das Gefühl, auf Dauer hatten wir das Gefühl, dass es zu kurz

kam. […] Ja, es gibt manche, die immer versuchen und sagen ‚Komm du kannst machen

was du willst. Und das heißt dann so viel wie; du kriegst den Schlüssel so, aber vielmehr

Betreuung ist da auch nicht so dahinter. […] Das ist zwar gut gemeint, wird auch manchmal

in Anspruch genommen ist aber auch keine wirkliche Hilfe.“ (Adam E., S. 346)

Die dargestellten religionspädagogischen Herausforderungen sind zwar – wie die folgende

längere Analyse von Yalcin K. aufzeigt – mittlerweile in allen Moscheen bekannt, allerdings

sind keine offiziellen Thematisierungen dieser Entwicklung in den Gemeinden zu erkennen:

„Wir müssen erst mal feststellen, was das Ziel der Moscheegemeinden sein sollte. Dafür

müssen wir uns zunächst mit allen Altersgruppen in den Gemeinden treffen und die

Bedarfe ermitteln. Die Moscheen sind längst nicht mehr Einrichtungen nur für Gottesdienste.

Wenn wir mal zum Vergleich die Kirchen heranziehen, dann sieht man, dass die

Christen nicht nur beim Gottesdienst hinter dem Priester stehen, sondern es zahlreiche

andere Aktivitäten, Arbeitsgruppen und Personal existiert. Das ist ein ganzes System.

So etwas benötigen wir auch. Das haben wir nicht. Natürlich benötigt man auch Personal

dafür, aber zunächst müssen wir das Bewusstsein für diesen Wandel schaffen. Ein

Schritt in diese Richtung sind die neuen Satzungen der Landesverbände der DITIB, indem

Jugendabteilungen, Frauenabteilungen, Öffnung der Vorstände für Frauen, Seniorenvertretungen

usw. als Pflicht vorgesehen ist in den Moscheegemeinden. Das ist auf dem

Wege, aber wenn man dann fragt: ‚Gut, was für eine Arbeit sollen die Jugendabteilungen,

die Frauenabteilungen, die Seniorenabteilungen usw. konkret leisten?‘ Dann schaut

sich jeder an und weiß keine Antwort auf die Frage zu geben. Es gibt keine Konzepte,

deshalb auch keine Antworten. Das muss man offen und ehrlich zugeben. Die konkrete

Umsetzung ist den Moscheegemeinden überlassen und das hängt dann wiederum von

der Kompetenz, von der Vision und vom Willen der Vorstände ab. Von den 75 Moscheegemeinden

der DITIB haben höchstens und wenn überhaupt nur 10 Moscheegemeinden

ein Konzept, wo sie Inhalte und Ziele, also kurzfristige bis langfristige, verfolgen. Diese

Gemeinden haben in der Regel auch Erfolge vorzuweisen, aber die meisten leider nicht.

Sie sind nur für die Freitagsgebete, für die Feiertage und für religiöse Zeremonien da, für

sonst nichts. Daher müssen wir erstmal einmal die Bedarfe ermitteln und dafür dann

Ideen entwickeln. Zweitens benötigen wir in den Moscheegemeinden einen Curriculum.

Seit Jahren kritisiere ich den Zustand, aber es ändert sich nichts, weil niemand zu hört.

Nur in meiner kleinen Gemeinde konnten wir einen Lehrplan einführen. Wir müssen

da auch erstmal das Potenzial unter den muslimischen Pädagoginnen und Pädagogen

in Deutschland ermitteln. Es gibt viele Männer und Frauen, die in der Türkei als Pädagogen,

Religionslehrer tätig waren, dann im Rahmen eines Ehepartnernachzugs nach

Deutschland kommen und hier als einfache Arbeiter tätig sind. Die müssen wir gewinnen

für die pädagogische Arbeit in den Gemeinden. Der Imam unserer Gemeinde hat insgesamt

zehn Religionslehrer als Helfer. Das sind Menschen, die in der Türkei unterrichtet


376 B Empirischer Teil

haben, in Deutschland aber Arbeiter sind, weil deren Abschlüsse hier nicht anerkannt

sind. Dann ist ein weiteres Problem, dass wir kein Anmeldeverfahren haben. Der Imam

sitzt in der Moschee und unterrichtet jeden der mal zufällig vorbeikommt. Es gibt keine

Regelmäßigkeit. Der Imam hat auch kaum Informationen über diese Kinder, über die

Hintergründe. Da es auch keine Teilnehmerlisten gibt, verfolgt der Imam auch nicht, ob

die Kinder regelmäßig kommen. Er fragt auch nicht. Wenn die Kinder kommen, dann

kommen sie, wenn sie nicht kommen, dann kommen sie nicht. Egal. Daher brauchen wir

ein Anmeldeverfahren, Teilnehmerlisten, ein Curriculum, um eine Ordnung reinzubringen.

Wenn mal die Kinder nicht kommen, dann muss der Imam zum Hörer greifen und die

Eltern anrufen. Ohne den Druck auf die Eltern kann man das Problem nicht lösen. Wir

müssen die Eltern unter Druck setzen, weil wir wissen, dass die religiöse Erziehung in den

Familien ungenügend ist. Deshalb müssen wir das übernehmen, deshalb sind die Moscheen

so wichtig, weil wir auf diese Kinder aufpassen müssen. Die Moscheen müssen zu einem

Erziehungszentrum entwickelt werden, wir müssen auch ein Klassensystem nach Alter der

Kinder und auf der Grundlage eines Lehrplans einführen. Der Imam muss wissen, wann,

wie und was er den Kindern entsprechend der unterschiedlichen Klassen beibringen muss.

Es gibt nur einige Moscheen, die so vorgehen, aber die meisten leider nicht. Überall und

unabhängig von der Anzahl der Lernenden, also egal ob in eine Moschee nur zehn oder

hundertfünfzig Kinder kommen, überall muss diese Ordnung eingeführt werden. Dann

müssen wir den Jugendlichen, die ab zwölf, dreizehn nicht mehr in die Moscheen kommen,

denen Angebote machen. Wir müssen uns fragen, warum die christlichen Jugendlichen

in die Kirchen zu den Angeboten gehen und unsere muslimischen Jugendlichen von den

Moscheen fernbleiben. Es ist nicht damit getan, eine Fußballmannschaft in der Moschee

zu gründen, ein Billardtisch, ein Kickertisch oder Dart anzubieten und zu erwarten,

dass die Jugendlichen kommen. Das bringt doch nichts, zumal die Jugendlichen ein paar

hundert Meter weiter von der Moschee noch bessere Angebote in der Spielothek finden

können. Deshalben müssen wir etwas anderen überlegen. Wir müssen die Jugendlichen

dazu bringen, dass sie die Moscheen lieben und als ihr eigenes zu Hause betrachten. Eine

weitere Gruppe sind die Heranwachsenden für die wir auch Angebote machen müssen

und auch hierfür die zum Teil unsinnigen Geschlechtertrennungen bei Seminaren und

Kursen aufheben müssen. Neben religiösen Fragen muss man diesen jungen Menschen

auch vermitteln, was Ehe bedeutet, wie man sein Leben als Muslim im Griff bekommen

kann usw. Vor allem die Benachteiligung der Frauen in den Räumlichkeiten der Moscheen

müssen überwinden werden. Bis heute sitzen die Frauen in den unattraktivsten,

verschimmelten, dunklen Räumen oder Kellerräumen der Moscheen und es kümmert

sich auch niemand darum, ob da das Licht funktioniert oder ob der Schlüssel pünktlich

zu Seminaren vorliegt usw. Bis heute sagt man sich ‚Wenn die Frauen kommen, dann

können sie sich in diese abgelegenen Räume setzen. Wenn sie gar nicht kommen, um

so besser.‘ Das widerspricht dem Geist der Moschee, weil sich dort die Familien treffen

müssten und nicht nur die Männer.“ (Yalcin K., S. 101 ff.)

Wieder wird dieses Problem der Fluktuation auf die „verkrusteten Strukturen“ innerhalb

der Moscheegemeinden zurückgeführt, die eine religionspädagogische Intervention nicht

ermöglichten:


2 Ergebnisse der empirischen Studie 377

„Die wissen, dass vieles vorhanden ist, was nicht optimal läuft. Nur es geht, also das sind

einfach Funktionäre, das sind einfach Leute, die um ihre eigenen Positionen kämpfen.

Nicht wenige verhalten sich, Hauptsache keine Wellen, keine neuen, frischen Winde sozusagen.

Man soll so wenig einführen, man soll es so machen wie bisher. Es ist eine vom

inhaltlichen her sehr traditionelle, ich würde sagen das rückständige Verständnis der

Verbandsführungen der Moscheegemeinden. Auf der anderen Seite die eigenen Ängste

um die eigenen Privilegien, wenn man sozusagen viel Neues einführen würde, würde

vieles durcheinanderführen und es stellt sich auch die Frage der Kompetenzen der einzelnen

Führungspersönlichkeiten in den Verbänden. Können sie überhaupt selbst solche

Prozesse wahrnehmen? Was sie aus diesen Prozessen sehen können, eventuell anhand

dieser Beobachtungen erarbeiten, an Ideen entwickeln können. Das spiegelt sich in jeder

Moscheegemeinde wider, zwar in anderen Rahmen, aber diese Muster sind für mich auf

der Ebene der Moscheegemeinde und auch auf der Ebene des Dachverbandes. Wenn ich

jetzt zum Beispiel anprangere und sage, sie haben einen Saal, den man für Hochzeiten

mieten kann, aber keinen Raum wo wir Religionsunterricht machen können, gucken mich

die Leute blöd an. Irgendwo haben Kinder Probleme damit, dass sie ständig auf den Knien

sitzen. Man muss also auch den lehrenden Personal eine Infrastruktur anbieten. […] Die

Moscheevorstände hängen noch sehr, wenn es alte Moscheevorstände sind, die gibt es leider

immer noch sehr viele, dass man einfach die etablierte, alte Moscheetradition fortführt.

Der Imam, die Aktivitäten in der Moscheegemeinde sind primär der Gottesdienst oder die

gottesdienstlichen Praktiken wie das fünfmal tägliche Gebete verrichten in der Moschee,

Freitagspredigten vorbereiten, die Festtagsgebete und –predigten halten und durchführen

und das war es auch schon. Ich glaube, dass ist zu wenig, für die heutige Jugend vor allem,

wenn wir heute die Situation haben, dass die Imam des bosniakischen Verbands immer

noch aus Bosnien kommen. Nur sehr wenige Imame können richtig deutsch sprechen, sich

richtig gut auf Deutsch ausdrücken und artikulieren können, womit dann junge Leute

überhaupt nicht angesprochen werden. Und die Themen der Freitagspredigten sind Themen,

die überhaupt nicht die selten die Themen, die nicht nur mit der deutschen, sondern

generell mit der deutschen Lebenswirklichkeit der Muslime in einer Gesellschaft, in einer

westlichen Gesellschaft wie das die Deutsche ist, überhaupt nichts gemeinsam haben. Also

es ja irgendwelche Leute, die von Zakāt-Vorstellungen sprechen, die heutzutage irrelevant

sind. Ausgebildetes Personal und da sehe ich die Verantwortung bei der islamischen

Gemeinschaft als Organisatoren dieses islamischen Unterrichts, dass entsprechende

Bildungsangebote für die künftigen Religionslehrer in den Moscheegemeinden bestehen,

also ich machen den Unterschied zwischen den Religionslehren in den Moscheen und in

der Schule. Also die islamische Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina, weil der bosnische

Dachverband immer noch an die bosnische Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina sehr

angeknüpft ist, muss entsprechende Angebote anbieten, das heißt, dass man sich inhaltlich

in die pädagogische Richtung entwickeln kann, aber in der Imamtätigkeit. Also in

einer Tätigkeit eines Imams in der Moscheegemeinden beziehungsweise generell in der

Moscheegemeinde. Dieses Angebot gibt es, aber für den schulischen Bereich. Für den

Bereich der Moscheegemeinde gibt es keine entsprechenden Angebote, nicht mal Ansatzweise,

auch also im Ausbildungsbereich. Dadurch wird hoffentlich dieses pädagogische

Personal irgendwann mal zur Verfügung stehen. Und entsprechend Lehrmaterialien.


378 B Empirischer Teil

Die Lehrmaterialien sind in den heutigen Moscheegemeinden sehr unterschiedlich, von

unterschiedlichen Ansätzen bis zu Umsetzungen hin, mit unterschiedlichen Sprachen, ein

Wirrwarr. Manche sind bosnisch, manche sind auf Deutsche, manche sind eine Mischung

und das verwirrt die Kinder.“ (Esref B., S. 26, 32, 41 f.)

Die ineffiziente Moscheekatechse und der Bruch mit den Gemeinden seitens der Jugendlichen

macht sie auch anfällig für salafistische Gruppen, die den jungen Menschen andere

Identifikationsangebote anbieten:

„Natürlich haben die Gemeinden, die Eltern Ängste, dass auch ihre Kinder in salafistische

Gruppen geraten können. Öffentlich sagen sie alle, dass sie keine Angst haben, aber wenn

man mit den Mitgliedern einzeln spricht, sagen sie: ‚Ich habe Angst.‘ Weil man entweder

seine Kinder verliert, seinen Neffen verliert. Wir als Moscheegemeinden haben zu spät

darauf reagiert. Wie ich auch vorhin sagte, zählt zu einem großen Problem die Sprachprobleme

der Imame. Die Salafisten machen es sich einfach, weil sie sagen: ‚Schwarz

oder Weiß. Entweder für oder gegen Islam.‘ Die schüren auch Verschwörungstheorien.

Wenn man sie zum Syrienkonflikt fragen würde, würden sie sagen: ‚Die Juden und die

USA sind an allem schuld.‘ Keine Analyse, nichts. […] Weil sie auf Deutsch sprechen und

sehr mutig, überzeugend auftreten: ‚Wir haben die Wahrheit.‘ Viele von diesen jungen

Menschen tragen einen Bart, ziehen sich anders an. Genauso wie die Skinheads, die sich

von ihrem Haarschnitt und Kleidung her unterscheiden. Genauso machen es auch die

Salafisten mit ihren Bärten und Äußerlichkeiten. Die Jugendlichen sympathisieren mit

ihnen, weil sie so imposant und angsteinflößend wirken. Unser Problem ist in diesem

Zusammenhang, dass wir keine Jugendarbeit haben, keine Sozialarbeit. […] Weil wir

Muslime hier in Europa es nicht geschafft haben, unsere Religion nach außen wie innen

richtig zu erklären. Wir machen die Erfahrung, dass die meisten Anhänger der Salafisten

aus muslimisch-säkularen Familien stammen. Es sind mehr 90 Prozent, die aus diesen

Familien kommen. Wir kennen die Jugendlichen hier, die zu den Salafisten gehen. Jugendliche

mit religiöser Vorbildung haben Ansprechpartner wie die eigenen Eltern oder

die Moscheegemeinden, wo sie nochmals die Predigten der Salafisten nachfragen können.

Aber die säkularen Jugendlichen? Die haben doch niemanden zum Fragen. Wen haben

die säkularen Jugendlichen als Ansprechpartner? Die Salafisten oder das Internet. Daher

glauben wir, dass der Religionsunterricht hier eine große Hilfe sein wird. Daher muss der

Staat auch hier etwas machen. Derzeit wird viel über Sparmaßnahmen gesprochen, aber

bei den Grundrechten darf man nicht sparen. Wenn Seelsorge, Religionsunterricht, Glaubensfreiheit

zu den Grundrechten zählt, dann muss der Staat, auch um gegen Salafisten

vorzugehen, die etablierten, gemäßigten muslimischen Verbände finanziell unterstützen.

Mit der Gründung des Instituts für Islamische Theologie sind schon viele Möglichkeiten

für die Zukunft geschaffen worden. Es haben sich letztes Jahr vierzig, dieses Jahr achtzig

Theologiestudenten einschreiben lassen, die in Zukunft im sozialen Bereich und in der

Wissenschaft arbeiten werden. Das eröffnet uns neue Perspektiven für das erfolgreiche

Leben, weil wir dann Muslime haben werden, die in deutscher Sprache schreiben und sich

äußern werden können zum Islamthema. Derzeit ist die Zahl der Publikationen seitens

der Muslime sehr gering. 99 Prozent der Bücher zum Islam stammen wie damals auch


2 Ergebnisse der empirischen Studie 379

von den Orientalisten mit ihrer 150-jährigen Tradition. Die haben einen Ansatz, dass

die Religion hinterfragt und immer ein Zweifel hinterlässt. Das sind auch keine Muslime,

nicht unsere Leute. Deshalb müssen wir unseren eigenen Nachwuchs ausbilden. Da habe

ich große Hoffnungen.“ (Hamit A., S. 83 f.)

2.4.7 Kooperation mit dem Elternhaus und Ermittlung der Bedürfnisse

der Eltern

Alle Experten attestieren der Moscheekatechese aus den oben aufgezählten Gründen eine

geringe Lerneffizienz und sehen die Lösung also nur in weitgehenden Reformen. Diese

mangelnden Fortschritte müssten die muslimischen Eltern eigentlich dazu bringen, den

Moscheekurs zu hinterfragen, insbesondere bei den gebührenpflichtigen Angeboten eine

Qualität erwarten. Für die religiös gebildeten muslimischen Familien – die am ehesten

den Lernerfolg kontrollieren und sich der Defizite bewusst sind – scheint dennoch die

spirituelle Atmosphäre in den Gemeinden ein Grund dafür zu sein, ihre Kinder nicht von

den Kursen abzumelden:

„Nein, das sind sie nicht. Aber ich möchte nicht nur die Gemeinden dafür zu Verantwortung

ziehen für den schlechten Unterricht. Den meisten Eltern, die ihre Kinder dorthin

zum Islamunterricht senden, geht es gar nicht darum, dass ihre dort etwas lernen sollen.

Die Moschee ist einfach ein Ort, wo sie an den Wochenenden einfach ihre Kinder abgeben

können, um ihre Ruhe zu haben. Das überfordert das Personal in den Moscheegemeinden.

Wie sollen ein oder zwei Imame mit 80 Kindern fertig werden? Wie sollen die Imame

diese Kinder erfolgreich unterstützen? Deshalb haben wir für unsere Kinder einen Privatunterricht

organisiert. Natürlich ist es besser in die Moschee zu gehen, als gar kein

Unterricht zu bekommen. Die Kinder sollen die Atmosphäre der Moscheen erleben und

ihre Wurzeln kennenlernen, aber für eine gute Bildung der religiösen Grundlagen reicht

das leider nicht aus.“ (Mahmut Ö., S. 128 f.)

Wie die Gesamtauswertung der Expertenaussagen belegt, scheint die Kooperation der

meisten Eltern mit den muslimischen Gemeinden mangelhaft zu sein, wobei unterschiedliche

Gründe angegeben werden. Diese fehlende Zusammenarbeit verhindert auch einen

Erfahrungsaustausch hinsichtlich der Lernsituation der Kinder in den Moscheekatechesen.

Weder erhalten die Eltern Informationen vom religiösen Betreuungspersonal über die

Situation in den Moscheekatechesen noch erhalten die Gemeinden eine Rückmeldung der

muslimischen Familien über den Lernstand der eigenen Kinder. Trotz der Versuche der

Gemeinden, die Familien zu erreichen, bildet diese defizitiäre Kommunikationsgrundlage

ein zentrales Problem bei der Begleitung der Kinder und Jugendlichen in ihrem religiösen

Lernprozess:

„Ja, ich stehe oft in Kontakt mit muslimischen Familien und oft geht es dabei um die Frage

der religiösen Erziehung. Unsere Väter sind nach Deutschland gekommen, weil sie Geld

verdienen wollten, mehr aber auch nicht. Viele Eltern bringen ihre Kinder daher zu den


380 B Empirischer Teil

Moscheen, zum Unterricht, aber das war es auch. Sie melden ihre Kinder an und man

sieht sie nie wieder. Sie interessieren sich weder für die Inhalte im Unterricht noch um die

Lernfortschritte ihrer Kinder. Anstatt mal zu fragen: ‚Mein Kind, was hast du heute in

der Moschee gelernt?‘ und dem Kind auch zu Hause nochmals zu kontrollieren, passiert

nichts. Wenn die schon nicht ihrer Kinder kontrollieren, dann erwarte ich wenigstens, dass

sie hierhin kommen, um uns zu Rechenschaft zu ziehen beziehungsweise zu kontrollieren.

Die Eltern, beide Elternteile, Mütter und Väter, sind desinteressiert am Moscheeunterricht

und entsprechend wachsen die Kinder ohne diese Disziplin auf. Deshalb können wir nicht

viel Druck ausüben, sondern passen uns dem deutschen System an, indem wir den Kinder

sehr entgegenkommen.“ (Hayrettin G., S. 137 f.)

Ein Indiz für das mangelnde Interesse der Eltern an einer Kooperation sehen die Experten

in der Delegation der Aufgaben an die Gemeinden sowie in der unregelmäßigen Teilnahme

der Kinder und Jugendlichen an der Moscheekatechse. Die Verantwortung werde sozusagen

einfach abgetreten, sodass für den Erfolg und die regelmäßige Partizipation der Schüler/innen

die Gemeinden zuständig seien. Diese Diskrepanz im Verständnis einer partnerschaftlichen

Erziehung zwischen Gemeinde und Eltern zeigt sich nach empirischen Studien auch im

Schulsystem, wenn beispielsweise türkischstämmige Eltern eher die Auffassung vertreten,

dass die Schulen ausschließlich für den Lernerfolg zuständig sind. Diese Erwartungshaltung

ist umso stärker zu beobachten, je mehr sich die schulische Sozialisation der Eltern

im Herkunftsland und je weniger sie in Deutschland erfolgte. 772 Ähnliche Erfahrungen

werden nach Martina Blasberg-Kuhnke mit christlichen Familien hierzulande gemacht,

wenn im Hinblick auf die Zuständigkeit der Glaubensweitergabe primär die Kirchen

für diese Rolle als „bürokratische Organisation“ verantwortlich gemacht werden, weil

es unter anderem unter den momentanen gesellschaftlichen Bedingungen schwierig sei,

„religiöse Erziehung überhaupt als ureigene Aufgabe zu erkennen und anzuerkennen.“

Die Konsequenz der Übertragung dieser Aufgabe an die Institution ‚Kirche‘ sei, dass

„kommunikativ-emotionale und reproduktive Zusammenhänge“ – wie sie für familiäre

Kontexte typisch sind – in die „Systemumwelt abgedrängt“ würden. Parallel dazu würden

„religiös bedeutsame Erfahrungen“, wie Intimität und Zusammengehörigkeit, weitgehend

„privatisiert“ und somit „kaum mit dem von der Kirche verbürgten Glauben zusammengebracht.“

In Anlehnung an Franz-Xaver Kaufmann bemerkt Blasberg-Kuhnke kritisch,

dass die Glaubensweitergabe „als Glaubenstradierung eine bestimmte Beziehungsqualität

voraussetzt“, die in dieser Form nicht von Institutionen wie den Kirchen übernommen

werden könnte. Die Logik der Aufgabenübertragung widerspreche jedoch infolge der

Struktur der „Kirche als bürokratische Großorganisation mit spezifischen Funktionserfordernissen“

nicht nur der „interaktiven Ebene“, wie sie von Familien gewährleistet werde,

772 Vgl. Birgit Leyendecker, Bildungsziele von türkischen und deutschen Eltern – was wird unter

Bildung verstanden und wer ist für die Vermittlung von Bildung zuständig?, in: Ursula Neumann/Jens

Schneider (Hrsg.), Schule mit Migrationshintergrund, Münster 2011, S. 281 f.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 381

sondern bedrohe sie zugleich. 773 Daher zieht Blasberg-Kuhnke, wieder in Anlehnung an

Kaufmann die Schlussfolgerung:

„Im gleichen Zug, in dem die Identifikation der Familien mit Kirche nachlässt, zeigt sich ein

deutlicher Trend des Rückgangs kirchenbezogener Religiosität, so dass Kaufmann zufolge

Kirchenkrise und Glaubenskrise zumindest zusammen gesehen werden müssen, ohne dass

sie einfach dasselbe wären. Für die Ermöglichung religiöser Sozialisation und Erziehung in

der Familie liegt die entscheidende Herausforderung, gesellschaftstheoretisch betrachtet,

also darin, eine konzertierte Aktion zwischen Familien und Kirche zu schaffen. Aus der

Sicht der Familien muss Kirche zu einer Partnerin mit Gesicht statt zu einem anonymen

Gegenüber werden.“ 774

Für den Lernerfolg der eigenen Kinder ist jedoch diese Kooperation unabdingbar; allerdings

ist dieses Handlungsfeld auch an Schulen defizitär, sodass neue Strategien erforderlich

sind, um diese Kommunikationsstrukturen zu etablieren. Radmilla Blickenstorfer

zählt in diesem Kontext in Form eines Phasenmodells auf, wie man diese Kooperation

implementieren und optimieren könnte. Hierzu zählt sie die Phasen des gegenseitigen

Kennenlernens, der Kontinuität der Kontakte mit deren entsprechender Vertiefung, die

Unterstützung der Eltern bei der Lernförderung der eigenen Kinder sowie die Involvierung

und Integration der Eltern in das Schulleben. 775 Eine ähnliche Strategie müsste auch für

die Gemeinden entwickelt werden:

„Ich glaube, sie übertragen einfach die Verantwortung, sie schieben es einfach von sich

weg. Nur vierzig Prozent bekommen das mit der religiösen Erziehung hin, die 60 Prozent

schieben einfach ihre Kinder an die Moschee ab, einfach um das eigene Gewissen zu beruhigen:

‚Ja, ich gebe meinen Kindern eine religiöse Erziehung.‘ Auf der anderen Seite wird

das Kind in keiner Weiser weiter gefördert, also was macht das Kind dort, verhält es sich

dort gut, wie weit ist es oder macht es seinen Hausaufgaben? Andererseits kümmert man

sich um die Schule mehr drum, dass das Kind pünktlich zur Schule geht, dass es seine

Hausaufgaben macht, was zu trinken und zu essen dabei hat und etwas Geld, damit man

sich eine Kleinigkeit kaufen kann. Auf diese Sachen achten die Eltern größtenteils nicht

darauf, weil die sich denken: ‚Gut, ich habe mein Kind am Wochenende in die Moschee

abgeschoben und habe jetzt vier Stunden Ruhe.‘ Indem die Familien bis zur Moscheetüre

kommen, ihre Kinder dort lassen und wieder zurück nach Hause gehen. Damit haben sie

ihre Aufgabe erledigt. Was soll da der Imam tun, der ohnehin begrenzte Kapazitäten hat?

Zudem gibt eine Regelmäßigkeit in den Teilnehmerzahlen. Manchmal kommen 40 bis

50 Kinder zum Unterricht und an machen Wochenenden nur 15. Die Unregelmäßigkeit

773 Vgl. Martina Blasberg-Kuhnke, Die Familie als Ort religiöser Sozialisation und Erziehung im

Kontext der Moderne, in: Hans und Birgit Bertram/Dies., Religionspädagogisch-katechetischer

Kurs. Eltern und Kinder – Familie heute als Lernort des Glaubens (Würzburger Fernkurs,

Religionspädagogisch-katechetischer Kurs. Lehrbrief 17, Teil 1), Würzburg 2009, S. 96 f.

774 A. a. O., S. 97 f.

775 Vgl. Radmilla Blickenstorfer, Strategien der Zusammenarbeit, in: Sara Fürstenau/Mechthild

Gomolla (Hrsg.), Migration und schulischer Wandel: Elternbeteiligung, Wiesbaden 2009, S. 71

ff.


382 B Empirischer Teil

überfordert die Imame in ihrer Arbeit. Hinzu kommt, dass die meisten Imame auch nicht

über ein bestimmtes Lehrsystem beziehungsweise Lehrplan verfügen. In den Moscheen,

wo die Imame einen Lehrplan entwickeln und Helfs-Imame ihnen ehrenamtlich zur Seite

stehen, steigen auch die Kinderzahlen auf 70, 80 an. Dieser Wechsel in dieses System führt

aber auch dazu, dass man dann von den Eltern Monatsbeiträge erwartet. Wenn es eine

Regelmäßigkeit im Moscheeunterricht gibt, dann können sie die Eltern auch darauf verlassen,

dass man sein Kind von 10 bis 12 Uhr dort abgeben kann. Besser wäre es natürlich,

wenn man auch die Eltern in diese zwei Stunden in den Unterricht einbeziehen könnte.

Dass sie also nicht einfach nach Hause gehen, sondern mit ihrem Kind dort zwei Stunden

verbringen. Um die Familien zu erreichen, müssen wir eigentlich auch Bildungsangebote

für Familien einführen.“ (Salih D., S. 116 )

Ein entscheidender Hinweis für diese Mentalität der Verantwortungsübertragung an die

Gemeinden lieferten die schlechten Lernfortschritte der Kinder, weil der Lehrstoff aus

den Moscheen zu Hause nicht rekapituliert werde. Daher haben die Experten auch bei

strukturellen Veränderungen in den Kursen, wie der Einführung von Klassensystemen,

ohne die Kooperation mit dem Elternhaus nur wenig Hoffnung auf Fortschritt:

„Heute versucht man diesem Problem entgegenzutreten, indem man die Kinder eine

Gruppe mit 20 bis 25 Schülern aufteilt, aber ich sage das ganz entschieden, das reicht

nicht, das reicht keinesfalls, um einen guten Unterricht anzubieten. Dort kann man den

Kindern nur Grundzüge vermitteln, die zu Hause unbedingt mit den Eltern zusammen

wiederholt werden müssen.“ (Ikbal I., S. 174 f.)

Eine weitere Belastung für die Moscheegemeinden stelle die falsche Vorstellung der Eltern

in Bezug auf die Aufgabe der Kurse dar, weil ein Teil der Eltern diese als eine Art „religiösen

Hort“ an den Wochenenden betrachteten, damit – vor allem, wenn beide Elternteile

berufstätig sind – die Ehepartner mehr Zeit für sich haben. Daher stehe nicht die Bildungs-,

sondern die Betreuungsaufgabe der Gemeinden im Vordergrund, obwohl dies nicht dem

Selbstverständnis der Wochenendkurse entspricht:

„Ja, hinbringen: ‚Ich gehe jetzt shoppen‘, das ist auch manchmal der Hintergrund. So zwei

Stunden, drei Stunden die Kinder abgeben und dann: ‚Wann ist Schluss?‘ Dann geht man

shoppen. […] Ich hatte mal auch ganz am Anfang, als wir unsere Kindergruppe gegründet

haben, wir haben die jetzt so drei Jahre, da habe ich am Anfang so ein Elternabend

gemacht, um einfach mal die Eltern ranzuholen, um zu sagen: ‚So, das sind so unsere

Ziele.‘ Was wollen wir einfach bewirken, was sollen die Kinder bei uns, was wollen wir da

vermitteln? Und da hat man schon gemerkt: ‚Boah, Elternabend. Wie im Kindergarten

schon.‘ Also es ist schon was, was man in den Schulen schon feststellt, dass Elternabende

nicht wahrgenommen werden. […] Das ist so Zwiegestalten. Einige Eltern haben so die

Einstellung, dieses Denken: ‚Ich stehe hilflos da, die machen das schon.‘, und gehen auch

weg und fragen nicht nach: ‚Was habt ihr gemacht?‘ oder ‚Was für ein Thema habt ihr da

gerade durchgenommen?‘ oder auch ‚Wie kann ich das zu Hause nochmal das vertiefen?‘

Dann gibt es auch Eltern, die dabei bleiben, dass sind aber nur sehr wenige, die uns auch


2 Ergebnisse der empirischen Studie 383

aktiv unterstützen in der Gruppe, weil wir besonders auch kleine Kinder haben und die

dann auch sagen: ‚Man, das war ja eine tolle Geschichte, ein tolles Projekt. Dann kann

ich mir ja zu Hause nochmal das und das bestellen.‘ Wo man aber merkt, die haben doch

ein höheres Bildungsniveau, die dann nochmal sagen: ‚Da arbeite ich zu Hause nochmal

dran und vertieft das nochmal.‘“ (Anna S., S. 211 f.)

Aufgrund dieser Probleme versuchen die Moscheegemeinden, Gelegenheiten zu schaffen,

um Kommunikationsplattformen, wie Elternfrühstück, Elternabende oder Elternsprechtage,

zu implementieren. Allerdings sei die Resonanz sehr niedrig, was wiederum das Bild der

desinteressierten Eltern in den Gemeinden verfestige:

„Es gibt auch Eltern, die ihre Kinder im Moscheeunterricht begleiten, indem sie Interesse

zeigen. Aber dann auch Eltern, die einfach ihr Kind nur abgeben. Wir organisieren hier

Elternabende, es kommen aber nur maximal 30 Prozent der Eltern, der Rest ist nicht da.

Kommt nicht. […] Dieses Desinteresse ist das größte Problem. Man erkennt ja schon am

Verhalten und am Lernerfolg und in den Gesprächen mit den Kindern, ob ihre Eltern

sich um die religiöse Erziehung kümmern oder nicht.“ (Halim H., S. 188)

Die bisher skizzierten Analysen verdeutlichen also eine eindeutige Problemkumulation,

wobei die defizitäre Kooperation mit den Familien eine zusätzliche Belastung für die Arbeit

der Moscheen ist. Unter diesen Umständen trage vor allem der Imam die Hauptlast für

die religiöse Bildung der Kinder und werde dann von den Eltern auch für die Misserfolge

im Lernprozess verantwortlich gemacht:

„Ich würd mal sagen, da fehlt das Ritual sag ich mal was bei uns zum Beispiel bei uns zu

Hause abends gemacht worden ist. Das man zum Beispiel über gewisse Themen spricht

oder sūren auswendig vorsagt, dass man das immer wieder wiederholt. Bei den nicht

praktizierenden Familien, sag ich mal, das ist dann meisten so, dass ich das natürlich in

den Gemeinden sehen kann, bringen ihre Kinder in die Gemeinde, lassen ihre Kinder dort

raus. Die Kinder lernen nur das was sie in der Gemeinde vom Imam lernen, gehen nach

Hause, sie werden natürlich nicht mit dem Lernstoff, was sie in der Gemeinde gelernt haben,

halt zu Hause begleitet. Die Eltern erwarten dann mehr Wissen, dass die Kinder Wissen

in der Moschee lernen, angeeignet bekommen, als zu Hause mit den Eltern begleitet wird.

Das passiert natürlich zumal die Eltern heutzutage auch immer jünger werden und man

sieht natürlich auch die Tendenz, dass die jüngeren Eltern weniger praktizierend sind oder

weniger, sag ich mal, pädagogisch nicht in der Lage sind ihren Kindern in der heutigen

Gesellschaft gewisse religiöse Werte beizubringen und den überhaupt so klarzumachen

mit den religiösen Werten auch weiterzuleben. Wie gesagt sie bringen dann ihre Kinder

in die Gemeinde, holen sie dann ab dann war es das auch. Man versucht dann immer

mehr von dem Imam, dass der Imam alles hundertprozentig den Kindern beibringt und

dass dann das Kind die Religion kennt und vielleicht praktiziert oder nicht, wird das dem

Kind überlassen, aber das das Kind wenigstens die 10 bis 12 sūren lernt. Vielleicht das

Alphabet, den Koran, Alif-Ba lernt, lesen lernt. Dass das Kind vielleicht nach einem Jahr

den Fortschritt den Koran zu lesen hinbekommt oder es gibt auch Kinder die vielleicht seit


384 B Empirischer Teil

vier, fünf Jahren immer noch die Alif-Ba lernen, immer noch nicht wirklich den Koran

lesen können. Diese Eltern, also die Eltern dieser Kinder, suchen dann meistens immer

Fehler bei dem Imam. Sie sagen dann ‚Der Imam ist nicht in der Lage für mein Kind was

beizubringen. Mein Kind ist seit vier, fünf Jahren immer noch im Alif-Ba, er lernt immer

noch und er kann immer noch nicht Koran lesen.‘“ (Esma B., S. 423 f.)

Die Moscheegemeinden haben also Schwierigkeiten, die Eltern in das Moscheeleben

zu integrieren, weil die Eltern ohnehin aufgrund der Berufstätigkeit, der Tatsache der

Ganztagsschulen usw. weniger Zeit mit ihren Kindern verbringen. Die Moscheen versuchen,

Beteiligungsformen zu organisieren, anscheinend aber erfolglos. Mit einer engeren

Kooperation könnten die Eltern jedoch ihren Kindern bestätigen, dass dieser Lernort

wertzuschätzen ist. Darüber hinaus könnte auch das Vertrauensverhältnis zwischen Imam,

Eltern und Schüler wachsen und sich positiv in den Moscheekatechesen widerspiegeln.

Gegenwärtig scheint aber in den Gemeinden eher eine Ratlosigkeit über die Passivität der

Eltern zu herrschen:

„Nur ein ganz kleiner Teil, ich würde sagen fünf Prozent, begleiten die religiöse Erziehung

ihrer Kinder seit der Geburt. Diese Familien wissen auch, welches das erste Wort des

Kindes Allāh sein muss usw. Die Mehrheit dagegen wartet bis das Kind sieben Jahre alt

ist, mit der Schule beginnt und erst dann in die Moschee, zum Unterricht dort, anmeldet.

Das Kind wird dem Imam anvertraut und er soll das Kind dann an den Wochenenden

erziehen. Beide Elternteile haben diese Vorstellung von religiöser Erziehung. Aber unser

Verband weiß, dass wir nicht mehr als 15 Prozent der muslimischen Kinder mit unseren

Moscheeunterricht erreichen. Mehr als 75, 80 Prozent dagegen kommen nicht in die

Moschee und erhalten auch nicht in anderen Institutionen eine religiöse Erziehung. Wir

erreichen also nur eine Minderheit, an die anderen Kinder kommen wir nicht ran. Die

anderen Kinder, die von den Eltern in die Moscheen geschickt werden, deren religiöse

Erziehung soll der Imam übernehmen. Das ist die Erwartung der Eltern. Aber diese

Erwartungshaltung widerspricht dem Koran und den ḥadīṭen, weil an erster Stelle die

Eltern verantwortlich sind, für die religiöse Erziehung ihres Kindes. Wenn die Eltern dann

wenigstens die religiöse Erziehung in den Moschee aktiv unterstützen würden, weil das

machen die auch nicht. Sie bringen ihr Kind morgens in die Moschee und nachmittags

werden sie abgeholt. Zu Hause werden die Kinder dann überhaupt nicht gefragt, auf

welcher Seite im Koran sie sind oder welches Gebet beziehungsweise Sūra sie auswendig

zu lernen haben usw. Die Eltern interessieren sich gar nicht darum, was die Kinder in

der Moschee lernen. Das Kind liegt sein Buch aus der Moschee in sein Regal und dort

liegt es bis zum nächsten Wochenende, bis zum nächsten Moscheebesuch, falls man das

Buch dann wiederum nicht zu Hause vergisst. Denn das kommt auch oft vor. Ich gebe

mal ein Beispiel. Wir haben vor einiger Zeit ein Projekt mit dem Namen ‚Los Kinder auf

zum Gottesdienst‘ gestartet, um die Kinder stärker in die Moscheen einzubinden. Wir

haben eine Liste mit Namen aufgestellt und die Häufigkeit der Gottesdienstbesuche der

Kinder notiert. Während wir zum Beispiel zum Frühgebet normalerweise maximal sechs

Gottesdienstbesucher hatten, sind die Zahlen durch die Kinder auf 40 gestiegen, weil die

Kinder den ausgeschriebenen Preis für das Projekt gewinnen wollten. Manche der etwa 35


2 Ergebnisse der empirischen Studie 385

Kinder sind sogar über ein bis zwei Monate lang zu den Frühgebeten gekommen und dass

im Sommer, wo das Gebet in sehr frühen Stunden verrichtet wird. Die Eltern, die Väter

brachten ihre Kinder zwar, aber beteten nicht mit, sondern warteten im Auto. Das Gebet

ist doch eigentlich für die Erwachsenen eine Farḍ und nicht für die Kinder. Da fragt man

sich, wie sollen solche Eltern ihre Kinder religiöse erziehen, wenn sie selbst keine Vorbilder

sind? Wenn die Eltern selbst zu Hause nicht beten, den Islam nicht praktizieren, was soll

da denn der Imam großartig leisten können? Wir haben Kinder in den Gemeinden, die

zwar seit sechs Jahren angemeldet sind, aber vielleicht nur ein Mal im Monat erscheinen.

Dann kommen die mal wieder, dann erscheinen sie wieder über Wochen hinweg nicht in

den Gemeinden. Was soll der Imam tun, wenn die Eltern das nicht mitverfolgen? Dann

kommen die Eltern zu uns und sagen: ‚Mein Kind kommt seit sechs Jahren in die Moschee

und kann nicht mal die mu’aḏḏinlik.‘ Ja natürlich nicht, wenn dein Kind nur unregelmäßig

kommt und du nicht dahinter stehst, kein Wunder. Ich habe meine Kinder immer begleitet.

Bis zum dritten Lebensjahr in der sprachlichen Entwicklungen, wo ich nur Türkisch mit

denen gesprochen habe, damit sie ihre Muttersprache erlernen. Als meine Kinder dann

mit den Moscheeunterricht begannen, habe ich alle ehrenamtlichen Arbeiten reduziert,

um meine Kinder zu begleiten und zu Hause mit zu fördern. Daher sind meine Kinder

sowohl in der Schule als auch in der Moschee sehr erfolgreich gewesen.“ (Yalcin K., S. 96 f.)

2.5 Islamunterricht:

Erwartungen und Perspektiven an ein neues Fach

„Ich zähle als Vorstandsmitglied, aber auch als Elternteil, zu den Pionieren in Niedersachsen,

die sich für die Einführung des islamischen Religionsunterrichts eingesetzt

haben. Ich habe mich deshalb so stark dafür eingesetzt, weil ich glaube, dass wir vielleicht

diejenigen Kinder und Jugendliche über die Schulen erreichen können, wie wir mit

unseren Gemeinden nicht erreichen können. Alle Eltern, die sich als Muslime verstehen,

werden ihre Kinder zum islamischen Religionsunterricht anmelden. Ich schätze, dass

mindestens 80 Prozent der Eltern ihre Kinder zum Religionsunterricht anmelden werden.

Das sind viele Eltern dabei, die zwar nichts mehr mit Moscheen zu tun haben, aber sich

noch als Türken oder als Muslime verstehen. Die werden auf jeden Fall ihre Kinder zum

islamischen Religionsunterricht anmelden. Diese Kinder werden mindestens in diesem

Unterricht lernen, wer ihr Gott und Prophet ist, was eine Moschee ist, wie man betet

und was der Islam ist. Diese Kinder von den Eltern, die mit den Moscheen nichts zu tun

haben, werden im Unterricht über ihre Religion lernen und dann ihre Eltern zu Hause

zur Rechenschaft ziehen: ‚Papa, wo ist unsere Moschee? Wir sind doch Muslime, wieso

fastet ihr nicht?‘ Deshalb bin ich sehr für den islamischen Religionsunterricht. Es wird für

uns wie eine Revolution sein, weil viele durch diesen Unterricht wieder zu ihren Wurzeln

zurückkehren werden. Sie werden vor allem durch ihre Kinder dazu angeregt werden, sich

wieder ihrer Religion zu widmen. Ich glaube das deshalb, weil ich auch viele Fälle kenne,

wenn Deutsche Muslime fragen: ‚Warum fastest du? Warum isst du kein Schweinefleisch?

Warum betet ihr Muslime?‘, dass dann die Muslime, weil sie keine Antworten parat haben,


386 B Empirischer Teil

anfangen, den Koran zu lesen. Genauso wird es mit dem islamischen Religionsunterricht

sein, wenn dann muslimische Kinder ihr Wissen nach Hause bringen und ihren wenig

vom Islam wissenden Eltern mit Fragen konfrontieren werden. Das erhoffe ich mir vom

erhabenen Gott.“ (Salih D., S. 120 f.)

„Natürlich, in die Moschee kommt nicht jedes Kind, aber in die Schule müssen alle gehen.

Weil es eine staatliche Schulpflicht gibt, müssen alle dorthin, aber es gibt keine Pflicht in

die Moschee zu gehen. Das ist es erfolgreich wird, denn in die Moschee kommen die Kinder

nicht, wenn man sie ruft, aber in die Schulen müssen die hingehen. […] Ja, vielleicht

werden die Schüler ja den Unterricht an den Schulen für unvollständig sehen und dann

das Bedürfnis entwickeln, die den Moscheeunterricht zu kommen. Vor allem wenn es um

die Rituale und Praxis geht.“ (Murtaza M., S. 158)

Zu den Moscheegemeinden, die bisher als außerfamiliäre Lernorte eine exklusive Rolle für

den Islam spielten, tritt nun eine weitere Institution hinzu, welche sich mit ihren Lehrplänen

an dieselbe Zielgruppe als Lernende richten: die Schulen. Die beiden muslimischen

Landesverbände DITIB und Schura trugen maßgeblich zur Entwicklung des islamischen

Religionsunterricht in Niedersachsen bei. Diese Repräsentanten sind also zum einen in die

oben skizzierten, sehr komplexen Beziehungsgeflechte zwischen Landesverband, Moscheevorstand,

muslimischen Familien und Gemeindemitgliedern involviert, auf der anderen

Seite bewegen sie sich in einem völlig neuen Handlungsfeld, in dem sie mit den Ministerien,

den Hochschulen und der Politik gemeinsam an der Etablierung des islamischen Religionsunterrichts

arbeiten. Das heißt also, dass diese Repräsentanten der Landesverbände nicht

nur ihre verfassungsrechtlichen Aufgaben nach Art. 7 (3) GG erfüllen, sondern zugleich

eine Brückenfunktion zwischen den Gemeindemitgliedern der über 150 Moscheen, den

Vorständen und den Schulen, den Universitäten sowie den entsprechenden staatlichen

und politischen Institutionen einnehmen. Die Schwierigkeit für diese Repräsentanten

liegt nun darin, dass sie nicht genügend akademisch ausgebildetes religionspädagogisches

Personal zur Verfügung haben sowie über keine Tradition im Kontext eines schulischen

Religionsunterrichts in Deutschland aufweisen.

Der christliche Religionsunterricht wurde in Deutschland historisch mit der Einführung

der Schulpflicht schrittweise eingeführt und hat im Laufe der historisch-politischen

Entwicklungen und in einem kritisch-konstruktiven Diskurs – in Korrespondenz zu den

Erkenntnissen und Entwicklungen der Bezugswissenschaften wie Sozialwissenschaft und

Theologie – mehrere Paradigmenwechsel erlebt. Diese wissenschaftlichen Diskurse sind

noch heute sehr lebendig. Dafür gibt es aber auch eine ausreichend große wissenschaftliche

Gemeinschaft, die sie im interdisziplinären Dialog führt. Die Kirchen bleiben in diesen

religionspädagogischen Diskursen nicht einfach außen vor, sondern sind personell und

strukturell involviert. Eine große Kluft besteht dagegen zu den Moscheegemeinden. Die

Muslime arbeiten mit ihren Vereinsstrukturen und ehrenamtlichem und semi-professionellem

Personal am Prozess der Etablierung eines islamischen Religionsunterrichts,

ohne annähernd über die gleichen Voraussetzungen wie die Kirchen zu verfügen. Zwar

wurden für die Grundschulen in Niedersachsen Lehrpläne entwickelt und auch auf die

weiterführenden Schulen ausgeweitet, aber die folgenden Analysen in diesem Kapitel


2 Ergebnisse der empirischen Studie 387

belegen, dass eine wissenschaftliche Reflexion über die Inhalte und Ziele des Religionsunterrichts

noch weitgehend fehlt, obwohl die Gemeinden sich mitten im Prozess einer

flächendeckenden Einführung befinden. Ein komplexer Kausalmechanismus führt dazu,

dass sich unter den genannten Rahmenbedingungen in den muslimischen Gemeinden

eine bestimmte Erwartungshaltung an den islamischen Religionsunterricht entwickelt.

Diese wird – obwohl die Schulversuche in Niedersachsen auf eine über zehnjährige Erprobungs-

und Expansionsphase zurückblicken – erst zunehmend in den Gemeinden artikuliert

und parallel zur Lehrerausbildung für den islamischen Religionsunterricht künftig

auch öffentlich thematisiert werden. Diese konfliktbeladene Entwicklung hat zahlreiche

Ursachen, wobei ein Missstand darin zu suchen ist, dass gemeindeinterne Diskussionen

bereits vor der Initiierung von Arbeitsgruppen für den islamischen Religionsunterricht,

jedoch spätestens während seiner Etablierung mit muslimischen Religionspädagogen

hätten geführt werden müssen. In diesem Kapitel wird daher aufgezeigt, welche sozialen

Mechanismen zu dieser Erwartungshaltung an die Inhalte und Ziele eines islamischen

Religionsunterrichts führen. Diese Rekonstruktion soll dabei helfen, die Ursachen für die

Erwartungshaltungen der muslimischen Gemeinden zu verstehen und um zukünftige

Konflikte antizipativ aufzugreifen.

2.5.1 Kommunikation zwischen Landesverband, lokalen Gemeinden

und muslimischen Eltern über die Einführung des islamischen

Religionsunterrichts

Die analysierten internen Verständigungsmechanismen sind ausschlaggebend dafür,

inwieweit die Einführung und Ausweitung des islamischen Religionsunterrichts einem

breiteren Kreis an Gemeindemitgliedern kommuniziert wurde. Zugleich ist diese kommunikative

Grundlage ein wichtiger Faktor dafür, die eigenen Mitglieder über die Inhalte und

Ziele eines islamischen Religionsunterrichts – in Abgrenzung zu den Moscheekatechesen

– zu informieren. In Niedersachsen hätte dieser Prozess des Austauschs zu Beginn der

2000er-Jahre beginnen müssen, als sich muslimische Multiplikatoren in Arbeitsgruppen

trafen, um sich über die strukturellen Voraussetzungen eines zukünftigen Religionsunterrichts

auszutauschen:

„Ich bin seit Ende der 2000er-Jahre in der Schura, besser gesagt seitdem ich in der AG

Religionsunterricht in Niedersachsen bin, aktiv. Das war auf Drängen beziehungsweise auf

Anraten von anderen Mitgliedern der Fall. Eigentlich bin ich seit 1984 bei der Nur-Cemaat

aktiv. Seitdem ich in der Gemeinde Unterricht erhalte habe, habe ich auch sehr eng in der

Dialogarbeit gewirkt, so dass mich in Hannover und Umgebung viele kannten. Daher hat

man mich zu dieser AG ‚Islamische Religion in Niedersachsen, Mitte 2000 so, sind zu mir

einige muslimische Vertreter zu mir gekommen und mir den Wunsch herangetragen, an

dieser AG teilzunehmen. Danach haben mich vor allem türkisch-sunnitische Mitglieder

aufgesucht aus Hannover aufgesucht und mich um meine Teilnahme gebeten. An dieser

AG sollten unterschiedliche Konfessionen und Ethnien teilnehmen. Ich wollte das ganzen

erstmal aus einer Distanz verfolgen, um die Entwicklung zu sehen. Das Treffen der Muslime


388 B Empirischer Teil

bestand aus unterschiedlichen Arbeitsgruppen und ich nahm an der AG Dialog teil. Bei

diesem Treffen wurde der Wunsch der Muslime erhärtet, einen islamischen Religionsunterricht

in Niedersachsen einzuführen. […] Diese AGs wurden innerhalb der Muslime in

Niedersachsen organisiert. Zu der Zeit hatte ich mich im Ministerium darüber erkundet,

unter welchen Bedingungen man einen islamischen Religionsunterricht einführen können.

Die hatten mir gesagt, dass wir Muslime uns unter einem Dach versammeln sollen

und dann wir Chancen hätten. Zunächst hatten eine Gruppe Muslime, darunter auch

arabische und türkische Lehrer, die sich wohl die Hoffnung machten, mit der Einführung

des islamischen Religionsunterrichts auch für sich selbst Berufsmöglichkeiten zu schaffen,

mit einem rasanten Tempo an die Sache gemacht, bis sie gemerkt haben, dass es nicht so

einfach ist. Zunächst musste man die strukturellen Voraussetzungen wie einen gemeinsamen

Dachverband gründen. Daher haben wir uns mit den Vertretern der unterschiedlichen

Moscheegemeinden darüber beraten, wie wir so ein Dachverband gründen könnten.

Wir haben zunächst ausgerechnet, wie viele muslimische Kinder in Niedersachsen an

Wochenenden einen Koranunterricht in Moscheen besuchen.“ (Hamit A., S. 60 f.)

Die Grundlage für eine dialogische Entwicklung mit den Gemeindemitgliedern war also

eigentlich zu Beginn der 2000er-Jahre vorhanden; allerdings zeigen die weiteren Analysen,

dass diese Kommunikation nur beschränkt stattgefunden hat. Ebenso ist feststellbar, dass

sich nicht nur Gemeindemitglieder, sondern auch Vorstände und Landesverbandsvertreter

nicht ausreichend über die Inhalte, Aufgaben und Ziele eines islamischen Religionsunterrichts

informiert haben. Bereits zu Beginn gab es Anzeichen dafür, dass die Mitglieder

keine realistischen Vorstellungen für die Ausrichtung des schulischen Religionsunterrichts

für den Islam hatten:

„Eine der ersten Fragen war, ob man im Unterricht aus dem Koran auswendig lernen

wird. So eine klassische Frage, also ob die Schüler von der sūra Alam tara kayfa bis nach

unten die kurzen Sūra auswendig lernen wird. Warum? Weil man diese Sūren für die

täglichen Pflichtgebete benötigt. Eine weitere klassische Frage war, ob man im Unterricht

auch lernen wird, den Koran auf Arabisch zu rezitieren. […] Wir haben als Landesverband

in einigen Gemeinden solche Veranstaltungen organisiert, um die Eltern zu informieren.

Das Problem ist doch, dass wir die Eltern überzeugen müssen, dass sie ihr Kind zum Religionsunterricht

anmelden. Dann muss man auf die Fragen der Eltern eingehen, um sie

zu überzeugen, ansonsten kommt doch niemand. Dann sagt der deutscher Staat: ‚Sieht

ihr? Wir haben es doch angeboten, doch ihr wolltet nicht.‘ Da wir von diesem Unterricht

überzeugt sind, haben wir mit dieser Informationskampagne zuerst mit den Imamen begonnen,

weil die die Religionslehrer als Konkurrenten gesehen haben. Die Sorge der Imame

war, dass sie ihre Schüler aus der Moschee an den schulischen Unterricht verlieren werden.

Deshalb mussten wir die Imame erstmal aufklären, ebenso die Moscheevorstände. […]

Das hat auch die Schura gemacht. Wir als DITIB ohnehin, weil wir sehr an der Frage der

religiösen Erziehung interessiert sind. Ich habe doch auch vorhin völlig offen Selbstkritik

ausgeübt, dass wir in den Moscheen kein Curriculum haben. Daher setzten wir uns sehr

für die Erziehung ein und nehmen an allen Sitzungen der Mitgliederversammlungen,

Vorstandssitzungen oder an den Sitzungen der Frauengruppen teil, um zu informieren.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 389

Wir haben auch die Imame darum gebeten, diese Informationen über den Religionsunterricht

weiterzuleiten an die Eltern. Deshalb ist auch der Religionsunterricht sehr gut

besucht. […] Wir erreichen zunächst nur die engen Mitglieder mit dem Religionsunterricht,

aber wir erreichen auch diejenigen, die überhaupt nicht in die Moschee kommen. Denn

von der Schulleitung wird man vor die Alternative gestellt: Entweder Islamunterricht

oder evangelischer, katholischer Unterricht? Sie werden von der Schule daran erinnert,

dass sie Muslime sind, weil sie vor die Wahl gestellt werden. In diesem Moment macht es

‚Klick‘ bei vielen und sie werden an ihr Muslimsein erinnert. Daher entscheiden sie sich

zwar für den islamischen Religionsunterricht, aber um Vertrauen zu gewinnen, suchen

sie dennoch die Moscheegemeinden auf, um deren Einschätzung einzuholen. Sie suchen

entweder den Imam auf oder den Religionsattachée oder irgendein Elternteil aus der

Moschee, um Informationen zum islamischen Religionsunterricht einzuholen. Dann

bekommen sie die Empfehlung aus der Moschee: ‚Du kannst dein Kind ruhig zum islamischen

Religionsunterricht anmelden, aber schicke dein Kind auch zur Moschee.‘ Das

sehen die Eltern dann auch ein und senden ihre Kinder auch in den Moscheeunterricht.

Daher bin ich überzeugt, dass durch die Einführung des islamischen Religionsunterrichts

auch die Zahlen der Kinder im Moscheeunterricht steigen werden.“ (Yalcin K., S. 107)

Allerdings liegt das Problem nicht nur darin, dass man allgemein über die gegenwärtigen

Entwicklungen nicht ausreichend informiert, sondern auch über den Charakter des Religionsunterrichts

– im Unterschied zur Moscheekatechese – zu wenig aufklärt.

„Nein, ich stelle immer wieder fest, in der muslimischen Community, nein, in der bosniakischen

Community, dass sie überhaupt oder sehr sehr selten Informationen über die

Entwicklungen des Islam im gesellschaftlichen Bereich haben. Also sie wissen nicht einmal

über die Entwicklungen im Bereich der islamischen Theologie an den Universitäten

bescheid. Sehr wenige, und sehr wenige wissen, dass ein ordentliches Fach ‚Islamischer

Religionsunterricht‘ gibt. […] Nein, haben die auch nicht, weil sie nicht selten auf die

Instruktionen von oben warten und selbst wenn sich die Schule in der unmittelbaren

Nachbarschaft zur Moschee befindet, selbst wenn man eigene Kinder hat, die von der

Schule berichten: ‚Es soll so ein Unterricht eingeführt werden.‘, das nimmt man zwar

wahr, beschäftigt sich damit nicht mehr oder nicht weiter. Dass man das weiter in der

Moscheegemeinde kommuniziert, dass man da irgendwie Stellung bezieht oder konkrete

Maßnahmen unternimmt, was man da und ob man da eventuell eine Zusammenarbeit

mit der Schule anvisieren könnte oder so.“ (Esref B., S. 41)

Diese fehlende Kommunikation führe dazu, dass sich die muslimischen Eltern kein realistisches

Bild vom Religionsunterricht machen können. Die Expertin Amina F., die zugleich

als Religionslehrerin tätig ist, berichtet daher von enttäuschten Eltern, weil die Inhalte der

Moscheekatechese im schulischen Islamunterricht nicht behandelt würden:

„Nein. Also die meisten Eltern nicht. Also es gibt muslimische Eltern, die engagiert sind,

die wissen genau, was aber hier passiert, aber es gibt auch viele Eltern, die wissen gar

nichts. Also, es gibt auch viele Muslime, die bis jetzt gar nicht wissen, was im islamischen


390 B Empirischer Teil

Religionsunterricht passiert. Die, also viele gehen davon aus oder sind ganz enttäuscht, dass

zum Beispiel hier in der Grundschule nur vier sūren lernen und finden das dann viel zu

wenig und halten das auch für’n bisschen ‚haya-popaya-Islam‘, wenn man dann nur, klar

wir haben nur zwei Stunden die Woche, aber wenn man über einfach Freundschaft und

solche Sachen spricht, also die finden das ist jetzt nicht so wichtig. Und ich glaube, was ich

vorhin auch schon gesagt habe, dass dieser Formalismus wird halt sehr hochgehalten und

das, was dahinter steht, da wird die Bedeutung wird gar nicht wahrgenommen, bei vielen

Eltern. […] Doch. Also das weiß ich, das ist ne gute Frage. Das weiß ich nämlich gar nicht

so genau, weil die Schura zum Beispiel hat das jahrelang gemacht, wir haben immer das

kommuniziert mit den Verbänden aber die Verbände oder die Moscheegemeinden müssen

das ja immer den Eltern weitergeben. Und zum Beispiel für dieses Jahr, der Islamunterricht

hat ja jetzt gestartet im August, hatten wir angeboten, dass wir in Niedersachsen

Veranstaltungen durchführen zum Islamunterricht für die Moscheegemeinden, wenn sie

Interesse haben zu erfahren, ‚Was passiert da eigentlich?‘. Da gabs eine Moscheegemeinde

in Wolfsburg, die hat Interesse bekundet, aber ansonsten keine, aber wenn man Privat

mit Muslimen zusammentrifft, dann merkt man schon, dass die Vorstellungen sehr

‚strange‘ sind. Also sie machen das halt ab von dem Islam-Lehrer, den sie da haben, das

prägt enorm das Bild, das auch verständlich ist, und nicht von dem Inhalt, den wir im

Kerncurriculum haben. Die Eltern erwarten halt dieses Bild von, das ist ein Moslem, der

praktiziert. Also, der betet und der fastet und der die ganzen Sachen, wie Pilgerfahrt und

so weiter, kennt und der arabisch spricht und die sūren in Arabisch kann und manche

Eltern erwarten dann auch das dazugehörige ethische Verhalten, aber irgendwie nicht.

Ich glaube, dass beim islamischen Religionsunterricht die, also die Ausbildung noch auf

jeden Fall wesentlich besser werden muss, weil wir ja jetzt im Moment, glaube ich, sehr

viele Menschen haben, die das studieren oder machen, weil sie das aufgrund ihrer Position

oder ihrer Situation heraus tun, aber gar nicht verstehen, dass das auch mit sehr viel

Wissen verbunden sein muss, zu lehren. Und ich glaube generell, dass viele das Gefühl

haben, wenn jemand Theologe ist, dann wird das auch ein guter Unterricht und das ist

eben nicht so, weil ich glaube, dass man die Pädagogik nicht unterschätzen darf. Weil

wenn ich nicht weiß, wie ich eine Sache unterrichte oder an den Mann bringe oder wie

ich über ein Thema rede, dann kann ich darüber reden, aber es kommt gar nichts an. Und

wir haben ja jetzt, es geht ja jetzt nicht mehr darum, dass wir über den Input reden, was

wir da nun vermitteln wollen, sondern sagen, was ist eigentlich das Ergebnis, das dabei

rauskommt. Und dazu muss ich schon wissen, wie ich das mache und ich glaube, dass

wir da noch bisschen an der Akzeptanz arbeiten müssen.“ (Amina F., S. 501 f.)

Wie im nächsten Kapitel noch konkretisiert wird, sind diese hohen Erwartungen an den

islamischen Religionsunterricht von den lokalen Gemeinden bis hin zur Landesebene

erkennbar. Einige Experten registrieren diese Entwicklungen und befürchten durch die

Projektion katechetischer Inhalte an den Unterricht, dass die Eltern die Moscheen für

obsolet erklären könnten:

„Nein, die meisten haben falsche bis zu zu hohe Erwartungen. Viele glauben, dass man

auch im Religionsunterricht Koransūren auswendig lernen wird, dass man dort lernt


2 Ergebnisse der empirischen Studie 391

wie man betet und sich rituell wäscht usw. […] Wie im Katechese-Buch, sozusagen die

Schule als Großhändler, weil man sich denkt, mein Kind wird dort alles zum Islam lernen

und braucht nicht mehr in die Moschee zu gehen. Das ist aber falsch, denn auch bei den

Christen, bei den Katholiken und Protestanten, gibt es neben dem Religionsunterricht

z. B. auch den Konfirmandenunterricht.“ (Hamit A., S. 81)

Doch nicht nur bei den muslimischen Eltern mit Gemeindebindung, sondern auch unter

den befragten Experten wurden zum Teil sehr hohe Erwartungen an den islamischen

Religionsunterricht formuliert:

„Der islamische Religionsunterricht ist eine Revolution. Ich setzte viel Hoffnung in den

Religionsunterricht. Wir werden gut ausgebildete Lehrer haben, die mit guten Lehrplänen,

die von Wissenschaftlern entwickelt worden sind, arbeiten.“ (Hakki K., S. 145)

Die aktive Begleitung der Entwicklung des islamischen Religionsunterrichts vonseiten der

Moscheegemeinden und der muslimischen Eltern setzt untereinander einen Informationsaustausch

bezüglich der Inhalte und Ziele des schulischen Unterrichts voraus. Verschiedene

Studien zeigen, dass die Resonanz seitens der muslimischen Eltern eigentlich große ausfällt.

Bereits die Schulversuche zur Einführung eines ordentlichen Unterrichtsfachs stießen

auf einen hohen Zuspruch, was eindeutig das Interesse am neuen Fach dokumentiert. 776

Allerdings wird nicht deutlich, wie weit die Kenntnisse der Eltern bezüglich der Aufgaben

und Zielsetzungen des Islamunterrichts reichen.

„Ich denke, dass die Eltern überhaupt nicht mit involviert waren in dem ganzen Prozess.

Jetzt gibt‘s einfach ein Ergebnis, es soll den Religionsunterricht geben und die Eltern, die

haben erstmal nichts dagegen, weil sie sagen, die verlassen sich dann vielleicht auch auf

die Landesverbände, ‚Wenn die das gut finden, dann finden wir das auch gut, dann kann‘s

ja eigentlich nicht falsch sein‘. Und es gab jetzt kein Bestreben, die Eltern auch nochmal

aufzuklären. Also ich hab jetzt nicht gehört, dass es ein Seminar gab oder irgendwie so‘n

Elterninformationsabend.“ (Esra C., S. 475)

Die Informationsvermittlungen in den etwa 160 Gemeinden Niedersachsens sind in diesem

Zusammenhang sehr unterschiedlich ausgeprägt. Meist versuchen die Gemeinden über die

Ehemänner in den Moscheen über die Einführung des islamischen Religionsunterrichts

zu informieren, allerdings scheint dieser Kommunikationsweg nicht ausreichend zu sein:

„Ja, also im türkischen Unterricht gab es auch Religionslehrer in türkischer Sprache,

damit hat man neben der Religion auch die türkische Sprache erlernt. Es gab auch viele

Eltern die dagegen protestierten, das ist aber ein anderes Thema. Diese Streitigkeiten

sind auch ein Grund dafür, dass der türkisch-muttersprachliche Unterricht kein Erfolg

mehr hatte, weil viele sich abmeldeten. Es gab Lehrer, wenn sie konservativ waren, den

776 Vgl. Michael Kiefer, Islamkunde in deutscher Sprache in Nordrhein-Westfalen. Kontext, Geschichte,

Verlauf und Akzeptanz eines Schulversuchs, Münster 2005, S. 171 ff.


392 B Empirischer Teil

Religionsunterricht anboten. Dieser Unterricht war in der Regel gut besucht. Andere,

religionsferne Lehrer dagegen, die nur die Religionsvermittlung als reinen Beruf sahen,

hatten geringere Teilnehmer. Zum einen wegen demografischer Entwicklungen, zum anderen

aber wegen diesen Problemen hatte der türkische Unterricht kein Erfolg. Wenn sie

mich fragen, dann müssen wir den türkischen und den islamischen Religionsunterricht

gemeinsam einführen. Ich möchte, dass die türkischen Kindern ihre Muttersprache im

Türkischunterricht lernen und ihre Religion im Religionsunterricht. Die türkische Sprache

ist für mich sehr wichtig. In den Moscheen wird noch, ich würde sagen in 99 Prozent der

Gemeinden, in türkischer Sprache die Religion vermittelt, daher kann der Religionsunterricht

an Schulen ruhig in deutscher Sprache angeboten werden. Aber ich muss hier

noch mal hinweisen, dass mir viele Imame berichteten, dass die Kinder im Moscheeunterricht

überhaupt nicht türkisch richtig verstehen. Das ist auch ein Problem, weil sie

weder türkisch noch den Islam beibringen kann der Imam, weil die Kinder die Sprache

nicht richtig beherrschen. Da kann man den Imamen auch keine Schuld zuweisen, weil

die sagen: ‚Ich lehre doch den Islam, aber die Kinder verstehen mich nicht.‘ Das heißt,

der Imam kann keine Kommunikation aufbauen zu den Kindern. Wenn wir nochmals

zum islamischen Religionsunterricht an Schulen zurückkommen, da bin ich mir auch

sicher, dass 20-25 % der Eltern darüber Bescheid wissen. Wir als Vorstand verkündigen

immer neue Entwicklungen in den Gemeinden, nur die Frage ist, wie viele Männer das zu

Hause auch ihren Frauen weiterberichten? Deshalb müssen wir über Internet, über lokale

Presse, über Mund-zu-Mund-Propaganda den Unterricht bekannter machen. Das wird

Zeit brauchen, aber derzeit sind nur 20 bis 25 Prozent der Eltern über die Einführung

dieses Unterrichts informiert.“ (Salih D., S. 121 f.)

Die Moscheegemeinden informieren ihre Mitglieder über diesen neuen Unterricht in einem

sehr unterschiedlichen Grad und machen die Erfahrung, dass der Kreis der Informierten

beschränkt ist. Die eigenen Informations- und Kommunikationskanäle, wie unter anderem

die Werbung in den Kanzelreden, haben nur eine geringe Effizienz. Daher erhofft man sich

Hilfen von den Schulen, um die muslimischen Eltern mit Beratungsangeboten zu erreichen:

„Wir versuchen bei den Predigten an den Freitag unsere Gemeinde zu informieren, dass

man zu Beginn des Schuljahres das eigene Kind zum islamischen Religionsunterricht

anmelden sollte oder dass man an einer Schule eine bestimmte Zahl von Kindern sich

zusammentun und einen Religionsunterricht einfordern sollte. Aber ehrlich gesagt, die

meisten haben keine Ahnung oder nie davon gehört, woher auch? Die Schulen informieren

doch die muslimischen Eltern nicht, zum Beispiel in Form von Informationstagen

usw. Davon habe ich bis heute nichts gehört. Und über die Medien erfahren die Eltern

auch nichts, weil dort nicht viel berichtet worden ist über den geplanten islamischen

Religionsunterricht. Die meisten Eltern verfolgen auch nicht mal die Nachrichten. Nur

in dieser Gemeinde habe ich das übernommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mehr

als die Hälfte aller muslimischen Eltern über die Einführung des islamischen Religionsunterrichts

nicht informiert sind. […] Zunächst einmal muss man sagen, dass nur ein

kleiner Teil die Entwicklungen am Institut für Islamische Theologie mitverfolgen. Bei

den Gemeinden ist es so, dass ich diese Werbung hier in dieser Gemeinde gemacht habe,


2 Ergebnisse der empirischen Studie 393

aber ob die anderen Gemeinden in Niedersachsen das auch getan haben? Das ist auch ein

Fragezeichen. Es kann auch gut sein, dass nicht mal die Imame der anderen Gemeinde

von dem islamischen Religionsunterricht Bescheid wissen. Daher müssten die Schulen,

wie bei anderen Aktivitäten auch, den Kindern Elternbriefe nach Hause mitgeben und

einen Informationstag zum islamischen Religionsunterricht organisieren. Das ist doch

keine Schwierigkeit. Ob man die Schulen dazu verpflichten kann, das weiß ich nicht,

aber wenn die Schulen das nicht machen, dann wir ein Großteil der Eltern von diesem

Religionsunterricht nicht Bescheid wissen.“ (Halim H., S. 193)

Grundsätzlich gehen die Gemeinden davon aus, dass die Nachfrage auch bei den muslimischen

Eltern ohne Gemeindebindung groß genug ist, um den islamischen Religionsunterricht

flächendeckend in Niedersachsen einzuführen. Hierbei setzen sie auch auf

die Hilfe des Instituts für Islamische Theologie der Universität Osnabrück, das eine Art

Brückenfunktion bei der Organisation von Informationsveranstaltungen übernehmen soll:

„Ja, auf jeden Fall, auf jeden Fall, sollte man auch die anderen Kinder, also nicht alle,

dass weiß nur der liebe Gott wie das ausgeht, weil die Menschen sind verschieden, die

Eltern sind verschieden. Die denken nicht immer gleich. Viele Menschen, viele Meinungen,

aber der Religionsunterricht an den Schulen, wird viele viele Muslime anziehen. Wenn

die Bosniaken das hören, dann werden sie sagen, dass hoffe ich, weil das im Interesse

des Kindes ist, werden sie sagen: ‚Mein Kind ist ja schon an der Schule. Warum soll er

nicht eine Stunde länger bleiben und Religion lernen.‘ Und man sollte auf jeden Fall die

Eltern dafür vorbereiten, wie zum Beispiel die islamische Fakultät Osnabrück sollte ein

Seminar machen, die Eltern einladen und erzählen, was da gemacht wird.“ (Necat I., S. )

Selbstkritisch wird auch auf die Defizite in der internen Kommunikation der Landesverbände

hingewiesen, die wiederum auf die fehlenden finanziellen und personellen Ressourcen

zurückgeführt werden. Punktuell gibt es Versuche, zumindest in den einzelnen Gemeinden

eine verbesserte Kommunikation zu den muslimischen Eltern zu implementieren:

„Es gibt noch viele, viele Probleme. Erstmal, wenn die Schura Geld haben sollte, dann muss

sie ein besseres Kommunikationssystem aufbauen, alles verschicken über Webseite usw.,

muss sie mehr tun. Dann mit dem Institut in Verbindung bleiben, damit wir wissen, was

ihr gegenwärtig tut. Nicht um zu kontrollieren, sondern um Informationen zu erhalten.

Aber dann auch regelmäßig mit den Eltern kommunizieren, immer auf dem schwarzen

Brett Informationen aufhängen, dass es für jeden lesbar ist, zum Beispiel nur stichwortartig

‚ABC‘ also hier wird so gemacht.‘ Wir haben auch den Eltern gesagt, wenn die Probleme

haben, sollen die sich bei uns melden und wir leiten das dann an die Schura. Das hat jetzt

angefangen. Das gibt es schon Fälle. Manchmal ruft man auch an.“ (Sharif M., S. 328)

Obwohl also die Kommunikation nicht effizient und der breitere Kreis an Mitgliedern

nicht in die Diskussion zum islamischen Religionsunterricht einbezogen ist, nehmen

die Verbandsvertreter im Namen der Gemeinden an den offiziellen Treffen teil, um die

Entwicklungen des neuen Schulfachs mitzubestimmen. Das heißt, dass die Erwartungen


394 B Empirischer Teil

und Wünsche der Eltern eigentlich nicht direkt, sondern nur indirekt über diese Repräsentanten

weitergeleitet werden:

„Also ich gehe davon aus, dass wenn mich die Gemeinde als Vertreter im Vorstand gewählt

haben, auch damit einverstanden sind, wenn ich als Repräsentant mit der Politik oder

den Ministerien spreche. Die Mitglieder müssen ja ein Vertrauen zu mir und meinen

Ideen empfunden haben, sonst hätten sie mich ja nicht gewählt. Wenn ich nichttragbare

Meinungen vertreten würde, hätte mich die Gemeinden nicht als Repräsentanten bestimmt.“

(Salih D., S. 123)

Die muslimischen Repräsentanten nehmen daher zunehmend die Diskrepanz zwischen

den Erwartungen der muslimischen Eltern und den eigentlichen Inhalten und Zielen des

islamischen Religionsunterrichts im Rahmen der allgemeinen Bildungssziele der Schulen

wahr. Allerdings sehen sie auch potenzielle Interessenkonflikte zwischen den öffentlichen,

nichtmuslimischen Erwartungen an den islamischen Religionsunterricht und den eigenen.

Die Gefahr der Entfremdung der Unterrichtsinhalte wird befürchtet, wenn von außen

das neue Fach als Mittel zur Aufklärung verstanden und der genuin islamische Charakter

ausgeblendet werde. Daher sei es die Aufgabe der muslimischen Repräsentanten der

Landesverbände – die einfach die Wünsche der Eltern bezüglich der Inhalte und Ziele an

den Unterricht voraussetzen –, sich für das Fach einzusetzen, um dessen Authentizität zu

gewährleisten. Diese Fremdzuschreibung an den Islam sei auch schon in der jungen Disziplin

‚Islamische Theologie‘ erkennbar, der man christliche Grundzüge „verpassen“ wolle:

„Weil genau das, was man im Lexikon des Dialogs gemacht hat nicht gemacht wird. Man

muss dem Gesprächspartner unter Umständen sagen: ‚Das ist nicht mein Problem.‘ Ich

war gestern im Gesprächskreis in Bremen, das machen wir seit vielen Jahren. Das ist ein

Gesprächskreis, in dem Juden, Christen, Muslime, Buddhisten usw. zusammensitzen und

über ein Roman diskutieren. Mal Genre jüdisch, mal Genre christlich, islamisch, buddhistisch

… , und sowohl jüdische als auch muslimische sagten dann: ‚Das ist nicht unser

Problem.‘ Und darüber sind Christen meist bei dialogischen Fragen überaus verärgert,

weil es ein Anspruch, der nicht reflektiert und nicht verbalisiert wird gibt: [Die Christen

sagen, Anm. d. V.]: Wir vertreten die höherwertige religiöse Reflexion. Luthers Lösung

ist die Moderne, die in die Zukunft führt, eure ist die historisch veraltete.‘ Sodass der eigentliche

Grundsatzkonflikt, der zwischen uns steht, theologischer Glaubensformen und

orthopraktischer Glaubensformen überhaupt nicht thematisiert wird.“ (Ahmet A., S. 50)

2.5.2 Materialkerygmatischer Unterricht: Inhalte und Ziele des

islamischen Religionsunterrichts aus der Sicht der muslimischen

Gemeinden

Wertet man die Aussagen der Experten zu den Erwartungshaltungen hinsichtlich der

Inhalte und Ziele des islamischen Religionsunterrichts aus, so kann man viele Parallelen

zu dem materialkerygmatischen Unterricht erkennen, welcher bis in die 1960er-Jahre


2 Ergebnisse der empirischen Studie 395

in Deutschland als führendes didaktisches Konzept vertreten wurde. Anders als bei

den Kirchen argumentieren die Muslime gegenwärtig aus einer ethnisch und religiösen

Minderheitenposition in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft heraus. Daher

gibt es einerseits starke Parallelen zum materialkerygmatischen Ansatz der christlichen

Religionspädagogik, andererseits sind auch Differenzen, wie die stärkere Betonung der

„Identitätskonservierung“, erkennbar, die aus ihrer gesellschaftlichen Stellung als Minorität

resultieren. In diesem Zusammenhang werden die Schulklassen – trotz bestehender

Skepsis – als erweiterter Raum der Moscheegemeinden betrachtet:

„Ich denke, wenn der islamische Religionsunterricht so umgesetzt wird, so wie wir es uns

vorstellen, dann werden viele Eltern, die ihre Religiosität verloren haben und ihren Kindern

gar nicht weitergegeben haben und nur sagen: ‚Ich bin Muslim‘, aber den Rest nicht

mehr haben und im Religionsunterricht zu zeigen, es gehört mehr dazu als nur zusagen

‚Ich bin Muslim‘, sondern es gehören auch Pflichten dazu, die man wahrnehmen muss.

Daher wird der Religionsunterricht viele wieder auf den rechten Weg führen, denke ich.

So wie es auch unsere Erfahrungen bisher gezeigt haben. Eine Grundschullehrerin von

einem Projekt damals hat mir erzählt, von einem kleinen Mädchen aus einer dritten

Klasse, die halt an dem Schulversuch islamischer Religionsunterricht teilgenommen hat.

Sie kam dann irgendwann mit ihrer Mutter zum Unterricht und die Mutter hat sich dann

bei der Lehrerin bedankt und gesagt: ‚Wir kommen aus Afghanistan und sind damals

geflüchtet und hatte nur noch Hass auf die Taliban und hatte danach mit der Religion

gar nichts mehr zu tun. Aber der Religionsunterricht hat uns nochmal daran erinnert,

dass wir Muslime sind und wir Pflichten wahrnehmen müssen. Da hat sich die Mutter

bedankt und ich denke, das ist auch hauptsächlich das Klientel, was wir erreichen wollen

und müssen und die Leute einfach wiederzuholen. Wir haben gegenüber diesen Menschen

eine Verpflichtung, ihnen die Religion einfach wieder nahe zu bringen.“ (Hakki K., S. 282)

Mit dem islamischen Religionsunterricht hoffen die Gemeinden, auch die Kinder und

Jugendlichen ohne Gemeindebindung zu erreichen. Da man aufgrund der Schulpflicht

für den schulischen Religionsunterricht eine höhere Resonanz erwartet als für die Moscheekatechse,

könnten bei gutem Lernergebnis die Kinder auch ihre nichtpraktizierenden

Eltern erreichen:

„Am Ende, also wenn ein Kind regelmäßig den Religionsunterricht besucht hat, sollte

– ich weiß nicht ob wir das wirklich erreichen werden, aber inscha Allāh hoffe ich das –

das die Schüler beginnen die Pflichtgebete einzuhalten und dass sie in der Lage sind den

Gottesdienst zu leiten. Das muss das Ziel sein. Wenn wir das erreichen können, können

wir uns sehr glücklich schätzen. […] Ja, aber durch die Jugendlichen, die aus nicht-praktizierenden

Familien kommen und durch den Islamunterricht ihre Religion lernen werden

und so ihre Eltern damit konfrontieren werden. Diese Eltern werden dann auch in die

Moscheen kommen. Weil die Eltern von den eigenen Kinder gefragt werden, warum ihre

Familie den Islam nicht praktiziert. Diese Wahrscheinlichkeit ist da und ich hoffe dass

das auch so sein wird.“ (Salih D., S. 121)


396 B Empirischer Teil

In den Ausführungen zu den Inhalten und Zielen der religiösen Erziehung wurden die

großen Kontraste und die Heterogenität in den Familien aufgezeigt. Ebenso existieren

für die etwa 160 niedersächsischen Moscheegemeinden keine einheitlichen Lehrpläne.

Aufgrund der „Erweiterung“ der Moscheeräume in die Schulen, hoffen die Gemeinden,

dass mit der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts und den hierfür konzipierten

Curricula einheitliche Lernstandards für alle muslimische Kinder und Jugendliche

etabliert werden. Damit könne man auch die Diskrepanzen hinsichtlich der Lerninhalte

in den muslimischen Familien kompensieren:

„Bilal Z.: Ja, weil die Kinder auch ein Programm haben in der Schule, fachlich lernen.

Aber zu Hause, jeder Vater bringt seinem Kind das bei, was er kennt und die haben kein

einheitliches Wissen, sondern jeder und jeder Gruppe macht für sich alleine. Die Araber

und Perser, jeder für sich. In der Schule hat man aber ein Programm.

I.: Was gehört dazu in der Schule? Ṣalā, Fasten …

Bilal Z.: Alles.

I.: Koran-Rezitation?

Bilal I.: Das auch, und tağwīd, die Rezitationsregeln.“ (S. 269)

Die zentrale Hoffnung ist die, dass das Personal in der Moscheekatechese mit der Einführung

des islamischen Religionsunterrichts aus der Sicht der muslimischen Gemeinden entlastet

werden könnte, wenn die Gemeinden zentrale Aufgaben, wie das Erlernen der gesamten

islamischen Grundlagen, an die Schulen delegieren könnten. Dabei gibt es zwei Ansätze

in den Gemeinden: Die Theorie soll in der Schule vermittelt werden und die Moschee ist

in Kooperation mit dem öffentlichen Bildungssystem der Ort für die Praxis:

„Ich erwarte vom dem Religionsunterricht, dass die Last der Moscheegemeinden in der

religiösen Erziehung abnimmt, wenn die Schulen die Theorie vermitteln und die Moscheegemeinden

diese Theorie umsetzen. Weder die Moscheen noch die Schulen können allein

die Theorie und Praxis, aus zeitlichen und personellen Gründen, bewältigen. Zu mindestens

könnten auch diejenigen Schüler die theoretischen Kenntnisse über die Glaubenspraxis sich

aneignen. Es gibt keine Garantie, aber es könnte sein, dass mit dem fortschreitenden Alter,

also wir können ja niemand zwingen zu praktizieren. Ich bringe auch meinen Kindern

bei, dass die Praxis Pflicht ist, aber die Kinder werden ab einem bestimmten Alter selber

entscheiden, ob die praktizieren werden oder nicht.“ (Mahmut Ö., S. 135)

Die Moscheen gehen also von einem gemeinsamen Lernziel aus, weswegen die Kooperation

mit den Schulen eine zentrale Aufgabe ist, um das Lernziel der Internalisierung der Theorie

und der Befähigung zur islamischen Orthopraxie sicherzustellen. Dabei soll der schulische

Religionsunterricht einen verkündenden Charakter aufweisen, damit die muslimischen

Schüler/innen zur Glaubenspraxis animiert werden:

„I.: Also auch verkünden können?

Esref B.: Ja, aber natürlich, es geht ja auch darum. Es geht nicht einfach nur um das Erlernen

des Wissens, sondern Erziehung, darum geht es. Werte müssen damit verbunden


2 Ergebnisse der empirischen Studie 397

sein, ansonsten ist eine Islamkunde, auf der schulischen Ebene und auf universitärer

Ebene kann man das Islamwissenschaften betreiben. […] Es sollen die Glaubensinhalte

verkündetet werden: ‚Was macht ein Muslim aus?‘ Was geglaubt wird und wie wird das

in die Praxis umgesetzt. Das sind die fünf Säulen. Und drittens, das ist für mich sehr

wichtig, und das ist auch für diese Gesellschaft wichtig: ‚Was bedeutet eine islamische

Ethik?‘ Zu verstehen sie auch anzuwenden, in der Familie, in der Moscheegemeinde, in der

Gesellschaft und in der Schule auch. Zur Ethik hat der Islam aus seiner Tradition heraus,

aus seinen Inhalten heraus, viel zu sagen und dass haben die Lehrkräfte zu vermitteln.

Das ist auch wichtig, in diesem dreieckigen Prozess.“ (S. 43 f.)

Das zweite herrschende Postulat unter den Gemeinden sieht sogar sowohl die Theorie als

auch die Praxis in der Schule vor, damit die Kinder – wie in der Moschee auch – beide

spirituellen Dimensionen erleben. Diese Erwartungshaltung entspringt den eigenen

Erfahrungen der Vorstandsmitglieder, die sie in ihren Herkunftsländern im schulischen

Religionsunterricht gemacht haben:

„Sharif M.: Bisher wissen nicht viele über den Unterricht oder nur oberflächlich. Warum?

Weil, wenn sie in den Dörfern leben usw., dort gibt es nicht genug Anzahl an

muslimischen Schülern, aber in großen Städten erwarten sie wie den Unterricht in den

arabischen, islamischen Ländern. Ich weiß jetzt nicht wie man das hier unterrichtet, aber

in den arabischen oder islamischen Ländern wird das als Hauptfach unterrichtet zwei

Stunden in der Woche. Von erster Klasse bis …, also in erster Klasse wird der Unterricht

mit arabisch gemischt, zum Beispiel der Begriff Allāh, Muhammad, Ṣaḥāba 777 , so mit

Begriffen, und Religion, Islam, Imān usw. Wir übernehmen in unseren Moscheen auch

manchmal auch Bücher aus islamischen Ländern für den Unterricht aus Syrien, Libyen.

I.: Kann man das auch hier übernehmen für die Schulen?

Sharif M.: Ja, man kann das so übersetzen und gucken beispielsweise stufenweise Klasse

1, Klasse 2, Klasse 3 usw., solange sie nicht dem deutschen Recht widersprechen, kann

man adaptieren, übernehmen und sagen: ‚Okay, das ist hier das gleiche, nichts anderes‘,

ja, und das bis zur 12. Klasse. Also 12 Jahre lang Pflicht.

I.: Was erwartet man, was erwarten die Eltern?

Sharif M.: Sie erwarten genauso wie in arabischen Ländern, dass das Kind versteht, aber

ob die Eltern zufrieden sein werden, wenn das Kind den Islam auf Deutsch spricht, das

bleibt die zukünftige Frage. Die dritte Generation versteht das und will auch zweisprachig

wachsen, aber die erste und zweite Generation sieht das skeptisch nach dem Motto, jetzt

wird der Islam uns entzogen oder jetzt kommt ein deutscher Islam.

I.: Welche Ziele und Inhalte solle der islamische Religionsunterricht haben? Sie haben ja

vorhin gesagt, wie arabische, türkische usw., welche sind das?

Sharif M.: Das hängt von den Klassen ab.

I.: Also, allgemein.

777 Bezeichnung für die Gefährten Muhammads, die in der islamischen Theologie vor allem wegen

ihren Überlieferungen zu den Taten und Aussprüchen des Propheten eine zentrale Rolle spielen.


398 B Empirischer Teil

Sharif M.: Allgemein zuerst die Grundlagen und wenig über modernen Islam, Konflikte

und Bewegungen, aber in den späteren Klassen soll man die Rechtsschulen erklären,

soll man auch die unterschiedlichen Meinungen erklären. Wir haben auch in der Schule

gelernt über takfīr, kufr oder wie da‘wa oder was der Islam ist , sein Zweck, sein Sinn,

das alles erst später, so ab der siebten, achten, neunten Klasse. […] Dass sie auch das

zeigen. Ich kann mich erinnern, wir haben in der vierten Klasse in der Schule angefangen,

wie man betet. Der Lehrer brachte uns zum Waschraum und sagte: ‚Erst a‘ūḏu bi-llāhi

min aš-šayṭān ar-rağīm Bismihllahirramnarim 778 , die niyya 779 , dann wäscht 780 mal eure

Hände.‘ Danach haben wir Kinder uns die Hände gewaschen. ‚Okay, wäscht jetzt das

Gesicht und Arme bis hierhin.‘ Dann haben wir das auch mal gemacht drei Mal. ‚Putzt

euer Mund und eure Nase drei Mal.‘ So haben wir stufenweise, fast 20 Minuten, nur den

wuḍū’ [rituelle Waschung für das Gebet] gelernt.

I.: Daran können Sie sich erinnern?

Sharif M.: Ja, das war in der vierten Klasse. Wir haben Stück für Stück gelernt. Die Füße

zu waschen, war das Schwierigste für uns. Dann mussten wir uns trocken, aber das war

im Sommer, daher angenehm. Der Lehrer: ‚So Füße waschen, trocknen bitte, zieht eure

Schuhe wieder an. Gut, beim nächsten Mal machen wir auch das richtige Gebet.‘ Dann

Gebet. Der Lehrer sagte wieder ‚Aufstehen und spricht die Niyya nach: Ich beabsichtige

das Gebet für Allāh ta‘āla zu leisten. Dann hebt eure Hände und Allāhu Akbar.‘ Dann

eben nach sunnitischer Rechtsschule, hanefi oder šāfi‘ī wurden die Hände vor dem Bauch

gebunden und dann ging es los.

I.: Sollte man dieses Modell übernehmen?

Sharif M.: Ja, warum nicht? Ja, das ist wie Praxis, Moment, wir vergleichen jetzt. Wenn

die Lehrer im Kindergarten den Kindern lehren, was sie an einer Ampel machen müssen,

wie lehren sie das? Sie zeigen ihnen nicht einfach Bilder von der Ampel, sondern nehmen

sie mir zur Ampel und sagen: ‚Stopp, es ist rot. Stehen bleiben.‘ Das ist die Umsetzung,

und das gleiche machen sie mit dem Gebet in der Schule in der praxisorientierten Unterrichtsstunde.

Das ist das beste Beispiel, weil das bleibt, die Theorie vergisst man. Jeder

Mensch ist vergesslich.“ (S. 321 ff.)

Der Religionsunterricht wird als Projektionsfläche für die Lösung der gemeindeinternen

Probleme und so auch als ein Mittel dafür gesehen, dass die Moscheegemeinden in Zukunft

qualifiziertes Personal rekrutieren können. Damit könnte man auch die eigenen

778 Diese Formel heißt übersetzt „Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen“.

779 Die implizite Intention zu einem islamischen Ritual soll nach den islamischen Rechtsschulen

auch explizit durch die Aussprache einer Absichtserklärung wie ‚Hiermit habe ich die Absicht,

um das Wohlgefallen Gottes zu erlangen, die Waschung vorzunehmen beziehungsweise das

Gebet zu verrichtet‘ gemacht werden. Einige Meinungen gehen davon aus, dass die Absicht ja

bereits in der Handlung selbst ausgedrückt ist, weil man sich ja sonst nicht waschen oder nicht

beten würde. Andere Meinungen unterstreichen dagegen den Effekt der Bewusstwerdung,

indem man aus dem Alltag in einen anderen Zustand tritt und dies mit der Absichtsformel

bekräftigt wird.

780 Die rituelle Waschung vor den Pflichtgebeten.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 399

Strukturen professionalisieren, ohne finanzielle Ressourcen für längere Ausbildungswege

in Anspruch zu nehmen:

„Das Ergebnis soll sein, dass diese Schüler in Zukunft die Generationen ausbilden, die

dann die Moscheegemeinden übernehmen können. Wir müssen hierfür gute und gut

ausgebildete, bewusste Muslime erziehen. […] Die sollen diese Moscheegemeinden übernehmen

und die Arbeit weiterentwickeln und es besser machen als wir es tun können. […]

Soll ich ihnen das mal einem Beispiel zeigen, wie wichtig dieses Institut für mich ist? Ich

habe meine Tochter, die in Wien studierte, dazu überredet, sich dort zu exmatrikulieren

und in Osnabrück mit der islamischen Theologie zu beginnen. So wichtig ist das für mich.

Wir haben einen großen Bedarf an Wissenschaftlern, deshalb sollten muslimische Eltern

ihre Kinder in dieses Institut für Theologie schicken, damit gute, deutschsprachige Wissenschaftler

ausgebildet werden, die wiederum andere muslimische Schüler so erziehen,

dass wir in Zukunft viele religiös gebildete junge Menschen, die diese Gesellschaft besser

kennen und entsprechend religiöse Antworten finden werden.“ (Hayrettin G., S. 145)

Die Qualifikation muslimischer Kinder und Jugendlicher im Religionsunterricht solle

auch zu einer besseren islamischen Präsentation in der Gesellschaft beitragen, um bei

Islamfragen kompetente, deutschsprachige Ansprechpartner vorzuweisen. Das Problem

der Präsentation haben die Muslime beispielsweise jedes Jahr am 3. Oktober, am Tag der

offenen Moscheen, an dem es darum geht, deutschsprachige und zugleich theologisch

ausgewiesene Gemeindemitglieder zu finden, welche die nichtmuslimischen Besucher in

der Moschee führen können. Mit dem islamischen Religionsunterricht dürfte das Problem

für die Gemeinden in Zukunft gelöst zu sein:

„Bevor wir zu dieser Frage kommen möchte ich noch einen wichtigen Aspekt des Religionsunterrichts

an Schulen betonen. In den Moscheen lernen die Kinder in türkischer Sprache,

im Religionsunterricht dagegen werden die in deutscher Sprache unterrichtet werden und

könnten dann in Zukunft den Islam in deutscher Sprache ihren Mitmenschen erklären.

Diese Erwartung haben wir auch. […] Wenn ich hier im Unterricht den Kindern zum

Beispiel das Pflichtgebet in türkischer Sprache lehre, dann sind die muslimischen Kinder

nicht fähig, dieses Wissen aus der Moschee, wenn die Lehrer oder nichtmuslimischen

Mitschüler sie in der Schule fragen, in deutscher Sprache widerzugeben. Die muslimischen

Kinder kennen nicht die deutschen Begriffe für bestimmte islamische Handlungen und

Inhalte und bleiben daher stumm, wenn sie gefragt werden. Unsere Erwartung ist daher,

dass der deutschsprachige islamische Religionsunterricht an Schulen den muslimischen

Kinder dabei helfen wird, ihre Religion in deutscher Sprach zu lernen, damit sie in dieser

Gesellschaft den Islam ihren Mitmenschen in deutscher Sprache erklären und den Islam

besser öffentlich vertreten können.“ (Halim H., S. 194 )

Um diese gesamten dargestellten Erwartungshaltungen nachzuvollziehen, müssen die

bisherigen Analysen zur Situation in der Moscheekatechese – zusätzlich zu den bisher

skizzierten Rahmenbedingungen für die Gemeinden – miteinbezogen werden, um dem

Gesamtbild gerecht zu werden. Erst dann können die hohen Erwartungen an den schulischen


400 B Empirischer Teil

Religionsunterricht sowie den Ansatz eines materialkerygmatischen Unterrichts inklusive

der im nächsten Gliederungspunkt aufgeführten Rollenerwartung an die Religionslehrer/

innen verstanden werden, wie abschließend in dem folgenden längeren, zusammenhängenden

Zitat eines führenden Landesverbandsvorstandsmitglieds vor Augen geführt wird:

„Zuerst möchte ich nochmal sagen, dass die schlechten Erfahrungen auch sich in Vorurteilen

gegenüber dem islamischen Religionsunterricht zeigen. Wir als Schura kommen

dann auch in Schwierigkeiten hier in Niedersachsen, weil die Familien diesen Unterricht

benötigen. Damals lebten die ersten muslimischen Familien in Deutschland in Großfamilien.

Die Großeltern, die Kinder und deren Frauen lebten gemeinsam unter einem

Dach. Heute ist es so, dass die Großeltern in Rente sind und zwischen der Türkei und

Deutschland pendeln, die Kinder und deren Frauen arbeiten in der Regel, sodass sich

man sich kaum noch um die Erziehung der eigenen Kinder kümmern kann. Die drei

Generationen leben nicht mehr unter einem Dach, so dass heute nur die leiblichen Eltern

die religiöse Erziehung verantworten müssen. Deshalb benötigen wir einen Religionsunterricht,

der alle Kinder erreichen muss. Ich möchte hier mal ein Beispiel geben. Die

Kinder, die in die Moscheen zum Unterricht kommen, und die Zahlen sind uns bekannt,

sind in einer luxuriösen Situation was die religiöse Erziehung betrifft. Und die gar nicht

in die Moschee kommen, die sind von diesem Luxus ausgeschlossen. So, hinzu kommt,

die Muslime haben damals in Ghettos gewohnt, ganz eng zusammen, heute lebt die

dritte und vierte Generation nicht mehr in diesen Ghettos, sondern in Wohngegenden

mit Prestige. Das bringt das Problem mit sich, dass die Entfernungen zu den Moscheen

steigen. Das wiederum, diese große Distanz zu Moscheen und der abnehmende Kontakt

zu anderen Muslimen in unmittelbarer Nachbarschaft hat dazu geführt, dass man die

Schura und den geplanten Religionsunterricht schätzen gelernt hat, bereits in der Projektphase

schon schätzen lernten. Es gab mal dazu einen Informationsabend mit muslimischen

Eltern, da war auch der Leiter des Zentrums für Türkeistudien da, um dieses

Projekt vorzustellen und ich wurde auch eingeladen. Viele Mitglieder der Schura waren

auch da und waren über die potenziellen Lehrerinnen die dort waren sehr erschrocken.

Die waren ziemlich freizügig angezogen, obwohl es auch für nicht-muslimische Lehrer

auch eine gewisse Kleiderordnung besteht, angemessen für den Beamtenberuf. Da waren

auch sehr viele Eltern, vor allem sehr viele alleinerziehende Mütter, geschiedene Frauen

oder Frauen, die zwei Jobs ausübten. Das hat mich sehr gewundert. Einige Mütter fragten

dort: ‚Wir können die religiöse Erziehung unserer Kinder nicht übernehmen, weil wir

es nicht können oder keine Zeit haben. Wir haben nur abends Zeit, könnten diese Religionslehrer

auch abends uns unterrichten?‘ In dem Moment war ich sehr gerührt und

habe dort die Überzeugung gewonnen, dass der islamische Religionsunterricht, auch

wenn es nur zwei Stunden Woche ist und die Kinder nur vielleicht etwas mitnehmen, so

wie man das im Deutschen ja sagt, auch wenn es nur ein Tropfen auf dem heißen Stein

ist oder wie ein Regentropfen in der Wüste. Manchmal ist weniger auch mehr. Und da

habe ich die Überzeugung gewonnen, wenn der islamische Religionsunterricht an allen

Schulen eingeführt werden sollte und die Schura die Inhalte, den Lehrplan bestimmt,

könnten wir damit viele muslimische Kinder erreichen. Weil eben viele muslimische

Kinder nicht die Möglichkeit haben, eine religiöse Bildung zu genießen. Ein Bespiel sind


2 Ergebnisse der empirischen Studie 401

die vielen muslimischen Jugendlichen in Gefängnissen hier in Niedersachsen. Wenn wir

mit der Polizei oder den Behörden sprechen, dann sagt man uns, dass diese Kinder gar

nicht ihre Religion kennen. Es gibt sogar Jugendliche, die Türkentum und Islam gleichsetzen.

Unsere Erwartungen als Schura an den Religionsunterricht ist erst mal, dass er

überhaupt eingeführt wird, weil es diesen Unterricht noch nicht überall gibt. Die zweite

Erwartung ist, dass die muslimische Kinder lernen, was der Islam ist und warum sie

Muslime sind und zu lernen: ‚Wer bin ich? Woher komme ich und wo werde ich hingehen?

Wo bin ich zugehörig? Warum leben ich?‘ Auf diese Fragen muss der islamische Religionsunterricht

Antworten geben. Das Kind muss eine muslimische Identität entwickeln

und sagen können: ‚Ich glaube an Gott, ich glaube an den Propheten, ich glauben an den

Koran.‘ Dann muss der islamische Religionsunterricht ein Umma-Gefühl, ein Gemeinschaftsgefühl

hervorbringen. Nicht also eine Ethnie, sondern es kommen Muslime aus

aller Welt. Diese starke muslimische Identität ist, weil seit dem 11. September, von Amerika

bis nach Bulgarien, politische eine Islamophobie gefördert wurde. Wir, die Muslime

in Deutschland, müssen daher bis heute Rechenschaft über all die Konflikte in der muslimischen

Welt abgeben an die deutsche Gesellschaft. Wir werden sozusagen mit verantwortlich

gemacht für diese Konflikte außerhalb Deutschlands. Das bekommen auch die

muslimischen Kinder und Jugendlichen mit, weil man auch sie in den Schulen mit diesen

Konflikten konfrontiert: ‚Wieso passiert das? Was ist Extremismus? Was ist Fundamentalismus?

Was heißt Salafismus? Was denkt ihr darüber? Was ist eure Meinung?‘ Trotz

dieser Vorurteile muss man doch sehen, dass wir mit unserer 50jährigen Geschichte als

Muslime keine nennenswerten, keine großen Konflikte entstanden sind, dass der Islam

ein Religion des Friedens ist. Dass wir als Muslime hier in einer christlichen, in einer

säkularen Gesellschaft, trotz unseres geringen religiösen Wissensstandes und der großen

gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Muslime, keine großen Konflikte verursacht haben,

ist ein großer Erfolg. In unserem Unterbewusstsein haben wir uns anscheinend immer

mit der Frage nach der Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens gestellt und anscheinend

auch die richtige Antwort unbewusst gefunden, dass sich in unserem Zusammenleben

zeigt. Wenn die Muslime sich nicht für ein dauerhaftes Leben in Deutschland

entschieden hätten, Deutschland nicht als ihre Heimat gesehen hätten, würden sie dann

einen islamischen Religionsunterricht und die Lehrerausbildung, muslimische Friedhöfe

oder Ḥalāl-Schlachtung von der Politik überhaupt verlangen? Deshalb erwarten wir von

dem Religionsunterricht, dass sie eine muslimische Identität und Wissen vermittelt,

damit diese Kinder Antworten auf diese Fragen geben können, damit sie nicht das durchmachen

müssen, was wir durchgemacht haben. Dann können die muslimischen Kinder

auch viel einfacher in den Dialog mit den anderen Religionen und Kulturen eintreten.

Hier noch ein Bespiel von den muttersprachlichen Türkischlehrern. Wir haben zum

Beispiel erfahren, dass diese Lehrer, die nur für den muttersprachlichen Unterricht zuständig

sind, nie eine gemeinsame Pause mit den anderen Lehrern der anderen Fächer

gemacht haben. Sie waren immer isoliert an den unterschiedlichen Schulen. Durch den

islamischen Religionsunterricht hat sich diese Isolation aufgehoben, weil die Religionslehrer

ein zweites Fach Unterricht müssen und auch Deutsch sprechen können, so dass

sie jetzt auch gemeinsam mit den anderen Lehrern in die Pause gehen können. Sie treten

also auch in ein Dialog. Sie haben mich ja vorhin gefragt, was wir von den Lehrern er-


402 B Empirischer Teil

warten? Diese Lehrer könnten für muslimische Schüler eine Vorbildfunktion übernehmen,

weil wir das Problem haben, dass der Lehrerberuf nicht bei vielen Kindern, wegen den

eigenen schlechten Erfahrungen in der Schule, angesehen ist. Durch die muslimischen

Religionslehrer könnte der Beruf aber attraktiv werden. Wir erhoffen auch, dass sich in

Hinsicht der antiislamisch eingestellten türkischen Lehrer etwas verändert, die im Unterricht

den Kindern sagten, die Religion sei Opium für das Volk, wie Karl Marx oder

Lenin. Wie kann ein Lehrer so etwas von sich geben im Religionsunterricht? Aufgrund

dieser schlechten Erfahrungen wollen wir wie es nach dem Grundgesetz Artikel 7.3 den

Religionsgemeinschaften zustehen, als Ansprechpartner für die Politik sein und die Inhalte

für den Religionsunterricht mitbestimmen. Wie die Kirchen möchten wir gleichgestellt

werden, wie in der Weimarer Verfassung, im Bereich Religionsunterricht, Seelsorge

usw. Diesen Status haben wir erreicht und sind nun Ansprechpartner für die Politik. Wir

haben einen Runden Tisch gegründet, einen Kerncurriculum verfasst und den Schulversuch

für die ersten bis vierten Klassen eingeführt. Diesen Curriculum haben wir unseren

Gemeinden vorgestellt und haben dann – wie bei den Kirchen auch – die Iğāza entwickelt,

damit die zukünftigen Lehrer für den Religionsunterricht, damit diese sich an den Grundlagen

des Islam halten. Bei den Kirchen, wie die katholische, ist es genauso, weil man da

auch gefragt wird, ob man zum Beispiel Mitglieder der Kirche ist oder ein frommes Leben

führt oder ob man an die Jungfräulichkeit von Maria glaubt, also ob Jesus ohne Vater

auf die Welt gekommen ist. Und wenn man da beispielsweise nein sagt, und sagt, Jesus

sei infolge einer Ehe geboren worden, dann erhält man in der katholischen Kirche keine

Lehrerlaubnis. Wir möchten die gleichen Rechte.“ (Hamit A., S. 78 ff.)

2.5.3 Erwartungen an die Rolle der Religionslehrer im Unterricht

Die Rolle des Religionslehrers im Unterricht ist bei den christlichen Kirchen ein Thema, das

seit Jahrzehnten immer wieder diskutiert wird. In den Ausführungen zum Paradigmenwechsel

in den religionsdidaktischen Grundorientierungen des schulischen Unterrichts

konnte gezeigt werden, dass in der Phase der materialkerygmatischen Orientierung dem

Lehrer eher die Rolle des Verkünders zukam. Im Laufe der religionspädagogischen Diskurse

hat sich zwar dieses Verständnis geändert, und es haben sich zeitgemäße Erwartungen

durchgesetzt, doch die Frage der Spiritualität des Religionslehrers scheint nach wie vor ein

Dauerthema zu sein. So erschienen im katholischen Kontext nach dem Synodenbeschluss

diverse Publikationen, die explizit auf die Spiritualität der Lehrer/innen eingehen, wie etwa

das Dokument Zur Spiritualität des Religionslehrers, in dem die verschiedenen Dimensionen

der Spiritualität im persönlichen Leben sowie in der Lehre ausführlich behandelt

werden. 781 In einem weiteren Dokument Die bildende Kraft des Religionsunterrichts wird die

Spiritualität im Kontext der Gemeindegebundheit und der Loyalität zur Kirche sowie die

authentische Lebensweise gemäß der vertretenen Glaubenslehre sehr explizit formuliert. 782

781 Die deutschen Bischöfe, Zur Spiritualität des Religionslehrers, Bonn 1987

782 Die deutschen Bischöfe, Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des

katholischen Religionsunterrichts, Bonn 1996, S. 50 f.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 403

In ihrer Auseinandersetzung mit dem „professionstypischen Habitus“ weisen Stefan Heil

und Hans-Georg Ziebertz auf das enge Verhältnis von „Lebens- und Glaubensbiographie“

besonders bei Religionslehrern hin, weil gerade diese – anders als in anderen Unterrichtsfächern

– ihren persönlichen Glauben in den „beruflichen Habitus“ integrieren müssten. 783

Die Erwartungen an die Rolle der muslimischen Religionslehrer sowie die Begründung

der iğāza hängen eng mit dem dargestellten materialkerygmatischen Ansatz zusammen.

Da der schulische Religionsunterricht sozusagen als erweiterter Gemeinderaum betrachtet

wird, werden auch – ähnlich dem Imam in der Moschee – die Religionslehrer als moralische

Instanzen betrachtet, denen man eine zentrale Vorbildfunktion zuschreibt:

„Inhaltlich nicht mehr Din ve Kültür [Glaube und Kultur, Anm. d. Verf.], sondern nur

Religionsunterricht. Und die Praxis. Wie man richtig Namaz, die Pflichtgebet macht, wie

man Gottesdienste macht, also der Lehrer muss es in der Klasse vorzeigen und gemeinsam

beten, so muss man es den Kindern vermitteln. Also nicht nur theoretisch sagen: ‚So wird

gebetet.‘, sondern dort in der Klasse umsetzen. Der Unterricht muss mit Praxis gefüllt

sein. […] Die Lehrer müssen den Islam leben, damit es auf die Kinder einen effektiveren

Einfluss hat. Es bringt nicht den gleichen Einfluss, wenn der Lehrer nur schöne Worte

von sich gibt, aber die Religion selbst nicht vorlebt.“ (Haluk M., S. 153)

Wie aus dem obigen Zitat herauszulesen ist, bringt diese Vorbildfunktion zugleich die

Erwartungshaltung mit sich, dass die Religionslehrer selbst praktizierende Muslime sein

sollten:

„Hayrettin G.: Zuerst sollten sie in einem sehr engen Kommunikationsverhältnis zu den

muslimischen Familien stehen. Dann muss der Religionslehrer die Religion gut beherrschen.

Er sollte Muslim sein und auch praktizierend, wenn auch nur wenig, weil er Vorbild

sein muss. Das sind auch die Erwartungen der Eltern, dass die Lehrer die Pflichtgebete

einhalten und auch im Ramadan fasten.

I.: Was wäre, wenn die Lehrer nicht praktizierend wären?

Hayrettin G.: Dann hätten wir ein Problem. Das war ja bisher so, dass die Lehrer nicht

praktizierend waren.

I.: Könnten Sie das vielleicht etwas erläutern?

Hayrettin G.: Die bisherigen Religionslehrer waren Personen, die den Islam nicht vorlebten.

Deshalb haben auch viele muslimische Eltern ihre Kinder nicht zu diesem Islamunterricht

geschickt.

I.: Meinen Sie den muttersprachlichen Unterricht?

Hayrettin G.: Ja, davon berichten mit die Eltern über ihre Erfahrungen. Weil die muslimischen

Eltern ihre Kinder nicht mehr in den muttersprachlichen Unterricht anmeldeten,

ist dieser Unterricht abgesetzt worden“. (S. 148)

783 Vgl. Stefan Heil/Hans-Georg Ziebertz, Professionstypischer Habitus als Leitkonzept in der

Lehrerbildung, in: Dies./Hand Mendl/Werner Simon (Hrsg.), Religionslehrerbildung an der

Universität Profession – Religion – Habitus, Münster 2005, S. 60 f.


404 B Empirischer Teil

Daher wird von einem Religionslehrer erwartet, dass er die Schüler zur Glaubenspraxis

motiviert:

„Das habe ich ja vorhin gesagt, dass man die Religion leben muss, damit man beim

Lernen die Kinder beeindrucken kann. Das ist auch so in unserer Religion bestimmt.

Ein Lehrer, der nicht den Islam lebt, hat meiner Meinung nach im Unterricht nichts zu

suchen. Natürlich kann niemand hundertprozentig die Religion in seiner vollkommensten

Form praktizieren, aber die zentralen religiösen Pflichten wie das fünfmalige Beten am

Tag, das Fasten, die Armensteuer und die Ḥağğ, diese grundlegenden Pflichten muss ein

Lehrer befolgen. Die Lehrer müssen auch der Konfession der ‚Ehli-Sunna vel Cemaat‘

zugehören, also einer der vier Rechtsschulen befolgen.“ (Ikbal I., S. 175 f.)

Aufgrund der Nähe von Glauben und Praxis, die mit dem koranischen imān (Glaube) und

amal (Praxis, Handlung) begründet wird, erwartet man zugleich einen Moscheebezug bei

den Religionslehrern. Unabhängig von fehlenden formalen, juristischen Bindungen sollten

diese Lehrkräfte zumindest informelle Bezüge als Beweis ihrer islamischen Lebensführung

aufweisen. Diese Forderung weist eine starke Parallele zur Prozedur der „missio canonica“

für den katholischen Religionsunterricht auf. Um die Lehrerlaubnis als katholischer Religionslehrer

zu erhalten, müssen diese Personen beim zuständigen Ortsbischof sich dazu

bekennen, ihren Unterricht nach der Lehre der katholischen Lehre auszurichten sowie in

ihrer persönlichen Lebensführung diesen Grundsätzen treu zu sein. Ein zentrales Kriterium

bei der Begutachtung der Anträge ist daher der Nachweis einer Gemeindebindung

sowie der Gottesdienstbesuche. 784

„Erstens dürfen diese Lehrer nicht Personen sein, die mit Moscheen nichts zu tun haben.

Sie müssen mit den Moscheen im Umfeld ihrer Schulen in engem Kontakt stehen. Das ist

deshalb wichtig, damit sie die Unterstützung der Moscheen erhalten und damit die Kinder

in den Unterricht bekommen können. Zweites müssen sie gläubig sein, ansonsten finde

ich es nicht angebracht, dass ein religionsferner Lehrer einen Religionsunterricht erteilt.

Dann wünsche ich mir, dass die Lehrer praktizierend sind, zum Beispiel im Ramadan

fastet. Das ist natürlich eine Gewissensfrage, aber dennoch ist es was anderes, wenn ein

Lehrer über die Pilgerfahrt spricht, nicht sagt: ‚Warum soll ich die Araber mit meiner

Reise nach Mekka reich machen?‘ Das ist falsch, daher sollten die Lehrer auch praktizierend

sein. Lehrer sind natürlich Beamte und sind vordergründig mit dem Unterrichten

verpflichtet, aber wenn die im Ramadan über das Fasten sprechen und ein Kaugummi

im Mund haben oder vor den Kindern ein Apfel essen, ist das nicht angebracht. Er sollte

zumindest Respekt zeigen, aber das ist nur meine Meinung. Denn die meisten Muslime

wünschen sie einen praktizierenden Lehrer, also die Lehrer müssen mindestens das gleiche

Profil haben wie ein Moscheevorsitzender als Vorbild.“ (Salih D., S. 122)

784 Vgl. Martin Rothgangel/Hans-Georg Ziebertz, Religiöse Bildung an Schulen in Deutschland,

in: Martin Jäggle/Thomas Schlag (Hrsg.), Religiöse Bildung an Schulen in Europa: Teil 1: Mitteleuropa,

Göttingen 2013, S. 57 f.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 405

Um diesen Bezug zur Praxis zu ermitteln, wird daher auch in der iğāza (Lehrerlaubnis) nach

der sūra al-Fāt iḥa gefragt, die bei den täglichen Pflichtgebeten eine elementare Rolle spielt.

Von der Bedeutung ist diese Gebetsformel aus dem Koran vergleichbar mit dem Vaterunser

aus dem Christentum. Unabhängig von der religiösen Praxis ist davon auszugehen, dass

die meisten Christen dieses Gebet auswendig aufsagen können, was sozusagen als Mindestkompetenz

für eine christliche Identität vorausgesetzt wird. So auch die Beherrschung

der sūra al-Fāt iḥa bei den Muslimen:

„Wie die Kirchen möchten wir auch die Fragen stellen, zum Beispiel ob ein Lehrer die

sūra al-Fātiḥa kann. Wenn nicht, dann ist das offenkundig ein Indiz dafür, dass er nicht

die täglichen Pflichtgebete einhält. Wenn wir die gleichen Rechte erlangen, weil wir also

die Gemeindemitglieder der Moscheen repräsentieren, können wir nur mit dieser Lehrerlaubnis

das Vertrauen der muslimischen Gemeinden gewinnen.“ (Hamit A., S. 81)

Während die Aussagen der Experten für das skizzierte Profil eines idealen Religionslehrers

eindeutig die Glaubenspraxis und den Gemeindebezug fordern, distanzieren sie sich

zugleich von extremen Positionen. Das eine Extrem wären fundamentalistisch orientierte

Lehrkräfte, denen man die Lehrerlaubnis nicht erteilen würde:

„Necat I.: Der Lehrer sollte ein Muslim sein. Die bosnischen Eltern, glaube ich, hätten

Probleme mit einem Lehrer, der sich nicht an die islamischen Regeln hält, also nicht streng.

Wir sind gemäßigt, wie in der Türkei.

I.: Gemäßigt?

Necat I.: Ja, gemäßigt, nicht so streng, nicht so fundamentalistisch. Aber auf jeden Fall

sollte ein richtiger Muslim sein.

I.: Zum Beispiel beten?

Necat I.: Ja, beten, fasten oder man sollte ihn nicht sehen mit einer Flasche Bier, mit

Alkohol.“ (S. 232)

Zugleich sollten die Lehrer auch nicht das andere Extrem eines „hyper-liberalen“ Islam

vertreten, der kaum noch Bezugspunkte zur Religion hat. Daher spricht man, wie die

folgend zitierte Expertin, von einer „Religion der Mitte“:

„Anna S.: Also erst mal sollte diese Person über religiös-pädagogisches Wissen verfügen.

Sie sollten erst mal eine Grundausbildung haben, das ist das Grundliegende. Und wenn

ich mir nun so eine Person vorstelle, dann sollte er authentisch sein. Die Person sollte das

gut vermitteln können. Die Art und Weise ist wichtig, wie er das vermittelt und auch

glaubhaft vermitteln, also das man an seinem Verhalten sehen kann: ‚Der macht ja auch

das, was er uns lehrt, was er uns im Unterricht gesagt hat. Das macht er ja auch. Ich finde

ihn da wieder.‘ Ich finde, dass ist ein ganz wesentlicher Aspekt.

I.: Welche Erwartungen haben denn die Muslime, die Gemeinden an den Religionsunterricht,

bei den ganzen Diskussionen? Was erwarten die, was sind die Hoffnungen, die

man da reinsetzt?


406 B Empirischer Teil

Anna S.: Ja, eine Religion zu vermitteln, die auch im Prinzip die Religion der Mitte ist,

für das spätere Leben ist. Bei Kindern muss man da ansetzen, um die Kinder in eine gesunde

Bahn zu lenken. Das ist daher wichtig, dass der Lehrer die Religion der Mitte lehrt.

I.: Die Religion der Mitte würde für sie heißen?

Anna S.: Nicht in das eine Extrem fallen, aber auch nicht in das andere Extrem fallen.

I.: Man sollte also auch den Glauben praktizieren?

Anna S.: Genau, praktizieren sollte er schon.“ (S. 213)

Wie sensibilisiert die Moscheegemeinden hinsichtlich der Rolle der Lehrer sind, zeigen

Beispiele aus dem Alltag, wenn man den Religionsunterricht der Kinder – der übrigens

viel akribischer verfolgt wird als die Entwicklungen in den Moscheekatechesen – begleitet,

mit den Lehrern im engen Dialog stehen möchte sowie umgehend auf eventuelle Missverständnisse

reagiert.

„Sharif M.: Erste Aufgabe, den Islam richtig zu präsentieren und nicht nach ihrer

Meinung. Ihre Meinung nicht, weil das sind keine Gelehrten. Nur ein Gelehrter kann

eine Fatwa machen, daher dürfen Lehrer nicht aufweichen wie diese Lehrerin die einer

dreizehn, vierzehnjährigen sagte: ‚Fasten ist Pflicht, aber du brauchst nicht zu fasten.‘

Das sind gegen die Grundsätze der islamischen Religionspädagogik. Die Eltern erwarten

natürlich dann auch, dass die Lehrer auch praktizierend sind, wie von ihrer äußerlichen

Erscheinungen als auch innerlichen Überzeugungen und nicht Doppelmoral ‚Jetzt gibt

es Geld.‘ Das führt zu einem Problem. Die Moscheen haben kein Geld, die Lehrer kriegen

Geld, aber die Lehrer müssen am besten Präsentieren, weil sie haben das Geld. Es

ist nicht mehr Mangel an Geld oder Ehrenamt, sondern sie haben das Geld. Das heißt,

sie müssen wirklich, ihre Aufgabe nach besten Wissen und Gewissen übernehmen, und

sollen zur Gemeinde gehören. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand, ja ein Christ

Islam unterrichtet für Muslime, weil er denkt christlich. Aber ein Muslim soll praktisch

von der Gemeinde sein, soll praktizierend sein, genau wie in unseren Ländern. In unseren

Ländern bewacht die Gesellschaft die Lehrer, hier wird es schwieriger.

I.: Gibt es auch Befürchtungen?

Sharif M.: Ja, natürlich gibt es Befürchtungen. Erstens, dass es lange dauert bis es dauert.

Die Professoren an den Universitäten sind noch neu, die muss man entschuldigen. Die

sind noch nicht so kompetent wie in islamischen Ländern, die über 1000 Jahren Erfahrung

haben. Deshalb muss man die Institute erst mal in Ruhe lassen, bis sie das System

aufbauen, Erfahrung sammeln von allen.

I.: Ich meinte jetzt den Religionsunterricht. Was sind ihre konkreten Befürchtungen?

Sagen wir mal, der Unterricht ist schon etabliert, aber …

Sharif M.: Ja, dass der Lehrer den wahren Islam beibringt, aber mit seinen vielen Facetten,

man also auch über Rechtsschulen reden, sind alle Muslime, solange sie die 5 Grundlagen

des Islam und die 6 Grundlagen des Imān nicht verletzen und auch die Elemente, die dazu

gehören und nicht wie ein Schiite mal mir sagte: ‚Ğinn gibt es im Koran nur als Symbol.

[…] Ja, das ist neu, also zum Beispiel kommen die zu uns und sagen: ‚Wir haben gehört,

dass …‘ Also wir kennen eine Lehrerin, die beispielsweise hier in der Moschee. Früher

hat sie Arabisch unterrichtet, jetzt auch Islamunterricht. Dann kommen die Eltern: ‚Wir


2 Ergebnisse der empirischen Studie 407

haben gehört XY unterrichtet jetzt auch Islamunterricht. Welcher Stoff?‘ Dann sagte ich:

‚Stoff auf Deutsch‘, ‚Aha‘. ‚Dann muss man 12 Schüler finden und dann kriegen sie eine

Genehmigung Islamunterricht zu unterrichten. Wir warten jetzt natürlich auf die langfristigen

Reaktionen, wir wird das unterrichtet? Und da kommen eventuell die Probleme

aufgrund des Verhaltens der Lehrer und Lehrerinnen. Das ist noch offen, Bis jetzt habe

ich noch keine Beschwerden von unserer Moschee, aber von anderen Moscheen doch.

I.: Könnten Sie dazu was sagen?

Sharif M.: Ja, eine türkische oder arabische Lehrerin sagte, das Fasten ist kein muss. Sie

sagte ‚Fasten ist zwar Pflicht, aber du brauchst es nicht.‘ Oder wenn beispielsweise jemand

kommt und behauptet etwas anderes oder wie die Frau auch sich anzieht, so enge Kleider

oder so oder man sich nicht gut verhält. Oder aber auch, wenn der Islamunterricht nicht

effektiv ist. Da gibt es solche Fälle. Der Vorsitzende kann aber mehr erzählen über die

momentane Situation.“ (S. 324)

2.5.4 „Kein Staatsislam“: Erwartungen an den IRU auf der

Grundlage negativer historischer Erfahrungen mit der

religiösen Unterweisung im Rahmen des muttersprachlichen

Türkischunterrichtes

In den Gesprächen mit den Experten konnten ermittelt werden, dass trotz der großen

Zustimmung der muslimischen Gemeinden zu einer Einführung eines ordentlichen Studienganges

‚Islamischer Religionsunterricht‘ eine große Skepsis herrscht.

„Leider ist ein Großteil, vielleicht sogar 90 Prozent der Basis nicht informiert oder desinteressiert.

Sie verstehen entweder zum Teil die deutsche Sprache nicht oder ihnen ist es

einfach gleichgültig. Zusätzlich kommen bei einem Teil Vorurteile hinzu nach dem Motto:

‚Die Lehrer, die an den Universitäten ausgebildet werden, werden ja nur so ausgebildet,

wie der deutsche Staat es haben möchte.‘ Es gibt also kein Vertrauen, weil man der Meinung

ist, dass es sich um Lehrinhalte handelt, die nicht von Muslimen getragen werden

können.“ (Murtaza M., S. 167)

Um die Hintergründe der Ängste und Sorgen der muslimischen Gemeinden zu verstehen,

müssen die Erfahrungen der ersten und zweiten Generation im deutschen Bildungssystem,

konkret mit dem türkisch-muttersprachlichen Unterricht, historisch aufgearbeitet werden,

denn mit der Reproduktion der Konflikte aus dem Herkunftsland Ende der 1970er- bis

in die 1990er-Jahre hinein wurden auch in Deutschland in der Migrantengemeinschaft

ideologische Kämpfe ausgetragen, die zu einer religiös- und politisch motivierten Polarisierung

beitrugen. Auf lokaler Ebene zeigten sich diese ideologischen Politisierungen

durch die Gründung eigener Vereine sowie in Spaltungsprozessen, wie dies bei den türkischstämmigen

Einwanderern der Fall war. 785 Auf der öffentlichen Bühne wurden diese

Kämpfe – bei denen es auch um die Rolle der Religion in der Öffentlichkeit ging – eher

785 Vgl. Ceylan, Ethnische Kolonien, S. 139 ff.


408 B Empirischer Teil

subtil ausgetragen. Dabei ist den Experteninterviews zu entnehmen, dass es vor allem linke,

marxistisch-leninistische Personen geschafft haben, öffentliche Positionen und Ämter, wie

Lehrerberufe, zu besetzen und somit diese für ihre „Sache“ aus der Türkei in einer anderen

Form in Deutschland auszunutzen:

„In den 1980er-Jahren wurde die deutsche Gesellschaft zum Islam von türkischen Lehrern,

Pädagogen usw. beraten, die anti-muslimisch und marxistisch-leninistisch eingestellt

waren. Diese türkischen Marxisten hatten bessere Beziehungen zur deutschen Gesellschaft

und Behörden aufgebaut, daher wurden sie zu islamischen Themen befragt und sie haben

bewusste anti-islamische Propaganda betrieben. Die haben die Ängste der Deutschen bewusst

geschürt und falsche Dinge über konservative Muslime verbreitet. […] Die meisten

sind in 1981 gekommen und hatten schon vorher Kontakte nach Deutschland, weil die

türkischen Marxisten in Deutschland gut organisiert waren. Die konnten auch Fremdsprachen,

die deutsche Sprache, weil sie hier von Fördermitteln profitierten aufgrund ihrer gut

organisierten Strukturen. Wen haben die Deutschen deshalb in Sachen Islam und Türkei

in deutscher Sprache als Ansprechpartner fragen können? Diese türkischen Marxisten,

die ihnen dann entsprechende ideologische Antworten lieferten.“ (Mahmut Ö., 137)

Wie der älteste Experte Ahmet A. (75 Jahre), der ein wichtiger Zeitzeuge des gesamten

Prozesses der Moscheegemeindegründungen sowie der Einführung des islamischen Religionsunterrichts

ist, begannen diese Auseinandersetzungen schon in den 1970er-Jahren,

als man in Nordrhein-Westfalen einen Religionsunterricht implementieren wollte. An

der didaktischen Konzeption wirkten bereits diese links orientieren Lehrer mit, sodass

Konflikte schon im Ansatz gelegt wurden:

„Wir waren noch im Ost-West-Konflikt und es gab etliche im Orient, in welchen Ländern

auch immer, einschließlich der Türkei, die meinten, dass der sowjetische Sozialismus, die

Antwort und Lösung für die Zukunft ihrer Völker oder Stämme waren. Und das ist teilweise

von den Regierungen nicht toleriert worden. Im Ost-West-Konflikt hieß es immer:

‚Seid ihr für unsere Leute hier oder seid ihr für dort drüben?‘ Da ist so mancher in die

Sowjetunion gegangen oder angeworben worden und dort über Hochschulen gelaufen,

hat teilweise islamisches bewahrt, aber da habe ich sehr intensiv auch einzeln gefragt:

‚Habt ihr gebetet? [Die Antwort, Anm. d. Verf.]: Nein, aber Id’al Fitr ja.‘, (Frage von

AA): ‚Was haben die Sowjets gesagt? Also die Hochschulleute, oder in Dresden oder diese

Hochschule da in Bulgarien. Also die haben die Grundelemente des Islam bewahrt, in

einer derartigen Weise, dass jeder der hier noch halbwegs fromm gesagt hat: ‚Kufr.‘ […]

In Nordrhein-Westfalen ist es zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Die Eltern

sind auf die Barrikaden gegangen und haben gegen einzelne Lehrer protestiert, weil sie

historisch konsequent, aus ihrer kemalistischen Position heraus einen Islam vermittelten,

der an der Orthopraxie de facto vorbei ging. Wenn also ein Schüler fragte: ‚Was mache

ich denn, wenn da kein Wasser ist.‘ Und das sagte er: ‚Da nimmst du Toilettenpapier 786 .‘

786 Im Islam gilt die gründliche Reinigung mit Wasser des Intimbereichs zu einer wichtigen Bedigungen

religiöser Pflichtgebete beziehungsweise Rituale. Daher wird darauf Wert gelegt, dass


2 Ergebnisse der empirischen Studie 409

Der Schüler aber sagte dann: ‚Mein Lehrer in der Moschee, der Hodscha hat aber gesagt,

das darf ich nicht.‘ Dann erklärte der Lehrer: ‚Das ist so alles Quatsch. Das ist ein Idiot.‘

Ich sage das mal in meiner deutschen Art, nicht? Dann guckte der Junge, erzählte es dann

zu Hause. Und die sagten: ‚Nein, raus [aus dem Unterricht, Anm. d. Verf.].‘ […] Also, ich

habe den Eindruck, dass das im Hintergrund immer noch eine Rolle spielt. Es hat sicherlich

auch eine große Anpassung wegen den Berufsaussichten gegeben. Das ist überhaupt

nicht zu bezweifeln. Es gibt auch eine, ja, es gibt auch ein Druck von den Moscheen her,

von den Gemeinschaften und es gibt, sagen wir mal, resignative Haltung bei vielen. Ich

habe ja etwas Psychologie studiert und dann höre ich ein bisschen mehr. Ich habe den

Eindruck, dass das durchaus noch im Hintergrund steht. Ich war hier in einer Stiftung

lange Zeit und ich habe mich dann dort getrennt, weil die Lehrerinnen und Lehrer die dort

auftauchten und diese Anfangsstrukturen, Versuche pädagogisch islamisch zu arbeiten

plötzlich in ein solche Art hineinführten, dass ich dann sagte: ‚Sind Sie noch sicher, dass

das noch Islam ist?‘ Und dann habe ich mich distanziert.“ (Ahmet A., S. 48 f.)

Der Islam wurde spätestens mit der Einführung des muttersprachlichen Unterrichts – zur

Pflege der Muttersprache wie des Türkischen zur Hilfe bei der Rückkehr der Familien

in das Herkunftsland – in diesem Fach beiläufig thematisiert. Die Einführung dieser

Unterrichtsform folgte also ganz der Logik der Ausländerpädagogik. Daher war auch der

Islam als „Ausländerreligion“ – wie in der Türkei auch – ein Teil des muttersprachlichen

Unterrichts. Die türkisch-muslimischen Gemeinden vermuten eine Strategie des türkischen

Staates dahinter, um über diesen Unterricht und über diese Lehrer Einfluss auf die

Muslime in Deutschland auszuüben:

„Weil der damalige türkische Staat das so wollte. Diese antireligiöse Gesinnung hatte

sich bis nach Europa verbreitet durch die türkischen Lehrer, die sich an die türkischen

Lehrpläne hielten. Daher hatte ich einen atheistischen Lehrer, der verrückterweise im

Religionsunterricht über Gott sprechen sollte. Gibt es da etwas verrückteres? […] Wenn

man sich die Zeit vergegenwärtigt, der Kemalismus und rassistische Themen, diese Inhalte

im Unterricht haben mehr Schaden als Nutzen für uns gehabt. Viele Schüler, die über

keine Wissensgrundlagen von zu Hause vermittelt bekommen hatten, wurden durch

diesen Unterricht negativ beeinflusst. Das ist ja natürlich, wenn man als Kind noch ein

leeres Blatt ist und wenn wichtige Personen wie Mutter, Vater, Imam oder Lehrer dem

Kind Wissen eintrichtern, dass man als Kind dieses Wissen annimmt und zum Teil

ein Leben lang geprägt wird. Wie ein schlechter Samen den man im Kind säet. Gott sei

Dank, hat es bei mir keine Spuren hinterlassen, weil ich schon etwas religiöses Wissen

aus der Familie und der Moschee gelernt hatte. Aber diese Angst vor solchen Lehrern ist

immer noch da, wenn die Eltern heute ihre Kinder zum Religionsunterricht schicken.

Ich beispielsweise werde, wenn mein Kind den islamischen Religionsunterricht besuchen

sollte, werde zur Schule gehen, um den Religionslehrer persönlich kennenzulernen und

überzeugt sein, dass er nach bestimmten Kriterien ausgewählt wurde. Aber grundsätzlich

kann man sich heute auf die iğāza der islamischen Landesverbände verlassen, weil die

nach der Notdurft die entsprechenden Körperstellen gewaschen werden müssen.


410 B Empirischer Teil

Lehrer bestimmte Voraussetzungen erfüllen müssen. Da ich ja aktiv bei der Einführung

der mitgewirkt habe, habe ich ein ruhiges Gewissen, aber die meisten muslimischen Eltern

kennen diese Regelung gar nicht, so dass heute, aufgrund der schlechten Erfahrungen mit

den Türkischlehrern Zweifel da sind. Um diese Zweifel auszuräumen, müssen wir diese

Entwicklungen in der muslimischen Basis durch Informationskampagnen usw. bekannter

machen.“ (Ikbal I., S. 177)

Bei den türkischen Lehrkräften waren auch Personen dabei, die nach dem dritten Militärputsch

als Exilanten nach Deutschland kamen und nicht einmal über ein Lehramtsstudium

verfügten. Einerseits waren es Lehrkräfte, die keine religionspädagogischen Kompetenzen

hatten und sogar – um mit Max Weber zu sprechen – überhaupt nicht „religiös

musikalisch“ 787 waren. Andrerseits waren die Lehrkräfte unter sich in rechten und linken

Gruppierungen polarisiert, sodass die muslimischen Schüler/innen – je nach politischer

Orientierung der Lehrer – entweder einen anti-religiösen oder einen mit nationalistischen

Elementen versehenen und ideologisch instrumentalisierten Religionsunterricht erlebten.

Ebenso spiegelte sich das türkische Bildungssystem hierzulande wider, in dem auch Prügelstrafen

eine gängige Erziehungsmethode waren. Insbesondere die zweite Generation musste

in den 1980er-Jahren die Schulerfahrungen machen, von diesen ideologisch polarisierten

Lehrkräften unterrichtet zu werden:

„Ja, also bei der religiösen Erziehung, ja leider, war bis zur Gegenwart kein Islamunterricht

angeboten worden. Es gab nur dieses ‚Din ve Kültür- 788 Dersi‘ (Religion und Kultur),

dass aber kein wirklicher Religionsunterricht war. Das Problem ist, dass 98 Prozent der

türkischen Lehrer für diesen Unterricht, weder eine religionspädadogische noch eine

Lehrerausbildung hatten. Die meisten sind vor und nach dem Putsch von 1980 nach

Deutschland geflüchtet und haben ein Studium der Ingenieurswissenschaften begonnen,

aber bekamen dann irgendwie einen Lehrerberuf […] Also die Erfahrung mit diesen

Lehrern hat dazu geführt, dass wir natürlich gegenüber diesen Lehrern, die heute immer

noch an Schulen unterrichten, große Vorbehalte haben. Das hat zum Beispiel auch dazu

geführt, dass die Eltern in meinem Alter oder etwas jüngerem Alter, ihre Kinder nicht

mehr zum türkischmuttersprachlichen Unterricht anmelden, obwohl der Bedarf sehr

groß ist. Die Kinder bekommen nicht mehr die Möglichkeit, ihre eigene Muttersprache

zu lernen, weil leider die Einstellung dieser Lehrer einen sehr schlechten Eindruck bei den

Eltern hinterlassen haben, eine Langzeitwirkung hinterlassen haben. Das wirkt bis heute

nach, dass die Eltern, obwohl die neue Generation überhaupt keine Erfahrung mit diesem

Unterricht gemacht haben, ihren Kindern diktieren: ‚Du wirst diesen Unterricht nicht

besuchen.‘ Sie war nicht nur sehr religionsfern, sondern haben die muslimischen Kinder

an deutschen Schulen so unterrichtet, wie sie es selbst in der Türkei erfahren haben. Die

Eltern dieser Schüler waren fromme, einfache, konservative Menschen aus Anatolien

und diese säkularen Lehrer haben sich dann im Unterricht über den religiösen Lebensstil

787 Damit ist die „Fähigkeit zu religiöser Gläubigkeit“ gemeint (Joachim Vahland, Max Webers

entzauberte Welt, Würzburg 2001, S. 52).

788 Dieser Unterricht hatte einen religionskundlichen Charakter.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 411

der Eltern lustig gemacht: ‚So kann man doch heute nicht mehr leben. Die Menschheit

fliegt heute zum Mond und ihr geht heute immer noch in die Moschee.‘ […] Zum Beispiel

sagte man den Kinder, der Islam ist eine Religion für die Wüste, wie könne da diese Religion

Antworten für die moderne Gesellschaft liefern? Die religiösen Gebete seien heute

überflüssig geworden oder man sagte, der Islam sei der Grund, dass die Araber und die

Muslime insgesamt heute rückständig seien. Diese Phase beginnt 1980 und dauert so

ungefähr bis 1995. Die muslimischen Eltern, die erste und zweite Generation, haben sich

nicht widersetzt. Sie waren nicht organisiert, hatten keine Elternvereine gegründet und

hatten Angst vor diesen Lehrern, weil sie Autoritäten waren, sie haben also vieles nur

geschluckt. Erst viel später, in den letzten Jahren hat sich etwas verändert. (Hamit A., S. 77)

Vor diesem Hintergrund sprechen die türkischstämmigen Experten aus den Gemeinden

von „anti-religiöser Propaganda“ im muttersprachlichen Unterricht, die sie unmittelbar

selbst erlebt oder diese Erfahrungen über ihre eigenen Kinder gesammelt haben. Diese

Erinnerungen scheinen sehr lebendig zu sein, zumal diese Lehrer noch nicht in Pension

gegangen sind und man sie noch heute antreffen kann:

„Haluk M.: Das weiß ich nicht. Ich kann zu den 70er-Jahren nichts sagen, weil ich erst

in den 1970er nach Deutschland gekommen haben, nur zu den 1980er- und 90er-Jahren

kann ich was zu sagen. Diese Lehrer waren nicht religiös, sogar in vielen Fällen Atheisten.

Der erste Lehrer meiner Tochter hier in Hannover …, soll ich den Namen nennen?

I.: Ist nicht nötig.

Haluk M.: Wir kannten ihn gut, weil er areligiös war. Diese Lehrer haben unseren Kindern

die Köpfe ziemlich durcheinandergewirbelt.

I.: Was haben die so im Unterricht erzählt?

Haluk M.: Dass es Gott – tauba h˘

āṣṣa 789 – nicht gibt, dass die Propheten nicht echt sind,

unsere Kinder und wir haben viel durchmachen müssen. […] Also das waren so Ende

der 1980er Jahre bis in die 1990er hinein, weil meine Tochter, die 1981 geboren ist, in

1988 eingeschult wurde. Sie hat auch den Religionsunterricht im muttersprachlichen

Unterricht besucht, bei diesen – ich möchte die nicht Hodscha nenne, weil das waren

die nicht, sondern bei diesen Lehrern. Diese Lehrer hatten mit dem Islam überhaupt

nichts zu tun. Entweder werden diese Lehrer absichtlich eingestellt, um die Köpfe unserer

Kinder durcheinanderzubringen oder die hatten keine schlechten Absichten, waren aber

religionsfern und hatten kein religiöses Wissen. Diese Lehrer haben unseren Kindern im

Religionsunterricht unterwiesen. Das war nicht mal Religionsunterricht, sondern ‚Din

ve Kültür Dersi‘. Als ich dann zu den Lehrern und zur Schulleitung ging um mich zu

beschweren hat man mich nur versucht mit den Worten abzuweisen: ‚Ach, ein sieben,

acht oder zehnjähriges Kind versteht dass doch nicht oder hat es falsch verstanden.‘ Von

wegen. Auch ein siebenjähriges, und sogar fünfjähriges Kind versteht sehr gut, was man

ihm über Religion erzählt. Nur um die Köpfe unserer Kinder zu vernebeln in der Schule.

Bei meinem Kind war das sogar, dass sie den Lehrer belehren und unterrichten musste,

weil der keine Ahnung hatte. Einmal sagte einer dieser Lehrer abfällig: ‚Ich habe gehört, es

789 Im Sinne von „Gott bewahre“.


412 B Empirischer Teil

soll angeblich Engeln existieren ‚. Hör dir den Lehrer mal an. Er sagt nicht, ich weiß dass

es Engeln gibt, sondern angeblich soll es sie geben. Weil meine Tochter darauf bestand,

drehte sich der Lehrer zu den anderen Schülern und sagte: ‚Hört ihr, eure Mitschülerin

glaubt, dass Engeln existieren.‘ Zum nächsten Unterricht hat dann meine Tochter ein

dreiteilige Hörkassette zum Leben des Propheten Muhammad mitgebracht, auf denen

auch das Thema Engel behandelt wurden, um den Lehrer zu überzeugen. Das waren die

Umstände. So wurden unsere Kinder zum Islam an Schulen unterrichtet in Deutschland

von solchen Lehrern.“ (Haluk M., S. 151 f.)

Trotz dieser großen Unzufriedenheit unter den türkisch-muslimischen Eltern kam es nicht

zu größeren, organisierten Beschwerden gegenüber diesen Lehrern. Hierbei spielen laut

den Experten mehrere Faktoren eine Rolle. Die Gründe dafür, dass sich die muslimischen

Eltern nicht organisierten und Beschwerde einlegten, waren unter anderem:

sprachliche Probleme (keine Deutschkenntnisse),

ein aufgrund des fehlenden sozialen Kapitals schwaches Mobilisierungspotenzial,

Angst vor negativen Konsequenzen vonseiten der Schule, wenn man offen gegen einen

Lehrer agierte (Lehrer sind besondere Autoritäten im Herkunftskontext),

geringes Bildungsniveau,

Desinformation hinsichtlich der eigenen Rechte und der Schulgesetze,

Sorgen vor anderen, nicht kalkulierbaren Konsequenzen, da linke, marxistische Lehrer

auch zu anderen Organisationen, wie Türk-Danis (Sozialberatungsstellen usw.) und den

Medien, gute Kontakte hatten,

und fehlendes Selbstbewusstsein wegen des unsicheren Aufenthaltsstatus in Deutschland,

Da diese Lehrer von türkischen Konsulaten abgesegnet waren, galt darüber hinaus jede

Art von Agitation als gegen das Konsulat und somit gegen den türkischen Staat gerichtet.

Diese Organisationsschwäche erklärt auch die Tatsache, dass in den 1970er- und 1980er-Jahren

kaum Elternvereine gegründet wurden. Andererseits fehlte aufgrund der innermuslimischen

Konkurrenzkämpfe eine geschlossene Haltung, um gemeinsame Interessen

zu vertreten. Erst in den letzten zehn Jahren ist ein selbstbewussteres und gemeinsames

Auftreten muslimischer Organisationen in der Öffentlichkeit wahrzunehmen.

„Ikbal A.: Die Eltern war eingeschüchtert und sprachen zudem kaum Deutsch.

I.: Aber das waren ja Türkischlehrer.

Ikbal A.: Nein, nicht deswegen. Sie hatten Angst gegen diese Türkischlehrer zu protestieren,

weil sie befürchteten, dass die Kinder auch in den anderen deutschen Fächern schlechte

Noten bekommen könnten als Reaktion auf diesen Protest. Dann spielte natürlich die

Autorität des Lehrerberufs eine Rolle, die für die Türken ähnlich war wie ein Arzt oder

Psychologe. Man hatte daher auch irgendwie Respekt vor diesen Lehrern. Es gab auch

Familien, die gegen diese Lehrer Beschwerden einlegten, aber das war eine Minderheit.

Heute sähe das anders aus. Ich bin mir sicher, würden heute solche Lehrer den Religionsunterricht

anbieten, würden 99 Prozent der muslimischen Eltern klagen.“ (S. 176)


2 Ergebnisse der empirischen Studie 413

Zum Teil war es eine pragmatische Entscheidung der selbstbewussten, religiös gebildeten

Eltern, sich nicht gegen den muttersprachlichen Unterricht zu positionieren, damit die

eigenen Kinder die türkische Sprache erlernten, denn die Angst vor einer Assimilation

war zu groß, und die Muttersprache wurde als wichtige Verbindung mit der eigenen Tradition

und Religion gesehen. Daher wurden Kinder aus diesen selbstbewussten Familien

zu Hause gegen die „anti-religiöse Propaganda“ der Lehrer „immunisiert“ und in den

Unterricht gesandt:

„Ich wurde auch von diesen marxistischen Lehrern unterrichtet, deshalb kann ich auch

gerne über meine Erfahrungen sprechen. Sie hatten nur die Kriege der Muslime thematisiert

oder die Vielehe des Propheten oder seine Taten gegen Christen. Daneben zwar

auch Gebet und ḥağğ, aber eher die negativen Seiten. […] Mir kam es so vor, als wollten

sie, dass wir uns von der Religion distanzieren sollen. Wir sollten zwar über die Religion

informiert werden, aber nicht selbst religiös werden. Das ist meine Vermutung, weil

ich schon in der Türkei eine gute religiöse Bildung bekam und meine Familie auch sehr

religiös war, konnte ich das einordnen. Ich konnte diese negativen Sachen des Lehrers

auch zu Hause meinen Vater fragen, der dann mich aufklärte und sagte: ‚Mein Sohn, du

kennst das Richtige und kannst es vom Falschen unterscheiden. Daher möchte ich, dass

du trotzdem zum Unterricht gehst, um dein Türkisch zu verbessern.‘ Meinem Vater ging

es nicht darum, dass ich dort Religion lernen sollte, im Gegenteil. Ihm ging es nur um die

türkische Sprache.“ (Yalcin K., S. 105)

Andere, weniger selbstbewusste Familien dagegen setzten aus Angst vor dem negativen

Einfluss dieser Lehrer/innen auf die Schutzfunktion bestimmter Koransūren, die ihre

Kinder vor dem Besuch des muttersprachlichen Unterrichts rezitierten, um sich zum einen

zu immunisieren und zum anderen nicht als religiöse Schüler/innen entlarvt zu werden:

„Also, die haben keine Bildung und sind auch gegen Religion. Ich kenne das noch von

meinen Kindern. Bevor die zur Schule gegangen sind, haben die die sūra yāsīn 790 gelesen,

damit der türkische Lehrer nicht ihre religiöse Identität wissen sollte, weil sie ohne

Kopftuch waren. Die deutschen Lehrer nicht, aber die türkischen Lehrer. Die türkischen

Lehrer waren wirklich sehr fies gegenüber unsere Generation. Meine Tochter wusste schon

viel, weil sie viel auswendig gelernt hatte mit neun Jahren und konnte schon yāsīn und

andere sūra. Die hat sie immer vor dem Unterricht gelesen, um sich zu schützen vor ihm.

Das war katastrophal. Die hatte mehr Angst vom Türkischlehrer als von den deutschen

Lehrern.“ (Remziye H., S. 336)

Die Vergangenheit scheint noch nicht verarbeitet zu sein, sodass diese negativen Erfahrungen

in Form latenter Ängste immer noch vorherrschen und sich unter anderem in den

strengeren Erwartungshaltungen an die heutigen Lehrkräfte für den islamischen Religi-

790 Ebenso eine sehr populäre sūra im Koran, die bei vielen Anlässen rezitiert wird.


414 B Empirischer Teil

onsunterricht widerspiegeln. 791 Vor diesem Hintergrund sehen sich die Repräsentanten

der Moscheegemeinden – die auch selbst diese historischen Erfahrungen gemacht haben

– in einer Brückenfunktion zwischen den muslimischen Eltern und den staatlichen Institutionen,

um Vertrauen für das neue Fach ‚Islamischer Religionsunterricht‘ zu schaffen:

„Ich denke diese Funktion übernehmen wir derzeit. Viele Muslime, viele Eltern sind diesen

Entwicklungen gegenüber misstrauisch. Wenn man sich die Vergangenheit anschaut, wie

mit Muslimen umgegangen wurde, dann kann man dieses Misstrauen sehr gut verstehen.

Ich sage nur mal die verdachtsunabhängigen Moscheekontrollen, die ganzen NSU-Morde,

das hat schon alles zu einem Vertrauensverlust bei den Muslimen geführt. Die Muslime

vertrauen der ganzen Sache nicht. Und viele haben noch die Entwicklungen in der Türkei

der 1930er- und 40er-Jahre sehr gut im Gedächtnis. Dort hat man ja auch versucht, die

Religion zu verstaatlichen in der Türkei. Ähnliche Befürchtungen hat man hier auch immer

noch. Ich sage mal aber, solange wir Muslime, die Gemeinden, die praktizierenden Muslime

diesen ganzen Prozess mitgestalten, sehe ich da keine Gefahren.“ (Hakki K., S. 283 f.)

Da ein Teil dieser muttersprachlichen Lehrer für die türkische Sprache aufgrund der

mangelnden Perspektiven in ihrem Fach derzeit in das Fach ‚Islamischer Religionsunterricht‘

wechseln möchten, sind die muslimischen Landesverbände besonders alarmiert,

denn in Nordrhein-Westfalen hat das Land – um in kurzer Zeit viele Lehrer für den

Religionsunterricht zu gewinnen – Fortbildungskurse angeboten, sodass auch zahlreiche

muttersprachliche Lehrer daran teilnahmen.

„Amina F.: „Ja, auf jeden Fall. Also die, muss man dazu sagen, in Niedersachsen, sind

die Lehrer ausgesucht worden vom Kultusministerium ohne das damals mit dem runden

Tisch darüber gesprochen wurde und auch lange Zeit gab es kein Kontakt, weil das geheim

gehalten wurde sozusagen, also der Runde Tisch wusste lange Zeit nicht so genau, wer da

jetzt unterrichtet und es gab keine Gespräche. Erst mit der Zeit, mit den Jahren, ist das

aufgeweicht und dann erst, nach der Hälfte der Zeit sage ich mal, nach fünf Jahren oder

so wusste man dann welche Lehrer unterrichten, nachdem das Vertrauensverhältnis am

Runden Tisch besser geworden war. Jetzt ist es so, dass natürlich einige Lehrer schon seit

bestimmt acht Jahren diesen Modellversuch mitgetragen haben, die könnte man jetzt

nicht einfach rausschmeißen, das war für die auch eine existenzielle Frage, muss man

ganz ehrlich sagen. Und sind auch gute, herzensgute Menschen, also die das mit bestem

Wissen und Gewissen machen, denen aber einfach sehr viel Wissen fehlt, theologisches

Wissen in dem Fall. Und das ist jetzt halt,sagen wir mal, das war der Anfang.

I: Entsprechen diese Lehrer dem Profil der Erwartungen der Eltern?

Amina F.: Noch nicht, nein.

791 Eigentlich müsste dieser historischen Phase im deutschen Bildungssystem eine komplett eigene

Forschung gewidmet werden. Die Ausführungen in diesem Unterkapitel dienen nur als

Hintergrundinformation für die besondere Sensibilität der muslimischen Gemeinden bei der

Lehrerauswahl für den schulischen Religionsunterricht. Für die staatlichen Ansprechpartner

im Rahmen der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts haben diese Informationen

ebenfalls Relevanz, um mehr Empathie für die muslimischen Gemeinden zu entwickeln.


2 Ergebnisse der empirischen Studie 415

I: Woran haperts, also ist das die eigene Praxis?

Amina F.: An theologische Wissen, an der Vorbild-Wirkung und an pädagogischem

Wissen.“ (S. 428)

Zwar sollte man diese Lehrer nicht unter Generalverdacht stellen, aber die historischen Erfahrungen

der muslimischen Gemeinschaft im deutschen Bildungssystem müsste aufgearbeitet

und die Ängste müssten ernst genommen werden, damit eine Vertrauensbasis entstehen

kann und die muslimischen Repräsentanten diese Brückenfunktion in die muslimische

Basis hinein erfüllen können. Allerdings scheint allein das Gerücht, dass die Lehrkräfte

für den muttersprachlichen Unterricht für den islamischen Religionsunterricht in Form

von Fortbildungen eingesetzt werden sollen, für interne Mobilisierungen auszureichen:

„Esra C.: Ich weiß nur, dass viele Türkischlehrer diese Fortbildung gemacht haben

und jetzt auch Religionsunterricht geben dürfen und das finde ich schon katastrophal.

I.: Ja wie wirkt sich das dann bei den muslimischen Eltern aus?

Esra C.: Ich denke, das wird jetzt alles noch kommen, also wenn dann wirklich der Religionsunterricht

von solchen Lehrern durchgeführt wird und sich das dann auch rumspricht,

dass dann der Religionsunterricht einen großen Schaden nehmen wird. Also, dass das ja

eben, so optimistisch wie man dann am Anfang war, dass dann aber eigentlich vielleicht

sogar scheitert.“ (S. 477)

2.5.5 Verhältnisbestimmung und Funktion der drei Lernorte:

die Moschee als Korrektiv

Die Gesamtbewertung der empirischen Daten zur religiösen Erziehung in muslimischen

Familien, den religionspädagogischen Herausforderungen in der Moscheekatechese sowie

der sozialen Mechanismen, die zu den oben skizzierten Erwartungshaltungen an den islamischen

Religionsunterricht führen, lassen die Schlussfolgerung zu, dass es hinsichtlich der

Hierarchie in den Lernorten ‚Familie‘, ‚Gemeinde‘ und ‚Schule‘ zu Verschiebungen und zu

Funktionalisierungen kommen wird. Bereits jetzt ist gemäß den Aussagen der interviewten

Experten abzusehen, dass die Rolle der muslimischen Familien mit Gemeindebindung

bezüglich der religiösen Erziehung der eigenen Kinder sich abschwächen wird:

„Wenn ich mir die religiöse Erziehung in den muslimischen Familien betrachte, dann

muss ich leider feststellen, dass diese Aufgabe nicht erfüllt wird. Das ist offensichtlich. Die

Moscheen sind an Wochenenden gut besucht, es kommen viele Kinder, aber der Anteil

an diesen Kindern und Jugendlichen, die das religiöse Wissen verstehen und praktizieren,

ist sehr gering. Deshalb glaube ich, dass die Schulen eine große Aufgabe haben im

Religionsunterricht. Viele Moscheegemeinden sind sich gar nicht darüber im Klaren,

weil sie mit internen Problemen beschäftigt sind. Ich sagte ja vorhin, dass während die

einen 13, 14 Stunden am Tag ehrenamtlich arbeiten, die anderen Moscheegemeinden

aufgrund der Konflikte nicht mal in der Lage sind, einen Vorstand zu wählen. Es gibt

sogar Moscheen, die eigentlich kurz vor der Schließung sind, aber wegen dem Druck des


416 B Empirischer Teil

Bundesdachverbandes nicht schließen. Das gibt leider auch. Deshalb kann eine gute

religiöse Erziehung mit einem guten Lehrplan, also diese Lokomotiv-Funktion kann nur

die Schule übernehmen. Dieses Konzept muss man den Gemeinden vorlegen und die

Gemeinden müssen diese mit den muslimischen Familien absprechen.“ (Said Ö., S. 167)

Diese abnehmende Tendenz nehmen die Moscheegemeinden in den letzten Jahren stärker

wahr. Allerdings scheint sich zugleich eine Hilflosigkeit breit zu machen, da die Gemeinden

für sich keine Möglichkeiten sehen, diese Familien – vor allem ohne Gemeindebindung

– einzubinden. Lediglich durch das neue Fach ‚Islamischer Religionsunterricht‘ wird die

Möglichkeit gesehen, sie zu erreichen:

„Da müssen wir, die Moscheegemeinden uns kritisch fragen, wie erfolgreich wir dabei

sind, die muslimischen Familien mit unseren Angeboten zu erreichen? Da sind wir leider

nicht erfolgreich. Deshalb haben wir große Erwartungen an den Schulen, weil Kinder

und Jugendliche aus allen muslimischen Familien dort zusammenkommen, aber in die

Moscheen kommen die meisten dieser muslimischen Kinder nicht. Diese Rolle muss

daher die Schule übernehmen, weil der islamische Religionsunterricht alle erreichen

wird. Deshalb erwarten wir, dass die Lehrer für den Religionsunterricht den Islam

praktizieren, damit sie die von uns erwünschte Generation für die Moscheegemeinden

hervorbringen können. Das ist auch für Deutschland, wenn gottesfürchtige Jugendliche

erzogen werden, die wissen, dass Lügen, stehlen, Verbrechen usw. Ḥarām sind. Das ist

auch für die deutsche Gesellschaft und für die muslimischen Gemeinden ein Gewinn.“

(Hayrettin G., S. 148 f.)

Daher zeigen die Meinungsbildungsprozesse unter den Experten, dass es zu einer Funktionalisierung

des islamischen Religionsunterrichts kommen kann, weil man in der Schule

die Kompensationsmöglichkeiten für die Verschiebungen in der Hierarchie der religiösen

Lernorte sieht. Mit dem islamischen Religionsunterricht versprechen sich die Gemeinden

einen entscheidenden Schritt in den „riskanten“ öffentlichen Raum, wo sie nicht nur die

Schüler/innen mit Gemeindebindung erreichen können, sondern auch die ohne. Bei der

Verschiebung der Lernorte erkennt man allerdings auch, dass die Schulen in Zukunft die

Exklusivität der Moscheegemeinden untergraben könnten:

„Ich habe ja es vorhin erwähnt, diejenigen Kinder die sich glücklich schätzen können, die

sich in einer Luxus-Situation befinden, sind die im Moscheeunterricht. Das sind die, die

zwar verhältnismäßig weniger sind, aber dafür ihre Religion in den Moscheen erlernen.

Aber es kann sein, dass in vier oder fünf Jahren die Schulen die gleiche Bedeutung erlangen

wie die Moscheegemeinden, weil in beiden Orten die Kinder zwei Mal die Woche Unterricht

haben werden. Bisher ist das so, wenn ein Kind mal einem Wochenendende nicht

in der Moschee war, dann hat er insgesamt 14 Tage keinen Unterricht und macht kaum

Fortschritte. Wenn wir es aber es heute schaffen würden, dass wir die Religionslehrer und

die Imame sich an einem Institut treffen können, und dazu noch ein Professor aus einem

Islam-Institut dabei ist, und sie über ihre Lehrpläne abstimmen und sich ergänzen. Das

würde auch die Widersprüche in der Lehre unterbinden, weil der Imam in der Moschee


2 Ergebnisse der empirischen Studie 417

was anderes erzählt und die Lehrer im Religionsunterricht der Schulen was anderes

erzählen.“ (Hamit A., S. 81)

Dennoch postulieren die Experten dafür, dass der Lernort ‚Moschee‘ eine wichtigere Rolle

einnehmen muss, denn sie repräsentiere eine gewisse Authentizität, die weder die Familien

noch die Schulen ersetzen könnten:

„Wenn es eine religiöse Familie ist, dann wird es in der Familie gelehrt. Sie verbringen

ja mehr Zeit zu Hause als in der Moschee und werden daher stärker von Eltern, durch

Nachahmung usw. geprägt. Wenn die Eltern zum Beispiel beten, beten die Kinder mit

usw. Für die weniger religiösen Familien nimmt die Moschee an erster Stelle eine wichtige

Rolle. Aber insgesamt muss man wissen, dass weder die Familie noch die Schulen

ohne die Moscheen auskommen können. Die Moscheen sind nicht wie die Kirche, wo

man nur einmal in der Woche, also nur Sonntags, hingeht, sondern die Moscheen sind

24 Stunden für den Gottesdienst geöffnet. Auch wenn die Moschee mal geschlossen sein

sollte, so gibt es immer einen Platz im Vorraum oder einen Vorhof, das für das private

Gebet offen ist. Weil die Muslime dazu angehalten sind, die fünf Pflichtgebete oder die

Freitagsgebete gemeinschaftlich zu verrichten, daher kann weder die Familie noch die

Schule denselben Rang einnehmen wie die Moscheegemeinden. Man kann auch zu

Hause sicherlich eine gute religiöse Erziehung erhalten oder eine noch bessere, perfekte

Erziehung an Schulen, aber wir können nicht einfach sagen: ‚In der Familie wird gute

religiöse Bildung angeboten und an den Schulen auch, wozu brauchen wir da noch die

Moscheen?‘ Denn die Bescheidenheit und die Verhaltensweisen die man im Moscheeunterricht

vermittelt bekommt, also vorher die Schuhe ausziehen, sich auf den Boden knien

beim Unterricht, und sein Haupt vor dem Imam mit Respekt senkend – was sagt man

da im Deutschen? Unterwerfung glaube ich – ja, mit Unterwerfung zu rezitieren und zu

lernen, die Demut, die Spiritualität, also die gesamte Atmosphäre der Moschee zu erleben

ist etwas unvergleichbares. Diese Atmosphäre kann man weder an den Schulen noch zu

Hause, aufgrund der vielen Ablenkungen, erleben. Daher können keine Einrichtungen

die Moscheen ersetzen.“ (Ikbal I., S. 177 f.)

Diese Authentizität zeichne sich dadurch aus, dass die Moscheen als „Korrektiv“ fungieren

müssten, um die „wahre Lehre“ des Islam in der Gesellschaft zu bewahren. Die Aufgabe

werde daher auch in Zukunft sein, dass die falschen Lehren in den muslimischen Familien

nur in den Moscheen „korrigiert“ werden könnten, nicht aber in den Schulen. Die Vielfalt

des Islam, die durch kulturelle und traditionelle Faktoren geprägt sei, könnte nur in den

Moscheen zu einer Einheit geformt werden. Zugleich wird in den Aussagen der Experten

deutlich, dass die zukünftige Rolle vor allem ein Wunschdenken ist, da man sich durchaus

über die strukturellen Defizite sowie über die Auswirkungen der Säkularisierungs- und

Individualisierungsprozesse eigentlich im Klaren ist, dennoch aber eine Revitalisierung

sich erhofft:


418 B Empirischer Teil

I.: Neben den Moscheen, gibt es ja auch die Schulen …

Salih D.: … die harmonisch miteinander sein müssen, in Einklang stehen müssen. Wenn

die sonst zusammenprallen, dann wäre das schlecht. Die Moschee muss in der Mitte

stehen zwischen Familie und Schule, als Synthese sozusagen. […] Aber die Moscheen

sind gerade in einer Stagnationsphase. Die erste Generation hat alles getan, was ihnen

mit ihren bescheidenen Mitteln möglich war. Sie haben sich organisiert, Moscheen und

Organisationen gegründet usw. Jetzt sind sie Rentner und pendeln zwischen der Türkei

und Deutschland. Ich sage diesen Rentnern immer: ‚Ihr seid unsere Säulen, geht nicht in

die Türkei, sondern bleibt hier. Nimmt eure Enkelkinder in die Hand und kommt in die

Moscheen zu den Gottesdiensten. Wir machen die Erfahrungen, dass wenn die Großväter

nicht pendeln und ihre Enkelkinder mitnehmen, dass die Teilnehmerzahlen bei den

Gottesdiensten um 30 bis 40 Personen ansteigen. Wenn die Älteren da sind, fühlen sich

die Jugendlichen angespornt beziehungsweise fühlen sich verpflichtet zu kommen. Ich bin

mir sicher, dass wir in den nächsten sechs bis sieben Jahren wieder eine lebendige Phase

erreichen werden, weil die zweite Generation die so zwischen 45 und 50 Jahre alt ist, sich

langsam, wegen dem stärkeren Gedenken an Gott, wieder der Religion und den Moscheen

zuwenden werden. […] Das Ideal müsste sein, dass die Moscheen an erster Stelle kommen,

weil die Kinder dort die Religion direkt aus der Quelle lernen. Man kann zwar auch in den

Familien eine religiöse Erziehung erhalten, die Frage ist aber wie authentisch das ist. Die

Moschee hat eine Filterfunktion, weil sie die falschen Lehren in den Familien korrigiert.

Die Moschee ist in der Lage, alle unterschiedlichen traditionellen Strömungen in der

islamischen Lebensweise in eine richtige Richtung zu bringen. Denn die religiöse Praxis

in Izmir ist eine andere als in Elazig. Sie kommen zwar alle aus der gleichen Quelle, aber

die Praxis ist unterschiedlich. Daher sind Moscheen Räume, wo erst mal diese Vielfalt

gesammelt und danach gefiltert wird.“ (Salih D., S. 123)

Eine weitere Institution neben der Schule scheint das Institut für Islamische Theologie in

Osnabrück zu bilden, in dem die Gemeinden eine zentrale Organisation zur Bewältigung

zukünftiger Aufgaben sehen. Mit der Etablierung theologischer Beiräte an den Universitäten,

die sich aus den Vertretern der interviewten muslimischen Landesverbände zusammensetzen,

scheint eine weitere Plattform im öffentlichen Raum betreten worden zu

sein, mit der die gegenwärtigen und bevorstehenden Probleme bewältigen werden können.

„Es ist sehr wichtig, dass die muslimischen Gemeinden einbezogen werden. Das Vertrauen

der muslimischen Eltern kann nur über die Gemeinden hergestellt werden, nicht über

Universitäten. Nicht das man nicht den Universitäten vertrauen würde, aber da ist einfach

die Distanz der muslimischen Basis zu groß. Zu den Gemeinden ist das Verhältnis eine

andere, weil sie dort vielleicht in der Nähe wohnen, den Imam oder die Gemeinde oder

den Vorstand kennen. Andersherum gefragt, mit wie viele Professoren treffen sich diese

Basis mal oder besuchen eine Universität, um sich zu informieren? Damit die Basis den

Professoren und den Lehrern für den Religionsunterricht ihr Vertrauen ausspricht, müssen

sie mit den muslimischen Gemeinden kooperieren. […] Das sieht doch das Grundgesetz

vor, dass die Religionsgemeinden bei der Lehrplanentwicklung und Auswahl der Lehrer

eingebunden werden müssen und ohne die Gemeinden die staatlichen Institutionen kei-


2 Ergebnisse der empirischen Studie 419

ne Schritte unternehmen dürfen. Das braucht natürlich noch Zeit, weil noch sehr viele

Lehrer fehlen und auch kritische Diskussionen geführt werden über diejenigen Lehrer,

die jetzt schon in den Schulversuchen mitwirken. Da wird in den Gemeinden über deren

Kompetenz kritisch diskutiert, aber in Zukunft kann ohnehin ein Lehrer ohne die iğāza,

die von den Gemeinden erteilt wird, nicht unterrichten. So in zehn Jahren wird das ganz

allmählich sitzen, aber bis dahin wird es natürlich auch Probleme und Fehler seitens der

Schulen oder der Universitäten geben, die diese Lehrer ausbilden. Auch bei den Gemeinden

wird es sicherlich in dieser Übergangsphase Probleme geben, weil sie nicht alles in der

Entwicklung verstehen werden. Aber nach dieser Übergangsphase, wenn der Unterricht

erst mal etabliert ist, dann wird es allen Beteiligten nur Vorteile bringen. Dann können

wir auch den Islam der deutschen Gesellschaft in einer viel besseren Form erklären, Vorurteile

abbauen und zu einem besseren Zusammenleben beitragen. […]Gemeinsam mit

den Universitäten und den Schulen, weil sie auch als staatliche Institutionen mehr Vertrauen

in der deutschen Gesellschaft genießen, können sie überzeugender in der deutschen

Gesellschaft auftreten. Gegenüber den Moscheen als zivilgesellschaftliche Organisationen

existieren eher Vorurteile. Die deutsche Gesellschaft hat ganz unterschiedliche, negative

Bilder über die Arbeit von Moscheen im Kopf. Manche glauben, wir würden hier Bomben

basteln, andere glauben wir würden hier Hasspredigten halten oder rückständige

Gläubige wären dort aktiv usw. In den Schulen wird man nicht mit diesen Vorurteilen

konfrontiert werden. Die Moscheen versuchen auch den Vorurteilen entgegenzutreten

durch den Tag der offenen Moscheen usw., aber als staatliche Institutionen haben es

Universitäten und Schulen viel einfacher, weil sie Akzeptanz genießen in der deutschen

Gesellschaft.“ (Halim H., S. 194 f.)

Ähnlich wie bei der Hoffnung, dass der islamische Religionsunterricht das zukünftige

Personal für die Gemeinden ausbilden wird, schreibt man dem Institut für Islamische

Theologie an der Universität Osnabrück die Funktion zu, durch eine enge Kooperation

mit den Moscheegemeinden zur Professionalisierung von deren Strukturen und ihres

Personals beizutragen. Mit dieser Professionalisierung soll der Lernort ‚Gemeinde‘ – trotz

der gesellschaftlichen Transformationsprozesse – seine Bedeutung in der Gesellschaft

nicht verlieren.

„Für die Moscheegemeinden brauchen wir Imame, die hier ausgebildet sind, die hier bleiben

und hier leben, die hier bezahlt werden und die auch mit den Problem der Muslime

in Deutschland vertraut sind. Die Drei-Monats-Imame 792 kennen die Situation hier nicht

und sind selber mit der Situation hier überfordert. Wir brauchen Imame, Theologen, die

hier leben und hier aufgewachsen sind und das Leben hier kennen und die Muslimen

auch Antworten bieten können. Wir sagen immer noch, unser Hauptaugenmerk liegt

auf den Moscheen. Wir brauchen die Bindung des Instituts zu den Moscheen, zu den

Gemeinden und zur Basis. Das muss alles miteinander verbunden sein, um einfach den

Kontakt da zu haben und um zu zeigen, dass das Institut etwas für die Muslime tut. Das

792 Ein Teil der Imam verfügt nur über ein Touristen-Visum, sodass sie alle drei Monate aus- und

wieder – mit einem neuen Visum – einreisen können.


420 B Empirischer Teil

muss ganz klar angekommen bei den Muslimen. Und das Institut muss wissen, dass sie

kritisch beäugt werden.“ (Hakki K., S. 285)


C

Schlussfolgerungen


Explizierung der theoretisch-konzeptionellen

Annahmen auf der Grundlage der empirischen

Ergebnisse

1 Explizierung der theoretisch-konzeptionellen Annahmen

1

Die Auswertung der 29 Experteninterviews lieferte umfangreiche Informationen über

das Erfahrungs- und Wissensrepertoire zur vierzigjährigen Gemeindearbeit in Niedersachsen,

um das auf der Grundlage der theoretischen Vorannahmen konzipierte hypothetische

Modell – welches zugleich die gesamte empirische Untersuchung anleitete – zu

konkretisieren und zentrale Thesen für weitere empirische, vor allem relationsorientierte

Untersuchungen zu formulieren. Die Ergebnisse leiten sich theoretisch ab, und zwar aus

den historischen Erfahrungen in Deutschland sowie aus dem Ansatz des cultural time

lag. Neben den theoriegeleiteten Forschungsergebnissen wurden auch Erkenntnisse zur

historischen Situation des muttersprachlichen Unterrichts und in dessen Rahmen Erfahrungen

mit dem Religionsunterricht gewonnen, die allesamt einen zusätzlichen Mehrwert

für diese Studie brachten. Vor allem zeigen die Ergebnisse, dass sich die gesellschaftlichen

Transformationsprozesse auch in den Moscheegemeinden niederschlagen und dort zu Rollenängsten

und Unsicherheiten führen. Zugleich konnten die sozialen Mechanismen – die

noch im Forschungsdesign als „Black Box“ bezeichnet wurden und die zwischen den im

Modell aufgeführten unterschiedlichen Variablen vermitteln – identifiziert werden. Diese

Resultate fließen in die folgende Zusammenfassung ein.

Aus den Ausführungen im Theorieteil sowie den empirischen Analysen wurde zunächst

deutlich, dass es sich bei der Frage der Folgen des cultural time lag für die Moscheekatechese

um ein sehr komplexes Beziehungs- und Handlungsgeflecht handelt, da zum einen Entwicklungen

auf den verschiedenen Aggregationsebenen – Makro-, Meso- und Mikroebene

– sowie auf den gleichen Aggregationsebenen nochmals unterschiedliche Handlungsfelder

existieren. Die empirische Studie beschrieb zum ersten Mal für den deutschen Kontext,

dass sich in den Gemeinden Prozesse der Säkularisierung und Individualisierung zeigen,

allerdings – anders als erwartet – in einer sehr unterschiedlichen Form. Im Kontext der

Säkularisierung im Sinne von „Entkirchlichung“ konnte nachgezeichnet werden, dass die

Mitgliederzahlen – unabhängig davon, dass die Vereinsbeiträge bereits bei 5 oder 10 Euro

beginnen – in den Gemeinden relativ stabil sind. Ebenso zeigen die eigenen Angaben der

muslimischen Experten zu den Besucherzahlen an den Freitagen sowie an den muslimischen

Feiertagen, dass Gottesdienste eine hohe Resonanz zu verzeichnen haben.

R. Ceylan, Cultural Time Lag, DOI 10.1007/978-3-658-06050-3_9,

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014


424 C Schlussfolgerungen

Abb. 5

Kausalzusammenhänge und Kausalmechanismus

Quelle: Eigene Visualisierung

Zwar gibt es keine Informationen darüber, ob sich die Beständigkeit der Mitgliederzahlen

in den Moscheen proportional zu den demografischen Entwicklungen der Muslime in

Niedersachsen verhält, doch für die Gemeinden zählt einzig die bisherige Kontinuität der

Gemeindemitglieder. Die Stabilität der Mitgliederzahlen sowie das Potenzial an Gemeindebesuchern,

die anscheinend in sehr hoher Zahl an den Freitagen und den Feiertagen

die Gotteshäuser aufsuchen, führen zunächst zu einem weitgehenden Sicherheitsgefühl,

welches jedoch zugleich durch Individualisierungsprozesse relativiert wird. Die expliziten


1 Explizierung der theoretisch-konzeptionellen Annahmen 425

Äußerungen der Experten zur Heterogenisierung und Pluralisierung der Lebensstile der

muslimischen Gemeindebesucher zeigt, dass es sich nur um ein prekäres Sicherheitsgefühl

handelt. Eine Säkularisierung im Sinne von Mitgliederschwund ist zwar derzeit nicht

festzustellen, aber die Moscheegemeinden nehmen den Kontrast zwischen ihren offiziell

vertretenen Glaubensgrundlagen – häufig die Einhaltung der ‚fünf Säulen des Islam‘

genannt – sowie der Speisegebote und Verhaltensregeln, wie das Verbot vorehelicher Beziehungen,

und den diametralen Lebensstil vor allem der jungen Menschen wahr. Diese

bewegen sich selbstbewusst in der Gesellschaft, sind in unterschiedlichen sozialen Kontexten

verwurzelt und wollen selbstbestimmt leben, aber zugleich auch die Gemeindebindung

nicht aufgeben. Anscheinend werden von diesen jungen Menschen mit Gemeindebindung

die soziokulturellen Angebote und die Möglichkeiten zu synkretistischen Lebensstilen

kaum angenommen. Ausschlaggebend ist der Migrationskontext, da die jungen Menschen

durch gesellschaftliche Zuschreibungen, wie Ethnisierungen und Islamisierungen, zu

Selbstethnisierungen und Selbstmuslimisierungen neigen, sodass die – wenn auch nur in

ihrer symbolischen Funktion – ethnisch-religiöse Identität und die Moscheegemeinden

als sozio-kulturelle Rückzugsorte ihre Bedeutung nicht verlieren, auch wenn diese jungen

Menschen mit ihren Lebensstilen nicht dem Bild eines praktizierenden Muslims aus der

Sicht der Gemeinden entsprechen.

Dennoch führt dieses Bild den Gemeinden eine gewisse Ambivalenz vor Augen. Einerseits

zeigt die hohe Zahl der Gemeindebesucher das Potenzial an zukünftigen aktiven

Mitgliedern, andererseits aber besteht die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Potenzial mit

der Zeit auch an die Öffentlichkeit „verloren“ gehen kann, weil der öffentliche Raum als ein

Risikofaktor bewertet wird, da er nicht in Form externer oder separater religiöser Institutionen

gedeutet werden kann und somit nicht dem Einflussbereich der Moscheegemeinden

unterliegt. Im Sinne der cultural time lag-Theorie wäre eigentlich zu erwarten, dass die

Zahlen der Gemeindemitglieder oder -besucher mit zunehmenden Säkularisierungs- und

Invidualisierungsprozessen abnehmen. Nimmt man die folgende Abbildung von Brinkmann

und Brinkmann als analytischen Bezugsrahmen noch einmal zur Hand, dann könnte man

die Zeitzone als diejenige Phase bezeichnen, die ab 1961 mit der muslimischen Arbeitsmigration

aus weniger säkularisierten oder pluralen Gesellschaften beginnt. Die Linie 1

demonstriert den Einfluss der gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen auf die muslimische

Gemeinschaft im Hinblick auf die Pluralisierung und Heterogenisierung der Lebensstile,

die in dieser ersten Phase weniger ausgeprägt ist. Die Linie 2 stellt die Gemeindestruktur

der Muslime dar, die in der Zeitzone ein balanciertes Verhältnis zur Linie 1 aufweist.

Mit dem längeren Aufenthalt in Deutschland, während dessen bereits seit Jahrzehnten

die erwähnten gesellschaftlichen Transformationsprozesse zu beobachten sind und entsprechende

Konsequenzen für die Kirchen (Mitgliederverluste, Anpassungsversuche an

aktuelle Trends, Reformversuche usw.) auftraten, und der Sozialisation der in Deutschland

geborenen jungen muslimischen Generation wird der Zeitpunkt a überschritten. Damit

beginnt für die Moscheegemeinden die Zeitzone B, in der die Gemeindestruktur nicht

mehr homogen, sondern durch eine Heterogenität charakterisiert ist. Darüber hinaus

machen die Moscheen die Erfahrungen, dass die von ihnen vertretenen Glaubenslehren

von der nachfolgenden Generation immer weniger eingehalten werden, sodass die islamische

Glaubenslehre und der Lebensstil eines Teiles der Gemeindebesucher immer mehr


426 C Schlussfolgerungen

auseinanderklaffen. Dadurch kommt es in der Zeitzone B zu einer Fehlanpassung, welche

in den Gemeinden zu Irritationen führt. Infolge der weit fortgeschrittenen Pluralisierung

der Lebensstile wäre eigentlich zu erwarten, dass die Zahl der Gemeindebesucher rapide

abnimmt. Der Übergang in die Zeitzone C, in der sich die Moscheegemeinden in einer

ähnlichen Situation wie die Kirchen befinden werden, scheint sich jedoch zu verzögern.

Im Sinne der Theorie der kulturellen Phasenverschiebung hätte dieses Stadium schon seit

längerer Zeit erreicht werden müssen; allerdings stellen der Migrationskontext und die

Minderheitenerfahrung eine Hürde dar. Der Zeitfaktor, den Ogburn in seiner Theorie

untermauert, ist sicherlich entscheidend und wird beim Wegfall der Migrationseffekte

mit Sicherheit zum Übergang in die Zeitzone C führen, doch diese Entwicklung hängt

von den gesamtgesellschaftlichen Diskursen über den Islam ab. Je größer die Akzeptanz

der Muslime im Sinne einer Normalisierung in Deutschland ist, je weniger der Islam als

Ausländerreligion wahrgenommen wird und je geringer die Ethnisierungs- und Islamisierungsprozesse

seitens der Majorität sind, desto geringer wird der Migrationseffekt.

Dann sind bei islamisch-geprägten Personen auch häufiger synkretistische Lebensstile

beziehungsweise eine moscheeferne Religiosität oder Areligiosität zu erwarten.

a

b

2__________________________ -----------------------------

1___________----------------------------------------------------

Adjusted Maladjusted Adjusted

(A) (B) (C)

Abb. 6 A sequential time-paradigm of cultural lag

Quelle: Brinkmann/Brinkman, Cultural Lag, S. 615

Diese paradoxe Zwangssituation – einerseits stabile Mitgliederzahlen, andererseits eine

Pluralisierung bei den eher als nichtpraktizierend geltenden Gemeindebesuchern – führt

innerhalb der Moscheen nicht zur Explizierung der latenten Ängste in Form eines Austauschs

zwischen den Gemeinden über mögliche Zukunftsszenarien. Erst durch die Interviews

mit den Experten wurden diese latenten Ängste zum ersten Mal in systematischer Form

an- und ausgesprochen. Bei den Vorständen der lokalen Gemeinden ist eher ein Zustand

von Passivität und Aktionismus sowie naiver Zukunftsvorstellungen zu diagnostizieren.

Die lokalen Gemeinden arbeiten mit Vereinsstrukturen und verfügen – bis auf den Imam

– nur über ehrenamtliches Personal. Dieses ist oft nicht nur gering qualifiziert, sondern

versteht auch nicht das Wesen einer Vereins- oder Gemeindearbeit.

Wie die vorliegende Studie in diesem Zusammenhang zeigte, hat sich infolge der Defizite

in den strukturellen, finanziellen und personellen Ressourcen – sowohl auf Landesebene als

auch in den lokalen Gemeinden – kein effizientes, internes Kommunikationssystem etabliert,

welches eine adäquate Bedarfs- und Situationsanalyse sowie entsprechende, koordinierte


1 Explizierung der theoretisch-konzeptionellen Annahmen 427

Lösungsmaßnahmen initiieren könnte. Diese Kommunikationsarmut führt auch dazu,

dass keine sachliche Problemidentifikation sowie keine realistische Gesellschaftsanalyse

erkennbar sind. Stattdessen ist man in den lokalen Gemeinden der Überzeugung, dass

die latenten gesellschaftlichen Entwicklungen in Richtung „Entkirchlichung“, wie sie in

den Interviews immer wieder am Beispiel der Gemeindemitgliederverluste der Kirchen

und der Einbuße ihrer gesellschaftlichen Rolle exemplifiziert wurden, mit finanziellen

Mitteln, repräsentativen Bauten sowie dem Ausbau der Jugendarbeit begegnen kann.

Bezogen auf die Abbildung von Brinkmann und Brinkmann würde diese Vision der

lokalen Gemeinden bedeuten, dass durch entsprechende Interventionen sich die Linie 1 –

die ja die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen repräsentiert – wieder an die Linie der

Gemeindestrukturen anpasst. Konkret hieße dies, dass sich die heterogenen Lebensstile

der muslimischen Gemeindebesucher in Zeitzone C „islamkonformer“ gestalten und die

Weitertradierung der muslimischen Gemeinden in Deutschland sicherstellen würden.

a

b

2__________________________ _______________

1___________-----------------------_______________

Adjusted Maladjusted Adjusted

(A) (B) (C)

Abb. 7

Vision der Moscheegemeinden zur Wiederanpassung der gesellschaftlichen Entwicklungen

an die Gemeindestrukturen

Diese Vision der Gemeinden, die „gesellschaftliche Zeitbombe“ zu stoppen, resultiert auch

aus dem Glauben, dass die Einrichtung kirchenähnlicher Strukturen die entscheidende

Wende bringen wird. Zu diesem neuen Selbstbewusstsein haben diverse Entwicklungen

der letzten Jahre, wie die Aufwertung der Rolle der muslimischen Gemeinden in Niedersachsen

als Ansprechpartner für den islamischen Religionsunterricht, die Empfehlungen

des Wissenschaftsrates zur Einbindung der muslimischen Gemeinden in den Instituten

für Islamische Theologien in Form theologischer Beiräte sowie die Aufnahme offizieller

Gespräche mit der Landesregierung zur Unterzeichnung eines Staatsvertrages als erstes

bundesdeutsches Flächenland beigetragen. Mit der sukzessiven Entwicklung zu einer

Religionsgemeinschaft im juristischen Sinne und mit der Anerkennung als Körperschaft

des öffentlichen Rechts versprechen sich die muslimischen Gemeinden neue finanzielle

und somit personelle Ressourcen. Allerdings wird nicht der Tatsache Rechnung getragen,

dass die Kirchen trotz ihrer zahlreichen personellen, finanziellen und institutionellen

Möglichkeiten das „Rad der Zeit“ nicht zurückdrehen konnten.

Während also die öffentliche Rolle der muslimischen Gemeinden im öffentlichen Raum

zunehmen wird, ist andererseits mit dem Wegfall des Migrationseffektes ihr sozialer Bedeutungsverlust

zu erwarten. Diese ambivalente Rolle nehmen auch die Kirchen ein, wie


428 C Schlussfolgerungen

der Politikwissenschaftler Thomas Meyer kritisch bemerkt. Die „Resakralisierung der

liberalen Öffentlichkeit“ zeige sich durch die „Anfänge eines Beinnahe-Monopols“ des

organisierten Christentums, welches sich trotz des Verlustes religiöser Deutungssysteme

mit „modernen Inszenierungsstrategien des Religiotainment“ in der Gesellschaft als

Machtinstanz behaupten und sich zunehmend der Öffentlichkeit bemächtigen will und

eine Überlegenheit hinsichtlich der öffentlichen Moral beanspruche. 793 Eine ähnliche

quantitative und qualitative Machtrolle ist bei den muslimischen Verbänden zwar nicht

zu erwarten, jedoch wird ihre institutionelle Rolle in der Öffentlichkeit stärker zunehmen,

während ihre religiösen Deutungssysteme sowie die Zahl ihrer Gemeindemitglieder – trotz

des Optimismus – abnehmen werden.

Die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen auf der Makroebene, die Rahmenbedingungen

der Landesverbände sowie der lokalen Moscheegemeinden führen gegenwärtig

dazu, dass die Gemeindevorstände zunächst die Moscheekatechese eine zentrale Funktion

in der Weitertradition der islamischen Lehre und der Nachwuchsförderung beimessen.

Da auch Eltern mit schwacher Gemeindebindung ihre Kinder zu den Islamkursen an

den Wochenenden – entweder aus traditionellen oder religiösen Gründen oder auch als

Betreuungsmaßnahme – senden, erhoffen sich die Moscheen über eine gute Qualifikation

der Kinder und Jugendlichen sowie die Förderung ihrer Religiosität, ihre Familien für

die Gemeinden zu gewinnen. Wie bei den Gemeindebesucherzahlen ist auch eine große

Nachfrage an der Moscheekatechese zu registrieren, sodass zum Teil Wartelisten eingeführt

werden müssen. Die Teilnehmerzahlen schwanken je nach Moscheegröße zwischen 30 und

300 Kindern. Orientiert man sich an der letzten Zahl, so kommt man ungefähr auf die

gesamte Anzahl von Schülern und Schülerinnen einer Grundschule. Die Motivation der

Eltern, ihre Kinder zu den Moscheekatechesen anzumelden, sind dabei vielfältiger Art. Die

Funktion der Moschee als ethnisch-kultureller Rückzugsort, als Lernort für islamisches

Grundlagenwissen, zur Bildung einer muslimischen Identität sowie als Betreuungsort an

den Wochenenden sind die wichtigsten Gründe. Wie sich aus den Experteninterviews

herauskristallisierte, ist eine zunehmende Tendenz zu erkennen, dass die Rolle der Familien

in der religiösen Erziehung an Bedeutung verliert; daher ist in Zukunft eine stärkere

Delegierung an Institution wie Moscheen und Schulen zu erwarten.

Trotz der großen Resonanz für die Islamkurse ist auch hier das Sicherheitsgefühl der

Gemeindevorstände sehr prekär und dämpft nicht die oben geschilderten Zukunftsängste.

Diese resultieren zum einen aus der Erfahrung, dass die Moscheekatechese nur eine geringe

Effizienz haben, weil unter anderem

in den Gemeinden keine einheitlichen Standards oder Lehrpläne existieren,

kein gut qualifiziertes, (religions-)pädagogisches Personal zur Verfügung steht,

immer noch überwiegend nach klassischen Inhalten und Methoden gelehrt wird,

infolge der sprachlichen Probleme der Imame sowie ihrer geringen Kenntnisse über die

Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen kein positives Lehr-Lernverhältnis besteht,

keine pädagogischen Materialien zur Verfügung stehen, sondern nur traditionelle,

793 Thomas Meyer, Die Ironie Gottes. Religiotainment, Resakralisierung und die liberale Demokratie.

Wiesbaden 2005


1 Explizierung der theoretisch-konzeptionellen Annahmen 429

keine Evaluation der Lernergebnisse stattfindet,

keine ausreichenden Räumlichkeiten, die eine angenehme Lernatmosphäre gewährleisten

könnten, vorhanden sind,

nur beschränkt möblierte Klassenzimmer existieren, sodass der Kurs auch kniend auf

den Boden stattfinden muss,

aufgrund der hohen Schülerzahlen eine hohe Belastung für die Imame zu verzeichnen ist,

die Kinder und Jugendlichen mit ganz unterschiedlichen Lernvoraussetzungen in die

Moscheen kommen und somit ein zu großes Lerngefälle besteht,

keine flächendeckende Einführung eines Klassensystems in den Gemeinden erfolgt

und dadurch größere Einheiten mit unterschiedlichem Lernstand und verschiedenen

Altersgruppen entstehen,

individuelle Förderungen so gut wie ausgeschlossen sind.

Der zweite Faktor, der trotz der hohen Teilnehmerzahlen zur Ernüchterung führt, ist der

Bruch der Jugendlichen mit den Gemeinden ab der Pubertät, weil sie sich dann verstärkt

im öffentlichen Raum aufhalten. Dieser Bruch wird für die Zukunft der Gemeinden als

eines der größten Probleme identifiziert, obwohl wie Mendl in der Auseinandersetzung mit

den Erkenntnissen aus der Religionspsychologie konstatiert, diese Brüche in der Biografie

von Jugendlichen normal sind:

„Wenn man die Erkenntnisse der Religionspsychologie auf das Jugendalter hin pädagogisch

wendet, dann benötigen Jugendliche vor allem Hilfen zur Selbstwerdung und zu einer

Identitätsbildung im Fragement; Erziehende und Lehrende müssen gleichermaßen ‚Spiegel‘

für eigene Entwicklung sein und helfen, Konventionen auszubilden. Gerade in der Zeit der

Adoloszenz verändert sich der der Gottesglaube radikal. Moratien, die zeitweilige Distanzierung

von Religion zuzulassen, sind die pädagogische Herausforderung für die Lehrenden.

Insgesamt gilt es, die lebensgeschichtliche Dimension des zu fördern.“ 794

Auch in dieser Frage fehlt es den Moscheegemeinden an sachlichen Analysen, da man davon

ausgeht, dass eine Ausweitung der moscheeinternen Angebote, wie Jugendräume, die

Beschaffung von Spielgeräten usw., die Jugendlichen wieder in die Gemeinden zurückbringt.

Wieder setzt man auf finanzielle und personelle Ressourcen, um den gesellschaftlichen

Transformationsprozessen „die Stirn zu bieten“. Eine zweite Option bildet die Hoffnung

der Gemeinden, dass diese jungen Menschen mit ihrer eigenen Familiengründung – vor

allem wegen der religiösen Erziehung ihrer Kinder – wieder den Weg in die Moscheen

finden werden.

Eine weitere Belastung für die Moscheegemeinden sind die zu hohen Erwartungen

der Eltern, die ihre Kinder an den Wochenenden zur Moscheekatechese senden, ohne

die personellen und strukturellen Kapazitäten der Lehrenden zu berücksichtigen. Hinzu

kommen zudem die ganz unterschiedlichen Erwartungshaltungen an die Lernziele, die

von der Festigung der ethnisch-kulturellen bis hin zur religiösen Identität reichen. Trotz

dieser Erwartungshaltungen beklagen sich die Moscheegemeinden über die mangelnde

Kooperationsbereitschaft der muslimischen Eltern, da diese die religiöse Bildung ihrer

794 Mendl, Religionsdidaktik, S. 41


430 C Schlussfolgerungen

Kinder nicht begleiteten. Zugleich versuchen die Moscheen seit Jahren vergeblich, Strategien

zur Einbindung der muslimischen Eltern in die Gemeindearbeit zu entwickeln.

Diese gesamte Problemkumulation – von den Auswirkungen der gesamtgesellschaftlichen

Entwicklungen in den Gemeinden über die skizzierten Rahmenbedingungen der

Moscheegemeinden mit den begrenzten Ressourcen durchschnittlicher Vereine, der

ineffizienten Moscheekatechese und dem Bruch der Jugendlichen mit den Gemeinden bis

hin zur fehlenden Kooperationsbereitschaft muslimischer Familien – führt zu Verunsicherungen

und Zukunftsängsten, die allerdings nicht offen thematisiert werden. In den

Experteninterviews wurden keine Veranstaltungen, Konferenzen oder Ähnliches genannt,

wo man im Austausch diese Entwicklungen gemeinsam reflektieren und explizit über

Ängste sprechen und nach pragmatischen Lösungen suchen könnte.

Den Ausweg aus der skizzierten Problemkumulation scheinen die Gemeinden im neuen

Handlungsfeld ‚Schule‘, konkret im islamischen Religionsunterricht nach Art 7 (3) GG,

gefunden zu haben. Mit der Einführung dieses Unterrichtsfachs erhalten die muslimischen

Gemeinden einen offiziellen Status, um im öffentlichen Raum bei der Konzeption des Unterrichts

und bei der Auswahl der Religionslehrer/innen anhand der iğāza-Regelung aktiv

mitzubestimmen. Der öffentliche Raum wird, wie im empirischen Teil dargelegt, aufgrund

eines doppelten Spannungsverhältnisses (säkularisierter öffentlicher Raum: aus einer religiösen

und migrationsspezifischen Perspektive beurteilt) eher als riskantes Feld betrachtet.

Infolge fehlender Einflussnahme und Partizipationsmöglichkeiten des öffentlichen Raums

durch eigene, externe Institutionen verspricht die Plattform ‚Schule‘ neue Chancen in

einer sehr wichtigen Frage, die auch die Zukunftsängste der muslimischen Gemeinden

tangiert: das religiöse Lernen der muslimischen Kinder und Jugendlichen. In der empirischen

Untersuchung konnte dargestellt werden, dass die muslimischen Repräsentanten

seit dem Beginn der 2000er-Jahre die Erwartungen der niedersächsischen Gemeinden

zu den Inhalten und Zielen des geplanten islamischen Religionsunterrichts an Runden

Tischen und in Form unterschiedlicher Gremien vermittelt haben. Diese muslimischen

Repräsentanten erkennen die Folgen der gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesses

in den Gemeinden und ihnen werden von den Moscheevorständen die Fehlentwicklungen

im Hinblick auf die Moscheekatechese vermittelt; daher besitzen sie ein umfassendes Bild

über die Situation in den Moscheegemeinden. Allerdings zeigen die Analysen auch, dass

über die Einführung des islamischen Religionsunterrichts nur unzureichende interne

Kommunikationsprozesse stattgefunden haben. Die Konsequenz des fehlenden Austauschs

ist, dass zum einen die Moscheevorstände und die Gemeindemitglieder nicht hinreichend

über den Charakter eines schulischen Religionsunterrichts informiert sind, zum anderen

wurde deutlich, dass zum Teil unter den befragten Experten – die ja nicht das „Objekt“ der

Untersuchung, sondern nur die Informationsquelle waren – ähnliche Informationsdefizite

festgestellt wurden. Vor dem Hintergrund der Herausforderungen in der Moscheekatechese

werden dem islamischen Religionsunterricht Inhalte und Ziele zugeschrieben, die

starke Parallelen zum materialkerygmatischen Ansatz aufweisen. Des Weiteren führen

die gemeindeinternen Entwicklungen, wie Personalprobleme und religionspädagogische

Herausforderungen, dazu, dass die Gemeinden den schulischen Religionsunterricht als

Ausbildungsfeld betrachten, um den eigenen Nachwuchs zu qualifizieren, damit dieser

künftig die ehren- und hauptamtlichen Tätigkeiten in den Moscheen übernehmen kann.


1 Explizierung der theoretisch-konzeptionellen Annahmen 431

Diese Erwartungshaltung spiegelt sich auch in der Rollenerwartung der Lehrer/innen

für den Religionsunterricht wider. Der islamische Religionsunterricht wird – trotz der

herrschenden Skepsis – als pädagogisches „Rettungsboot“ betrachtet, um die existierenden

Probleme in den Gemeinden zu lösen und um neue Ressourcen freizusetzen. Aus den Auswertungen

der Experteninterviews wurde zutage gefördert, dass nach wie vor ein gewisses

Misstrauen hinsichtlich eines schulischen Religionsunterrichts, besonders in Bezug auf die

Rolle des Religionslehrers, herrscht. Diese Skepsis ist auch auf die negativen Erfahrungen

der türkisch-muslimischen Gemeinschaft mit dem muttersprachlichen Türkischunterricht

seit den 1980er-Jahren zurückzuführen, in der offensichtlich auch ideologisch motivierte,

anti-religiöse Unterrichtseinheiten umgesetzt wurden. Den Aussagen der Experten ist ferner

zu entnehmen, dass trotz der fast 20-jährigen Erfahrungen im deutschen Bildungssystem

– aufgrund von Ängsten gegenüber dem bürokratischen System oder den türkischen Konsulaten

und vor etwaigen negativen Folgen für die eigenen Kinder – keine Mobilisierungen

gegen den muttersprachlichen Unterricht stattfanden. Diese historischen Erfahrungen

wurden in dieser empirischen Erhebung zum ersten Mal explizit thematisiert. Bedenkt

man, dass fast 75 Prozent aller Muslime türkischstämmig sind, ist dieses „Bildungstrauma“

hinsichtlich der Beeinflussung der Erwartungshaltung an die Rolle und Funktion der Religionslehrer/innen

sehr ernst zu nehmen. Vor diesem Hintergrund sind auch die massiven

Widerstände der muslimischen Gemeinden gegenüber eventuellen Umschulungen oder

Fortbildungsmaßnahmen der Lehrekräfte des muttersprachlichen Unterrichts für den

islamischen Religionsunterricht zu verstehen. Die historischen Erfahrungen sitzen im

kollektiven Gedächtnis fest und sollten offen ausgesprochen werden.

Fasst man diese gesamten Prozesse zusammen, so zeichnet sich ein großes zukünftiges

Konfliktpotenzial ab. Diese Konflikte werden sich im Zuge des cultural time lag innerhalb

der Gemeinden zeigen, wenn der Migrationseffekt wegfällt und die Moscheegemeinden

vor ähnlichen Herausforderungen wie die Kirchen unter Säkularisierungs- und Individualisierungsbedingungen

stehen werden. Die muslimischen Familien werden, ähnlich

wie die christlichen Familien, nicht mehr die religiöse Erziehung gewährleisten können,

und ebenso werden die Moscheen aufgrund ihres sozialen Bedeutungsverlustes und

abnehmender Gemeindemitglieder- und -besucherzahlen ihre heute Exklusivität nicht

beibehalten können. Je stärker sich diese Prozesse in den muslimischen Gemeinden zeigen

werden, desto mehr sind Vereinnahmungsversuche des islamischen Religionsunterrichts

zu erwarten. Die Ansätze für diese Konflikte sind bereits jetzt abzulesen, weil anscheinend

die gemeindeinterne Kommunikation hinsichtlich der Inhalte und Ziele des schulischen

Religionsunterrichts seit dem Anfang der 2000er-Jahre nicht ausreichend geführt wurde

und auch ein Teil der in diesen Prozess involvierten befragten Experten selbst über materialkerygmatische

Vorstellungen verfügt. Erst wenn durch die sukzessive Einführung des

Religionsunterrichts bereits „Fakten“ geschaffen und die erforderlichen Religionslehrer/

innen ausgebildet worden sind, werden diese Diskrepanzen zwischen Gemeinde und

Schule, Religionslehrern und staatlichen Ansprechpartnern manifest werden. Im Sinne

der Theorie der kulturellen Phasenverschiebung sind die Konflikte antizipierbar.


Konkretisierung zentraler Thesen auf der Basis

der empirischen Erkenntnisse

2 Konkretisierung zentraler Thesen

2

Auf der Grundlage der empirischen Ergebnisse lassen sich zentrale Thesen ableiten,

denen jede für sich genommen eine Studie zu widmen wäre, und zwar in Form weiterer

mechanismenorientierter, aber auch relationsorientierter Erklärungsstrategien – um die

Ursache-Wirkung-Beziehung anhand der Logik statistischer Untersuchungen zu erfassen.

Die hier dargelegte mechanismenorientierte Erklärungsstrategie konnte bereits das

komplexe Beziehungs- und Handlungsgeflecht in Form eines hypothetischen Modells beleuchten.

Dabei konnten umfangreiche Daten aus erster Hand ermittelt werden, welche die

Rahmenbedingungen der muslimischen Gemeindearbeit aufzeigen und wie sich diese auf

die Moscheekatechese sowie auf die Erwartungshaltungen hinsichtlich eines islamischen

Religionsunterrichts auswirken. Diese Ergebnisse bieten Impulse für weitere Forschungen,

die nun im Folgenden anhand von Thesen formuliert werden.

2.1 Die Auswirkungen der Individualisierungsprozesse

schlagen sich in den Moscheegemeinden nieder und

werden mittelfristig Säkularisierungsprozesse freisetzen

Die Widerspiegelung der Säkularisierungssprozesse in den Moscheegemeinden werden

weitreichende Folgen für die zukünftigen Entwicklungen mit sich bringen. Daher sind

kontinuierliche Forschungen zu dieser Frage erforderlich, da nach wie vor keine ausreichenden

empirischen Daten zu den Moscheegemeinden existieren. Zum einen müssten

qualitative Interviews mit den Gemeindemitgliedern und -besuchern geführt werden, um

diese Gruppe noch differenzierter, und zwar in Form von Typologien, zu ermitteln. Die

vorliegende Studie kann diese Erhebung nicht leisten, da sie die Heterogenisierung und

Pluralisierung auf der Grundlage der Experteninterviews nur indirekt ermittelt. Im zweiten

Schritt müssten die konstruierten Kategorien quantifiziert werden, um weitere Informationen

über die statistische Verteilung der unterschiedlichen Mitgliedertypen zu erhalten.

Parallel hierzu sind zusätzliche statistische Erhebungen zu den Gemeindemitglieder- und

-besucherzahlen erforderlich. Trotz der 50-jährigen muslimischen Migration und trotz der

R. Ceylan, Cultural Time Lag, DOI 10.1007/978-3-658-06050-3_10,

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014


434 C Schlussfolgerungen

über 2300 muslimischen Gemeinden liegen keine Statistiken zur Mitgliederentwicklung

vor. Daher sind die Mitgliederentwicklungen sowie die Zahlen der Gottesdienstbesucher

kontinuierlich zu erfassen, um die Säkularisierung – im Sinne von „Entkirchlichung“ –

zu erfassen, denn es ist anzunehmen, dass diese Prozesse entsprechend der cultural time

lag-Theorie mittelfristig zu ähnlichen Entwicklungen wie bei den Kirchen führen werden.

2.2 Der Migrationsfaktor führt offensichtlich dazu, dass trotz der

Individiualisierungsprozesse die Zahl der Moscheemitglieder

und -besucher konstant bleibt

Die Moscheegemeinden sind in einer paradoxen Situation: Zum einen sind die Gemeindemitgliederzahlen

trotz der gesellschaftlichen Transformationsprozesse stabil, zum anderen

nehmen die Gemeinden eine starke Diskrepanz zwischen der von ihnen vertretenen offiziellen

Glaubenslehre und dem Lebensstil ihrer Mitglieder und Gemeindebesucher wahr.

Offensichtlich sorgt der Migrationseffekt für diese Konstanz und Stabilität. Dieser Faktor

unterbindet auch anscheinend, dass muslimische Migranten mit Gemeindebindung trotz

der Individualisierungsprozesse für synkretistische Lebensstile anfällig sind. Solange der

Islam in den Medien, in der Politik und im alltäglichen Umgang noch als „Ausländerreligion“

inszeniert wird, wird sich dieser Effekt nicht abschwächen. Wie das Beispiel der

USA zeigt, können auch Einwanderer der dritten und vierten Generation noch Prozesse

des ethnic revival auslösen. Aufgrund der Islamisierung der muslimischen Migranten in

den öffentlichen Debatten sind hierzulande sowohl ein ethnic als auch ein religious revival

möglich – auch wenn nur in einer symbolischen Funktion. Vor diesem Hintergrund sind

diese Prozesse speziell in den muslimischen Gemeinden anhand weiterer Forschungen

näher zu untersuchen.

2.3 Das religiöse Betreuungspersonal ist auf die Heterogenität

der Lernenden in der Moscheekatechese nicht vorbereitet und

kann auf diese Vielfalt nicht angemessen reagieren

Die große Heterogenität hinsichtlich des Lernstandes der muslimischen Kinder und

Jugendlichen stellt die Moscheekatechese vor großen Herausforderungen. Das religiöse

Betreuungspersonal – Imame und ihre Hilfskräfte – sind zudem nicht nur wegen der traditionellen

Lehr- und Lernmethoden sowie der aufgezählten strukturellen Fragen, wie fehlenden

Räumlichkeiten, separate Klassenzimmer und Klassensysteme usw., überfordert, sondern

auch weil sie nicht mit der Lebensrealität der Zielgruppe vertraut sind. Zusätzlich kommen

noch die hohen Erwartungen der muslimischen Eltern sowie der Gemeindevorstände an

die Moscheekatechese hinzu. In diesem Zusammenhang sind weitere religionspädagogische

Studien erforderlich, um die heterogene Zielgruppe der Moscheekatechese sowie ihren

Lernstand bei der Anmeldung zu diesen Kursen zu erfassen. Die bisherigen Informationen


2 Konkretisierung zentraler Thesen 435

über diesen Zustand in den Moscheekatechesen basieren nur auf Erfahrungsberichten und

nicht auf systematischen Studien. Erst auf der Grundlage dieser Erkenntnisse könnten die

Moscheegemeinden adäquate Lösungen finden, um das religiöse Betreuungspersonal zu

schulen und realistische Lernziele für die Moscheekatechese zu formulieren.

2.4 Das Fehlen eines Studienganges ‚Islamische Katechetik

oder Gemeindepädagogik‘ verhindert eine qualitative

Moscheekatechese

Obwohl der Wissenschaftsrat im Jahr 2010 die Etablierung von Instituten für Islamische Theologie

empfohlen hat, um unter anderem Imame auszubilden, wurde in den gesamten Debatten

die Notwendigkeit eines Studienganges ‚Praktische Theologie/Schwerpunkt Katechetik‘ nicht

angesprochen. An allen Instituten für Islamische Theologie und Islamische Studien wurden

überwiegend theologische Kernfächer wie Normenlehre, Koranwissenschaften oder Ḥadīṭ

wissenschaften usw. eingeführt. Die Katechetik wurde nicht ansatzweise diskutiert, obwohl

die Frage der Imamausbildung in Deutschland als der „Motor“ für die Institutsgründung

fungierte. Die Moscheekatechese bildet sozusagen die Lebensader der Gemeinden und hängt

deshalb eng mit der Imamausbildung zusammen. Ohne eine wissenschaftliche Begleitung und

Reflexion der Moscheepraxis sind daher keine qualitativen Reformen der Moscheekatechese

zu erwarten. Solange aber die Probleme in der Moscheekatechese bestehen bleibt, wird auch

das zukünftige, facettenreiche Konfliktpotenzial nicht gelöst werden. Derzeit wird auf der

Basis einer Offenbarungstheologie mit rein instruktionstheoretischen Methoden gearbeitet,

die ebenso für die Schulen postuliert werden. Das Subjekt wird dabei auf die Rolle eines

passiven Rezipienten reduziert, obwohl der Koran selbst den Dialog, die Interaktion des

Gläubigen sucht. Der Koran ist nicht nur die Selbstmitteilung Gottes, sondern zugleich eine

aktive Gesprächssuche mit dem Subjekt, um die göttliche Botschaft zu reflektieren. Reine

Instruktion wie sie in den Moscheegemeinden praktiziert wird widerspricht dem Geist der

koranischen Botschaft. Daher bedarf es wissenschaftlicher Studiengänge, um die Theorie

und Praxis der Moscheekatechese im Sinne eines dialogisch-kommunikativen Ansatzes zu

entwickeln. Das offenbarungstheologisch-deduktionistische Konzept des religiösen Lernens

dagegen, welches gegenwärtig praktiziert wird ist ein Auslaufmodell.

Die christlich-theologische Universitätslandschaft weist eine lange Tradition in der

praktischen Theologie auf, sodass hier in Kooperation mit muslimischen Theologen Grundlagenforschungen

initiiert werden könnten, um die Voraussetzungen für einen ähnlichen

Studiengang zu schaffen. Auch ist in diesem Rahmen die Frage der Ekklesiologie für die

Muslime nicht uninteressant und sollte ebenfalls angegangen werden, um eine zeitgemäße

theologische Reflexion über die Funktion der Moscheegemeinden zu ermöglichen. Dieses

enge Verhältnis nimmt Rolf Schnieder als Beispiel, wenn er die Legitimation theologischer

Fakultäten an staatlichen Universitäten und in säkularen Gesellschaften begründet. Gerade

die Theologie könne – weil sie den Religionsgemeinschaften Mitspracherechte in der

Besetzung von Professuren sowie bei den Lehrplänen einräume – auf einer Vertrauens-


436 C Schlussfolgerungen

grundlage dazu beitragen, das Wissen in den Gemeinden durch religiöse Bildungsprozesse

zu verbessern. 795

2.5 Der Lernort ‚Schule‘ wird in der religiösen Bildung eine

größere Bedeutung einnehmen als die muslimischen Familien

und Moscheegemeinden

Die gegenwärtigen Entwicklungen in den Gemeinden lassen erkennen, dass die Bedeutung

der Lernorte ‚Familie‘ und ‚Moschee‘ in der religiösen Erziehung abnehmen werden. Die

vorliegende Studie konnte jedoch nur explizite Aussagen der Experten zu den Familien

ermitteln, die auch eine Gemeindebindung aufweisen. Allerdings haben die Informationen

zu diesen Familien aufgrund der 40-jährigen Erfahrungen der muslimischen Gemeinden

mit der religiösen Erziehung eine hohe Aussagekraft. In Form weiterführender und ausdifferenzierter

Studien müsste – sowohl mit relations- als auch mechanismenorientierten

Erklärungsstrategien – die religiöse Sozialisation in den muslimischen Familien mit

und ohne Gemeindebindung untersucht werden. Gegenwärtig stellen die empirischen

Informationen ein Armutszeugnis dar. Dieses empirische Datenmaterial hätte für die

Moscheegemeinden wie gleichermaßen für die Schulen eine Relevanz, um die Lernenden

dort abzuholen, wo sie stehen.

Mittelfristig ist in diesem Kontext zu erwarten, dass der Lernort ‚Schule‘ insgesamt in

der religiösen Bildung eine größere Bedeutung einnehmen wird. Langfristig sind allerdings

– wenn sich die Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse in den Familien durch

den Wegfall des Migrationseffektes stärker zeigen – ähnliche Erfahrungen wie mit dem

christlichen Religionsunterricht (hohe Abmeldezahlen) zu erwarten.

2.6 Aufgrund der Projektion katechetischer Aufgaben an den

islamischen Religionsunterricht und an die Religionslehrer

ergibt sich zukünftiges Konfliktpotenzial

Die Projektion materialkerygmatischer Inhalte und Ziele an den islamischen Religionsunterricht

und die entsprechende Rollenerwartungen an die Religionslehrer sind auch

ein Ergebnis der geringen Effizienz der Moscheekatechese. Zwar gibt es vereinzelt Initiativen,

um diesen Unterricht zu reformieren, allerdings werden die jahrhundertelangen

Traditionen in der religiösen Einweisung – mit den Schwerpunkten ‚Memorieren‘ und

‚Rezitieren‘ – weitgehend weitergeführt. Der neue religiöse Lernort ‚Schule‘ wird vor dem

Hintergrund der skizzierten Problemkonstellation in den Gemeinden als mögliche Lösung

795 Vgl. Rolf Schnieder, Vom Nutzen der Theologie in einem säkularen Umfeld, in: Walter Homolka/

Hans-Gert Pöttering (Hrsg.), Theologie(n) an der Universität. Akademische Herausforderung

im säkuralen Umfeld, Berlin/Boston 2013, S. 17


2 Konkretisierung zentraler Thesen 437

dafür gesehen, die Lerndefizite in den Moscheekatechesen zu kompensieren sowie mit

einem qualitativ höheren Unterricht den Nachwuchs für die Gemeinden zu qualifizieren.

Das spiegelt die sehr moscheezentrierten konzeptionellen Vorstellungen vom schulischen

Unterricht wider. Damit erhofft man sich, die „negativen Effekte“ der gesellschaftlichen

Transformationsprozesse abwenden zu können. Je mehr der Prozess der Einführung des

islamischen Religionsunterrichts voranschreiten wird, desto stärker werden sich diese

Interessenkonflikte zeigen.

2.7 Historische Erfahrungen mit dem muttersprachlichen

Unterricht und mangelnde Verarbeitung verhindern sachliche

Auseinandersetzungen im Hinblick auf die Rollenerwartungen

der muslimischen Religionspädagogen

Die über 20-jährigen negativen Erfahrungen mit dem muttersprachlichen Unterricht, in

dem auch der Islam behandelt wurde, wirken noch heute in den Gemeinden nach. Bisher

wurden diese Erfahrungen im deutschen Bildungssystem nicht offen angegangen und von

der muslimischen Gemeinschaft nicht sachlich verarbeitet. Aufgrund der Verdrängung

dieser Erlebnisse im deutschen Bildungssystem zeigen sich diese subtilen Ängste in der

großen Erwartungshaltung an die Lehrer für den islamischen Religionsunterricht sowie in

der besonderen Sensibilität bei der Erteilung der iğāza. Werden diese negativen Erfahrungen

der Muslime mit dem muttersprachlichen Unterricht jedoch in Zukunft nicht verarbeitet,

so ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass potenzielle Lehrkräfte für den islamischen

Religionsunterricht unter Generalverdacht gestellt werden.

2.8 „Verkirchlichung“ der muslimischen Gemeinden stellt keine

Maßnahme gegen gesellschaftliche Transformationsprozesse

dar

Die Ambitionen der muslimischen Gemeinden, durch Staatsverträge und die Anerkennung

als Religionsgemeinschaft oder als Körperschaft des öffentlichen Rechts die gleichen personellen

und finanziellen Vorteile wie die Kirchen zu erhalten, wird oft als weitere Lösung für

die skizzierten Herausforderungen gesehen. Ohne Zweifel ist die strukturelle Integration

der muslimischen Gemeinden ein entscheidender Schritt, um als gleichberechtigter Partner

aufzutreten und stärker im öffentlichen Raum – wie etwa in Ethikkommissionen – agieren

zu können. Mit dieser juristischen, strukturellen und finanziellen Aufwertung werden die

muslimischen Gemeinden jedoch nicht gesellschaftliche Prozesse aufhalten können. Daher

geben die jahrzehntelangen Erfahrungen der Kirchen in diesem Zusammenhang wertvolle

Hinweise für die muslimischen Gemeinden, um sich vorzeitig mit der gesellschaftlichen

Situation zu arrangieren. Christliche und muslimische Wissenschaftler könnten diese

Fragestellungen in interdisziplinären (komparativen) Forschungen aufgreifen und mit


438 C Schlussfolgerungen

den religiösen Gemeinden beider Konfessionen kommunizieren. Nicht nur eine Versachlichung

dieser emotionalen Thematik könnte erreicht werden, sondern es könnten zugleich

interreligiöse Dialoge initiiert werden, wo es nicht um „Ihr“ und „Wir“ geht, sondern um

gemeinsame Anliegen („Wir sitzen alle im selben Boot.“).

2.9 Ein fehlendes Kommunikationssystem verhindert die

frühzeitige Problemidentifikation

Ohne eine gemeinsame Problemidentifikation in den Gemeinden sowie eine sachliche

Reflexion – auch mit der Hilfe muslimischer wie nicht-muslimischer Wissenschaftler

– werden selbst mittelfristig keine effizienten Reformen zu erwarten sein, denn: Probleme

kann man nur lösen, wenn man sie erkennt. Ein zentrale Frage liegt darin, dass

zwischen den drei Ebenen ‚Landesverband‘, ‚Moscheevorstand‘ sowie ‚Gemeinde (als

muslimische Basis)‘ keine echte Gesprächsbasis existiert. Diese fehlende kommunikative

Grundlage führt dazu, dass die Entwicklungen auf den unterschiedlichen Ebenen oft

parallel verlaufen und darüber kein Informationsfluss herrscht. Am ehesten funktioniert

die Kommunikation zwischen den Mitgliedern der Landesverbandsvorstände, die auch

intensiv bei der Einführung des islamischen Religionsunterrichts sowie bei der Etablierung

der Institute für Islamische Theologie miteinander kooperieren. Die Informationen

über diese Entwicklungen werden aber nicht ausreichend auf die nächste Ebene – zu den

Moscheevorständen – weitergeleitet. Die Studie hat in diesem Zusammenhang die große

Asymmetrie im Bildungsniveau sowie im zeitlichen Aufwand für das ehrenamtliche Engagement

zwischen den einzelnen Mitgliedern desselben Vorstandes gezeigt. Oft wird das

Ziel der Vereinsarbeit nicht verstanden, sodass die Gemeinearbeit überwiegend auf die

materielle Instandhaltung der Gemeinden reduziert wird. Darüber hinaus scheinen sich

die Informations- und Kommunikationskanäle zur muslimischen Basis – konkret zu den

eigenen Mitgliedern sowie den Gemeindebesuchern – auf die Ankündigungen nach den

Kanzelreden sowie auf schriftliche Mitteilungen zu beschränken. Diese Defizite weiten

sich auf den Austausch zwischen den Vorständen der Gemeinden aus, die ihren Standort

im gleichen Sozialraum haben.

2.10 Muslimische „Synodenbeschlüsse“ sind in Zukunft

erforderlich, um das Verhältnis von Moscheen und schulischem

Religionsunterricht konstruktiv zu bestimmen

Diese These knüpft insofern an die interne Kommunikationsfrage an, als für die Bewertung

und die strategische Ausrichtung der derzeit stattfindenden komplexen Entwicklungen

im Bereich muslimischer Familien und Moscheekatechese sowie des islamischen Religionsunterrichts

eine Diskussion auf Bundesebene erforderlich ist. Zentrale Themen des

muslimischen Gemeindelebens, wie die in dieser Arbeit behandelte Frage des Verhältnisses


2 Konkretisierung zentraler Thesen 439

der Moscheen zum schulischen Religionsunterricht, müssen in Zukunft auf Bundesebene

aufgegriffen und besprochen werden, und es müssen hierzu Beschlüsse verabschiedet

werden, die von der muslimischen Basis mitgetragen werden können. Die gegenwärtigen

Entwicklungen deuten auf diesen Bedarf hin; allerdings sind bislang keine Planungen

geschweige denn entsprechende konkrete Schritte zu erkennen. Für die Etablierung dieser

Kommunikationsplattform könnten Impulse und Inspirationen von den Synodalstrukturen

der evangelischen und katholischen Kirchen eingeholt werden. Um die Bereitschaft

der muslimischen Gemeinden zu forcieren, müssten im Vorfeld die Landesverbände der

einzelnen Bundesländer mit den lokalen Gemeinden für die Etablierung einer „muslimischen

Synodenstruktur“ werben. Der Koordinierungsrat der Muslime, in dem sich die

muslimischen Verbände zu einer Dachorganisation zusammengeschlossen haben, könnte

in diesem Prozess eine führende Rolle spielen.


Handlungsempfehlungen

für die Moscheegemeinden

3 Handlungsempfehlungen für die Moscheegemeinden

3

Die bisherigen Analysen sollten dazu beitragen, ein Handlungsfeld in seinem komplexen

Geflecht besser zu verstehen, um gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen einzuordnen

und zu bewerten. Nach Armin Töpfer sollte jedoch Forschung nicht ausschließlich das

Ziel des Erkenntnisgewinns haben, sondern auch helfen, die Realität zu verbessern. Durch

einen frühen Erkenntnisgewinn in einem bestimmten Forschungsfeld können „geeignete

Maßnahmen ohne Zeitverlust“ formuliert und zielgerichtet umgesetzt werden, um „die

Verbesserung der menschlichen Lebenssituation“ anzustreben. 796 Um diesen „Zeitverlust“

bei den muslimischen Gemeinden zu verhindern, müssten in den nächsten Jahren – auf

der Grundlage der hier vorliegenden Ergebnisse – bestimmte Maßnahmen umgesetzt

werden. Hierzu zählt auch die Antizipation der Konflikte in der Verhältnisbestimmung

von Moscheen und schulischem Religionsunterricht. Kräftezehrende und destruktive

Vereinnahmungsversuche wie auch die Enttäuschung bezüglich der inhaltlichen Gestaltung

des Unterrichts sind durch mehr Transparenz in Richtung muslimischer Eltern und

Gemeindemitglieder zu vermeiden. Im Folgenden werden daher zehn Handlungsempfehlungen

ausgesprochen, die unter den gegebenen Ressourcen der Moscheegemeinden

realistische Schritte bilden sollen. Es sind Lösungsvorschläge für Niedersachsen (wie für

andere Bundesländer auch), die auf der Grundlage des Datenmaterials erarbeitet wurden,

und theoretisch-empirisch sowie zum Teil normativ begründet sind. Aufgrund des großen

Gefälles zwischen den Anforderungen an die Gemeinden einerseits und den tatsächlichen

Ressourcen zur Problemlösung andererseits sind diese Maßnahmenvorschläge auch als

eine Art Prioritätensetzung zu verstehen und sind zeitnah umsetzbar.

796 Vgl. Töpfer, Erfolgreich Forschen, S. 2 f.

R. Ceylan, Cultural Time Lag, DOI 10.1007/978-3-658-06050-3_11,

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014


442 C Schlussfolgerungen

3.1 Keine Verschulung: Für die Moscheekatechese müssen

realistische Lehrpläne entwickelt werden

Die Lehrpläne für die 160 Moscheegemeinden in Niedersachsen – die sich in konfessioneller

Hinsicht kaum unterscheiden – müssen zunächst verschriftlicht und vereinheitlicht werden.

Die Inhalte und Ziele sollten entsprechend den personellen und zeitlichen Ressourcen

angepasst werden. Dies schließt Modifikationen und Vertiefungen in den Lehrplänen

nicht aus, wenn – wie in repräsentativen Gotteshäusern (Kuppel, Minarett, große Räumlichkeiten

usw.) – die personellen Kapazitäten vorhanden sind. Um diese einheitlichen

Lernstandards einzuführen, müssten zunächst die Vorstände der beiden Landesverbände

DITIB und Schura ihr Einverständnis signalisieren und die Unterstützung für dieses religionspädagogische

Vorhaben garantieren. Des Weiteren müsste eine Situationsanalyse

durchgeführt werden, um die erforderlichen Reformen zu ermitteln. Die hier vorgelegte

Arbeit bildet eine Grundlage hierfür.

In diese Erhebungsphase muss das gesamte religiöse Betreuungspersonal involviert

werden, da Veränderungen nur in einem breiteren Dialogfeld diskutiert und herbeigeführt

werden können. Daher sind zunächst mehrere Workshops auf unterschiedlichen Ebenen zu

empfehlen, um Delegierte aus den lokalen Gemeinden (speziell das religiöse Betreuungspersonal)

einzubinden. Zunächst sollte je ein Verantwortlicher aus jeder Gemeinde – Imam

oder Hilfskraft – alle positiven und negativen Erfahrungen sowie Best-Practice-Beispiele

aus den eigenen Gemeinden erfassen. Im zweiten Schritt sollten Moscheegemeinden diese

Daten auf sozialräumlicher Ebene in lokalen Konferenzen miteinander abgleichen und

die zentralen Ergebnisse zusammenfassen. Im dritten Schritt sollte jeder Sozialraum eine

Vertretung ernennen, die an den mehrteiligen Arbeitsgemeinschaften auf Landesebene

teilnehmen sollte, deren Ergebnisse in einer großen Veranstaltung allen Gemeinden

kommuniziert werden müssen. Auf dieser Basis kann eine pädagogische Kommission

etabliert werden, die die Aufgabe hat, ein Lehrplan für die Moscheekatechese zu konzipieren.

Die Elementarisierung als religionsdidaktisches Prinzip sollte dabei Eingang in

die Lehrpläne finden und die Lebensrealität der muslimischen Kinder und Jugendlichen

muss berücksichtigt werden.

Dieser gesamte Prozess sollte von einem Institut für Islamische Theologie, von muslimischen

Religionslehrern mit Unterrichtserfahrung sowie mit den Theologen und Pädagogen

aus den Verbänden begleitet werden. Da es sich hierbei um ein Experimentierfeld

handelt, sollten die Erfahrungen mit den neuen Lehrplänen in regelmäßigen Treffen

reflektiert werden.

3.2 Materialien für Moscheekatechese

Die Moscheen benötigen neben den traditionellen Materialien, wie Alif-Ba-Hefte und dem

Koran sowie den klassischen Katechesebüchern, religionspädagogisch konzipierte Materialien.

Die reinen Übersetzungen der Katechesebücher aus den islamischen Ländern sind

weniger zu empfehlen, da die Auswertungen für die Studie gezeigt haben, dass sie nicht


3 Handlungsempfehlungen für die Moscheegemeinden 443

alters- und zeitgemäß konzipiert sind. Daher müssen in Kooperation mit den islamischen

Instituten an den Universitäten und auch im interreligiösen Austausch mit der christlichen

Religionspädagogik Materialien für eine Moscheekatechese entwickelt werden. Gleichfalls

ist die Etablierung einer dauerhaft angelegten Kommission zu empfehlen, die sich ausschließlich

mit dieser Frage beschäftigt und in zeitlichen Abständen die Erfahrungen mit

den neuen Materialien evaluiert.

3.3 Kontinuierliche Fortbildung des Moscheepersonals

Der Imam allein wird der Masse der Schüler/innen nicht gerecht, sodass in Zukunft weiterhin

auf das ehrenamtliche Betreuungspersonal zurückgegriffen werden muss. Zwar

geht aus den Aussagen der Experten eindeutig hervor, dass das ehrenamtliche Engagement

zurückgeht. Hier müssen jedoch allgemeine gesellschaftliche Trends berücksichtigt werden,

da insgesamt ein leichter Rückgang festzustellen, wobei die Bereitschaft nach wie vor hoch

ist. Daher ist das Ehrenamt kein „Auslaufmodell“, sondern nach wie vor eine „tragende

Säule der Gesellschaft“ 797 . Folglich wird auch in Zukunft das Ehrenamt eine tragende

Säule der Moscheen bilden. Insbesondere durch den Trend, die Hinterhöfe zu verlassen

und repräsentative Moscheen zu bauen, erweitert sich der Kreis in der Moscheekatechese.

Infolgedessen sind kontinuierliche Fortbildungen im Kontext von Gemeindekatechese und

Gemeindepädagogik zu empfehlen. An der Universität Osnabrück wurde bereits vom WS

2010/11 bis zum SS 2013 ein universitäres Weiterbildungsprogramm für das religiöse Betreuungspersonal

angeboten, das auch religionspädagogische Seminareinheiten beinhaltete.

Die positiven Erfahrungen mit diesem Programm haben vor Augen geführt, dass regelmäßige

Fortbildungsangebote erforderlich sind. Um den Bedürfnissen des Lehrpersonals

in der Moscheekatechese gerecht zu werden, sollte der gemeindepädagogische Anteil an

zukünftigen Weiterbildungsprogrammen größer ausfallen. Neben muslimischen Experten

sollten auch christliche Theologen und Religionspädagogen als Dozenten fungieren, um

vom Erfahrungsschatz der kirchlichen Praxis zu profitieren.

3.4 Studiengang ‚Katechetik‘ bzw. ‚Gemeindepädagogik‘ einrichten

Die Moscheekatechese benötigt eine kontinuierliche wissenschaftliche Begleitung, um die

Entwicklungen in der Gemeindepraxis zu reflektieren und Impulse für Modifikationen

zu geben. Die neuen Institute für Islamische Theologie und Studien sollten daher das Ziel

verfolgen, auch eine Professur für ‚Katechetik‘ bzw. ‚Gemeindepädagogik‘ zu etablieren.

Damit könnten auf wissenschaftlichem Niveau Überlegungen zur Vermittlung religiöser

797 Harald Künemund, Ehrenamt und soziale Netze: Auslaufmodell oder tragende Säule der Gesellschaft?,

in: Holger Hinte/Klaus F. Zimmermann (Hrsg.), Zeitenwende auf dem Arbeitsmarkt.

Wie der demografische Wandel die Erwerbsgesellschaft verändert, Bonn 2013


444 C Schlussfolgerungen

Inhalte (hermeneutische Vermittlung, praktische Vermittlung usw.) in den Gemeinden

angeregt werden, um das Theorie-Praxis-Verhältnis zu reflektieren. Derzeit fehlt es an einer

Theorie einer ‚Islamischen Katechese‘ beziehungsweise an einer ‚Islamischen Gemeindepädagogik‘.

Durch die kritische Reflexion der islamischen Lehr-Lerntradition, durch

Grundlagenforschungen, durch komparative Studien (christlich-muslimisch) sowie durch

gegenwartsbezogene Forschungen in den Moscheegemeinden müssen die wissenschaftlichen

Grundlagen hierfür geschaffen und für die Gemeindearbeit Basiswerke in Form

von Handbüchern entworfen werden. In diesem Zusammenhang sind auch Überlegungen

anzustellen, ob nicht nach dem Vorbild einer Kindertheologie im christlichen Kontext

ähnliche Inhalte und Ziele für dieses islamische Fach berücksichtigt werden können, um

die religiöse Vorstellungs- und Gefühlswelt der Kinder stärker zu berücksichtigen. Für die

Kirchenpädagogik findet die Kindertheologie Berücksichtigung, daher sollte auch an den

Instituten für Islamische Theologie und Studien diesem neue Paradigma mehr Aufmerksamkeit

gewidmet werden, damit auch die religiöse Innenwelt der Kinder entsprechend

den entwicklungspsychologischen Erkenntnissen in den Moscheen Zugang findet.

3.5 Etablierung außeruniversitärer Einrichtungen

(religionspädagogischer Zentren)

Wie oben angesprochen, sollten die Handlungsempfehlungen die finanziellen und personellen

Ressourcen berücksichtigen, um die Ziele pragmatisch und realistisch anzuvisieren.

Für die 160 Moscheegemeinden in Niedersachsen ist es daher realistisch, ein gemeinsames

religionspädagogisches Zentrum (zum Beispiel in Hannover) zu gründen, das finanzierbar

wäre und sich ausschließlich mit Fragen der „Islamischen Katechese und Gemeindepädagogik“

beschäftigen könnte. Dieses Zentrum hätte die Funktion einer religionspädagogischen

Fachaufsicht, würde Hospitationen und Supervisionen für die Moscheegemeinden anbieten

und könnte zur Qualitätssicherung der Moscheekatechese regelmäßige Evaluationen

durchführen, um die Lernerfolge zu messen. Derzeit wird an der Universität Osnabrück

religionspädagogisches Personal ausgebildet und könnte für dieses Zentrum rekrutiert

werden. Sinnvoll wäre auch die Involvierung von Imamen und Religionslehrern, welche

die dortigen Tätigkeiten ehrenamtlich unterstützen könnten. Zudem ist eine weitere enge

Kooperation mit der Universität Osnabrück zu empfehlen, um den Anschluss an aktuelle

wissenschaftliche Diskurse zu gewährleisten.

3.6 Partner der religiösen Erziehung –

muslimische Eltern einbeziehen

Wie die empirische Studie gezeigt hat, ist die Kooperation der Moscheegemeinden mit

den muslimischen Eltern sehr defizitär. Es gibt kaum strukturelle Grundlagen dafür, um

die Eltern in die Gemeindearbeit miteinzubeziehen, und nur vereinzelt sind Versuche wie


3 Handlungsempfehlungen für die Moscheegemeinden 445

Elternfrühstück oder Ähnliches zu erkennen, um sich in diesem Rahmen über die Entwicklung

der Moscheekatechese zu unterhalten. Daher sind neue Formen der Einbindung

der muslimischen Familien in die Gemeindearbeit erforderlich. Der erste Schritt könnte

sein, die Moscheekatechese auch für die Eltern zu öffnen. Des Weiteren ist nach den eigenen

Beobachtungen des Verfassers offenkundig, dass die religiösen Lernangebote für die

Erwachsenen in den Gemeinden unterrepräsentiert sind. Vor diesem Hintergrund ist zu

überlegen, ob die Gemeinden nicht eine Art „Erwachsenenkatechese“ einführen sollten,

um diese Lücke zu schließen. Um für die Frage der Einbeziehung der Eltern wirklich optimale

Lösungen zu finden, reichen allerdings Gedankenspiele allein nicht aus, sondern

es muss – ähnlich wie in der Frage der Lehrplanentwicklung – unter den Gemeinden ein

intensiver Austausch über die positiven und negativen Erfahrungen stattfinden. Auch ist

in dieser Frage der Dialog mit den Kirchen empfehlenswert, um die dort gesammelten

Erfahrungswerte für die Moscheegemeinden fruchtbar zu machen. Insbesondere auf der

Grundlage von Studien in christlichen Familien, um die Herausforderungen im Hinblick

auf die religiöse Erziehung zu ermitteln, wie sie etwa von Friedrich Schweitzer und Albert

Biesinger durchgeführt wurden, 798 können ähnliche Untersuchungen in muslimischen

Familien initiiert werden, um auf der Basis der Ergebnisse ins Gespräch zu kommen.

3.7 Imame und Religionslehrer: Brücken zwischen Moscheen und

Schulen sowie vertrauensbildende Maßnahmen in Richtung

Religionslehrern aufbauen

Mit der flächendeckenden Einführung des islamischen Religionsunterrichts ist zu erwarten,

dass sich die Kommunikation zwischen den Moscheen und den Schulen intensivieren

sollte. Allein die Tatsache, dass muslimische Kinder in der Moscheekatechese über ihre

Erfahrungen aus dem schulischen Religionsunterricht berichten und sicherlich auch Vergleiche

ziehen werden, ist ein Grund für das religiöse Betreuungspersonal, sich mit dem

neuen Lernort auseinanderzusetzen. Wie dem Vorwort des Organisationserlasses für den

Religionsunterricht in Niedersachsen zu entnehmen ist, bilden für den evangelischen und

katholischen Religionsunterricht ausdrücklich „die Kirchengemeinden einen notwenigen

Lebensbezug“. 799 Daher ist es empfehlenswert, wenn die Imame und das religiöse Betreuungspersonal

auf lokaler Ebene in einem engen Kontakt mit den Religionslehrern stehen.

Die Brückenfunktion dieser Akteure könnte dazu beitragen, dass sich der unterschiedliche

Charakter beider Lernorte durch die Kooperationen stärker herauskristallisiert und die

Imame sowie das religiöse Betreuungspersonal diese Differenz in den eigenen Gemeinden

angemessener kommunizieren können. In diesem Kontext ist der Vorschlag des damaligen

798 Friedrich Schweitzer/Albert Biesinger (Hrsg.), Religiöse Erziehung in evangelisch-katholischen

Familien, Freiburg im Breisgau 2009

799 Vgl. Konföderation evangelischer Kirchen und den katholischen Bistümern in Niedersachsen

(Hrsg.), Religionsunterrichts in Niedersachsen. Zum Organisationserlass Religionsunterricht/

Werte und Normen – Dokumentation und Erläuterungen, Hannover 1998, S. 5


446 C Schlussfolgerungen

niedersächsischen Innenministers Uwe Schünemann nicht uninteressant, der aufgrund

der bisher nicht beantworteten Frage der Bezahlung der in Deutschland ausgebildeten

Imame folgenden Gedanken äußerte: Die Imame könnten halbtags in den Schulen als

Religionslehrer tätig sein und halbtags in ihren Gemeinden. Damit würden Staat und

Gemeinden die finanzielle Frage gemeinsam lösen. Neben dieser materiellen Seite würde

dieser Lösungsvorschlag auch soziale Vorteile mit sich bringen, wenn etwa diese religiösen

Lehrkräfte aufgrund ihrer doppelten Rolle ihre Brückenfunktion intensivieren könnten.

Zugleich muss das Vertrauen in diejenigen Religionslehrer/innen, die ausschließlich im

Schulunterricht tätig sein werden und möchten, wachsen. Die Zahl dieser Lehrkräfte nimmt

kontinuierlich zu, und daher sollten auch – neben diesen vertrauensbildenden Maßnahmen

– biografische Studien sowie religionspädagogische Zielstellungen nach dem Vorbild

des Forschungsprojekt ‚Religion‘ bei ReligionslehrerInnen durchgeführt werden, um auch

die Perspektive dieser Personen sowie ihr Verständnis von Religion zu ermitteln. 800 Diese

empirischen Daten sind eine zentrale Grundlage für die Diskussionsprozesse zwischen

Gemeinde und Schule.

3.8 Kommunikationssystem verbessern: Bedarfs- und

Situationsanalyse sowie Informationen über die Rolle

des schulischen Religionsunterrichts

Um das Verhältnis zum schulischen Religionsunterricht in Zukunft konfliktfreier zu

gestalten, muss parallel dazu ein gut funktionierendes gemeindeinternes und gemeindeexternes

Kommunikationssystem geschaffen werden. Telefondienste, schriftliche Korrespondenzen,

Internetnutzung, Kontaktherstellung, Organisation und Koordination von

Konferenzen, Informationsbeschaffung, Netzwerkarbeit usw. sind alles Elemente dieser

gemeindeinternen und -externen Kommunikation, die auch mit beschränkten finanziellen

und personellen Ressourcen von Vereinen umsetzbar sind. In diesem Zusammenhang

stellen auch Sekretariatsstellen auf Honorarbasis überschaubare materielle Belastungen

dar, die für ein effizientes Kommunikationssystem unabdingbar sind. Vor diesem Hintergrund

sind in den beiden Landesverbänden umfangreichere Studien im Bereich der

Organisationsforschung und der Kommunikationswissenschaft erforderlich, um diese

ergründeten internen Kommunikationsschwierigkeiten empirisch – auf der Grundlage

von Kommunikationstheorien in Organisationen – nochmals vertiefend zu erkunden und

Konzepte zur Optimierung der internen Informations- und Kommunikationskanäle zu

entwickeln. Da es sich um ein bisher wenig erforschtes Feld handelt, könnten Universitäten

im Rahmen von Forschungsprojekten dort empirische Studien durchführen. Dies wäre

eine Win-Win-Situation, weil sich die akademische Landschaft einen Erkenntnisgewinn

verspricht und die muslimischen Gemeinden ein sozusagen „kostenloses“ Gutachten

erhielten, denn mit den eigenen Ressourcen wären derartige Studien nicht finanzierbar.

800 Andreas Feige et al., ‚Religion‘ bei ReligionslehrerInnen. Religionspädagogische Zielvorstellungen

und religiöses Selbstverständnis in empirisch-soziologischen Zugängen, Münster 2000


3 Handlungsempfehlungen für die Moscheegemeinden 447

3.9 Aufarbeitung der Vergangenheit:

Staat und Religion in islamischen Ländern

Es ist sehr entscheidend, dass das Vertrauen in das neue Fach und in die Religionslehrer/

innen wächst. Wie in Kapitel 2.7 als These formuliert, wirken die negativen Erfahrungen

aus dem muttersprachlichen Türkischunterricht bis heute nach, weil die antireligiöse

Propaganda im Unterricht zum Teil als staatliche Instrumentalisierung vonseiten der

türkischen Republik verstanden wird. Diese verdrängten Erfahrungen sollten in kleinerem

oder größerem Kreis in Form von Studien und Gesprächskreisen aufgearbeitet wird. Eventuell

könnte man auch Erfahrungen mit der DDR-Zeit ansprechen und Kirchenvertreter

als Zeitzeugen einladen, um gemeinsam diese Punkte zu besprechen. Im wissenschaftlichen

Kontext muss an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen werden, dass zu dieser

Episode in der jüngeren deutschen Migrationsgeschichte keine Studien existieren. Daher

sollte diese Phase im deutschen Bildungssystem zunächst durch Oral History in einem

größeren empirischen Umfang untersucht und ausgewertet werden. Die vorliegende Arbeit

konnte bereits zentrale Erfahrungen aufgreifen; diese müssten aber vertieft werden. Auf

der Grundlage der Empirie könnten dann die muslimischen Gemeinden in Kooperation

mit Schulen und Ministerien diese Ergebnisse diskutieren.

3.10 Akzeptanz gesellschaftlicher Transformationsprozesse

in den muslimischen Gemeinden

In den Interviews wurden die Besorgnisse der Befragten bezüglich der Auswirkungen

der gesellschaftlichen Transformationsprozesse explizit geäußert, weil sie dadurch einen

möglichen Bedeutungsverlust der Moscheegemeinden sehen. Allerdings ist in diesem

Zusammenhang ein Perspektivenwechsel notwendig. Säkularisierungs- und Individualisierungsprozesse

können auch als Zukunftschance betrachtet werden. Einerseits ist in

Zukunft mit quantitativen Einbrüchen der Mitglieder- und Gemeindebesucherzahlen zu

rechnen, andererseits können qualitative Errungenschaften erzielt werden, wenn sich die

Menschen bewusst zur Religion und zum Gemeindeleben bekennen und diese nicht als

die rudimentären Formen einer Tradition ansehen, die lediglich als Identitätsanker im

Migrationskontext dient. Um sich jedoch sachlich zu diesen gesellschaftlichen Herausforderungen

zu positionieren, müssen diese Transformationsprozesse erst einmal von den

Gemeinden verstanden werden.

Für die Antizipation der zukünftigen Entwicklungen sind daher gemeinsame Vorträge

und Workshops mit evangelischen und katholischen Theologen zu empfehlen, um die Erfahrungen

der beiden Kirchen mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und ihren Konsequenzen

seit den 1960er-Jahren aufzuzeigen. Speziell im Sinne des cultural time lag sollten

die Auswirkungen auf den Bedeutungswandel der christlichen Familien in der religiösen

Erziehung, die Entwicklungen der Gemeindezahlen sowie die Verhältnisbestimmung von

Kirche und Schule im Kontext des Religionsunterrichts plastisch gemacht werden. Wichtig

ist es auch, den muslimischen Gemeinden zu vermitteln, dass sich Religion oder Kirche


448 C Schlussfolgerungen

im Prozess der Säkularisierung und Individualisierung nicht völlig auflösen, sondern

nach wie vor eine zentrale Funktion für die Gesellschaft ausüben werden. In diesem Zusammenhang

zeigt Jürgen Habermas – der bereits von der „postsäkularen Phase“ spricht

– Perspektiven für die gesellschaftliche Legitimation von Religionsgemeinden auf, die auch

für die muslimischen Gemeinden in ihrer zukünftigen Rollendefinition wegweisend sind:

„Im Gegensatz zur ethischen Enthaltsamkeit eines nachmetaphysischen Denkens, dem sich

jeder generell verbindliche Begriff vom guten und exemplarischen Leben entzieht, sind in

heiligen Schriften und religiösen Überlieferungen Intuitionen von Verfehlung und Erlösung,

vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben artikuliert, über Jahrtausende

hinweg subtil ausbuchstabiert und hermeneutisch wachgehalten worden. Deshalb kann im

Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften, sofern sie nur Dogmatismus und Gewissenszwang

vermeiden, etwas intakt bleiben, was andernorts verloren gegangen und mit dem

professionellen Wissen von Experten allein auch nicht wiederhergestellt werden kann – ich

meine hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes

Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe

und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge.“ 801

Dieses „intakt bleiben“ des Gemeindelebens könnte nach Habermas auch die Rolle der

Gemeinden in einem „zweifachen und komplementären Lernprozess“ in postsäkularen

Gesellschaften erfüllen:

„Damit ist nicht nur gemeint, dass sich die Religion in einer zunehmend säkularen Umgebung

behauptet und dass die Gesellschaft bis auf weiteres mit dem Fortbestehen der Religionsgemeinschaften

rechnet. Der Ausdruck ‚postsäkular‘ zollt den Religionsgemeinschaften auch

nicht nur öffentliche Anerkennung für den funktionalen Beitrag, den sie für die Reproduktion

erwünschter Motive und Einstellungen leisten. Im öffentlichen Bewusstsein einer postsäkularen

Gesellschaft spiegelt sich vielmehr eine normative Einsicht, die für den politischen

Umgang von ungläubigen mit gläubigen Bürgern Konsequenzen hat. In der postsäkularen

Gesellschaft setzt sich die Erkenntnis durch, dass die ‚Modernisierung des öffentlichen

Bewusstseins‘ phasenverschoben religiöse wie weltliche Mentalitäten erfasst und reflexiv

verändert. Beide Seite können, wenn sie die Säkularisierung der Gesellschaft gemeinsam als

einen komplementären Lernprozess begreifen, ihre Beiträge zu kontroversen Themen in der

Öffentlichkeit dann auch aus kognitiven Gründen gegenseitig ernstnehmen.“ 802

801 Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Staates?, in: Jürgen Habermas/

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