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Leseprobe_Federspiel

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Erzählungen


Die Vollendung


Maurus <strong>Federspiel</strong><br />

Die Vollendung<br />

Erzählungen


lektorat: teresa profanter<br />

umschlaggestaltung: Daniela seiler<br />

satz: Daniela seiler<br />

Fotocredit Cover: shutterstock 63938134<br />

hergestellt in der eu<br />

Maurus <strong>Federspiel</strong>: Die Vollendung<br />

gedruckt mit freundlicher unterstützung<br />

der Kulturstiftung liechtenstein<br />

alle rechte vorbehalten<br />

© hollitZer Verlag, Wien 2018<br />

www.hollitzer.at<br />

isBn 978­3­99012­527­4


Inhalt<br />

Phantome .................................................................... 7<br />

Die Ahnengalerie ........................................................ 29<br />

Die Kanzlei ................................................................ 49<br />

Der Imitator ............................................................... 81<br />

Der Wachsame ........................................................... 111<br />

Der Käufer ................................................................ 133<br />

Die Vollendung .........................................................167<br />

Danksagung .............................................................. 181


Phantome<br />

Es war der einzige freie Platz im Waggon. Ein Zufall also.<br />

Oder vielleicht auch kein Zufall: Den Mann umgab eine fast<br />

physisch spürbare Aura, eine Hülle der Unnahbarkeit.<br />

Er trug trotz der Wärme im Zug einen etwas abgewetzten<br />

Kamelhaarmantel, Lackschuhe mit polierten Schnallen, eine<br />

weiße Krawatte. Das Auffälligste an ihm war aber sein Bart:<br />

Breite Koteletten, die abrupt in ein schmales, behaartes Band<br />

übergingen, das wiederum entlang dem Kiefer zu einem<br />

dichten, dunklen, quaderartigen Gewebe führte. Für den<br />

Mund war eine schmale Klinse herausgeschnitten, die Lippen<br />

sahen aus, als wären sie sorgfältig aufgeklebt worden.<br />

Ich war verblüfft.<br />

„Ist hier frei?“, fragte ich.<br />

Der Mann hatte die Beine übereinandergeschlagen und<br />

war dabei, etwas auf einen kleinen Zeichenblock zu kritzeln,<br />

und die Hand mit dem Fallminenstift schien sich auf<br />

dem Blatt wie ferngesteuert einfach weiterzubewegen, als er<br />

zu mir aufsah, mich kurz musterte und „Bitte“ sagte.<br />

Eine tiefe, kehlige Stimme, etwas metallisch. Er zeichnete<br />

weiter.<br />

Die Krawatte war, genau besehen, schwarzweiß, aber über<br />

dem dunkelblauen Hemd stach vor allem ein senkrechter<br />

weißer Streifen vor seiner Brust heraus, wie eine leuchtende<br />

Öffnung zu seinem Innersten. Keine, die man berühren<br />

wollte, eher eine Schramme, vor deren Empfindlichkeit<br />

man zurückschreckte.<br />

7


Ich setzte mich, meine Zeitschrift in der Hand, neben ihn<br />

in das Viererabteil des offenen Waggons. Zwei ältere Damen<br />

saßen uns gegenüber und unterhielten sich halblaut. Die<br />

Skizze auf seinem Zeichenblock zeigte keine von beiden.<br />

Der Zug fuhr an, es ratterte und holperte etwas, die<br />

Bleistiftspitze hielt inne, um dann vom gleichen Punkt aus<br />

weiter geführt zu werden, als der Zug die Bahnhofshalle<br />

verließ und beschleunigte.<br />

Ich sah mich um, machte die Frau mit den tiefen Augenringen<br />

und der weißen Mütze dann im übernächsten Abteil<br />

auf der anderen Seite des Mittelgangs aus.<br />

„Gut getroffen“, sagte ich.<br />

Ihre Nase, die Mütze, die abfallende Falte neben dem<br />

Mund, der müde Blick der Frau waren sehr genau erfasst,<br />

aber er hatte die einzelnen Elemente neu zusammengesetzt;<br />

diskret, nicht wie es Picasso mit seinen Geliebten gemacht<br />

hatte, deren er überdrüssig geworden war, sondern wohlwollend,<br />

so kam es mir vor, das Gesichtsoval war etwas vergrößert,<br />

die Augen ein klein wenig gegeneinander versetzt,<br />

das Haar schien unter dem Mützenrand zu schweben. Insgesamt<br />

schien es, als würde der Frau in der Zeichnung durch<br />

die ungezwungene Umsetzung eine Heiterkeit geschenkt,<br />

die in ihrem realen Vorbild schlummerte.<br />

Ich erwartete eine abwehrende Reaktion – dass er den<br />

Block zuklappen würde vielleicht, weil er es nicht mochte,<br />

dass man ihm über die Schulter schaute, oder dass er mich mit<br />

kühler Bescheidenheit auf Distanz hielte. Stattdessen sagte er<br />

einfach: „Danke“ und neigte die Zeichnung kurz zu mir her,<br />

um mich einen genaueren Blick darauf werfen zu lassen.<br />

Mit einer raschen Linie fügte er den Umriss des Sitzes<br />

hinzu, wie einen Rahmen, der vom Pompon ihrer Mütze<br />

durchbrochen wurde, dann schlug er das Blatt um. Im<br />

oberen Drittel der nächsten Seite setzte er einen einzelnen<br />

Punkt, dann hielt die Hand mit dem Stift inne.<br />

8


„Beruf oder Hobby?“, fragte ich.<br />

Er warf mir einen Blick zu, ohne mich anzusehen, drückte<br />

auf den Knopf am Stiftende und ließ die Spitze der Mine<br />

verschwinden.<br />

„Zeichnen ist mein Beruf“, sagte er. „Seltsam, dass ich bei<br />

der Antwort auf diese Frage stocke. Vielleicht weil sie mir<br />

missverständlich vorkommt. Die Antwort, meine ich.“<br />

„Inwiefern?“<br />

„Woran denken Sie denn, wenn Ihnen jemand als Zeichner<br />

vorgestellt wird?“<br />

Ich rollte meine Zeitschrift zusammen, überlegte. „An<br />

Werbegraphik vielleicht. Oder an Hochbauzeichnung.<br />

Comics. Natürlich an die Pastellkreidehausierer, die vor<br />

einer Kathedrale Touristen verewigen.“<br />

Er warf einen Blick aus dem Fenster auf die Vororte, in<br />

denen sich die Stadt hinter uns rasch auflöste, nickte. „Die<br />

Zeichnung hat oft etwas Kaltes, Unzweideutiges. Auch<br />

Lumpen können zeichnen.“<br />

„Viele Maler waren Lumpen.“<br />

„Das ist eine andere Sorte Lump. Anders als die Malerei<br />

hat die Zeichnung gerade wegen ihrer Unzweideutigkeit<br />

aber auch etwas Zweckdienliches. Ich bin ein zweckdienlicher<br />

Zeichner.“<br />

Die Luft im Waggon war feucht von den regennassen<br />

Kleidern der Passagiere. Ich roch Seife, war aber nicht sicher,<br />

von wem der Duft stammte.<br />

„Sie sprechen in Rätseln“, sagte ich.<br />

„Sie haben recht. Dabei gehört es eigentlich zu meiner<br />

Aufgabe, Rätsel zu lösen.“ Er nahm einen tiefen Atemzug,<br />

schien zu überlegen, ob er mir Genaueres mitteilen wollte;<br />

aber natürlich konnte er jetzt nicht mehr zurück, ohne<br />

sich über Gebühr wichtig zu machen. „Ich bin Phantomzeichner.“<br />

„Bei der Polizei? Interessant.“<br />

9


„Bei der Polizei“, bestätigte er zögerlich und nickte dabei<br />

tief, als würde er sich unter etwas hindurchducken.<br />

„Sie zeichnen also schlimme Menschen.“<br />

„Richtig, schlimme Menschen.“<br />

„Dann wird sich Ihr Zeichenstift bestimmt freuen, wenn<br />

er hin und wieder unschuldige und sympathische Zugpassagiere<br />

zeichnen darf.“<br />

Er lachte und betrachtete den Fallminenstift, den er zwischen<br />

den Fingern hielt. „Vielleicht braucht mein Arbeitsinstrument<br />

tatsächlich dann und wann eine kleine Aufheiterung,<br />

um bei Laune zu bleiben.“ Er sah mich von der Seite<br />

an. „Glauben Sie an das Leben der Dinge?“<br />

„Warum nicht. Ich handle mit Antiquitäten. Und da<br />

kommt es mir manchmal vor, als hafte an einem Gegenstand<br />

seine Geschichte noch als Erinnerung. An einer Schatulle<br />

etwa oder an einem Tisch, an dem Leute zusammensaßen,<br />

von denen ich nichts weiß, oder an einem Ring. Man<br />

setzt sich an den Tisch oder steckt sich den Ring mit dem<br />

Mondstein an den Finger, und schon wehen Stimmungen<br />

heran, wie Erinnerungen an andere Orte, andere Menschen.<br />

In Ihrem Beruf spielt die Erinnerung auch eine bedeutende<br />

Rolle, nicht wahr?“<br />

Er nickte. „Einer Dame wird die Handtasche geraubt. Es<br />

dämmert schon, eigentlich spürt sie nur den groben Ruck an<br />

ihrem Arm, sie erschrickt, wird herumgerissen, und bevor<br />

sie stürzt, erhascht sie einen einzigen Blick auf das Gesicht<br />

des Räubers. Dieses Gesicht soll sie mir dann beschreiben.<br />

Oder der Mann, der am Rand des Spielplatzes steht und<br />

nur aus der Ferne von zwei Müttern bemerkt wurde. Überhaupt,<br />

der Fall, wenn ein Täter von mehreren Zeugen gesehen<br />

wurde und jeder von ihnen dann seine Kennzeichnung<br />

liefert!“ Er schüttelte den Kopf.<br />

„Die Beschreibungen weichen voneinander ab?“, fragte ich.<br />

Die beiden alten Damen uns gegenüber waren verstummt<br />

10


und blickten den Phantomzeichner an. Sie mussten etwas<br />

von unserer Unterhaltung mitangehört haben.<br />

Er nickte ihnen freundlich zu, und sie wandten sich wieder<br />

einander zu.<br />

„Die Unterschiede in den Beschreibungen sind oft haarsträubend“,<br />

bestätigte er. „Und wenn man den Kerl dann<br />

erwischt, muss man feststellen, dass drei von drei Zeugen<br />

falsch lagen. Natürlich nicht immer. Ich übertreibe. Manchmal<br />

ist auch ein guter Beobachter dabei.“<br />

„Das bedeutet natürlich, dass auch ein einzelner Zeuge<br />

komplett danebenliegen kann.“<br />

„Sicher.“ Er klang irgendwie zufrieden.<br />

„Aber stellt das nicht die Aufgabe des Phantomzeichners<br />

überhaupt in Frage?“<br />

„Tja.“ Er berührte mit dem Ende des Stiftes seine Nasenspitze,<br />

merkte wohl, dass er dabei komisch aussehen musste,<br />

zeigte mit dem Stift dann ins Ungefähre der lautlos vorbeiziehenden<br />

Landschaft, als läge da draußen eine Antwort auf<br />

den Einwand. „Da kommt dann das besondere Talent des<br />

Zeichners ins Spiel. Haben Sie das Magazin abonniert?“ Er<br />

wies auf die Zeitschrift in meiner Hand.<br />

Ich schüttelte den Kopf, entrollte sie und strich sie glatt,<br />

um ihm das Titelbild zu zeigen, etwas enttäuscht darüber,<br />

dass er so abrupt das Thema wechselte. „Am Kiosk gekauft.<br />

Hier.“ Ich reichte ihm das Heft.<br />

Aber er wehrte ab. „Ich lese keine Zeitungen“, sagte er.<br />

„Beschreiben Sie mir den Verkäufer.“<br />

„Den Mann am Kiosk?“ Ich rollte die Zeitschrift wieder<br />

zusammen, klopfte mit dem Papierrohr in die offene Hand,<br />

überlegte. „Schwierig. Hager war er.“ Ich kniff die Augen<br />

zusammen, um mir das Gesicht in Erinnerung zu rufen, aber<br />

das Wenige, das sich mir zeigte, vermischte sich sogleich mit<br />

den Gestalten anderer Leute. „Irgendwie gefällig aussehend,<br />

falls das etwas zu sagen hat.“ Ich zuckte mit den Schultern.<br />

11


„Jedenfalls ist das ein Eindruck, der zurückblieb. Dunkles<br />

Haar. Ich glaube, die Lider hingen etwas herunter. Vielleicht<br />

waren die Augen blau. Sein Blick ging leer durch mich<br />

hindurch, geschäftsmäßig halt.“<br />

Er hatte schon angefangen zu zeichnen. „Glattes oder<br />

krauses Haar?“<br />

„Nicht glatt. Nicht glatt.“ Ich war nicht sicher. „Hatte<br />

er ein Grübchen im Kinn?“, fragte ich mich selber. „Ich<br />

glaube schon.“<br />

„Die Brauen?“<br />

„Nichts Besonderes, würde ich sagen. Nicht sehr buschig,<br />

nicht besonders gewölbt oder dergleichen. An seine Hand<br />

kann ich mich erinnern, als er mir das Wechselgeld reichte.<br />

Aber das nützt nichts, oder?“<br />

„Was war es denn für eine Hand?“ Die Skizze schien sich<br />

sehr rasch zu formen.<br />

„Knotig, sehr schmal, mit krummen Fingern.“<br />

„Aha.“ Ich war nicht sicher, ob er sich über mich lustig<br />

machte. Er zeichnete einfach weiter. „Hervortretende<br />

Wangen knochen?“, fragte er. „Das muss man bei einer hageren<br />

Figur annehmen, nicht wahr?“<br />

„Ja. Ja, bestimmt.“<br />

„Ich will Ihnen nichts in den Mund legen. Lassen Sie sich<br />

von mir nicht beeinflussen.“ Das klang eingelernt.<br />

Er stellte mir noch zwei oder drei Fragen, und ich versuchte,<br />

so genau wie möglich darauf zu antworten, aber ich<br />

war nicht sicher, ob er mir richtig zuhörte. Er schien ganz<br />

auf seine Arbeit konzentriert zu sein.<br />

Ich fügte an: „Die Lippen waren ziemlich breit, fällt mir<br />

gerade ein. Ja, da bin ich mir ziemlich sicher.“<br />

„Mhm.“ Er schraffierte, strichelte, zog da und dort eine<br />

Linie doppelt nach, wirkte gedankenverloren. Plötzlich hielt<br />

er inne, besah die Zeichnung, indem er sie ein Stück weit<br />

von sich weghielt, und streckte sie mir dann hin. „So?“<br />

12


Das Männergesicht auf der Zeichnung hatte kein Kinngrübchen,<br />

und die Lippen waren eher schmal. Andererseits<br />

hatte der Phantomzeichner ihm Züge gegeben, die ich<br />

bestimmt nicht erwähnt hatte – weil sie mir gar nicht in<br />

Erinnerung gewesen waren: Die Augen standen etwas schräg,<br />

und die Stirn war übermäßig hoch, die Kopfform ziemlich<br />

spitz. Aber genau so hatte der Kioskverkäufer ausgesehen.<br />

„Das ist … erstaunlich“, sagte ich.<br />

Der Phantomzeichner lächelte zufrieden.<br />

„Aber woher wussten Sie, dass …“ Ich wusste nicht, wie<br />

ich fragen sollte.<br />

„Man muss sich manchmal über die Aussagen der Zeugen<br />

hinwegsetzen. Jedenfalls darf man sich nicht immer auf<br />

den Nennwert des Gesagten verlassen. Es gilt, zwischen die<br />

Worte hindurchzuspähen auf das eigentliche Bild, das im<br />

Gedächtnis haften blieb.“<br />

„Aber wie geht das?“, fragte ich.<br />

Er neigte seinen Kopf hin und her, sagte: „Berufserfahrung.“<br />

Und dann: „Vielleicht gelingt es mir manchmal,<br />

einen Blick zu erhaschen auf den Projektionsvorgang im Inneren<br />

des Denkapparates oder so.“ Er schlug das Blatt mit<br />

der neuen Zeichnung um und steckte den Block und den<br />

Stift dann in die Ledermappe, die an sein Bein gelehnt auf<br />

dem Boden gestanden war. „Erzählen Sie mir etwas von<br />

sich. Sie sind also Antiquitätenhändler?“<br />

„Antiquitätenhändler klingt groß. Es ist nur ein erfreuliches<br />

Hobby, das mir gelegentlich etwas Geld einbringt.<br />

Aber das ist reine Glückssache.“<br />

„Das klingt sehr bescheiden.“<br />

„Es stimmt. Wenn ich etwas ankaufe, dann nicht mit dem<br />

Kalkül, es gewinnbringend weiterzuverkaufen. Ich habe<br />

auch keinen bestimmten Käufer im Sinn oder dergleichen.<br />

Ich kaufe, was mir gefällt. Ich reise viel. Eigentlich sind es<br />

eher Streifzüge, die ich unternehme. Und hier und da treffe<br />

13


ich in einem Trödelladen eben auf ein Fundstück, das mich<br />

begeistert. Es ist seltsam, meistens weiß ich schon vorher,<br />

dass mich etwas erwartet. Ich fühle ein Kribbeln, wie ein<br />

dünner elektrischer Kriechstrom, und dann weiß ich schon:<br />

Jetzt verliebe ich mich gleich. In einen Beistelltisch mit eingelegtem<br />

Bandelwerk. Oder in ein Paar Kaminböcke. Oder<br />

in eine lächerliche kleine Jardinière mit schwarzen Tauben<br />

und Kränzen auf senfgelbem Grund, Sie wissen schon, einen<br />

Blumenbehälter.“ Wirklich ergriff mich sogar, während ich<br />

jetzt davon sprach, wieder die heitere Erregung, die ich verspürt<br />

hatte, als ich die Schale in einem Kellerlager entdeckte.<br />

„Gerade in französischen Altwarenstuben finden sich nach<br />

wie vor bisweilen vergessene und verstaubte kleine Schätze.<br />

Und dann hat es sich eben oft so ergeben, dass ich für die<br />

jeweilige Trouvaille auch einen interessierten Käufer fand.<br />

Günstige Zufälle eben. Meine Exfrau ist zu Besuch und sagt,<br />

ah, die Kommode würde wunderbar ins Haus ihrer Cousine<br />

passen oder so. Und so kommt es zum Geschäft.“<br />

„Verstehe“, sagte der Phantomzeichner. „Sie scheinen<br />

vom Glück begünstigt zu sein.“<br />

„Nicht in jeder Hinsicht.“<br />

„Gescheiterte Ehe?“<br />

„Zweimal.“ Ich räusperte mich.<br />

„Kinder?“<br />

„Zwei Töchter. Von jeder Frau eine.“<br />

„Das ist Glück.“ Er sah aus dem Fenster. „Wir konnten<br />

keine Kinder haben.“ Ich öffnete den Mund, schloss ihn<br />

wieder; fragte nicht nach.<br />

Er wandte sich wieder mir zu. Mir fiel auf, dass seine<br />

Nasen flügel ungleich groß waren; die krumme Linie der<br />

Nase glich aber diese Disharmonie aus. „Verstehen Sie sich<br />

gut mit den Müttern?“, fragte er.<br />

„Ja, selbst wenn ich nicht weiß weshalb. Auch die beiden<br />

Frauen waren Trouvaillen. Aber ich war zu unstet. Vielleicht<br />

14


in ich es noch. Wissen Sie, da ich es mit einem Phantomzeichner<br />

zu tun habe – vielleicht bin ich selbst eine Art Phantom.<br />

Verraten Sie mir übrigens Ihren Namen?“ Ich rückte<br />

etwas zurück, um ihm meine Hand anbieten zu können.<br />

Er zögerte, betrachtete meine Hand irgendwie erstaunt,<br />

dann ergriff er sie. „Freiling heiße ich.“<br />

Ich nannte ihm meinen Namen.<br />

Er sah mich prüfend an, dann nickte er. „Sie sagten, Sie<br />

hätten das Gefühl, selber ein Phantom zu sein?“<br />

Ich zuckte mit den Schultern. „So könnte ich mir vorkommen,<br />

wenn ich mich aus der Perspektive meiner beiden<br />

Exfrauen betrachte. Ich tauchte auf, zog weiter. Sie blieben.“<br />

„Und bekamen ein Kind.“<br />

„Das ist natürlich sehr verkürzt ausgedrückt. Aber ich<br />

entstammte nicht dem gleichen Milieu wie die beiden, wir<br />

hatten keine gemeinsamen Bekannten.“<br />

„Milieus können sich ja berühren. Oder verschmelzen“,<br />

wandte Freiling ein.<br />

„Ich befürchte, mein Milieu besteht nur aus mir allein.<br />

Irgendwie bin ich aus allen Zusammenhängen herausgeglitten.<br />

Sehr sanft übrigens. Aber ich scheine zeitweilig<br />

unsichtbar geworden zu sein. Ich fiel aus dem Krankenversicherungssystem<br />

heraus. Während zweier Jahre bekam ich<br />

keine Steuererklärung zugestellt, das Amt hat auch nicht<br />

nachgefragt.“<br />

„Das ist ein Wunder.“ Freiling lächelte.<br />

„Manchmal öffnen sich Schiebetüren vor mir nicht. Als<br />

würde die Fotozelle mich nicht wahrnehmen. Und im Verkehr<br />

muss ich höllisch aufpassen. Oft wird mir die Vorfahrt<br />

verweigert.“<br />

„Es sind auch viele schlechte Autofahrer unterwegs.“<br />

„Sie haben recht. Womöglich bilde ich mir da auch etwas<br />

ein. Jedenfalls fahre ich lieber mit der Bahn, da fühle ich<br />

mich sicherer.“<br />

15


„Ein Phantom also.“ Er strich sich das Barthaar an seinem<br />

Kinn glatt. „Vielleicht vertraut man sich einem Unsichtbaren<br />

ja leichter an. Und ich lasse mich dazu hinreißen, eine<br />

Zeichnung anzufertigen … Ich wundere mich über mich<br />

selber.“ Er schüttelte den Kopf.<br />

Eine Zeit lang sagten wir beide nichts, sahen nur aus<br />

dem Fenster.<br />

Der Schaffner trat heran, prüfte die Fahrkarten der beiden<br />

Damen gegenüber, wartete, bis Freiling etwas umständlich<br />

seine Brieftasche hervorgezogen hatte. Mich beachtete<br />

er nicht.<br />

Als er sich den Passagieren auf der anderen Seite des Mittelgangs<br />

zuwandte, flüsterte ich Freiling zu: „Sehen Sie?“<br />

Er stutzte, grinste dann, während er seine Brieftasche verlangsamt<br />

wieder einsteckte, sagte: „Tatsächlich.“<br />

Der Schaffner rückte weiter vor.<br />

„Sie hätten also gern Kinder gehabt“, sagte ich.<br />

Freiling schien die Frage sogar erwartet zu haben.<br />

„Manchmal stelle ich mir vor, wie sie wohl ausgesehen<br />

hätten.“ Er schloss die Augen, öffnete sie wieder. „Einmal<br />

zeichnete ich sie mir sogar. Ein Junge und ein Mädchen. Sobald<br />

ich ihre Namen wusste, waren auch die Gesichter da.“<br />

„Sahen sie Ihnen ähnlich? In der Zeichnung?“<br />

Er wirkte überrascht. „Ich glaube, ja.“ Die Hände im<br />

Schoß zog er die Schultern hoch in einer überraschend<br />

kindlichen Schutzhaltung. Er war mir sympathisch, stellte<br />

ich fest. „Da bin ich meiner Eigenblindheit ausgeliefert.<br />

Sie verstehen, dass ich die Zeichnung meiner Frau nicht<br />

gezeigt habe.“<br />

„Gewiss.“<br />

Er ließ die Schultern wieder sinken. Etwas Unsichtbares<br />

berührte uns beide, ging wieder.<br />

Die Dame mir gegenüber stand auf und ging zur Toilette.<br />

Wir schwiegen, bis sie zurückkam und ihre Begleiterin zu<br />

16


einem Kaffee in den Speisewagen einlud. Sie nahmen ihre<br />

Mäntel, nickten uns zu und verschwanden.<br />

Freiling sah ihnen nach, dann rutschte er in seinem Sessel<br />

etwas zur Seite, um mir einen prüfenden Blick zuzuwerfen.<br />

Er pochte mit dem Daumennagel ein paarmal hell gegen<br />

seine Schneidezähne.<br />

„Was machen Sie denn in der Stadt?“, fragte er und zeigte<br />

in die Richtung hinter uns, wo unser Zielbahnhof lag; wir<br />

saßen mit dem Rücken zur Fahrtrichtung.<br />

„Ich besuche einen Bekannten, der einen Haufen altes<br />

Zeug von seiner Großmutter geerbt hat. So hat er es ausgedrückt,<br />

ein Haufen altes Zeug. Beschrieben hat er mir am<br />

Telefon eine hölzerne Madonna. Spätgotisch, würde ich vermuten.<br />

Das Kind halte einen goldenen Apfel in der Hand.“<br />

Ich fasste mich kurz; es war nicht, worum es Freiling ging.<br />

Er nickte. Schließlich sagte er mit gedämpfter Stimme:<br />

„Darf ich Ihnen etwas erzählen? Sie wissen ja, der Trost von<br />

Fremden …“<br />

Ich machte eine aufmunternde Geste.<br />

„Sehen Sie, die Zeichnungen, die ich ... Es ist mir gelungen<br />

... Stellen Sie sich doch einmal vor, dass ...“ Er setzte<br />

noch einmal neu an. „Der Reihe nach.“ Er schloss die Augen,<br />

öffnete sie wieder. „Es war so: Vor einiger Zeit kam<br />

mein Schwager zu uns zu Besuch. Der Bruder meiner Frau<br />

also. Er ist Musiker. Klarinettist. Ein etwas sperriger Mann.<br />

Fein im Gehör, aber vielleicht gerade deshalb leicht auffahrend.<br />

Einige Jahre älter als meine Frau. Älter auch als ich<br />

selber. Wir saßen bei Tisch, er musste schon einige Gläser<br />

getrunken haben, ohnehin neigt er dazu, vor sich hin zu<br />

stieren und zu reden, ohne viel Rücksicht zu nehmen auf<br />

seine Zuhörer. Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich<br />

mag ihn. Aber vielleicht mag ich ihn nicht, wie man einen<br />

Freund mag, dem man auf gleicher Ebene begegnet, sondern<br />

wie ein Mitgeschöpf, jemanden, den man wegen seiner<br />

17


Eigentümlichkeiten schätzt, seiner Kanten, seiner Besonderheiten<br />

wegen, die manchmal auch kurios sein mögen. Und<br />

genau darum ging es bei seiner Rede, um Freundschaft. Er<br />

erzählte uns nämlich in ungewohnter Offenheit, dass ihm<br />

ein Freund fehle. Er wollte nicht zugeben, dass er einsam sei,<br />

und vielleicht ist er es auch nicht, denn an Bekannten fehlt<br />

es ihm durch seine Arbeit im Orchester nicht, auch hat er,<br />

soviel mir bekannt ist, zwei gute Freunde. Den einen kenne<br />

ich, es ist ein ehemaliger Schulkamerad von ihm, heute Apotheker.<br />

Vom anderen weiß ich nur aus Anekdoten. Trotzdem<br />

meinte er, dass ihm ein Freund fehle, ein dritter Freund. Er<br />

sagte, er spüre die Lücke, in die dieser Unbekannte hineinpassen<br />

würde. Ich hakte nach. Meistens lasse ich ihn einfach<br />

reden und hüte mich, ihn durch Fragen weiter anzuregen,<br />

aber in diesem Fall wollte ich mehr wissen.“<br />

„Ihre Arbeit.“<br />

„Richtig. Ich fragte ihn also, wie diese Lücke denn beschaffen<br />

sei. Ob er Genaueres dazu zu sagen wisse. Wie sich<br />

das Fehlen denn anfühle. Und mein Schwager begann, die<br />

Lücke zu beschreiben. Er hätte gern jemanden, mit dem er<br />

am Montagnachmittag Schach spielen könnte. So spezifisch<br />

fing er an. Etwas unreif vielleicht, aber warum nicht. Und<br />

dann: Manchmal spüre er, dass Dinge in ihm gesagt werden<br />

wollten, aber keiner stelle ihm die entsprechenden Fragen,<br />

und deshalb wisse er gar nicht, was da in ihm schlummere,<br />

ohne Frager könnte er nicht antworten. Er erinnerte sich an<br />

einen Freund aus Kindertagen, einen Jungen, der ihn um einen<br />

halben Kopf überragte und der ihm allein deshalb eine<br />

Empfindung von Sicherheit vermittelte. Manchmal sei ihm<br />

danach, spätnachts noch jemanden anzurufen, ohne besonderen<br />

Anlass, also nicht im Notfall. Seine beiden anderen<br />

Freunde würden ihm das nicht übel nehmen, aber es seien<br />

eben keine spätnächtlichen Freunde. Ich war übrigens durchaus<br />

erstaunt über die Feinfühligkeit seiner Beschreibung.<br />

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