Leseprobe_Franke
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So hatte ich mir Island vorgestellt.<br />
Dass sich die Toilette im Freien befand, war mir dann aber<br />
doch etwas zu rustikal, vor allem, dass ich im Morgengrauen<br />
zum Urinieren ins Freie musste, war eine Zumutung für einen<br />
Großstadtmenschen wie mich.<br />
Diese Unterkunft war dennoch ideal, weil sie mich von allem,<br />
was mich bis dahin genervt, irritiert oder gestört hatte,<br />
ablenkte. Ich ging zum Fenster und schob den staubigen Vorhang<br />
zur Seite. Vor dem Haus gab es einen kleinen Garten, in<br />
dem man während der Sommermonate einen guten Teil des<br />
Tages zubringen konnte, im Winter zog man sich in die warme<br />
Stube zurück. Einige am Boden kriechende, verwachsene<br />
Birken standen neben der holprigen Zufahrtsstraße, wachten<br />
in der Dunkelheit. Alles schien so inhaltslos und leer. Ich<br />
starrte in einen klaren Himmel, der schöner nicht hätte sein<br />
können, dennoch stieg eine unbeschreibliche Traurigkeit in<br />
mir hoch.<br />
Langsam zog ich den Vorhang wieder zu und setzte mich<br />
in den Ohrensessel. Gestern noch zu Hause, am nächsten<br />
Morgen dann auf Island, in einem fremden Land, allein mit<br />
meinem Unglück. Ich ging ins Bad und wusch mir die Hände.<br />
Als ich in den Spiegel schaute, blickte ich in ein müdes,<br />
abgekämpftes Gesicht. Ich versuchte, während ich mir den<br />
warmen Wasserstrahl über die Hände laufen ließ, ein freundliches<br />
Lächeln, doch meine Gesichtsmuskulatur gehorchte<br />
nicht und meine Augenlider zuckten nervös.<br />
Wie lange braucht es, bis man sich öffnet?<br />
*<br />
Oft fuhr ich nach Reykjavik. Die Stadt, die nördlichste<br />
Hauptstadt der Welt, zog mich beinahe magisch an. Verregnete<br />
Abende, gut besuchte Klavierkonzerte, eine dunkle<br />
Stadt und ich mittendrin, fast schon am Polarkreis. Ich saß in<br />
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