Leseprobe_Alles was bleibt oder Ein Haus in Wien
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ernährte sie sich seit e<strong>in</strong>em Jahr nicht mehr vegan. Es<br />
war aber auch e<strong>in</strong> Spaß gewesen, das Essen von Frau<br />
Wolf zu bekritteln: ihre staubtrockenen Bröselkuchen,<br />
die sich bei der ersten Berührung pulverisierten; ihr<br />
Boeuf Stroganoff aus Fleischersatz, das wie Styropor<br />
quietschte, wenn man es zwischen den Zähnen zermalmte;<br />
ihre Vegiwürstchen, die man auf e<strong>in</strong>en eigenen<br />
Griller zu legen hatte, damit sie mit den Bratwürsten<br />
und Koteletts der anderen nicht <strong>in</strong> Berührung kamen.<br />
Christiane stieg die Stufen <strong>in</strong> den ersten Stock h<strong>in</strong>auf.<br />
Es war so still im <strong>Haus</strong>, dass sie das Gefühl hatte, alle<strong>in</strong>e<br />
auf der Welt zu se<strong>in</strong>. Das Gebäude war leider zu<br />
schmal, um nachträglich noch e<strong>in</strong>en Lift e<strong>in</strong>zubauen,<br />
und ihr Atem g<strong>in</strong>g et<strong>was</strong> schneller, wie immer, wenn<br />
sie die Stufen h<strong>in</strong>auf- <strong>oder</strong> h<strong>in</strong>unterlief.<br />
Im ersten Stock wohnte Frau Bäumer, die um diese Zeit<br />
noch schlief. Christiane warf die <strong>E<strong>in</strong></strong>ladung durch den<br />
Türschlitz. Frau Bäumer war seit zwanzig Jahren verwitwet.<br />
Als junge Frau war sie e<strong>in</strong>e hübsche Baller<strong>in</strong>a<br />
gewesen, noch heute ließen sie ihre modische Garderobe<br />
und ihre perfekte Frisur weit jünger ersche<strong>in</strong>en, als sie<br />
tatsächlich war.<br />
Christiane stieg die Stufen zum zweiten Stock h<strong>in</strong>auf.<br />
Hier wohnte sie selbst. Sie war Schriftsteller<strong>in</strong>, leider<br />
ke<strong>in</strong>e sehr erfolgreiche. Ihre Eltern hatten ihr et<strong>was</strong> Geld<br />
h<strong>in</strong>terlassen, damit bestritt sie ihre täglichen Ausgaben,<br />
nahm immer wieder Nebenjobs an. Wenn sie darüber<br />
nachdachte, war es früher auch nicht besser gewesen.<br />
Warum war sie nur so lange bei ihrem depressiven Mann,<br />
e<strong>in</strong>em glücklosen Baumeister, geblieben? Schlussendlich<br />
war er gegangen und hatte ihr die Wohnung überlassen.<br />
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