Leseprobe_Federspiel
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„Ein Phantom also.“ Er strich sich das Barthaar an seinem<br />
Kinn glatt. „Vielleicht vertraut man sich einem Unsichtbaren<br />
ja leichter an. Und ich lasse mich dazu hinreißen, eine<br />
Zeichnung anzufertigen … Ich wundere mich über mich<br />
selber.“ Er schüttelte den Kopf.<br />
Eine Zeit lang sagten wir beide nichts, sahen nur aus<br />
dem Fenster.<br />
Der Schaffner trat heran, prüfte die Fahrkarten der beiden<br />
Damen gegenüber, wartete, bis Freiling etwas umständlich<br />
seine Brieftasche hervorgezogen hatte. Mich beachtete<br />
er nicht.<br />
Als er sich den Passagieren auf der anderen Seite des Mittelgangs<br />
zuwandte, flüsterte ich Freiling zu: „Sehen Sie?“<br />
Er stutzte, grinste dann, während er seine Brieftasche verlangsamt<br />
wieder einsteckte, sagte: „Tatsächlich.“<br />
Der Schaffner rückte weiter vor.<br />
„Sie hätten also gern Kinder gehabt“, sagte ich.<br />
Freiling schien die Frage sogar erwartet zu haben.<br />
„Manchmal stelle ich mir vor, wie sie wohl ausgesehen<br />
hätten.“ Er schloss die Augen, öffnete sie wieder. „Einmal<br />
zeichnete ich sie mir sogar. Ein Junge und ein Mädchen. Sobald<br />
ich ihre Namen wusste, waren auch die Gesichter da.“<br />
„Sahen sie Ihnen ähnlich? In der Zeichnung?“<br />
Er wirkte überrascht. „Ich glaube, ja.“ Die Hände im<br />
Schoß zog er die Schultern hoch in einer überraschend<br />
kindlichen Schutzhaltung. Er war mir sympathisch, stellte<br />
ich fest. „Da bin ich meiner Eigenblindheit ausgeliefert.<br />
Sie verstehen, dass ich die Zeichnung meiner Frau nicht<br />
gezeigt habe.“<br />
„Gewiss.“<br />
Er ließ die Schultern wieder sinken. Etwas Unsichtbares<br />
berührte uns beide, ging wieder.<br />
Die Dame mir gegenüber stand auf und ging zur Toilette.<br />
Wir schwiegen, bis sie zurückkam und ihre Begleiterin zu<br />
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