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Fachwerk 2020

Das Magazin der Denkmalpflege des Kantons Bern

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36 BERICHTE | RAPPORTS<br />

BERICHTE | RAPPORTS 37<br />

Eleganz der Stummfilm-Ära<br />

Mit Ernst Bechsteins Lichtspieltheater besitzt Burgdorf ein architektonisches Kleinod<br />

der 1920er Jahre.<br />

01 Stuckdekor um die «Ventilationsrosetten» an der Decke<br />

des Kinosaals.<br />

02 Der Zentralbau des Foyers bildet die Hauptfassade.<br />

03 Der Grundrissentwurf von Februar 1923 zeigt bereits<br />

die Struktur des ausgeführten Baus.<br />

02<br />

03<br />

01<br />

Im Zusammenhang mit der Testplanung Quartierentwicklung<br />

ist das ehemalige Kino Palace am Hunyadigässli mit<br />

seiner spannenden Geschichte von grossem Interesse.<br />

Heute ist in dem Gebäude eine Papeterie untergebracht,<br />

im Kinosaal steht in aussergewöhnlichem Ambiente Büromaterial<br />

zum Verkauf. Hier begann mit der Eröffnung der<br />

Lichtspiele «Kleines Theater» am 3. April 1924 ein neues<br />

Kapitel Burgdorfer Kinogeschichte. Der von Ernst Bechstein<br />

konzipierte Neubau verkörperte mit seinem Namen<br />

und der architektonischen Gestalt den Anspruch des damals<br />

noch jungen Mediums, dem Theater ebenbürtig zu<br />

sein. Das Programm, für das zunächst Otto Zuberbühler<br />

als Kinobetreiber verantwortlich zeichnete, sollte ausdrücklich<br />

nicht nur unterhalten, sondern das künstlerische<br />

Niveau und den pädagogischen Wert des Films demonstrieren.<br />

Im zweiten Anlauf: Neubau mit vielen Förderern<br />

Nachdem die Realisierung eines ersten Bauprojekts für ein<br />

Kino im Jahre 1917 gescheitert war, trat der Initiator Zuberbühler<br />

beim zweiten Anlauf nur als Pächter in Erscheinung.<br />

Die Rolle des Bauherrn übernahm die «Kleines Theater<br />

AG», zu deren Förderern neben örtlichen Fabrikanten<br />

auch die Familie Bechstein zählte. Ernst Bechstein plante<br />

das Lichtspieltheater für den Standort des seit einigen<br />

Jahren nicht mehr genutzten Ateliers seines Vaters, des<br />

bekannten Fotografen Louis Bechstein.<br />

Eine Sammlung von Plänen, die über Umwege in das Archiv<br />

der städtischen Baudirektion gelangt ist, dokumentiert den<br />

Entwurfsprozess ab Januar 1922. Bechstein entwickelte<br />

das Projekt von innen heraus und grenzte die Funktionsbereiche<br />

gestalterisch immer stärker voneinan der ab. So<br />

meisterte er die Herausforderungen einer von der Strasse<br />

abgerückten, beengten Grundfläche. An den Kinosaal ist<br />

südwestlich der achteckige Zentralbau des Foyers angeschoben.<br />

Er bildet die Hauptfassade, deren repräsentative<br />

Erscheinung ein von Bäumen flankierter Zugangsweg vervollständigen<br />

sollte. Mit Säulenportal, umlaufender Frieszone,<br />

Dreiecksgiebel und der Vase als Dachbekrönung bestimmen<br />

klassische Elemente eines Repräsentationsbaus<br />

das Erscheinungsbild.<br />

Sing-Film-Operetten und Hypnose-Shows<br />

Die Struktur des für 200 Plätze ausgelegten Saals folgt<br />

dem Vorbild traditioneller Theaterbauten. Im hinteren Bereich<br />

von Parterre und Empore waren Logen angeordnet.<br />

Gegenüber liegt die leicht eingezogene Bühne. Sie nahm<br />

nicht nur die Leinwand auf, sondern bot dank eines versenkbaren<br />

Bodens auch Platz für ein Orchester. Denn die<br />

musikalische Begleitung war vor dem Durchbruch des Tonfilms<br />

entscheidend für ein Kino-Erlebnis, das alle Sinne ansprechen<br />

sollte. So fanden im Eröffnungsjahr auch in Burgdorf<br />

Aufführungen wie die Sing-Film-Operette «Die blonde<br />

Geisha» oder der Film «Alt-Heidelberg», bei welchen ein<br />

Ensemble von Sängerinnen und Sängern das Leinwandgeschehen<br />

live vertonte, besonderen Anklang. Die Bühne<br />

diente darüber hinaus weiteren Darbietungen, wobei das<br />

Programm entgegen der ursprünglichen Ideale bald vom<br />

Filmabend der lokalen Pfadfinder bis hin zu Telepathie- und<br />

Hypnose-Shows reichte. Das technische Herzstück, den<br />

Raum für den Projektor, platzierte Bechstein in einem Erker<br />

der Westfassade und damit nicht zuletzt wegen der hohen<br />

Brandgefahr deutlich vom Zuschauerraum abgesetzt.<br />

Beeindruckendes Interieur der 1920er Jahre<br />

Mit der Übernahme durch Hans Hirt erhielt das Kino 1927<br />

lediglich den neuen Namen «Cinema Palace». Selbst der<br />

Einbau von abgetrennten Räumen für ein Spielcasino im<br />

Parterre in den 1980er Jahren hat nur wenige Spuren hinterlassen.<br />

Die Innenräume beeindrucken bis heute durch<br />

ihren eleganten Stuckdekor aus der Erbauungszeit. Innerhalb<br />

der Deckenspiegel setzen die kreisrunden Öffnungen<br />

der Lüftungsanlage Akzente. Ihre reich verzierten Gitter<br />

rahmen die in der Mitte herabhängenden Halbkugellampen<br />

wie Manschetten. Mit seinem von Bechstein einheitlich<br />

durchgestalteten und weitgehend intakt erhaltenen Interieur<br />

stellt der Bau ein aussergewöhnliches Zeugnis der<br />

Stummfilm-Ära und des Kinobooms der 1920er Jahre dar.<br />

Nebst dem ehemaligen Kino Seefeld in Zürich (1922 eröffnet,<br />

heute Restaurant Razzia) hat sich in der Schweiz nur<br />

wenig Vergleichbares erhalten.<br />

Markus Thome<br />

Burgdorf, Hunyadigässli 4a<br />

Massnahmen: Testplanung Quartierentwicklung, Baudokumentation 2019<br />

Denkmalpflege: Michael Gerber, Markus Thome

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