HUK 329 Juli 2020
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Das Hamburger<br />
Straßenmagazin<br />
Seit 1993<br />
N O <strong>329</strong><br />
<strong>Juli</strong>.20<br />
2,20 Euro<br />
Davon 1,10 Euro für<br />
unsere Verkäufer*innen<br />
Ich zeige dem<br />
Leben die Zähne!<br />
Wie Frank und andere Hinz&Künztler*innen<br />
ihren Neustart erleben.
Davon 1,10 Euro für<br />
unsere Verkäufer*innen<br />
1_HK326_47L 1 31.03.20 11:07<br />
Davon 1,10 Euro für<br />
unsere Verkäufer*innen<br />
1_HK323_47L 1 22.04.20 15:10<br />
Jetzt die<br />
Ausgaben von<br />
April und Mai<br />
digital lesen!<br />
SYSTEMIRRELEVANT.<br />
ABER ÜBERLEBENSWICHTIG.<br />
2,20 Euro<br />
DANKE<br />
allen, die jetzt<br />
für andere<br />
da sind!<br />
Das Hamburger<br />
Straßenmagazin<br />
Seit 1993<br />
N O 326<br />
Apr.20<br />
2,20 Euro<br />
Online-Ausgabe<br />
Hinz&Kunzt<br />
lesen und<br />
spenden<br />
www.hinzundkunzt.de<br />
Das Hamburger<br />
N<br />
Straßenmagazin<br />
O 327<br />
Mai.20<br />
Seit 1993<br />
Öffne open.cam in deinem Smartphone-Browser<br />
und scanne die<br />
Ausgabe, die du nachlesen möchtest.<br />
„Lasst euch<br />
nicht unterkriegen!“<br />
Was Kai und andere Hinz&Künztler*innen<br />
mit Corona erleben.<br />
Ich leb jetzt<br />
im Hotel<br />
Schutz vor Corona: Wie sich Reiners Leben<br />
von Grund auf geändert hat.<br />
powered by
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Inhalt<br />
Ein Anfang und ein Ende<br />
Einige Hinz&Künztler*innen waren richtig aufgeregt,<br />
als wir im Juni mit der gedruckten Ausgabe<br />
wieder auf die Straße zurückkehrten – und wir<br />
auch. Ob der Verkaufsplatz noch existiert? Ob sich<br />
die Kund*innen noch an sie erinnern würden?<br />
Aber die meisten wurden mit offenen Armen<br />
wieder aufgenommen. „Die Menschen haben sich<br />
richtig gefreut“, sagt Sonja (Seite 32) und strahlt.<br />
Mutig hatten wir 60.000 Exemplare gedruckt – und<br />
was wir nicht zu hoffen gewagt hatten: Wir waren<br />
schon vor Monatsende ausverkauft.<br />
Leserinnenpost:<br />
Der Artikel von Benjamin<br />
Laufer (rechts) über den<br />
geplanten Abriss der<br />
Sternbrücke brachte<br />
Erika Hahn dermaßen auf<br />
die Palme, dass sie direkt in<br />
die Tasten haute. Mit dem<br />
Neubauentwurf konnte sie<br />
sich so gar nicht anfreunden<br />
(„Monster!“), und so schrieb<br />
sie ihre Kindheitserinnerungen<br />
an die Sternbrücke<br />
auf (S. 16).<br />
Apropos Zahlen: Die Mehrwertsteuersenkung auf<br />
16 Prozent macht beim Kauf eines Magazins für die<br />
Hinz&Künztler*innen ein paar Cent aus. Die geben<br />
wir weiter: Jede Woche bekommen sie jetzt ein Heft,<br />
das sie normalerweise für 1,10 Euro kaufen, gratis.<br />
Ende Juni ging unser Corona-Hilfsprojekt zu<br />
Ende. 119 Obdachlose hatten wir drei Monate lang<br />
in Hotels untergebracht (Seite 6). Eine kleine Pause<br />
von der Straße mit großer Wirkung.<br />
Ihre Birgit Müller Chefredakteurin<br />
(Schreiben Sie uns doch an info@hinzundkunzt.de)<br />
TITELBILD: MAURICIO BUSTAMANTE; FOTO OBEN: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />
Inhalt<br />
Stadtgespräch<br />
04 Gut&Schön<br />
06 Zimmer mit Aussicht:<br />
Das Ende des Hotelprojekts<br />
12 Zahlen des Monats:<br />
E-Scooter in Hamburg<br />
18 Bürgerschaft:<br />
Die Sprecher*innen fürs Soziale<br />
24 Garten Eden für Insekten<br />
30 Hörwettbewerb: So klingt Vielfalt<br />
Mehr als witzig:<br />
Nico Semsrott<br />
verbindet Satire<br />
mit Politik – seit<br />
einem Jahr auch<br />
im Europaparlament<br />
(S. 40).<br />
Mehr als Grün: Wie Landwirte Insekten<br />
beim Überleben helfen können (S. 24).<br />
32 Dem Leben die Zähne zeigen:<br />
Hinz&Künztler*innen und Corona<br />
38 Verkaufsstart: Wir sind wieder da!<br />
Lebenslinien<br />
16 Erika Hahn wuchs neben der<br />
Sternbrücke auf<br />
40 Satiriker oder Politiker?<br />
Nico Semsrott ist beides<br />
Freunde<br />
44 Lius Masken aus China<br />
Kunzt&Kult<br />
48 One Hamburg macht Social-TV<br />
52 Tipps für den <strong>Juli</strong><br />
56 Hamburger Geschichte(n)<br />
58 Momentaufnahme<br />
Rubriken<br />
15, 17 Kolumnen<br />
14, 23 Meldungen<br />
46 Leser*innenbriefe<br />
57 Rätsel, Impressum<br />
Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk
Stadt gibt Zuschüsse<br />
Wohnen hinter Grün<br />
Hauswände voller Blauregen, Clematis, Kletterrosen:<br />
Seit 1. Juni unterstützt die Umweltbehörde<br />
Eigentümer*innen bei der Begrünung ihrer Immobilie.<br />
Wer für minimum 1000 Euro Fassadengrün<br />
anlegt, wird mit bis zu 40 Prozent des Kaufpreises<br />
unterstützt. 500.000 Euro sind im Topf. Ziel:<br />
Anpassung an den Klimawandel, Temperaturen<br />
abmildern, Luftfeuchtigkeit erhöhen. JOC<br />
•<br />
Infos: www.hamburg.de/gruendach
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Gut&Schön<br />
Klön-Bude im Pflegeheim<br />
Von Angesicht<br />
zu Angesicht<br />
Ulrich Bartels leitet das<br />
Pflegeheim „Haus Weinberg“<br />
FOTOS: PICTURE ALLIANCE / IMAGEBROKER | CHRISTIAN OHDE (S. 4), MAURICIO BUSTAMANTE (OBEN),<br />
IMAGO IMAGES / SVEN SIMON (UNTEN LINKS), PICTURE ALLIANCE/DPA | MARKUS SCHOLZ (UNTEN RECHTS), ULRIKE GROSSBONGARDT/DAS RAUHE HAUS (RECHTS)<br />
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg<br />
Leichte Töne in schweren Zeiten<br />
Ende Juni beschenkten Thomas Rohde (Oboe),<br />
Christian Seibold (Klarinette) und José Silva (Fagott)<br />
vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg<br />
Hinz&Kunzt mit einem ungewöhnlichen Innenhofkonzert.<br />
Etwa 30 Hinz&Künztler*innen und<br />
Nachbar*innen lauschten Werken von Mozart,<br />
Ibert und Debussy. JOF<br />
•<br />
Schöne Geste mit Kick<br />
Die deutsche Fußballnationalmannschaft<br />
der Männer unterstützt mit<br />
einem Betrag von einer Viertelmillion<br />
Euro Coronahilfen für Wohnungslose,<br />
deren Lebensumstände<br />
sich durch die Pandemie nochmals<br />
erschwert haben. Mit dem Geld, das<br />
an die „Bundesarbeitsgemeinschaft<br />
Wohnungslosenhilfe“ gegangen ist,<br />
kann nicht nur im Alltag geholfen<br />
werden, gefördert wird auch der<br />
Infektionsschutz für die Betroffenen<br />
– selbst die Anmietung von Wohnraum<br />
ist denkbar. JOC<br />
•<br />
5<br />
Hamburgs Stolz: der CSD<br />
„Keep on fighting. Together!“ Das<br />
wäre das Motto gewesen für die diesjährigen<br />
Festivitäten von „Hamburg<br />
Pride“, in deren Rahmen auch der<br />
Christopher Street Day in Hamburg<br />
sein 40-jähriges Jubiläum gefeiert<br />
hätte. Coronagerechte Alternativen<br />
wie etwa eine Fahrraddemo werden<br />
geprüft, Onlineformate wie Talkshows<br />
oder Fotoausstellungen laufen<br />
schon an oder sind in Arbeit.<br />
Aktuelle Infos gibt es im <strong>Juli</strong> auf der<br />
Homepage •<br />
JOC<br />
Infos: www.hamburg-pride.de<br />
Ulrich Bartels ist begeistert.<br />
„Wenn man die Maske gefahrlos<br />
runternehmen kann,<br />
dann merkt man erst: Das ist<br />
ein Unterschied wie Tag und<br />
Nacht,“ sagt der Diakon und<br />
Leiter des Senioren- und Pflegeheims<br />
„Haus Weinberg“<br />
am Rauhen Haus. In der<br />
hauseigenen innovativen<br />
„Klön-Bude“ wird den<br />
Heimbewohner*innen nämlich<br />
auch in Zeiten von Corona<br />
ein unverhüllter Kontakt<br />
zu ihren Verwandten und<br />
Freund*innen ermöglicht.<br />
Das Prinzip ist so einfach<br />
wie erfolgreich: Direkt vor<br />
dem Heim wurde im Garten<br />
eine Hütte mit zwei Eingängen<br />
errichtet, die durch eine<br />
Plexiglasscheibe in zwei Bereiche<br />
getrennt ist. Darin klönen<br />
auf der einen Seite die<br />
Heimbewohner*innen, auf<br />
der anderen die Angehörigen<br />
– beidseits unmaskiert, weil<br />
virustechnisch ungefährlich!<br />
„Etwa der eigenen Mutter unmittelbar<br />
ins Gesicht schauen<br />
zu können, ist unheimlich entlastend“,<br />
hat Bartels gelernt.<br />
Das am 7. Mai gestartete<br />
Angebot ist zunächst auf 100<br />
Tage ausgelegt, über eine Verlängerung<br />
und weitere<br />
Finanzierung der angemieteten<br />
Klön-Bude wird aber aktuell<br />
im Rauhen Haus bereits<br />
nachgedacht. JOC •<br />
Infos und Fotos von der Bude:<br />
www.huklink.de/kloenbude
Heiner sagt von sich,<br />
dass er pflegeleicht sei<br />
und auch in einer WG leben<br />
könnte. Wie es für ihn<br />
weitergeht, weiß der<br />
60-Jährige noch nicht.
Zimmer mit<br />
Aussicht<br />
Um sie vor Corona zu schützen, waren<br />
170 Obdachlose drei Monate lang in Hotels<br />
untergebracht – auf Wunsch in Einzelzimmern.<br />
Organisiert hatten das die Tagesaufenthaltsstätte<br />
Alimaus, die Diakonie und Hinz&Kunzt. Ende Juni<br />
musste das Projekt beendet werden, denn<br />
die Spenden waren aufgebraucht.<br />
TEXT: BIRGIT MÜLLER<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE,<br />
ANDREAS HORNOFF
Wir würden uns mehr<br />
Gäste wie euch wünschen“,<br />
sagt Lisa Wobst<br />
vom Bedpark am Ende<br />
unseres Projekts, Obdachlose in Zeiten<br />
von Corona im Hotel unterzubringen.<br />
„Die meisten sind höflich, wissen, wie<br />
sie sich verhalten sollten und was sie lassen<br />
sollten.“ Auch Michael Funk, unter<br />
anderem Betreiber von My Bed in Bergedorf,<br />
findet für seine Hotelgäste nur<br />
Superlative: „Sehr toll, sehr positiv, super!“<br />
Das sehen auch seine Kund*innen<br />
so: „Es gibt sogar viele, die Geld spenden<br />
wollen, damit die Obdachlosen<br />
nicht wieder auf die Straße müssen.“<br />
Mit so viel Überschwänglichkeit<br />
war nicht zu rechnen, als wir vor drei<br />
Monaten starteten. Damals hatten die<br />
Tagesaufenthaltsstätte Alimaus, die<br />
Dia konie und Hinz&Kunzt von der<br />
Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH<br />
eine Großspende bekommen – um Obdachlose<br />
vor Corona in Sicherheit zu<br />
bringen.<br />
Und das ging so: Straßensozialarbeiter<br />
fragten Obdachlose, ob sie vorübergehend<br />
ein Einzelzimmer haben wollten.<br />
Und Menschen, die vorher keine Notunterkunft<br />
annehmen wollten und<br />
konnten, haben begeistert Ja gesagt. Alle,<br />
die in der Wohnungslosenhilfe arbeiten,<br />
wissen, was gemeint ist – und der<br />
8<br />
ein oder andere empathische Laie vermutlich<br />
auch. „Jeder Obdachlose ist<br />
permanent in einer Krise – und bräuchte<br />
dringend Privatsphäre“, sagt unser<br />
Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer.<br />
„Und sich dann in einer großen Unterkunft<br />
permanent mit 100 Leuten und<br />
mehr auseinanderzusetzen, die diesel-
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Artur (links) kam nicht nur zur Ruhe:<br />
Mit anderen Obdachlosen hat er den<br />
Garten im Bedpark verschönert.<br />
Gerade ist im Gespräch, dass er und<br />
Krzysztof (nicht im Bild) weiterhin im<br />
Hotel leben können – als Hausmeister.<br />
Unten: Für Daniel, Anja und Hund Kiwi<br />
hat Hotelbesitzer Michael Funk Sponsoren<br />
gefunden – sie dürfen länger bleiben.<br />
weicher ist Daniel geworden und zugänglicher.<br />
Das liegt natürlich daran,<br />
dass er nicht mehr trinkt. Aber auch daran,<br />
dass er zur Ruhe kommt und Bergedorf<br />
„etwas ländlicher“ ist. Oft machen<br />
die drei Ausflüge. Dass er sich<br />
ständig mit Leuten anlegt, sieht Daniel<br />
heute viel kritischer. „Ich bin zu abgestumpft“,<br />
sagt er und schüttelt etwas betreten<br />
den Kopf über sich selbst.<br />
Krzysztof: Der Pole ist seit vielen<br />
Jahren in Deutschland, hat viel gearbeitet,<br />
aber immer schwarz. Er trinkt mehr<br />
Alkohol, als ihm guttut, aber im Bedpark<br />
hat er zusammen mit einem anderen<br />
polnischen Obdachlosen angefangen,<br />
den Garten zu machen. „Um<br />
etwas zurückzugeben“, sagt er in gebrochenem<br />
Deutsch. Ganz ähnlich ist es<br />
bei Artur. Er hat nicht nur die Sache<br />
mit dem Garten initiiert, „um Danke zu<br />
sagen“, er hat auch wieder angefangen<br />
zu malen. Und er erzählt, dass er aus eiben<br />
Probleme haben, überfordert viele<br />
Menschen.“<br />
Mitkommen durften alle, ohne Ansehen<br />
der Person: egal, ob sie psychisch<br />
krank, alkohol oder drogenkrank sind,<br />
ob sie Hilfe vom Staat bekommen oder<br />
nicht, ob sie Papiere hatten oder nicht.<br />
Wichtig war nur: Sie hatten Kontakt zu<br />
Immer gastfreundlich:<br />
Myléne Delattre und<br />
Lisa Wobst vom Bedpark<br />
mit Hinz&Kunzt-<br />
Sozialarbeiter<br />
Stephan Karrenbauer.<br />
Rainer hat endlich die<br />
Kraft gehabt, Hartz IV<br />
zu beantragen. Er<br />
wohnt jetzt in einem<br />
Wohncontainer.<br />
Straßensozialarbeiter*innen. Er oder<br />
sie checkte die Gäste ins Hotel ein und<br />
blieb auch weiterhin Ansprechpartner*in.<br />
Es waren am Ende 170<br />
Menschen.<br />
Und das erwartete die Obdachlosen:<br />
Gastgeber*innen, die sich auf sie<br />
freuten und sie willkommen hießen. Ein<br />
9<br />
Einzelzimmer mit Bad, frischer Bettwäsche<br />
und einem Fernseher. Ein Schlüssel<br />
und die Möglichkeit, zu kommen<br />
und zu gehen, wann sie wollten.<br />
Sozialarbeiter*innen, die stundenweise<br />
für sie da waren.<br />
Selbst die Sozialarbeiter*innen waren<br />
erstaunt, wie schnell sich die Menschen<br />
erholten. Bei vielen passierte<br />
richtig etwas und einige haben jetzt<br />
mehr Power, ihr Leben anzugehen.<br />
Daniel beispielsweise. Der 37jährige<br />
Hinz&Künztler lebt seit Jahren auf<br />
der Straße und hat einen riesigen Schäferhund.<br />
Daniel wird schnell aggressiv<br />
und legt sich auch gerne an. (Er hat übrigens<br />
erlaubt, dass ich das schreibe.)<br />
Kurz vor Corona hörten er und seine<br />
Freundin Anja (53) auf zu trinken – und<br />
sie durften sogar mit Hund im Hotel<br />
My Bed in Bergedorf einchecken. Viel<br />
Mitkommen<br />
durften alle, ohne<br />
Ansehen der<br />
Person.
ner Künstlerfamilie stammt und fünf<br />
Jahre die Kunsthochschule besuchte.<br />
Weil er nicht wusste, wie er sich durchschlagen<br />
sollte, ging er nach Deutschland,<br />
um zu arbeiten … und strandete.<br />
Hans (Name geändert): Seit geraumer Zeit<br />
dachte er, er hätte Darmkrebs. Er hatte<br />
ständig Schmerzen und konnte nicht<br />
10<br />
mehr aufs Klo. Beim Arzt war er nicht.<br />
Im Hotel hatte er seine eigene Toilette,<br />
das entspannte ihn wohl so, dass sich<br />
seine Verdauung wieder normalisierte<br />
und er keine Schmerzen mehr hat.<br />
Während es für unsereins völlig normal<br />
ist, jederzeit aufs Klo gehen zu können,<br />
war das für Hans in öffentlichen Einrichtungen<br />
immer eine Tortur, weil er<br />
auf dem sogenannten stillen Örtchen<br />
nie seine Ruhe hatte und ständig jemand<br />
gegen die Tür wummerte.<br />
Oder Rainer: Er fand auf der Straße<br />
keine Kraft, Hartz IV zu beantragen.<br />
Zwar war er im engen Austausch<br />
mit „seinem“ Straßensozialarbeiter,
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Gruppenbild mit Hund Kiwi<br />
(von links): Daniel, Anja,<br />
Jan, Michael Funk, der Inhaber<br />
von My Bed in Bergedorf,<br />
und die Straßensozialarbeiter<br />
<strong>Juli</strong>en Thiele<br />
(Caritas) und Johan<br />
Graßhoff (Diakonie).<br />
Beratung in lockerer Atmosphäre<br />
(Foto links): Krzysztof<br />
mit Hinz&Kunzt-<br />
Sozialarbeiter Jonas<br />
Gengnagel.<br />
Sven genießt es, wann immer<br />
er will, sich zu duschen<br />
und seine Hemden<br />
zu waschen. Er zieht vom<br />
Hotel in ein Wohnprojekt.<br />
Stadtgespräch<br />
wollte sich aber „nicht mit den Ämtern<br />
herumschlagen“. Schon nach kurzer<br />
Zeit im Hotel war für den 57-Jährigen<br />
klar: „Ich will nicht mehr auf die Straße<br />
zurück.“ Er bezieht jetzt Hartz IV und<br />
ist schon in einen Wohncontainer umgezogen.<br />
Wichtig war dabei für ihn:<br />
„Ich brauche ein Zimmer für mich allein<br />
– und es dürfen nicht zu viele Menschen<br />
mit Problemen sein, die dort<br />
wohnen.“ Aber genau das ist jetzt die<br />
Perspektive für die meisten, selbst wenn<br />
sich der städtische Unterkunftsbetreiber<br />
fördern und wohnen nun bemüht, einigen<br />
Obdachlosen eine Anschlussperspektive<br />
zu bieten: Angebote gibt es<br />
meist nur in großen Unterkünften und<br />
in Mehrbettzimmern.<br />
Natürlich ist auch ein Hotel keine<br />
Dauerlösung, aber es wäre schön, man<br />
könnte Bedingungen, wie sie im Hotel<br />
gegeben sind, so lange fortführen, bis<br />
alle einen Ort gefunden haben, an dem<br />
sie bleiben können.<br />
Es liegt am Geld, dass wir Ende Juni<br />
Schluss machen mussten. Die Großspenden<br />
sind aufgebraucht – trotz<br />
mehrfachen „Nachschlags“ von der Firma<br />
Reemtsma, Reemtsma-<br />
Mitarbeiter*innen sowie weiteren Stiftungen.<br />
Aber es gibt viele gute<br />
Nachrichten. Keine*r hat eine Corona-<br />
Infektion. Mehr noch: „Das Projekt hat<br />
in eindrucksvoller Weise gezeigt, dass<br />
die Forderung Housing First richtig ist“,<br />
sagt Dr. Kai Greve, stellvertretender<br />
Vorstandsvorsitzender der Alimaus.<br />
„Eine unglaubliche Erfolgsgeschichte!“<br />
In dieser kurzen Zeit haben immerhin<br />
fünf Menschen wieder einen sozialversicherungspflichtigen<br />
Job gefunden und<br />
sechs eine Unterkunft.<br />
Aber machen wir uns nichts vor:<br />
Die Mehrheit der Obdachlosen muss<br />
zurück auf die Straße. Vielleicht mit<br />
mehr Energie und Hoffnung als vorher.<br />
Die Initiatoren hoffen, „dass wir aus<br />
den Erfahrungen, die wir gemacht haben,<br />
Kraft und Ideen für die Zukunft<br />
schöpfen“, so Stephan Karrenbauer.<br />
Mindestens genauso wichtig ist aber,<br />
dass das Hotelprojekt Signalwirkung<br />
entfaltet. „Die Einzelunterbringung ist<br />
weder kosten- noch personalintensiv, es<br />
braucht keinen Sicherheitsdienst und<br />
sie gelingt dank guter sozialarbeiterischer<br />
Betreuung“, sagt Dirk Ahrens,<br />
Dia koniechef und Herausgeber von<br />
Hinz&Kunzt. Und was besonders wichtig<br />
ist: „Wir konnten Menschen erreichen,<br />
die sonst durch das Raster der<br />
städtischen Angebote fallen.“ •<br />
Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de<br />
ANKER<br />
DES<br />
LEBENS<br />
Hinz&Kunzt bietet obdachlosen<br />
Menschen Halt. Eine Art<br />
Anker für diejenigen, deren<br />
Leben aus dem Ruder<br />
gelaufen ist. Möchten Sie<br />
uns dabei unterstützen und<br />
gleichzeitig den Menschen,<br />
die bei Hinz&Kunzt Heimat und<br />
Arbeit gefunden haben, helfen?<br />
Dann hinterlassen Sie etwas<br />
Bleibendes – berücksichtigen<br />
Sie uns in Ihrem Testament! Als<br />
Testamentsspender wird Ihr<br />
Name auf Wunsch auf unserem<br />
Gedenk-Anker in der Hafencity<br />
graviert. Ein maritimes Symbol<br />
für den Halt, den Sie den<br />
sozial Benachteiligten mit Ihrer<br />
Spende geben.<br />
Wünschen Sie ein<br />
persönliches Gespräch?<br />
Kontaktieren Sie unseren<br />
Geschäfts führer Jörn Sturm.<br />
Tel.: 040/32 10 84 03<br />
oder Mail: joern.sturm@hinzundkunzt.de<br />
11
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Zahlen des Monats<br />
E-Scooter in Hamburg<br />
Zukunftsmodell<br />
oder Zumutung?<br />
3900<br />
E-Scooter stehen derzeit wieder auf Hamburgs Straßen zur Ausleihe bereit. Nach dem<br />
Start vergangenen Sommer hatten Verleihfirmen bis zu 4500 Elektroroller in Hamburg angeboten.<br />
Im Zuge der Coronapandemie stellten dann fast alle Anbieter ihre Dienste vorübergehend ein.<br />
Im Durchschnitt legte ein*e E-Scooter-Fahrer*in im Mai 2,9 Kilometer zurück und nutzte<br />
das umstrittene Gefährt knapp zehn Minuten, so die Wirtschaftsbehörde. Sie bekommt von den<br />
Verleihfirmen regelmäßig Daten übermittelt. Demnach wird ein Elektroroller im Schnitt 2,2-mal pro<br />
Tag genutzt, insgesamt kamen im Mai 71.720 Fahrten zusammen. Vor der Pandemie lag der<br />
Spitzenwert bei 295.000 Fahrten innerhalb eines Monats (September 2019).<br />
Ob das neue Verkehrsmittel der Umwelt mehr nützt oder schadet, ist ungewiss.<br />
„Aus Umweltsicht wäre es positiv, wenn der E-Scooter den Umstieg vom Pkw auf den ÖPNV<br />
erleichtert und die ,letzte Meile‘ mithilfe des Rollers zurückgelegt wird“, erklärte die Wirtschaftsbehörde<br />
gegenüber Hinz&Kunzt. Erkenntnisse hierzu liegen aber nicht vor. Allerdings hat der Einzug der<br />
Elektroroller womöglich dazu geführt, dass weniger Menschen aufs Leihfahrrad steigen:<br />
Zählte „StadtRAD“ im <strong>Juli</strong> 2018 noch 353.000 Ausleihvorgänge, waren es ein Jahr später nur<br />
303.000 – also satte 50.000 weniger. Im August 2019 lag das Minus bei 9000, im September<br />
bei 30.000, so der Senat in der Antwort auf eine Bürgerschaftsanfrage der Linken.<br />
Zwar stellen die Anbieter zunehmend auf Roller um, deren Akkus sich austauschen lassen.<br />
Doch ist deren Lebensdauer ebenso begrenzt wie die der Fahrzeuge. Seriöse Zahlen<br />
dazu gibt es nicht. Untersuchungen sprechen laut Umweltbundesamt von ein bis drei Monaten,<br />
Verleiher hingegen gehen bei neuen Modellen von mehr als zwölf Monaten aus. Problematisch sind vor<br />
allem die Akkus: Sie enthalten Rohstoffe wie Kobalt oder Lithium, bei deren Abbau oft Umwelt- und<br />
Menschenrechte verletzt werden.<br />
Nach dem Start des neuen Geschäftsmodells hatten Medien wiederholt über miese Lohn- und<br />
Arbeitsbedingungen der Menschen berichtet, die die Fahrzeuge einsammeln und aufladen. Die Anbieter<br />
Tier und Floatility erklärten auf Nachfrage, sie beschäftigten ausschließlich eigene Mitarbeiter*innen<br />
und bezahlten diese mit einem Festgehalt „über Mindestlohn“. Entlassungen infolge der Pandemie habe<br />
es nicht gegeben. Voi setzt nach eigenen Angaben auf „erfahrene Logistikunternehmen oder eigene<br />
Mitarbeiter“, äußerte sich zur Bezahlung aber nicht. Lime und Bird teilten mit, sie würden mittlerweile<br />
mit Subunternehmen zusammenarbeiten, die das Einsammeln, Laden und Verteilen der E-Roller<br />
erledigen. Wie die Dienstleister ihre Mitarbeiter*innen entlohnen, ließen die Firmensprecher offen. •<br />
TEXT: ULRICH JONAS<br />
ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />
13
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />
Meldungen (1)<br />
Politik & Soziales<br />
Kater Bob hat dem früheren Obdachlosen James<br />
sozusagen das Leben gerettet. Das Buch und der<br />
Film haben vielen geholfen, ihre eigenen Probleme<br />
zu lösen. Im Juni ist Bob mit 14 Jahren verstorben.<br />
Koalitionsvertrag<br />
Rot-Grün für Lieferkettengesetz<br />
Hamburgs SPD und Grüne wollen<br />
sich für ein Lieferkettengesetz stark<br />
machen. Das legten sie im Koalitionsvertrag<br />
fest. Es soll Unternehmen<br />
verpflichten, Menschenrechte und<br />
Umweltstandards zu beachten – auch<br />
im Ausland. Die Firmen wären dann<br />
etwa dafür verantwortlich, dass faire<br />
Löhne gezahlt und Höchstarbeitszeiten<br />
eingehalten werden. Die Diskussion<br />
eines Gesetzentwurfs aus Arbeitsund<br />
Entwicklungsministerium wird<br />
derzeit durch Widerstände von<br />
Wirtschaftsverbänden blockiert. LG<br />
•<br />
Zur Petition: www.lieferkettengesetz.de<br />
Studie des Gymnasiums Ohmoor<br />
Mieten steigen in Hamburg weiter an<br />
Um durchschnittlich 1,6 Prozent sind neu vermietete Wohnungen im Vergleich<br />
zum Vorjahr teurer geworden. Das haben Schüler*innen des Gymnasiums Ohmoor<br />
errechnet. Lag die Miete einer neu über Immobilienportale vermieteten<br />
Wohnung in Hamburg 2019 im Schnitt bei 13,24 Euro pro Quadratmeter, beträgt<br />
sie nun 13,45 Euro – 55,31 Prozent mehr als der Durchschnittswert des Mietenspiegels<br />
(8,66 Euro). Seit Mitte der 1980er-Jahre wertet die Schule einmal jährlich<br />
mehrere Tausend Inserate aus. Die Analysen zeigten, „dass die Neuvertragsmieten<br />
trotz des Wohnungsneubaus, der Mietpreisbremse und diverser Mieterschutzbestimmungen<br />
in der Zeit von 2000 bis <strong>2020</strong> fast doppelt so schnell gestiegen sind<br />
wie die Inflationsrate“, so Mietervereins-Chef Siegmund Chychla. UJO<br />
•<br />
Aus griechischen Lagern<br />
234 Flüchtlinge aufgenommen<br />
Deutschland nimmt nach langer Debatte<br />
243 Kinder und ihre Angehörigen<br />
aus griechischen Flüchtlingslagern<br />
auf. Die Diakonie begrüßte den<br />
Beschluss der Innenminister*innen<br />
und forderte mehr Engagement: „Mit<br />
diesen Zahlen wird weder den über<br />
40.000 Menschen, die aktuell in den<br />
griechischen Lagern leben, noch<br />
Griechenland selbst spürbar geholfen“,<br />
sagt Präsident Ulrich Lilie. UJO<br />
•<br />
War es ein Obdachloser?<br />
Weltberühmter Kater<br />
Leiche fünf Jahre unentdeckt Bob, der Streuner, ist tot<br />
Das Skelett eines Mannes hat eine Der berühmte Wegbegleiter des ehemaligen<br />
Obdachlosen James Bowen<br />
Spaziergängerin im Juni auf der Veddel<br />
in einem Zelt gefunden. Der Tote ist Mitte Juni verstorben. 2007 hatte<br />
lag wohl fünf Jahre lang unentdeckt der damals drogenkranke und vormals<br />
obdachlose James den Kater<br />
in einem Wäldchen an der Autobahn.<br />
Daneben fand die Polizei auch einen Bob verletzt und verwahrlost gefunden.<br />
Mit seiner Hilfe gelang es James<br />
Behandlungsbogen des Zahnmobils,<br />
das sich um Obdachlose kümmert – dann, seine Suchtprobleme zu überwinden.<br />
Später schrieb er die Ge-<br />
jedoch ohne Namen. Die Identität<br />
des 40 bis 60 Jahre alten Mannes soll schichte auf und landete damit einen<br />
mithilfe des Zahnschemas ermittelt Bestseller, der sogar verfilmt wurde.<br />
werden. Hinweise auf einen gewaltsamen<br />
Tod gibt es nicht. UJO<br />
2019 waren James und Bob zu Gast<br />
•<br />
bei Hinz&Kunzt. LG<br />
•<br />
Mittelmeer<br />
Bund erschwert Seenotrettung<br />
Der Bund hat neue Regeln für Schiffe<br />
eingeführt, die zur Seenotrettung eingesetzt<br />
werden. Kleinere Rettungsboote<br />
können nun nicht mehr als<br />
Sportboot registriert werden – angeblich<br />
aus Sicherheitsgründen. Seenotrettungsorganisationen<br />
halten das für<br />
vorgeschoben und beklagen eine<br />
„perfide Sabotage“ ihrer Arbeit. Wegen<br />
der neuen Sicherheitsanforderungen<br />
könnten die Schiffe bis auf<br />
Weiteres nicht auslaufen, so dieHamburger<br />
NGO „Resqship“. BELA<br />
•<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
14
Folgen der Coronapandemie I<br />
Tafeln beobachten „neue Form der<br />
Hilfsbedürftigkeit“<br />
Die Tafeln schlagen Alarm: „Es kommen vermehrt jüngere<br />
Menschen, die bis vor Kurzem überhaupt nicht auf die Tafeln<br />
angewiesen waren und nun vor Erleichterung weinen, weil sie<br />
etwas zu essen bekommen“, erklärte Jochen Brühl, Vorsitzender<br />
des Dachverbands Tafel Deutschland. Gleichzeitig blieben<br />
vor allem Ältere aus Angst vor Ansteckung fern: „Es gelingt<br />
uns momentan nicht, alle Menschen zu erreichen, die eigentlich<br />
unsere Unterstützung benötigen.“ Mitte Juni waren noch<br />
120 der bundesweit 949 Tafeln geschlossen. In Hamburg<br />
nähere man sich langsam einem „Normalbetrieb“ an, hieß es.<br />
Es mangele aber an Grundnahrungsmittel-Spenden wie Reis<br />
oder Nudeln. UJO<br />
•<br />
Mehr Infos unter www.hamburger-tafel.de<br />
Folgen der Coronapandemie II<br />
Konjunkturpaket: Diakonie fordert<br />
Nachbesserungen<br />
Insgesamt positiv, aber mit Verbesserungsbedarf: So schätzt die<br />
Diakonie das jüngste Konjunkturpaket der Bundesregierung<br />
ein. „Für Familien, die Anspruch auf Leistungen nach dem<br />
Bildungs- und Teilhabepaket haben, muss mehr getan werden,<br />
um verminderte Notfallhilfen, fehlende Sonderangebote sowie<br />
Zusatzkosten, wie beispielsweise im Homeschooling, auszugleichen“,<br />
sagte Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik der Diakonie.<br />
Ihr Vorschlag: monatlich 80 Euro pro Kind zusätzlich.<br />
Zudem müssten Computer zur Verfügung gestellt werden. Wie<br />
viele andere Sozialverbände fordert die Diakonie für die Dauer<br />
der Coronakrise außerdem 100 Euro pro Monat zusätzlich für<br />
Grundsicherungsempfänger*innen. LG<br />
•<br />
Mietsteigerungen<br />
Muss jeder Dritte wegziehen?<br />
Die kurze Verschnaufpause ist schon wieder vorbei: Ab <strong>Juli</strong> will<br />
die Saga Mieterhöhungen wieder umsetzen. Allerdings ist eine<br />
Stundung von Mietzahlungen bis Jahresende weiter möglich,<br />
erklärte das städtische Unternehmen. „Wir werden wegen<br />
Zahlungsschwierigkeiten aufgrund von Corona keinen Mieter<br />
kündigen oder gar räumen“, sagte Vorstand Wilfried Wendel.<br />
Bislang ließen sich 2800 der gut 135.000 Haushalte wegen der<br />
Pandemie die Mietzahlung stunden. Über Pläne, den bundesweiten<br />
Kündigungsschutz für Betroffene der Coronakrise bis<br />
September zu verlän-<br />
Stadtgespräch<br />
gern, war die Regierung<br />
bis Redaktionsschluss<br />
noch uneins. JOF/UJO<br />
•<br />
Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />
www.hinzundkunzt.de<br />
40 Jahre Mieter helfen Mietern<br />
Sylvia Sonnemann<br />
vom Verein Mieter<br />
helfen Mietern<br />
„Die Menschen<br />
schlaumachen“<br />
Hamburg im Sommer<br />
1980: Immobilienspekulant*innen<br />
versuchen<br />
in großem Stil,<br />
Mieter*innen aus Altbauten<br />
zu klagen, um diese<br />
abreißen oder saniert verkaufen<br />
zu können. Betroffene<br />
wehren sich, gründen<br />
Initiativen, besetzen Häuser.<br />
„Wie können wir am<br />
besten helfen?“, fragen<br />
sich engagierte Anwält*innen bei einem Treffen<br />
auf einem Eppendorfer Dachboden – und gründen<br />
den Verein Mieter helfen Mietern.<br />
„Hilfe zu Selbsthilfe“ ist bis heute das Leitmotiv,<br />
sagt Geschäftsführerin Sylvia Sonnemann,<br />
die seit 28 Jahren dabei ist. „Wir möchten<br />
die Menschen schlaumachen und nicht, dass<br />
sie bei der nächsten Betriebskostenabrechnung<br />
wieder zu uns kommen müssen.“ Ebenso wichtig<br />
sei immer die politische Ebene gewesen: Das<br />
Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum<br />
etwa sieht sie ebenso als ihren Erfolg ihrer Arbeit<br />
wie den Umstand, dass Vermieter*innen<br />
nach Modernisierungen nicht mehr unbegrenzt<br />
die Miete erhöhen dürfen.<br />
Bei der Mietpreisbremse allerdings sieht die<br />
Juristin weiter Handlungsbedarf angesichts von<br />
Vermieter*innen, die „15 Euro pro Quadratmeter<br />
für eine Souterrainwohnung“ fordern. Die<br />
Bremse sei „sehr schlecht gebastelt“, Hamburg<br />
brauche nach dem Vorbild Berlins „einen Mietenstopp<br />
für fünf bis sechs Jahre mindestens“.<br />
Auch wenn der Senat dieser Forderung bislang<br />
nicht folgt: Die Stimme von Mieter helfen<br />
Mietern reicht inzwischen bis in den Bundestag.<br />
Regelmäßig wird der Verein dort in Expertenkommissionen<br />
geladen und macht auf Missstände<br />
aufmerksam. Aktuell sieht Sonnemann Reformbedarf<br />
beim Kündigungsrecht, weil die<br />
derzeitige Rechtslage keinen ausreichenden<br />
Mieter*innenschutz gewährleiste: „Es kann nicht<br />
sein, dass ein Eigentümer wegen Eigenbedarf die<br />
Wohnung kündigen kann, weil er die zweimal im<br />
Jahr für seine Familientreffen nutzen will.“<br />
Ihre Geburtstagsparty haben die Mieterschützer*innen<br />
wegen Corona auf 2021. Geschenke<br />
verteilen sie aber jetzt schon: Wer Mieter<br />
helfen Mietern beitritt, erhält ab dem ersten<br />
Tag den kompletten Rechtsschutz. UJO<br />
•<br />
Mehr Infos im Internet unter www.mhmhamburg.de<br />
15
Stadtgespräch<br />
„Das Monster passt<br />
nicht hierher!“<br />
Nachdem unser Kollege Benjamin Laufer in der Juni-Ausgabe über<br />
die Pläne zum Abriss und Neubau der Sternbrücke geschrieben hatte,<br />
erreichte uns dieser Brief von unserer Leserin Erika Hahn.<br />
FOTOS: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong>,<br />
DB NETZ AG/VÖSSING INGENIEUR-GESELLSCHAFT MBH,<br />
HAMBURG BILDARCHIV<br />
Erika Hahn<br />
hatte schon als<br />
Kind eine enge<br />
Beziehung zur<br />
Sternbrücke.<br />
G<br />
estern war ich seit längerer<br />
Zeit mal wieder in der<br />
Stadt, ich wollte zu Y. Rocher,<br />
aber der Laden ist<br />
leer, wird wohl umgebaut. Gleich daneben<br />
ein netter junger H&K-Verkäufer,<br />
mit dem ich ins Gespräch komme. Mich<br />
interessiert, wieso er auf die Straße gekommen<br />
ist. Er erzählt mir seine Geschichte,<br />
er sucht eine Bleibe, hat aber<br />
evtl. Aussicht, etwas Passendes zu finden.<br />
Ich sehe ihn an und denke, er wird<br />
es schaffen, wieder ein „normales“<br />
Leben zu führen. Hätte ich ihm eigentlich<br />
auch sagen sollen. Ich kaufe mir die<br />
Zeitung. Zu Hause lese ich von der<br />
Sternbrücke und bin platt, dass sie<br />
abgerissen werden soll. Nun ja, es kann<br />
ja sein, dass sie nicht mehr sicher ist.<br />
Aber wer denkt sich eigentlich diese<br />
überdimensionale Ersatzbrücke aus?<br />
Das können nur Leute sein, die keine<br />
Ahnung von Altona haben, von der<br />
Bedeutung dieser Brücke!<br />
Ich habe von 1943 bis 1964 in der<br />
Wohlersallee gelebt. Meine Eltern und<br />
ich waren, nachdem wir im <strong>Juli</strong> 1943<br />
ausgebombt wurden (in Eimsbüttel,<br />
direkt neben Beiersdorf) zur Mutter<br />
meines Vaters in die Wohlersallee gezogen.<br />
Wir waren froh, ein 12 qm<br />
großes Zimmer zu bekommen. Das war<br />
eine karge, aber schöne Zeit für mich<br />
als Kind und als Teenie.<br />
Über die Sternbrücke fuhren viele<br />
Züge und nach dem Krieg oftmals die<br />
sogenannten „Kohlenzüge“. Wir waren<br />
alle sehr arm, hatten wenig zu essen<br />
und nichts zum Heizen. Manche Leute<br />
haben die Treppengeländer verfeuert.<br />
Aber zwei- bis drei-mal pro Woche hörte<br />
man den lauten Ruf „Kohlenzug“ in<br />
der Wohlersallee. Sofort Sack oder<br />
Eimer gepackt und zur Sternbrücke<br />
gerannt. Hinauf am Anfang und Ende<br />
der Brücke, die großen Jungs sprangen<br />
auf die Waggons und warfen Kohlen,<br />
Koks, Briketts herunter. Der Zug musste<br />
hier nämlich wegen einer Steigung<br />
die Geschwindigkeit verringern und<br />
schnaufte langsam über die Brücke. Wir<br />
Kleinen sammelten auf, so viel wir<br />
konnten, und rannten nach Hause mit<br />
unserer kostbaren Last. Oft ertönte ein<br />
Pfiff, „Polizei“, sodass man evtl. alles<br />
stehen und liegen lassen musste.<br />
16
„Die Ersatzbrücke<br />
muss<br />
angemessen sein.“<br />
Wir hatten wieder für ein paar Tage ein<br />
warmes Zimmer und meine Mutter<br />
konnte auf dem kleinen Kanonenofen<br />
kochen. Meine Eltern und ich hatten<br />
ein Zimmer von 12 qm (ein umgebauter<br />
Balkon) mit Etagenbett, einen Tisch,<br />
zwei Stühle, eine kleine Kommode und<br />
den Kanonenofen. Einen Hund hatten<br />
wir auch noch. Den hatte ich auf dem<br />
Weg von der Schule in einem Trümmerhaufen<br />
an der Holstenstraße gefunden.<br />
Ich wuchs dort heran, nach der Beendigung<br />
der Schule in der Haubachstraße<br />
wollte ich gern Kindergärtnerin<br />
werden, aber niemand wollte mich nehmen,<br />
weil ich so klein und so dünn war.<br />
Rund 40.000<br />
Autos, Lkw und<br />
Busse schieben<br />
sich heute unter<br />
der Stern brücke<br />
entlang – täglich!<br />
Deswegen fällt<br />
der Neubauentwurf<br />
der Bahn so<br />
gigantisch aus,<br />
denn so könnte<br />
auf die Stützen<br />
unter der Brücke<br />
verzichtet werden<br />
und der Straßenverkehr<br />
hätte<br />
mehr Platz.<br />
Dass das mal ein<br />
Problem werden<br />
würde, daran war<br />
beim Bau der<br />
Brücke 1925<br />
noch nicht zu<br />
denken.<br />
Stadtgespräch<br />
Es hieß immer: „Das schafft die nie, die<br />
Kinder hochzuheben oder zu tragen.“<br />
Na ja, so war es eben. Ich begann dann<br />
als Lehrling in einer Anwaltskanzlei. Im<br />
1. Lehrjahr gab es 30 DM Lohn.<br />
Ich half dann noch ab und zu in dem<br />
kleinen Café an der Sternbrücke als<br />
Bedienung aus, um mir ein Fahrrad<br />
kaufen zu können.<br />
Ab und zu gingen wir (eine kleine<br />
Gruppe von 5–6 Jugendlichen) ins<br />
Kino an der Sternbrücke (zur Spätvorstellung<br />
um 22.30 Uhr. Das kostetete<br />
nur 50 Pfennig). Das Kino hieß nur<br />
„FlohKino“, weil man unter Garantie<br />
einen hatte, wenn man nach Hause ging.<br />
Das alles nur zum Verständnis für<br />
alle, die inzwischen hier wohnen. Engagiert<br />
euch im Widerstand! Die Ersatzbrücke<br />
muss angemessen sein, nicht so<br />
ein Monster. Das passt nicht hierher.<br />
Wehrt euch! •<br />
Kontakt: benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />
Sternbrücke<br />
Wird es doch<br />
kein Monster?<br />
Was Erika Hahn so auf die<br />
Palme bringt, ist der Entwurf<br />
für den Neubau der Sternbrücke,<br />
den die Bahn ohne<br />
Beteiligung der Öffentlichkeit<br />
erarbeitet hat. 18 Meter<br />
höher als das bisherige Bauwerk,<br />
weil die Verkehrsbehörde<br />
einen Neubau ohne<br />
Stützen wollte, damit unter<br />
der Brücke mehr Platz für<br />
den Verkehr ist.<br />
Als wir im Juni darüber<br />
berichteten, sah es nicht gut<br />
aus für das Anliegen von vielen<br />
Anwohner*innen, eine<br />
kleinere Alternative durchzusetzen.<br />
Obwohl auch Altonas<br />
Bezirkschefin Stefanie von<br />
Berg (Grüne) den Entwurf<br />
„furchtbar“ und „ganz<br />
schlimm“ fand, erteilte sie<br />
Ende Mai in der Mopo einer<br />
Neuplanung die Absage,<br />
auch wenn sich die Bezirksversammlung<br />
geschlossen<br />
dafür ausgesprochen hatte:<br />
„Der Drops ist gelutscht.“<br />
Doch kaum war der<br />
Senat neu zusammengesetzt<br />
und von Bergs Parteifreund<br />
Anjes Tjarks Verkehrssenator,<br />
kam Bewegung in die Sache:<br />
Die Bürgerschaftsfraktionen<br />
von SPD und Grünen wollen<br />
nun plötzlich doch eine<br />
Alternative prüfen lassen, mit<br />
drei Stützen und damit weniger<br />
monströs als die bisherigen<br />
Pläne. „Uns ist wichtig,<br />
dass das Verfahren von Sorgfalt<br />
geprägt wird, um Transparenz<br />
und Vertrauen in den<br />
Neubau aufbauen zu können“,<br />
sagt SPDFraktionschef<br />
Dirk Kienscherf. Und<br />
Mareike Engels (Grüne)<br />
betont: „Beim Vergleich der<br />
Varianten ist uns wichtig,<br />
dass auch die Verkehrsführung<br />
unter der Brücke<br />
betrachtet wird.“ Was wieder<br />
einmal zeigt: Sich wehren<br />
zahlt sich aus. BELA<br />
•<br />
17
Sie ringen<br />
ums Soziale<br />
Nach der Bürgerschaftswahl hat sich einiges in den Fraktionen im Hamburger Rathaus<br />
verändert. Auch bei den sozialpolitischen Sprecher*innen gibt es frischen Wind. Wir stellen Ihnen<br />
die Abgeordneten vor, die in den kommenden fünf Jahren im Parlament für Soziales – und<br />
damit auch für Obdachlose – zuständig sind. Mit der kleinsten „Fraktion“ fangen wir an.<br />
TEXTE: ULRICH JONAS, JONAS<br />
FÜLLNER, BENJAMIN LAUFER<br />
FOTOS: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />
Sie will niemanden bevormunden<br />
Anna von Treuenfels-Frowein (FDP)<br />
58 Jahre, verheiratet, drei Kinder (24, 23, 17<br />
Jahre), Juristin, derzeit Vollzeitpolitikerin;<br />
seit 2009 bei der FDP, seit 2011 in der<br />
Hamburgischen Bürgerschaft<br />
Berührungsängste hat diese Frau offenbar<br />
kaum: „Ich quatsche öfter mal eine<br />
Runde mit Obdachlosen und höre mir<br />
deren Geschichten an“, sagt Anna von<br />
Treuenfels-Frowein. Sie habe dabei einiges<br />
gelernt, erzählt die 58-jährige<br />
FDP-Politikerin: dass es viele Gründe<br />
gibt, warum Menschen auf der Straße<br />
landen. Dass Reden ihnen das Gefühl<br />
vermittelt, mit der Not nicht alleingelassen<br />
zu werden. Und „dass es immer<br />
einen Neuanfang geben kann“.<br />
Angesichts solcher Erkenntnisse erstaunt<br />
es nicht, dass die Liberale aufsuchende<br />
Sozialarbeit ausbauen würde:<br />
„Da wird die Hilfe nicht aufgedrängt,<br />
sondern erst mal mit den Menschen gesprochen.“<br />
Auch für das sogenannte<br />
Housing First macht sie sich stark, die<br />
Idee also, Obdachlosen als Erstes eine<br />
Wohnung zu beschaffen und anschließend<br />
zu schauen, welche Unterstützung<br />
sie brauchen. In den USA und Finnland<br />
werde das erfolgreich praktiziert.<br />
Eine Sozialpolitikerin im klassischen<br />
Sinne ist Anna von Treuenfels-<br />
Frowein nicht. Das hat auch mit der besonderen<br />
Rolle zu tun, die sie nach der<br />
Wahl ausfüllen muss: Die FDP ist knapp<br />
an der Fünfprozenthürde gescheitert,<br />
sie selbst per Direktwahl Abgeordnete<br />
geworden. Nun muss sie alleine ihre<br />
Partei vertreten, eine Mammutaufgabe,<br />
bei der ihr die neun Jahre Erfahrung<br />
zugutekommen, die sie in der Bürgerschaft<br />
gesammelt hat. Trotzdem weiß<br />
sie: „Ich kann nicht alle Themen in der<br />
Tiefe beackern. Dafür habe ich gute<br />
Mitarbeiter.“<br />
Ein Herzensanliegen ist ihr das<br />
Thema Bildung. Es war der Streit um<br />
eine Reform des Schulsystems, der sie<br />
2008 in die Politik geführt hat. Damals<br />
wollte der schwarz-grüne Senat das gemeinsame<br />
Lernen aller Kinder in der<br />
Grundschule auf sechs Jahre ausdehnen<br />
– was vor allem lernschwachen<br />
Kindern helfen sollte – und gleichzeitig<br />
das Elternwahlrecht abschaffen. „Das<br />
geht zu weit!“, fand sie und wurde Teil<br />
einer Initiative, die die Stadt spaltete –<br />
und später FDP-Mitglied, „weil das die<br />
einzige Partei war, die uns unterstützt<br />
hat und mit der wir gemeinsam einen<br />
Volksentscheid gewonnen haben“.<br />
„Über den Ansatz kann man diskutieren“,<br />
sagt Anna von Treuenfels-Frowein<br />
heute über die Idee der Primarschule.<br />
„Aber man kann so etwas nicht<br />
von heute auf morgen einführen – und<br />
vor allem nicht per Zwang.“ Dass ihr<br />
Herz für die Liberalen schlägt, hat aber<br />
nicht nur mit dieser Geschichte zu tun:<br />
„Die FDP steht für Bürgerrechte und<br />
Freiheit“ – Werte, die auch ihr wichtig<br />
seien. „Dass Menschen manchmal mit<br />
erzieherischem Tun bevormundet werden,<br />
habe ich schon als Kind nicht gemocht.“<br />
UJO<br />
•<br />
18
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Sie will Lösungen präsentieren<br />
Stephanie Rose (Linke)<br />
32 Jahre, verheiratet, eine Tochter<br />
(15 Monate); Sozialökonomin, Referentin für<br />
Gleichstellung an der HafenCity Universität<br />
Hamburg; seit 2015 bei den Linken, 2017 bis<br />
2019 im Regionalausschuss Wilhelmsburg-<br />
Veddel, 2019/<strong>2020</strong> in der Bezirksversammlung<br />
Mitte als sozialpolitische Sprecherin<br />
ihrer Fraktion, seit <strong>2020</strong> in der Bürgerschaft<br />
Wenn Stephanie Rose morgens früh in<br />
ihrem Quartier unterwegs ist, sieht sie<br />
Menschen aus Südosteuropa, die auf<br />
dem sogenannten Arbeiterstrich auf<br />
Tagelöhner-Jobs warten. Wäre sie<br />
Hamburger Sozialsenatorin, sagt die<br />
32-Jährige, würde sie diesen Menschen<br />
Perspektiven eröffnen: „Auch sie sollen<br />
ein gutes Leben haben!“ Von der Macht<br />
ist die Linke als kleine Oppositionspartei<br />
allerdings weit entfernt.<br />
Die neue sozialpolitische Sprecherin<br />
ihrer Fraktion wohnt in Wilhelmsburg,<br />
„in einem Brennpunkt“, und sie<br />
lebt gerne dort, denn: „Der Umgang ist<br />
sehr herzlich, die Nachbarschaft multikulturell.“<br />
Erste Erfahrungen in der<br />
Oppositionsarbeit hat die gebürtige Paderbornerin<br />
hier im Lokalen gesammelt,<br />
im Regionalausschuss Wilhelmsburg-Veddel.<br />
Sie habe dort gelernt,<br />
„dass man viel bewirken kann, wenn<br />
man Initiativen einlädt“; dann werde<br />
ein Antrag der Linken von den anderen<br />
Parteien nicht einfach nur abgelehnt,<br />
sondern auch mal diskutiert. Zuletzt<br />
war sie in der Bezirksversammlung Mitte<br />
die Stimme für Soziales ihrer Fraktion.<br />
Vergeblich forderte sie dort vergangenen<br />
November die Öffnung des<br />
Winternotprogramms für alle Obdachlosen,<br />
„obwohl das sämtliche<br />
Expert*innen bei einer Anhörung eindeutig<br />
befürwortet haben“.<br />
Ein konkretes sozialpolitisches Ziel,<br />
das sie bis zur nächsten Wahl unbedingt<br />
erreicht haben will, mag Rose angesichts<br />
der klaren Verhältnisse in der<br />
Bürgerschaft nicht nennen. Ob Coronazuschlag<br />
für Einkommensschwache<br />
oder Hotelunterbringung für Obdachlose<br />
in Zeiten der Pandemie: Anträge<br />
ihrer Partei wurden von Rot-Grün zuletzt<br />
in aller Regel abgeschmettert. Entmutigt<br />
ist Stephanie Rose davon nicht.<br />
„Unsere Aufgabe als Opposition ist es,<br />
immer wieder darauf hinzuweisen: Es<br />
gibt gute Lösungen.“ Dass die Geld<br />
kosten, ist der Sozialökonomin mit<br />
Doktortitel klar, weshalb sie fordert:<br />
„Wir müssen Reiche stärker<br />
besteuern.“<br />
Für soziales Engagement im Privaten<br />
habe sie angesichts der Dreifachbelastung<br />
– Kleinkind, Job, Partei – leider<br />
keine Zeit, sagt Stephanie Rose. Wobei,<br />
eine Ausnahme gibt es: Die Mietshäuser,<br />
in denen sie mit ihrer Familie<br />
wohnt, gehören dem Immobilienkonzern<br />
Vonovia und sollen modernisiert<br />
werden. Da saftige Mieterhöhungen<br />
drohen und ihr Mann Jurist ist, will sie<br />
„Treffen organisieren, damit möglichst<br />
alle ihre Rechte kennenlernen“. UJO<br />
•<br />
19
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />
Er will dicke Bretter bohren<br />
Andreas Grutzeck (CDU)<br />
58 Jahre, verheiratet, zwei Kinder (26 und<br />
28 Jahre), Immobilienmakler; seit 1976 in der<br />
CDU, seit 1986 in der Bezirksversammlung<br />
Altona, zuletzt als stellvertretender Vorsitzender<br />
und Sprecher der Fachausschüsse<br />
Soziales und Regionale Stadtteilentwicklung;<br />
seit <strong>2020</strong> Abgeordneter in der<br />
Hamburgischen Bürgerschaft und<br />
sozialpolitischer Fraktionssprecher<br />
Andreas Grutzeck ist ein richtig alter<br />
Hase in der Politik. „Ich war mit 14 auf<br />
einer Versammlung der Jungen Union,<br />
das hat mich nicht wieder losgelassen“,<br />
erzählt der 58-Jährige beim Gespräch<br />
in der Altonaer CDU-Geschäftsstelle.<br />
Sozialpolitik war für den jungen Osdorfer<br />
da aber noch kein Thema: Als Abgeordneter<br />
in der Bezirksversammlung<br />
sitzt er anfangs im Kultur- und Jugendausschuss.<br />
Erst, als die Altonaer Stadtteilzentren<br />
in den 1980ern zum politischen<br />
Thema werden, eröffnet sich ihm<br />
dieses Politikfeld. „Dadurch bin ich ein<br />
bisschen da reingerutscht“, erinnert er<br />
sich. „Ich finde, dass die Stadtteilzentren<br />
eine wichtige Funktion haben.“ Mit<br />
dieser Ansicht war er damals aber in<br />
seiner Partei eher in der Minderheit:<br />
„In den 80er-Jahren war das nicht unsere<br />
politische Baustelle. Damals gab es<br />
ja fast noch Feindschaft zwischen den<br />
Stadtteilzentren und der CDU“, sagt<br />
Grutzeck. Er stellte sich jedoch auf die<br />
Hinterbeine, machte sich gegen den<br />
Mainstream der Partei stark für die<br />
Zentren: „Das hat in der eigenen Partei<br />
nicht immer nur Begeisterung ausgelöst,<br />
hat aber Stück für Stück doch<br />
geklappt.“<br />
Heute habe er nicht mehr ganz so<br />
viel Spaß am Konflikt, sagt er, streitet<br />
aber an anderer Stelle für eine andere<br />
Haltung der Christdemokrat*innen:<br />
Immer wieder hat er im Bezirk die<br />
ganztägige Öffnung des Winternotprogramms<br />
gefordert – obwohl die CDU-<br />
Bürgerschaftsfraktion das anders sah.<br />
Und Grutzeck bleibt optimistisch: „Ich<br />
glaube, wir kommen noch dahin, dass<br />
die CDU das insgesamt fordert.“<br />
Dabei kann er weder als Bezirksabgeordneter<br />
noch in seiner neuen Rolle<br />
als Oppositionspolitiker in der Bürgerschaft<br />
direkt Einfluss auf die Senatspolitik<br />
nehmen. Frustriert ihn das? „Das<br />
ist nun mal das Bohren dicker Bretter“,<br />
sagt Grutzeck. „In der Bürgerschaft ist<br />
das ja noch viel schlimmer geworden.<br />
Da wird ja wirklich jeder Antrag von<br />
uns abgelehnt!“ Was also tun? „Einfach<br />
weiterbohren.“<br />
Das hat er sich für die Legislaturperiode<br />
vorgenommen, in der Bürgerschaft<br />
wie innerhalb seiner eigenen<br />
Fraktion. „Die CDU kann sozialpolitisch<br />
ein bisschen mehr vertragen“, findet<br />
er. Dabei will er seine Partei jetzt<br />
auch auf Landesebene unterstützen,<br />
Politik für Senior*innen und Behinderte<br />
machen. Und für Obdachlose, zum<br />
Beispiel mit der Forderung nach<br />
Housing First. BELA<br />
•<br />
20
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Sie will gutes Leben für alle<br />
Mareike Engels (Grüne)<br />
31 Jahre, verheiratet, zwei Kinder,<br />
Studentin und stellvertretende Bürgerschaftspräsidentin;<br />
seit 2009 bei den<br />
Grünen, seit 2015 in der Hamburgischen<br />
Bürgerschaft<br />
Während sich in den vergangenen Jahren<br />
bei den Grünen in Hamburg fast alles<br />
um die Themen Verkehrswende,<br />
Klimaschutz und offene Gesellschaft<br />
drehte, richtete Mareike Engels den<br />
Blick auf diejenigen, die von Förderprogrammen<br />
für Lastenräder wohl niemals<br />
profitieren werden. Die 31-Jährige<br />
ist – so muss man wohl sagen – das soziale<br />
Gewissen der Partei.<br />
Geboren in Ostfriesland zog Engels<br />
nach dem Abitur über die Zwischenstation<br />
Hannover schließlich 2008 nach<br />
Hamburg, um dort Soziologie zu studieren<br />
und sich nebenbei bei den Grünen<br />
zu engagieren. „Es mag pathetisch<br />
klingen, aber ich hatte schon immer<br />
den Wunsch, das gute Leben für alle<br />
hinzubekommen.“<br />
Aus dem Wunsch wurde 2015<br />
ernst, als die damals 26-Jährige für Till<br />
Steffen in die Bürgerschaft nachrückte.<br />
„Wir haben einiges erreicht“, sagt sie<br />
rückblickend nicht ohne Stolz. Schmunzelnd<br />
fügt sie hinzu, dass es für<br />
Hinz&Kunzt und die Wohnungslosenhilfe<br />
wohl nie schnell genug gehen könne.<br />
Aber ein Housing-First-Projekt und<br />
eine Pension für osteuropäische<br />
Wanderarbeiter*innen seien jetzt immerhin<br />
auf den Weg gebracht. Und für<br />
Hilfeempfängerinnen gäbe es inzwischen<br />
kostenlose Verhütungsmittel. Eine<br />
Herzenssache der Sozialpolitikerin.<br />
„Das ist dann nicht gleich die Weltrevolution,<br />
aber man macht das Leben besser“,<br />
sagt Engels, die sich bereits als Jugendliche<br />
politisierte und über die<br />
Anti-Castor-Proteste in Niedersachsen<br />
erstmals in Kontakt mit der Grünen Jugend<br />
kam.<br />
Stärker als das Thema Umwelt beschäftigte<br />
sie allerdings schon damals<br />
die Frage nach Chancengerechtigkeit.<br />
„Uns wurde in der Schule immer gesagt:<br />
‚Leiste, leiste, leiste, dann hast du<br />
die gleichen Chancen‘“, erinnert sich<br />
Engels. „Und dann schaut man sich<br />
um, wessen Mütter wirklich Karriere<br />
gemacht haben, und dann merkt man<br />
schnell, dass es so nicht stimmt.“ Für sie<br />
war klar: „Ich hingegen wollte mich<br />
nicht finanziell abhängig von einem<br />
Ehemann machen.“<br />
Sie hat diesen Schritt als Berufspolitikerin,<br />
die in der Sommerpause endlich<br />
ihre Masterarbeit schreiben will,<br />
geschafft. Sorgenvoller blickt sie derzeit<br />
auf die Lage vieler armer Menschen in<br />
Hamburg. „Corona verschärft die Finanzlage“,<br />
sagt Engels. Die Wirtschaft<br />
sei bekanntlich bereits eingebrochen<br />
und es sei schwer abzuschätzen, was<br />
noch kommt: „Wir müssen daher noch<br />
stärker das Augenmerk auf diejenigen<br />
richten, die es schon in guten Zeiten<br />
schwer hatten.“ JOF<br />
•<br />
21
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />
Sie will Perspektiven schaffen<br />
Ksenija Bekeris (SPD)<br />
42 Jahre, verheiratet, ein Kind,<br />
Berufsschullehrerin und stellvertretende<br />
Fraktionsvorsitzende; seit 2003 bei der SPD,<br />
seit 2008 in der Bürgerschaft<br />
Wenn Ksenija Bekeris aktuell die Berichte<br />
über Rassismus in den USA verfolgt,<br />
schweifen die Gedanken der<br />
42-Jährigen gelegentlich zurück in ihre<br />
Vergangenheit. Anfang der 2000er-Jahre<br />
absolvierte die junge Soziologiestudentin<br />
ein Auslandsjahr in Detroit.<br />
„Auch damals war die Spaltung in Arm<br />
und Reich, in Weiß und Schwarz extrem<br />
– das konnte ich nicht aushalten“,<br />
erinnert sie sich.<br />
Um Deutschland vor ähnlichen<br />
Entwicklungen zu bewahren, entschloss<br />
sich die damals Mittzwanzigerin zum<br />
Engagement in der Politik. Es waren<br />
das Programm und die Geschichte der<br />
Sozialdemokratie, die sie überzeugten.<br />
Dass sie innerhalb weniger Jahre der<br />
Weg gleich in die Bürgerschaft führte,<br />
verdanke sie dem damals neu eingeführten<br />
Wahlsystem, erzählt Bekeris<br />
und schmunzelt. Überraschend erhielt<br />
sie 2008 ein Direktmandat.<br />
Zwölf Jahre später zählt Ksenija<br />
Bekeris bereits zu den Routiniers. Als<br />
sie ins Parlament einzog, musste sie anfangs<br />
auf die Oppositionsbank – der<br />
Bürgermeister hieß noch Ole von Beust<br />
(CDU). So wie heute die Linke forderte<br />
Bekeris damals die Einzelunterbringung<br />
aller Wohnungslosen. Heute darauf<br />
angesprochen, räumt sie ein: „Da<br />
muss ich ihnen ganz ehrlich sagen: ‚Ja,<br />
das wäre spitze‘. Aber sie müssen sehen,<br />
dass wir da über 32.000 Plätze in der<br />
öffentlich-rechtlichen Unterbringung<br />
reden. Da können wir nicht alle umwandeln.<br />
Es besteht aber noch<br />
Handlungsbedarf.“<br />
Aber mal abgesehen von der Einzelunterbringung:<br />
Hätten nicht andere<br />
Projekte längst umgesetzt werden können?<br />
Nicht jede Idee sei eben sofort finanzierbar,<br />
entgegnet Bekeris. Wobei<br />
die Diplomsoziologin stolz hervorhebt,<br />
dass zwei Projekte jetzt im Koalitionsvertrag<br />
fest verankert sind, die auch Experten<br />
aus der Wohnungslosenhilfe seit<br />
Jahren fordern: ein Housing-First-Projekt<br />
für Obdachlose und eine Pension<br />
für obdachlose Wanderarbeiter*innen.<br />
Selbstverständlich werde dadurch erst<br />
einmal wenigen geholfen und nicht generell<br />
die Obdachlosigkeit beseitigt.<br />
„Aber ich will den Menschen eine andere<br />
Perspektive als die öffentlich-rechtliche<br />
Unterbringung eröffnen“, erläutert<br />
Bekeris. „Und dafür kann ich<br />
Kompromisse eingehen und mich darauf<br />
einlassen, dass nicht alles sofort<br />
kommt.“<br />
Sie müsse immer wieder abwägen,<br />
„an welcher Stelle ich für was kämpfe“.<br />
Und sie ergänzt augenzwinkernd:<br />
Wenn sie dann gegenüber den<br />
Kolleg*innen mal nachgebe, „habe ich<br />
an anderer Stelle vielleicht auch mal einen<br />
gut“. JOF<br />
•<br />
22
Meldungen (2)<br />
Politik & Soziales<br />
Städtischer Coronaschutz<br />
Notunterkünfte bleiben geöffnet<br />
Die städtischen Unterbringungsangebote für Obdachlose<br />
zum Schutz vor Corona bleiben bis zum Start des<br />
Winternotprogramms im November geöffnet. Auch die<br />
Mehrzahl der ehrenamtlich betriebenen Wohncontainer<br />
auf dem Gelände von Kirchen und Hochschulen stehe<br />
weiter zur Verfügung, ebenso die neu geschaffenen Angebote<br />
für obdachlose Frauen und Sexarbeiter*innen.<br />
Obdachlose, die an Corona erkrankt sind, sollen ab August<br />
nicht mehr in der Jugendherberge in Horn, sondern<br />
an einem „alternativen Standort“ untergebracht werden.<br />
Die Angebote der Stadt sind gut ausgelastet: Die Großunterkunft<br />
in der Friesenstraße war Ende Mai zu 80<br />
Prozent belegt, die Unterkunft in der Kollaustraße zu 60<br />
Prozent. Das teilte der Senat auf Anfrage der CDU mit.<br />
Allein an diesen beiden Orten schliefen somit rund 650<br />
Menschen, die unter gewöhnlichen Umständen in<br />
Hamburg kein Dach über dem Kopf hätten. UJO<br />
•<br />
Unser Rat<br />
zählt.<br />
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Großunterkünfte<br />
Gefährlich wie ein Kreuzfahrtschiff<br />
Bewohner*innen von Großunterkünften sind besonders<br />
gefährdet, an Corona zu erkranken. Das ist das Ergebnis<br />
einer Studie der Uni Bielefeld. Hat sich ein*e<br />
Bewohner*in infiziert, „ist das Risiko einer Infektion für<br />
alle anderen Menschen in dem Heim ebenfalls hoch und<br />
liegt bei etwa 17 Prozent“, so der Epidemiologe Kayvan<br />
Bozorgmehr. Diese Zahl sei vergleichbar mit der Ansteckungsrate<br />
auf Kreuzfahrtschiffen. Und: „In Einzelfällen<br />
lag das Risiko noch weit höher.“ Verantwortlich dafür sei<br />
die große räumliche Nähe der Menschen in Sammelunterkünften,<br />
so Oliver Razum, Co-Autor der Studie.<br />
„Die beengten Verhältnisse begünstigen eine rasche Ausbreitung.“<br />
Zur Prävention empfehlen die Forscher*innen<br />
dezentrale Unterbringung. UJO<br />
•<br />
Wieso die AfD fehlt<br />
Wir stellen hier nicht den Sozialpolitiker der AfD vor. Für uns<br />
ist die Alternative für Deutschland keine Partei wie jede andere.<br />
Es gibt nach wie vor Funktionsträger in der Partei, die<br />
menschenverachtende Reden führen oder mit Nazis kooperieren.<br />
Teile der Partei werden nun sogar vom Verfassungsschutz<br />
beobachtet – wie die Hamburger Jugendorganisation<br />
JA, wo der sozialpolitische Sprecher im Vorstand war. BIM<br />
•<br />
© Opmeer Reports<br />
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Garten Eden<br />
für Insekten<br />
In Deutschland gibt es immer weniger Insekten – auch, weil die industrielle<br />
Landwirtschaft ihre Lebensräume zerstört. Im Hamburger Umland zeigt ein Projekt,<br />
wie Bauern es anders machen können.<br />
TEXT: ANNETTE WOYWODE<br />
FOTOS: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong>
Den Klatschmohn hat<br />
die Loki Schmidt Stiftung<br />
2017 zur Blume<br />
des Jahres gekürt –<br />
stellvertretend für viele<br />
andere bedrohte Arten.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Da hängen lauter Brote und<br />
Brötchen!“, freut sich Daniel<br />
Schulz. Zufrieden schaut<br />
er über das Weizenfeld, auf<br />
dem kräftige grüne Halme mit schwerem<br />
Fruchtstand dicht an dicht bis zum<br />
Horizont gedeihen. Schulz ist Landwirt<br />
in Oetjendorf, einem Ortsteil der Gemeinde<br />
Hoisdorf gleich um die Ecke<br />
von Ahrensburg. Einen Marktfruchtbetrieb<br />
führt er, also Gemüse, Raps oder<br />
eben Weizen – so was baut er an, ganz<br />
konventionell. Das heißt unter anderem,<br />
für ihn ist der Einsatz von Schädlings-<br />
und Wildkrautbekämpfungsmitteln<br />
kein Tabu, „es geht nicht ohne“,<br />
meint der 30-Jährige. Dann dreht er<br />
sich um und sein Blick schweift über das<br />
Nachbarfeld. „Aber wenn wir so weitermachen<br />
wie bisher, wird es schwer<br />
für die Landwirtschaft“, sagt er. Deshalb<br />
lässt er hier auf 33.000 Quadratmetern<br />
Blumen wachsen, das ist eine<br />
„Wenn wir so weitermachen,<br />
wird<br />
es schwer für die<br />
Landwirtschaft.“<br />
BAUER DANIEL SCHULZ<br />
stäubung die Ernährung des Menschen<br />
sichern. Von den 107 weltweit am häufigsten<br />
angebauten Kulturpflanzen<br />
werden laut Naturschutzbund immerhin<br />
91 von Insekten bestäubt. Besonders<br />
Wild- und Honigbienen sind darin<br />
Meister. Fehlen die Tiere, hat das dramatische<br />
Folgen, wie der Dokumentarfilm<br />
„More Than Honey“ schon vor<br />
acht Jahren zeigte: In manchen chinesischen<br />
Provinzen gibt es so gut wie keine<br />
Bienen und andere Bestäuber mehr.<br />
Fläche größer als vier Fußballfelder.<br />
Ein wahrer Garten Eden für Bienen,<br />
Fliegen, Schmetterlinge, Käfer oder<br />
Wespen. Denn ohne diese Insekten, die<br />
die Pflanzen bestäuben, geht es eben<br />
auch nicht.<br />
Doch die haben es schwer, nicht<br />
nur in Oetjendorf. Laut einer wissenschaftlichen<br />
Studie (siehe Infokasten) geht<br />
der Bestand zurück: um erschreckende<br />
75 Prozent zwischen 1989 und 2014 –<br />
und es geht weiter bergab. Vor allem<br />
die industrielle Landwirtschaft gilt als<br />
Insektenkiller: der massive Einsatz von<br />
Insektiziden und Herbiziden, behandeltes<br />
Saatgut und riesige Monokulturen.<br />
Wenn nicht das Gift die Tiere umbringt,<br />
müssen sie schlichtweg<br />
verhungern – auch die, die über die Be-<br />
Stolz zeigt Konrad Ellegast sein Bienenhotel, in dem 40 Prozent der „Zimmer“ belegt<br />
sind. Das Frühstück für die Gäste gibt‘s nebenan auf der Blumenwiese.<br />
27
Daniel Schulz in seinem<br />
Weizenfeld: Wenn es gut geht,<br />
bekämpfen die Nützlinge von<br />
der Blumenwiese nebenan<br />
hier bald Schädlinge.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Früchte reifen dort nur noch, wenn<br />
Menschen die Insektenarbeit übernehmen:<br />
In Obstbaumplantagen betupfen<br />
sie mit kleinen Pinselchen bewaffnet<br />
Blüte für Blüte mit Pollen.<br />
„Wie viel nach dieser Methode in<br />
Deutschland ein Kilo Kirschen kosten<br />
würde, können Sie sich vorstellen“, sagt<br />
Konrad Ellegast. Seit 40 Jahren ist der<br />
80-Jährige Imker. Eigentlich, weil sein<br />
Sohn als kleiner Junge unbedingt Honigbienen<br />
haben wollte. „Irgendwann<br />
wurde er böse gestochen. Danach hatte<br />
er die Nase voll“, erzählt er. Ellegast<br />
selbst war dagegen so fasziniert von den<br />
Tieren, dass er dem Hobby treu geblieben<br />
ist. Der Bienenfan wurde Kuratoriumsmitglied<br />
der Deutschen Wildtier<br />
Stiftung, und er hat sowohl den Dokumentarfilm<br />
gesehen als auch die Studie<br />
gelesen. Danach war ihm gleich klar:<br />
Das Thema Insektensterben ist „so relevant<br />
wie der Klimawandel“.<br />
Ellegast ist kein Öko, entsprechend<br />
hält er nichts davon, die gesamte Landwirtschaft<br />
auf ökologischen Anbau umzustellen.<br />
Aber „fünf Prozent seiner<br />
Ackerfläche kann jeder Landwirt abzwacken“<br />
und als Bienenwiese anlegen.<br />
So könne ein Netz verteilt über ganz<br />
Deutschland entstehen, möglichst engmaschig,<br />
denn „die Biester fliegen maximal<br />
zwei, drei Kilometer. Es nützt nichts,<br />
Was die Wissenschaft sagt<br />
Für eine Langzeitstudie hat der Entomologische Verein Krefeld zwischen 1989<br />
und 2014 an 88 Standorten in Nordrhein-Westfalen Insektenfallen aufgestellt.<br />
Die darin gesammelten Fluginsekten wurden bestimmt und die Masse aller<br />
Tiere gewogen. Dabei wurde ein Rückgang des Bestandes um 75 Prozent festgestellt,<br />
allein 60 Prozent der im Großraum Krefeld einst heimischen Hummelarten<br />
gelten als ausgestorben. Weitere Infos: www.huklink.de/insektenstudie<br />
Die Studie ist bis heute die einzige wirklich wissenschaftliche Untersuchung,<br />
die das Insektensterben nachweist und die industrielle Landwirtschaft als<br />
Hauptverursacher ermittelt, sagt Dr. Andreas Kinser, stellvertretender Leiter für<br />
Natur- und Artenschutz bei der Deutschen Wildtier Stiftung. Es sei aber plausibel,<br />
dass die Ergebnisse auf das Bundesgebiet übertragbar sind. Derzeit laufen<br />
weitere Studien zum Thema. Weitere Infos: www.deutschewildtierstiftung.de<br />
Mehr zur Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union:<br />
www.huklink.de/EU-agrarfoerderung<br />
hier in Oetjendorf etwas zu machen und<br />
dann erst wieder in Niedersachsen“, sagt<br />
Ellegast. Weil der einstige Vorstandsvorsitzende<br />
der Phoenix AG ein wirtschaftlich<br />
und strategisch denkender Mann ist,<br />
erwartet er nicht, dass die Landwirte<br />
Spendierhosen tragen: „Der fehlende<br />
Ertrag muss kompensiert werden“, sagt<br />
er. „Egal ob von Privatleuten, Stiftungen<br />
oder am besten dem Staat.“ Und um zu<br />
zeigen, wie es funktionieren kann, startete<br />
Ellegast ein Projekt – zusammen mit<br />
der Deutschen Wildtier Stiftung, dem<br />
Rotary Club Ahrensburg und Marktfruchtbauer<br />
Daniel Schulz. Das ferne<br />
Ziel: Mithilfe der Rotary Clubs, die es<br />
weltweit gibt, soll das Projekt national<br />
und international bekannt werden und<br />
Nachahmer finden.<br />
Der junge Landwirt Schulz war sofort<br />
bereit, seinen Acker für zunächst<br />
sechs Jahre in eine Blühwiese umzuwandeln.<br />
Für ihn ist es aber auch eine<br />
reine Win-win-Situation, denn Rotary<br />
zahlt ihm weit mehr als es die EU täte,<br />
wenn der Landwirt eine Fläche nachhaltig<br />
und umweltschonend bewirtschaftet<br />
(zweite Säule der Gemeinsamen<br />
EU-Agrarpolitik). „Da verdiene<br />
ich mehr, wenn ich Weizen anbaue“,<br />
sagt Daniel Schulz. Rotary gleicht das<br />
aus. Zusätzlich entfällt das Risiko eines<br />
Ernteausfalls zum Beispiel durch Dürre<br />
oder Sturm. Und weniger Arbeit machen<br />
die Blumen obendrein: Düngen<br />
und Spritzen ist verboten. Nur einmal<br />
im Frühjahr wird gemäht und jedes<br />
Jahr frisch gesät: „Sonst setzen sich bestimmte<br />
Kräuter durch und dann gibt’s<br />
einen Einheitsbrei“, erklärt Konrad Ellegast.<br />
Von Mai bis Oktober muss es<br />
„Insektensterben<br />
ist so relevant<br />
wie der<br />
Klimawandel.“<br />
INITIATOR KONRAD ELLEGAST<br />
kunterbunt blühen, denn die Tiere<br />
durchlaufen zu unterschiedlichen Zeiten<br />
ihre jeweiligen Entwicklungsstadien,<br />
vom Ei über Larve und Puppe bis<br />
zum erwachsenen Insekt. Da muss der<br />
Tisch reich gedeckt sein.<br />
Die Blumenwiese gedeiht nun<br />
schon im dritten Jahr. Und es schaut gut<br />
aus für die Insektenwelt. Ein Wildbienenhotel,<br />
das der Ex-Manager am<br />
Rand des Feldes aufgestellt hat, war im<br />
ersten Jahr nur mäßig belegt. Im zweiten<br />
waren schon rund 40 Prozent der<br />
Schilfröhren und Bohrlöcher in Holzscheiben<br />
versiegelt. Konrad Ellegast,<br />
der Rotary Club und Daniel Schulz<br />
sind so ein gutes Team, dass in diesem<br />
Jahr eine zweite Blühwiese mit 34.000<br />
Quadratmetern entstehen konnte – als<br />
Sponsoren gewannen sie zusätzlich das<br />
Fahrgastunternehmen Free Now. „Was<br />
gibt es Schöneres, als so eine Bienenweide<br />
vor der Tür zu haben?“, fragt der<br />
Landwirt. Und fügt hinzu: „Es wäre<br />
doch toll, wenn sich hier Nützlinge entwickeln,<br />
die auf das Weizenfeld gehen<br />
und die Schädlinge bekämpfen. Denn<br />
am liebsten würde man auf Pflanzenschutzmittel<br />
ja ganz verzichten – wenn<br />
es was anders gäbe.“ Vielleicht klappt<br />
das ja. •<br />
Kontakt: annette.woywode@hinzundkunzt.de<br />
29
Stadtgespräch<br />
„Hier spielt die Musik“<br />
Campus Uhlenhorst<br />
Hier wird gebrummt, gesungen, gepfiffen und gegroovt: Die Jugendlichen des<br />
Campus Uhlenhorst haben alle möglichen Sounds zu einer originellen Collage<br />
zusammengemixt. Zunächst hat jede*r einen eigenen Beitrag erstellt und in eine<br />
Handy-Nachrichtengruppe eingestellt. So konnten die Teens mit Lernbeeinträchtigung<br />
alle Beiträge hören und immer weiter ergänzen. Die Jungs<br />
und Mädchen hatten spannende Geräuschideen: „Ich habe ein Körpergeräusch<br />
mit dem Hals gemacht“, sagt Emilio. „Das habe ich dann mit dem<br />
Handy aufgenommen.“ Auch Morton war kreativ: „Ich habe einen Beatbox-<br />
Rhythmus gemacht und per Sprachnachricht verschickt.“ Projektbegleiter<br />
Henning hat alles zusammengeschnitten. „Als ich den Song zusammenfügt<br />
habe, musste ich ihn 100-mal hintereinander hören, das war manchmal<br />
anstrengend. Aber es war toll zu erleben, wie das Stück immer dichter wurde.“<br />
„Pusteblume“<br />
Matti, Tillman, Mikio und Max<br />
vom Lise-Meitner-Gymnasium<br />
Für Matti, Tillman, Mikio und Max war<br />
der Audiobeitrag anfangs nur eine eher<br />
lästige Hausaufgabe für den Religionsunterricht.<br />
Aber bei der Umsetzung haben<br />
die Fünftklässler Feuer gefangen<br />
und die originelle Geschichte einer<br />
Puste blume entwickelt, die auf ihrer<br />
Reise durch die Stadt viele Beobachtungen<br />
macht. „Meine Eltern haben ein<br />
bisschen bei der Idee geholfen“, räumt<br />
Tillman ein. Auch die anderen hatten<br />
teilweise Unterstützung von Erwachsenen.<br />
Aber die unterschiedlichen Soundeffekte<br />
haben sie mit zwei Smartphones<br />
ganz alleine aufgenommen. Das sollte<br />
doch für eine gute Note sorgen.<br />
„Die Vielfalts-AG stellt sich vor“<br />
Anouk Niemax, <strong>Juli</strong>us-Leber-Schule<br />
Jede Woche trifft sich die Schule-ohne-Rassismus-Vielfalts-AG an der <strong>Juli</strong>us- Leber-<br />
Schule in Schnelsen. Dabei sind Lehrer*innen und Schüler*innen der Jahrgänge 10<br />
bis 13. Eine von sieben Beteiligten am Wettbewerb ist Anouk Niemax. Die 17-Jährige<br />
hat sich mit Rassismus in Schulbüchern beschäftigt. „So wollen wir ein Bewusstsein<br />
für Diversität schaffen und auf das Problem im Unterricht eingehen.“<br />
„The diversity of sounds“<br />
Mieke, Gymnasium Hochrad<br />
Als Miekes Lehrerin den Wettbewerb an ihre<br />
Klasse geschickt hat, war die 13-Jährige leider<br />
krank. Was ist vielfältig am Kranksein, fragte<br />
sie sich. „Da fiel mir gleich das Essen ein“, erzählt<br />
Mieke. Gesagt, getan. Sie mampfte Apfel,<br />
Cornflakes, ungetoastetes und getoastetes<br />
Brot und nahm die dabei entstehenden Geräusche<br />
auf. „Ich hätte nicht erwartet, dass<br />
das so viel Spaß macht.“<br />
Reinhören:<br />
Um die Hörbeiträge<br />
der Schüler*innen<br />
zu hören, scannen<br />
Sie den QR-Code<br />
oder folgen Sie<br />
diesem Link:<br />
www.huklink.de/<strong>329</strong>-audiyou<br />
30
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
So klingt<br />
Vielfalt<br />
Rund 30 Beiträge zum Thema „Vielfalt“ haben Schülerinnen und Schüler<br />
beim diesjährigen Hörwettbewerb von AudiYou und Hinz&Kunzt<br />
eingereicht – trotz Corona. Einige stellen wir hier vor. Hören Sie rein!<br />
TEXT: SYBILLE ARENDT<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE (1), NELE BERENDS (1), PRIVAT<br />
Alles war anders in diesem Jahr: Normalerweise<br />
endet der Hörwettbewerb<br />
von AudiYou und Hinz&Kunzt mit einer<br />
spannenden Preisverleihung. Bis zur<br />
letzten Minute wird nicht verraten, wer<br />
gewonnen hat. An eine Veranstaltung<br />
mit 100 Leuten war in diesem Jahr natürlich<br />
wegen Corona nicht zu denken.<br />
Wir hatten sogar Sorge, ob überhaupt<br />
jemand mitmacht. Doch die war unbegründet:<br />
30 Beiträge gingen im Postfach<br />
von Initiatorin Stephanie Landa ein.<br />
Darunter hat die Jury neun als besonders<br />
hörenswert ausgezeichnet. •<br />
Kontakt: sybille.arendt@hinzundkunzt.de<br />
Sie haben gut hören: Stephanie Landa von AudiYou ( 2 ) und Sybille Arendt von Hinz&Kunzt ( 3 )<br />
zusammen mit den Jurymitgliedern Karen Kandzia (Studentin, 1 ) , Sylvia Linneberg (Bücherhallen Hamburg, 4 ) ,<br />
Autorin Isabel Abedi ( 5 ) und Synchronsprecher und Schauspieler Sascha Draeger ( 6 ) .<br />
4<br />
3<br />
5<br />
1<br />
2<br />
6<br />
31
Cornelia pendelte<br />
zwischen Kinderbetreuung<br />
und Hinz&Kunzt.<br />
Dem Leben die<br />
Zähne zeigen!<br />
Es war ein fulminanter Neustart und ein tolles Wiedersehen mit den Kund*innen.<br />
Aber Corona ist eine harte Belastungsprobe. Zum Glück sind es die<br />
Verkäufer*innen gewohnt, sich durchzubeißen.<br />
TEXT: BIRGIT MÜLLER, JONAS FÜLLNER, LUKAS GILBERT<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE
Alexander verbrachte viel<br />
Zeit mit seinem 70-jährigen<br />
Vermieter – und hielt<br />
deshalb viel Abstand zu<br />
anderen.
Thomas hat schon viel erlebt.<br />
Corona ist „nur“ eine<br />
weitere Herausforderung.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
„Ich hatte so sehr den Drang, zu meinem Verkaufsplatz bei<br />
Lidl zu gehen“, sagt Sonja. Aber sie hatte Angst.<br />
Frank zeigt dem Leben immer die Zähne – und lacht.<br />
So versucht er, sich auch in Krisen bei Laune zu halten.<br />
Thomas, 52, teilt sich mit einem anderen Hinz&Künztler ein Zimmer mit<br />
Bad und Kochnische. Sein Verkaufsplatz liegt am Grindelhof.<br />
Die Coronazeit hat Thomas dank seiner Kund*innen einigermaßen gut überstanden.<br />
„In den Restaurants rund um meinen Verkaufsplatz durfte ich immer<br />
wieder kostenlos essen“, erzählt er. Andere hätten ihm Essen und Getränke vom<br />
Einkaufen mitgebracht. Ein richtig gutes Gefühl sei das gewesen, sagt der<br />
Hinz&Künztler: „Ich bin froh und dankbar, dass ich mit der Hilfe der Menschen<br />
aus dem Grindelviertel so gut über die Runden gekommen bin. Ich bin gut aufgefangen<br />
worden.“ Dennoch: Nicht mehr verkaufen zu können, nicht mehr selbst<br />
für seinen Lebensunterhalt zu sorgen – das war schwer für Thomas. „Doch seit<br />
ich endlich wieder Magazine abholen konnte, geht’s mir wieder gut“, sagt er.<br />
„Wieder verkaufen zu können, wieder was für mein Geld zu tun, das ist ein richtig<br />
gutes Gefühl. Für mich – und, ich denke, meine Kunden freuen sich auch.“ •<br />
35
Alexander, 49, wohnt in Sasel und verkauft<br />
vor Aldi an der Bramfelder Straße.<br />
„Mit zu viel Freizeit komme ich schlecht<br />
zurecht. Ich muss immer etwas tun“, sagt der<br />
49-jährige Hinz&Künztler, angesprochen auf<br />
die Corona-Pause. So war es schon in seinen<br />
vorherigen Jobs in der Gastro. „Ich arbeite lieber,<br />
als Urlaub zu nehmen.“ Während<br />
andere entspannen, bricht bei Alexander im<br />
Kopf das große Chaos aus. Ein Mechanismus,<br />
den er während der Corona-Pandemie<br />
plötzlich durchbrach. Statt Reißaus zu<br />
nehmen, trotzte er dem Lockdown und verbrachte<br />
schöne Tage mit seinem Vermieter<br />
und Nachbarn im Garten. „Der ist jetzt 70<br />
Jahre alt und gehört dadurch zur Risikogruppe.“<br />
Deswegen erledigte Alexander die<br />
Einkäufe und führte den Hund aus. Und<br />
obwohl er noch ein paar März-Ausgaben<br />
zur Hand hatte, stoppte Alexander den<br />
Verkauf – aus Rücksicht auf seinen Nachbarn.<br />
„Ich bin überrascht, wie gut es mir<br />
ging. Aber ich muss sagen: Wie lange ich<br />
das ausgehalten hätte, weiß ich nicht.“<br />
Jetzt, zurück am Verkaufsplatz, fühlt er<br />
sich deutlich wohler. •<br />
Cornelia, 38, verkauft nicht nur Hinz&Kunzt, sondern ist bei<br />
uns auch Reinigungskraft. Seit 2015 lebt die Rumänin, ihr<br />
Mann und ihre vier Kinder (vier bis 16 Jahre) in Hamburg.<br />
Sie verkauft bei Penny in der Saseler Straße.<br />
„Alle haben gefragt: ‚Wie geht’s?‘ Weil wir uns ja lange nicht<br />
gesehen haben“, sagt Cornelia. Direkt Angst vor Corona hatte sie<br />
nicht. Aber sie hat aufgepasst. „Auch die Nachbarn haben wir<br />
nicht oft gesehen, weil ich Abstand halte.“ Dreimal in der Woche<br />
kommt sie zur Arbeit und putzt, „viel mehr als vor Corona“.<br />
Mehrmals am Tag reinigt sie Sanitäranlagen, die Oberflächen<br />
und alle Griffe. Corona ist anstrengend für sie. „Aber auch schön.<br />
Wir waren alle zu Hause. Ich hatte viel Arbeit, auch im Garten.<br />
Aber Stress ist das nicht.“ •<br />
36
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Sonja, 59, wohnt in der Kollaustraße,<br />
ganz in der Nähe von Lidl, ihrem Verkaufsplatz.<br />
„Ich hatte so sehr den Drang, zu Lidl zu gehen, aber ich hatte Angst. Ich<br />
habe Asthma und ein Emphysem, da bin ich natürlich sehr gefährdet. Mir<br />
ging es psychisch ziemlich schlecht. Ich habe dann angefangen, das Fami-<br />
liengrab zu pflegen. Nein, das hat mich nicht noch mehr runtergezogen.<br />
Im Gegenteil: Ich habe das für meinen verstorbenen Vater gemacht. Das<br />
bin ich ihm schuldig. Er hatte immer Angst, dass sich niemand drum küm-<br />
mert. Und für mich ist das wie ein Garten. Jetzt bin ich aber wahnsinnig<br />
froh, dass wir wieder Zeitungen verkaufen können. Ich bin richtig aufge-<br />
blüht. Die Kunden haben sich auch so gefreut. ‚Du bist ja wieder da!‘, ha-<br />
ben einige gesagt. Und ein paar Kinder haben sich auch gefreut und ge-<br />
fragt: ‚Hast du uns auch Bonbons mitgebracht?‘ Weil: Samstags bring ich<br />
immer Bonbons mit. Und ein Lkw-Fahrer hat gehupt, als er mich gesehen<br />
hat. Von dem habe ich auch die Maske, den kenn ich, weil ich öfter was<br />
aus dem Weg räume, wenn er kommt.“ •<br />
Frank, 47, schläft hier und da und auf der<br />
Straße, er verkauft meist auf der Reeperbahn.<br />
„Dass es endlich wieder losgeht! Das war ein total<br />
komisches Gefühl, als alles geschlossen war. So<br />
leer habe ich die Reeperbahn noch nie gesehen.<br />
Und dann ohne Geld. Aber ich lasse mich nicht<br />
unterkriegen, das sieht man ja an der Maske: Ich<br />
zeige dem Leben die Zähne. Eigentlich versuche<br />
ich ja immer, einen Scherz zu machen, hab meine<br />
Kapitänsmütze auf und erzähle Seemannsgeschichten.<br />
Aber auf einmal war da niemand<br />
mehr. Keine Kneipe, wo man auch mal ein<br />
Wasser kriegen konnte. Das war mir früher gar<br />
nie aufgefallen: Es gibt nirgendwo einfach mal<br />
einen Brunnen, wo du dir die Flasche auffüllen<br />
kannst. Das geht doch nicht, da müsste man<br />
mal was tun. Es könnte doch auch mal eine Extremsituation<br />
geben, wo man Wasser braucht.<br />
Und dann steht man vor dem Nichts.“ •<br />
37
Thomas freut sich, wieder<br />
verkaufen zu können:<br />
„Die letzten Monate waren<br />
so was von langweilig!“<br />
Wir sind<br />
wieder da!<br />
Seit Juni gibt es Hinz&Kunzt nach der Corona-Zwangspause<br />
endlich wieder als gedrucktes Magazin. Wir haben Eindrücke<br />
von den ersten beiden Verkaufstagen gesammelt und dabei<br />
viele glückliche Hinz&Künztler*innen getroffen.<br />
TEXT: LUKAS GILBERT<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Zweieinhalb lange Monate<br />
konnte Hinz&Kunzt wegen<br />
Corona nicht als gedrucktes<br />
Magazin erscheinen. Eine<br />
Katastrophe für die mehr als 600<br />
Hinz&Künztler*innen! Umso größer<br />
war die Freude bei Verkäufer*innen<br />
und Teammitgliedern, als es Anfang<br />
Juni wieder losging. In den Wochen zuvor<br />
hatte sich unser Vertriebsteam viele<br />
Gedanken gemacht, um den Neustart<br />
möglichst reibungslos ablaufen zu lassen:<br />
Um Abstände einzuhalten wurde der<br />
Verkaufsstart auf zwei Tage gestreckt,<br />
durch spezielle Zeitungsboxen ist nun<br />
ein kontaktloser Verkauf möglich. „Eine<br />
Riesenlast ist von uns abgefallen“, freut<br />
sich Vertriebschef Christian Hagen.<br />
Tomasz ist stolz darauf,<br />
dass er in Coronazeiten<br />
nicht wieder angefangen<br />
hat zu trinken: „Ich bin seit<br />
sechs Jahren trocken!“<br />
„Alle waren so hilfsbereit und hoch motiviert,<br />
wir haben alle gut zusammengearbeitet<br />
– das ist eine Erfahrung, die<br />
uns alle stärken wird.“ •<br />
Kontakt: lukas.gilbert@hinzundkunzt.de<br />
38
Zum Verkaufsstart mussten die<br />
Hinz&Künztler*innen zeitlich versetzt<br />
kommen. So wurde es im<br />
Hof nicht zu voll und alle konnten<br />
die Abstände einhalten.<br />
Die Magazine wurden<br />
an mehreren Fenstern<br />
ausgegeben. Natürlich<br />
mit Maske!<br />
„Endlich geht es<br />
wieder los“, sagt<br />
Elke, die sich<br />
besonders darauf<br />
freut, ihre<br />
Kund*innen<br />
wiederzusehen.<br />
Unten: Sozialarbeiter Stephan<br />
Karrenbauer im Gespräch mit<br />
Thomas. Rechts: Peter ist<br />
glücklich, endlich wieder an<br />
seinem Verkaufsplatz stehen<br />
zu können.
Lebenslinien<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />
Europas<br />
letzte<br />
Hoffnung<br />
Ist das noch Satire oder schon Politik? Der Hamburger<br />
Nico Semsrott macht einfach beides gleichzeitig. Seit<br />
einem Jahr sitzt er als Abgeordneter für „Die PARTEI“<br />
im Europaparlament – und interessiert auf seinen<br />
Social-Media-Kanälen Hunderttausende für sperrige<br />
Themen. Jetzt plant er sogar eine Late-Night-Show.<br />
TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />
FOTOS: VANESSA ESTRELLA GÖTTLE, BENEDIKT MANDL,<br />
SNAPSHOT/FLORIAN BOILLOT/FUTUR, EUROPAPARLA-<br />
MENT, PICTURE ALLIANCE/DPA/MICHAEL KAPPELER<br />
Die Kapuze ist das Markenzeichen<br />
von Semsrott. Ohne sie<br />
würde er sich im Parlament<br />
ausgeliefert fühlen, sagt er.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Lebenslinien<br />
W<br />
ie man mit Satire Politik<br />
macht, wusste Nico<br />
Semsrott schon 2005:<br />
Als die Schulleitung<br />
des Hamburger Sophie-Barat-Gymnasiums<br />
seine Schülerzeitung verboten<br />
hatte, wollte der junge Redakteur das<br />
nicht auf sich sitzen lassen. Kurzerhand<br />
wandelte der 19-Jährige ein Dixi-Klo<br />
vor der Schule zum Zeitungskiosk<br />
um. Aufschrift: „Schülerzeitungsverbot?<br />
Da scheiß ich drauf!“<br />
Von Hinz&Kunzt bis Spiegel<br />
Online berichten damals<br />
viele Medien über den<br />
„Kampf um die Pressefreiheit“<br />
an der katholischen<br />
Privatschule, auch die Bürgerschaft<br />
befasst sich damit.<br />
„Ich hatte auch Angst,<br />
dass ich von der Schule<br />
fliege, aber es hat irre viel<br />
Spaß gemacht!“, erinnert<br />
sich Semsrott.<br />
15 Jahre später sitzt er im<br />
Europäischen Parlament in<br />
Brüssel und hält ein goldenes<br />
Schild mit der Aufschrift „Strasbourg“<br />
in die Höhe. Als Europaabgeordneter<br />
fordert er die Umbenennung<br />
des Sitzungssaals, damit die<br />
Parlamentarier*innen nicht<br />
mehr zwölfmal im Jahr<br />
in die französi-<br />
sche Stadt reisen müssen, wie es die<br />
EU-Regularien vorschreiben, sondern<br />
einfach im gleichnamigen Raum tagen<br />
könnten. Eine der vielen Absurditäten,<br />
um die in der EU seit Jahrzehnten Mitgliedsstaaten<br />
und Parlamentarier*innen<br />
streiten: „The second seat is a waste of<br />
money“, erklärt Semsrott. Mehr als eine<br />
halbe Milliarde Euro würde das Hinund<br />
Herreisen pro Legislaturperiode<br />
kosten, jährlich 20.000 Tonnen CO 2<br />
verursachen. „Möge diese Sitzung der<br />
historische Moment sein, in dem das Europäische<br />
Parlament endlich aufbegehrt<br />
und die Kontrolle über sein Schicksal<br />
übernimmt!“, fordert Semsrott auf Englisch.<br />
Dazu hebt er die linke Faust.<br />
Eigentlich hält er diese Rede nicht<br />
wirklich für den Petitionsausschuss des<br />
Europaparlaments, auch wenn er zu<br />
ihm spricht, sondern für seine<br />
Zuschauer*innen auf den Social-Media-Kanälen<br />
– allein auf Youtube wurde<br />
das Video darüber mehr als 370.000-<br />
mal angesehen. Hunderttausende für so<br />
ein trockenes Thema der Europapolitik<br />
zu interessieren, das schafft sonst niemand.<br />
Es ist der Erfolg eines neuen Politikstils,<br />
den Semsrott und sein Parteikollege<br />
Martin Sonneborn geprägt<br />
haben, die beide für die Satirepartei<br />
„Die PARTEI“ im Parlament sitzen,<br />
Semsrott jetzt seit ziemlich genau einem<br />
Jahr. Auf Instagram, Twitter und<br />
Facebook folgen ihm mehr als 700.000<br />
Menschen. Reichweiten, von denen andere<br />
Abgeordnete nur träumen können:<br />
Die Hamburger Liberale<br />
Svenja Hahn etwa kommt auf<br />
gut 8600 Follower*innen.<br />
Der Weg dorthin war für<br />
Semsrott allerdings weit. Er<br />
beginnt im Hamburger<br />
Stadtteil Niendorf, in<br />
dem Nico als Lehrerkind<br />
aufwächst. „Das<br />
war so unglaublich<br />
normal“, erinnert er<br />
sich im Skype-<br />
Gespräch mit<br />
Hinz&Kunzt. Und
Lebenslinien<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />
Semsrotts Karriere begann 2005 in einem Dixi-Klo. 2019 zog er mit Martin Sonneborn in<br />
das Europaparlament ein – und legt seitdem dort den Finger in die Wunde. Zum Beispiel,<br />
indem er auf Lobbyismus aufmerksam macht: „In einer gemäßigten Demokratie sollte man<br />
wenigstens so Werbebanner tragen, damit alle wissen, für wen man arbeitet.“<br />
das meint er nicht wirklich positiv: „Im<br />
Sinne von durchschnittlich, bürgerlich,<br />
weiß, privilegiert, behütet … boring<br />
eben.“ Irgendwie langweilig und ein<br />
bisschen wie jetzt im Europaparlament,<br />
„Ich habe<br />
Sehnsucht nach<br />
mehr Leben und<br />
Teilhabe.“<br />
legt er sarkastisch nach: „Ich bin an einem<br />
Ort, dessen Werte ich nicht teile,<br />
und ich habe die ganze Zeit Sehnsucht<br />
nach mehr Leben, Auseinandersetzung<br />
und Teilhabe.“ Eben ganz so wie damals<br />
in Niendorf.<br />
Zum Satiriker ist er dann auf der<br />
katholischen Privatschule an der Alster<br />
geworden, sagt er, weil dort Ausgedachtes<br />
als Realität verkauft worden sei.<br />
Während in Gebeten das Gute im Menschen<br />
gepriesen wurde, hätten manche<br />
Lehrer mit Druck und Einschüchterungen<br />
gearbeitet: „Das ist genau das Spannungsfeld,<br />
in dem Komik und Satire<br />
42<br />
entstehen“, meint Semsrott. Im Frontalunterricht<br />
fühlt er sich schlecht aufgehoben,<br />
mit dem autoritären Stil der Schulleitung<br />
kommt er nicht zurecht. „Ich<br />
finde es immer schrecklich, auf Befehle<br />
von anderen zu hören, ich finde es viel<br />
besser, wenn ich selbst etwas entwickeln<br />
kann“, sagt er. Zum Beispiel einen Zeitungskiosk<br />
im Dixi-Klo.<br />
Nach der Schule klagt er sich ins<br />
Studium der Soziologie und Geschichte<br />
an der Uni Hamburg ein, nur um es<br />
nach sechs Wochen wieder abzubrechen.<br />
„Ich bin dann depressiv ins Bett<br />
gegangen und habe erst mal gar nichts
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Lebenslinien<br />
gemacht“, sagt er salopp daher, meint<br />
es aber ganz ernst: Zwischen 16 und 23<br />
war Nico Semsrott durchgehend depressiv.<br />
Daraus macht er kein Geheimnis,<br />
im Gegenteil: Er entdeckt 2008 im<br />
Hamburger Club Molotow den Poetry-<br />
Slam für sich und spricht in seinem Programm<br />
über die Krankheit, macht Witze<br />
über Depressionen. „Für mich ist es<br />
total schön, wichtig und entlastend, eine<br />
Bühne zu haben, wo der Schmerz<br />
rauskann“, sagt er. „Das hat mir total<br />
viel geholfen.“<br />
Als depressiver Komiker wird er<br />
schließlich berühmt, der schwarze Kapuzenpullover<br />
wird zu seinem Markenzeichen.<br />
Er tritt regelmäßig in der „heuteshow“<br />
des ZDF auf, macht immer<br />
wieder auch politisches Kabarett, zum<br />
Beispiel gegen die Leistungsgesellschaft<br />
und die AfD. Und ganz nebenbei sammelt<br />
er Hunderttausende Follower-<br />
*innen auf Social Media. Bis ihm das<br />
alles zu viel wurde: „Das war zwar auch<br />
schön, aber je länger es ging, desto größer<br />
wurde der Druck und die Angst, das<br />
wieder zu verlieren“, sagt Semsrott. Die<br />
Anfrage der Partei, ob er nicht in die<br />
Politik wechseln wolle, kam daher genau<br />
zum richtigen Zeitpunkt: „Ich wusste<br />
nicht, dass ich das wollte, bevor ich gefragt<br />
wurde. Als ich gefragt wurde, hab<br />
ich gemerkt: ‚Oh, das interessiert mich<br />
wirklich!‘“<br />
Seit 2019 ist also Brüssel die Bühne,<br />
auf der sein Schmerz rauskann. Seine<br />
Rolle als Abgeordneter muss er aber<br />
noch finden: Anders als sein Genosse<br />
Sonneborn stimmt er zwar im Parlament<br />
nicht einfach abwechselnd mit Ja<br />
oder Nein, sondern hat sich der grünen<br />
Fraktion angeschlossen. Aber auch nach<br />
einem Jahr als Parlamentarier hat er die<br />
Regeln dieses neuen Spiels noch nicht<br />
ganz verstanden – was aber auch für seine<br />
Mitspieler*innen gilt. Ein Tweet von<br />
@nicosemsrott kann heute ausreichen,<br />
um eine Antwort von Kommissionspräsidentin<br />
Ursula von der Leyen zu provozieren,<br />
die er so in eine Debatte über<br />
„rassismusverharmlosende Politik“ hineinziehen<br />
kann. „Das ist für mich viel<br />
spannender, intellektuell herausfordernder<br />
und relevanter als das, was ich vorher<br />
gemacht habe“, sagt Semsrott.<br />
Aber natürlich steckt noch jede Menge<br />
vom alten Nico im neuen. Er hat auch<br />
den Kapuzenpullover nicht ausgezogen<br />
und erst recht nicht gegen einen Anzug<br />
getauscht. Auch weil er ihm Sicherheit<br />
gibt, sagt er: „Wenn ich in dem Raum<br />
meine Kapuze abnähme, würde ich<br />
mich ausgelieferter fühlen.“ Schließlich<br />
hat seine Kunstfigur zehn Jahre lang<br />
eingeübt, sich öffentlich zu äußern und<br />
zu provozieren. Dass er nur eine Rolle<br />
spielt, ist für Nico Semsrott normal.<br />
Und auch im Europarlament findet er<br />
das nicht unangemessen, im Gegenteil:<br />
„Die anderen spielen ihre Rollen, die<br />
megakomisch sind, und ich spiele meine<br />
Rolle, die ich in dem Kontext eigentlich<br />
vernünftig finde.“<br />
Womit wir beim schwierigen Verhältnis<br />
von Nico Semsrott zur EU sind.<br />
Was bei ihm manchmal nach populistischem<br />
Bashing klingen mag, kann er mit<br />
fundamentaler Kritik unterfüttern. Und<br />
er ist vieles, aber sicher kein Anti-Europäer.<br />
Aber das Staatengebilde wird ihm<br />
zu konservativ gelenkt – und zu undemokratisch<br />
organisiert: „Wenn man sich<br />
die EU anguckt, haben die Nationalstaaten<br />
die Macht, die Kommission hat auch<br />
ein bisschen was zu sagen und das Parlament<br />
darf zu manchem noch einen<br />
Kommentar abgeben“, kritisiert er.<br />
Um die Idee des Europaparlaments<br />
zu retten, müsste man eigentlich noch<br />
mal neu damit anfangen, findet Semsrott.<br />
„Ein Parlament, das nicht mal<br />
selbst Gesetze vorschlagen kann, ist einfach<br />
ein Witz in sich!“ Und über diesen<br />
Konstruktionsfehler kann er sich dann<br />
auch richtig aufregen. „Ich bin ja jetzt<br />
schon ein Jahr Abgeordneter und ich<br />
finde das immer noch falsch“, redet er<br />
sich in Rage. „Es ist falsch, Europawahlen<br />
abzuhalten, wenn das Parlament<br />
nicht die Repräsentation und die Macht<br />
hat, die man dem Bürger suggeriert!“<br />
Und als Angehöriger der Opposition ist<br />
er besonders machtlos im machtlosen<br />
Parlament. Was ihn zusätzlich deprimiert:<br />
„Ich kann mit meinem Stimmenanteil<br />
von 0,14 Prozent eigentlich nur<br />
zugucken. Es gibt mittlerweile eine Diktatur<br />
innerhalb der EU, und nichts passiert“,<br />
beklagt er frustriert das Abdriften<br />
Ungarns nach ganz rechts und das Aus-<br />
43<br />
bleiben europäischer Reaktionen. Der<br />
Typ mit dem Kapuzenpullover in der<br />
letzten Reihe? Unter diesen Umständen<br />
nur angemessen, findet Semsrott.<br />
Deswegen ist klassische Parlamentsarbeit<br />
seine Sache nicht. „Ich bin dafür<br />
da, zu irritieren und den Betrieb zu stören“,<br />
erzählt er und legt lachend nach:<br />
„Im ersten Jahr bin aber hauptsächlich<br />
ich irritiert und mein Betrieb ist gestört<br />
„Ich bin dafür<br />
da, zu irritieren<br />
und den Betrieb<br />
zu stören.“<br />
worden.“ Das Format Europaabgeordneter<br />
entwickelt er beständig weiter:<br />
Gerade arbeitet er mit seinem Team an<br />
einer Late-Night-Show, in der er die europäische<br />
Öffentlichkeit am Parlamentsgeschehen<br />
teilhaben lassen will.<br />
Satirisch und politisch, wie es John Oliver<br />
in den USA vorgemacht und Jan<br />
Böhmermann in Deutschland adaptiert<br />
hat. Nur eben für die ganze Union.<br />
„Ich bin überzeugt davon, dass Demokratie<br />
nicht ohne Öffentlichkeit funktionieren<br />
kann“, sagt er. „Es ist meine Aufgabe,<br />
die herzustellen und für<br />
Diskussionen zu sorgen.“ Ein Abgeordneter,<br />
der die Grenze zur Rolle der Medien<br />
verwischt – ist das denn demokratisch?<br />
„Darüber haben wir auch schon<br />
ein Erklärvideo vorbereitet.“<br />
Es sind jedenfalls große Pläne – und<br />
Nico Semsrott hat Angst, an seinen Ansprüchen<br />
zu scheitern. „Ich spüre den<br />
Auftrag total, für die 900.000 Wähler<br />
da was rauszuholen“, offenbart er.<br />
„Mich quält die ganze Zeit die Frage:<br />
Mache ich genug daraus?“ Dabei kann<br />
er an seinem Anspruch, mit dem er vergangenes<br />
Jahr zur Wahl angetreten war,<br />
eigentlich kaum scheitern. Sein Slogan<br />
lautete bloß: Für Europa reicht’s. •<br />
Kontakt: benjamin.laufer@hinzundkunzt.de
Freunde<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />
„Krisen kommen<br />
und gehen“<br />
Guosheng Liu stammt aus<br />
dem chinesischen Henan und lebt<br />
seit 30 Jahren in Deutschland.<br />
Guosheng Liu wollte unbedingt etwas Gutes für Obdachlose tun – und organisierte uns 8000 Masken<br />
aus China. Dabei ist der Gründer des Reiseveranstalters Chinatours selbst gerade in der Krise.<br />
Er musste wegen Corona Insolvenz anmelden.<br />
TEXT: MISHA LEUSHEN<br />
FOT0: MIGUEL FERRAZ<br />
Ein Straßenmagazin, das von<br />
Journalist*innen geschrieben<br />
und von Obdachlosen verkauft<br />
wird? Ganz schön exotisch<br />
fand Guosheng Liu diese Idee, als<br />
er zum ersten Mal von Hinz&Kunzt<br />
hörte. „Dann habe ich einige Ausgaben<br />
gelesen und war sehr beeindruckt“, erzählt<br />
der 55-Jährige. Denn Vorurteile<br />
abzubauen, indem man Menschen miteinander<br />
in Kontakt bringt, das ist auch<br />
das Herzensanliegen von Guosheng<br />
44<br />
Liu. Der Gründer des Reiseveranstalters<br />
Chinatours ist ebenfalls Gründer der<br />
Gesellschaft für Deutsch-Chinesische<br />
Verständigung (GDCV) in Hamburg.<br />
Dass die Coronapandemie in China<br />
begann, hat diese Verständigung<br />
deutlich schwieriger gemacht.<br />
Als Spezialist für Chinareisen war<br />
sein Unternehmen besonders hart betroffen.<br />
Doch trotz der angemeldeten<br />
Insolvenz ist Guosheng Liu bemerkenswert<br />
entspannt und plant einen geschäftlichen<br />
Neuanfang. „Alles hat seine<br />
positiven Seiten“, erklärt er. „Krisen<br />
kommen und gehen; sie bringen Botschaften<br />
und wir können daraus lernen,<br />
wenn wir sie verstehen.“<br />
Der Geschäftsmann lebt seit rund<br />
30 Jahren in Deutschland und pflegt<br />
noch immer gute Kontakte nach China,<br />
vor allem in seine Heimatprovinz<br />
Henan, die Hamburg wirtschaftlich eng<br />
verbunden ist. Deshalb spendete Henan<br />
40.000 Masken für Hamburg und bat
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
die GDCV, die Verteilung dort zu übernehmen,<br />
wo die Masken dringend gebraucht<br />
werden: in Schulen, Altersheimen,<br />
Kliniken – und 8000 Masken<br />
gingen an die Verkäufer*innen von<br />
Hinz&Kunzt. „Wir können die Welt<br />
nicht ändern, aber wir können etwas<br />
dafür tun, dass sie zu einem besseren<br />
Ort wird“, sagt Guosheng Liu.<br />
Es schmerzt ihn, dass China in<br />
Deutschland zunehmend kritisch gesehen<br />
wird – nicht nur aufgrund von Corona.<br />
„Die Menschen haben ein veraltetes<br />
Bild von China“, findet er. Der<br />
Blick auf die vielen positiven Veränderungen<br />
werde dadurch verstellt. „Ich<br />
möchte zwei Kulturen zusammenbringen,<br />
die chinesische und die europäische“,<br />
erklärt er. „Wir können viel voneinander<br />
lernen, ohne die eigene<br />
Lebensweise aufzugeben.“<br />
Dass das funktionieren kann, hat er<br />
selbst erlebt. In China studierte er Germanistik,<br />
arbeitete im Tourismus und<br />
kam mit 26 Jahren nach Deutschland.<br />
„Ich habe in Schwaben das Bierbrauen<br />
Freunde<br />
gelernt“, erzählt er lachend. Auf Umwegen<br />
kam er nach Hamburg und<br />
begann ein Studium der Sinologie. Um<br />
das zu finanzieren, organisierte er Reisen<br />
nach China. „Das wurde mein Beruf<br />
und mein Lebenswerk.“<br />
Seine Gesellschaft für Deutsch-<br />
Chinesische Verständigung gründete<br />
der Vater zweier erwachsener Kinder,<br />
„weil ich China nach Europa bringen<br />
wollte“. Mitglied kann jeder werden,<br />
die meisten haben sich bereits für den<br />
internationalen Austausch engagiert.<br />
Musik, Kultur, Sport – in allen Feldern<br />
bietet die Gesellschaft einen Jugendaustausch,<br />
auch wenn Corona dies vorerst<br />
gestoppt hat.<br />
Deutschland sei für China ein großes<br />
Vorbild, auch wenn es nie so werde<br />
wie Deutschland: „Dafür ist die Kultur<br />
zu andersartig. Aber wir wollen weltoffen<br />
sein, eine zivile Gesellschaft, in der<br />
Diskussionen möglich sind“, sagt Guosheng<br />
Liu überzeugt. •<br />
Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />
JA,<br />
ICH WERDE MITGLIED<br />
IM HINZ&KUNZT-<br />
FREUNDESKREIS.<br />
Damit unterstütze ich die<br />
Arbeit von Hinz&Kunzt.<br />
Meine Jahresspende beträgt:<br />
60 Euro (Mindestbeitrag für<br />
Schüler*innen/Student*innen/<br />
Senior*innen)<br />
100 Euro<br />
Euro<br />
Datum, Unterschrift<br />
Ich möchte eine Bestätigung<br />
für meine Jahresspende erhalten.<br />
(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />
Meine Adresse:<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Nr.<br />
PLZ, Ort<br />
Telefon<br />
E-Mail<br />
Einzugsermächtigung:<br />
Dankeschön<br />
Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />
Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />
Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />
Wir danken allen unseren Spender*innen,<br />
die uns in den vergangenen schwierigen<br />
Wochen geholfen haben. Dazu gehören<br />
natürlich alle Mitglieder im<br />
Freundeskreis von Hinz&Kunzt! Viele<br />
haben noch einmal extra gespendet!<br />
DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />
• IPHH • wk it services<br />
• Produktionsbüro<br />
Romey von Malottky GmbH<br />
Axel Ruepp Rätselservice<br />
• Hamburger Kunsthalle<br />
• bildarchiv-hamburg.de<br />
• die Geburtstagsgäste von<br />
Lutz Horbach zum 80. Geburtstag,<br />
obwohl die Feier wegen Corona<br />
ausfallen musste<br />
• Manfred Bruer und Gäste<br />
anlässlich des 70. Geburtstags,<br />
auch hier wird nachgefeiert!<br />
• Marika Hellmund und Studierende<br />
der HAW im Fachbereich Modedesign,<br />
sie haben Masken genäht und<br />
verkauft – für Hinz&Kunzt!<br />
NEUE FREUNDE:<br />
• Marc Bartscht • Lutz Bauer<br />
• Antje Dombrowski • Niklas Ehlers<br />
• Petra und Karsten Frank<br />
• Gitta und Norbert Hinrichs<br />
• Susanne Kaiser • Tom Köhler<br />
• Moritz Kurz • Stefan Oehmann<br />
• Nils Otto • Oliver Rodhorst<br />
• Till Sander • Monika Siegel<br />
• Tobias Völker • Micha Wiebe<br />
IBAN<br />
BIC<br />
Bankinstitut<br />
Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />
der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />
Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />
Ja<br />
Nein<br />
Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />
Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />
Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />
Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />
genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />
jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />
mehr von uns bekommen möchten, können<br />
Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />
personenbezogenen Daten widersprechen.<br />
Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />
einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />
Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />
Hinz&Kunzt-Freundeskreis<br />
Altstädter Twiete 1-5, 20095 Hamburg<br />
Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />
45<br />
HK <strong>329</strong>
Buh&Beifall<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />
Was unsere Leser*innen meinen<br />
„Wie schön, dass Sie alle zurück sind.“<br />
Tragfähiger Kompromiss<br />
H&K Online: Lob und Tadel für<br />
Koalitionsvertrag<br />
Wenn die einen meckern und die anderen<br />
loben, hat man wahrscheinlich einen<br />
tragfähigen Kompromiss gefunden.<br />
Sehen wir mal … HANS KAUTZ VIA FACEBOOK<br />
Danke, Bob und James!<br />
H&K Online und Meldungen S. 14:<br />
„Bob, der Streuner“ ist tot<br />
Bob mischt jetzt garantiert den Katzenhimmel<br />
ordentlich auf mit seinen<br />
Geschichten vom wilden Leben ! Gute<br />
Reise, Kumpel! KATER PLÜSCH VIA FACEBOOK<br />
Ich erinnere mich noch gut an<br />
die Begegnung … Bob hat zwar gepennt,<br />
aber seine Präsenz war deutlich<br />
zu spüren … Danke, Bob und James …<br />
Danke … und jetzt, Bob, mach es gut,<br />
du wirst vermisst. MARCUS JUNG VIA FACEBOOK<br />
Wiedersehen mit Verkäufer*innen<br />
H&K 328: Danke, Hamburg!<br />
Endlich, wie schön, dass Sie alle zurück<br />
sind.<br />
KERSTIN STARCKE-GIESE VIA FACEBOOK<br />
War klasse, endlich „meinen“<br />
Verkäufer wiederzusehen!<br />
LUTHERMANSFRIEND VIA INSTAGRAM<br />
Das freut mich so sehr, zumal ja<br />
ebenfalls unsere sozialen Kontakte dabei<br />
eine große Rolle spielen. Alles Gute<br />
für Sie alle und bitte bleiben Sie gesund!<br />
MICHAELA BRIGITTE BOHL VIA FACEBOOK<br />
Coole Sache! Weiter so und<br />
bleibt gesund und stark!<br />
ULLA MEIER VIA FACEBOOK<br />
Briefe von Leser*innen geben die Meinung der<br />
Verfasser*innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />
Wir behalten uns vor, die Briefe zu kürzen.<br />
Wir trauern um<br />
Karl Martin Klemm<br />
21. September 1936 – 28. April <strong>2020</strong><br />
Karl Martin war Verkäufer der ersten Stunde und<br />
ist nach langer Krankheit verstorben.<br />
Die Verkäufer*innen und das<br />
Team von Hinz&Kunzt<br />
Wir trauern um<br />
Detlef Vollmer<br />
3. April 1972 – 12. Juni <strong>2020</strong><br />
Detlef hat lange Hinz&Kunzt verkauft, bis er<br />
aufgehört hat, um seine Frau zu pflegen.<br />
Die Verkäufer*innen und das<br />
Team von Hinz&Kunzt<br />
Wir trauern um<br />
Stefan „Roberto” Witt<br />
23. März 1984 – Juni <strong>2020</strong><br />
HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />
DER ETWAS<br />
ANDERE<br />
STADTRUNDGANG<br />
Roberto verstarb viel zu jung nach langer schwerer<br />
Krankheit im Altonaer Krankenhaus.<br />
Die Verkäufer*innen und das<br />
Team von Hinz&Kunzt<br />
Wir trauern um<br />
Werner Ahmed<br />
03. Mai 1949 – Mai <strong>2020</strong><br />
Werner hat schon länger keine Hinz&Kunzt mehr<br />
verkauft. Er verstarb überraschend im Mai <strong>2020</strong>.<br />
Die Verkäufer*innen und das<br />
Team von Hinz&Kunzt<br />
Wollen Sie Hamburgs City einmal mit anderen Augen sehen?<br />
Abseits der teuren Fassaden zeigt Hinz&Kunzt Orte, die in<br />
keinem Reiseführer stehen: Bahnhofs mission statt Rathausmarkt,<br />
Drogenberatungsstelle statt Alsterpavillon, Tages aufent halts stätte<br />
statt Einkaufspassage.<br />
Anmeldung: bequem online buchen unter<br />
www.hinzundkunzt.de oder Telefon 040/32 10 83 11<br />
Kostenbeitrag: 10/5 Euro<br />
Nächste Termine: 5.7., 12.7., 19.7., 26.7.<strong>2020</strong>, 15 Uhr
Kunzt&Kult<br />
Digitales Stadtleben: One Hamburg macht Social-TV für alle (S. 48).<br />
Spurensuche: Jürgen Jobsen zeigt, wo früher der jüdische Markt in Hamburg war (S. 56).<br />
Rassismus: Wieso Hinz&Künztler Eugene Hoffnung schöpft (S. 58).<br />
Corona macht erfinderisch: Weil<br />
Lichtspielhäuser während der Pandemie<br />
schließen mussten, verwandelte das Zeise-Kino<br />
das Heiligengeistfeld in ein Autokino.<br />
Immerhin: Seit dem 25. Juni können Sie Filme<br />
auch wieder drinnen gucken.<br />
FOTO: THOMAS PANZAU
Jan Traupe, Maxime Billon und<br />
Isa Daur (von links) sind drei<br />
der sechs Gründer*innen von<br />
One Hamburg. Auch die<br />
Studiohunde Eddi und Kowalsky<br />
gehören fest zum Team.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Kunzt&Kult<br />
Da geht<br />
noch was!<br />
Als das Coronavirus Hamburg lahmlegte, holten sie das<br />
Stadtleben ins Netz: Der Social-TV-Sender One Hamburg<br />
sieht sich als Bindeglied der Gesellschaft.<br />
TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />
FOTOS: ANDREAS HORNOFF UND ONE HAMBURG<br />
E<br />
ine Backsteinwand, ein graues<br />
Sofa, Teppich, Topfpflanzen<br />
– etwa so sieht der Ort<br />
aus, an dem sich im Frühjahr<br />
<strong>2020</strong> Hamburgs Kulturszene verdichtet.<br />
Hier steigen Livekonzerte, die es anderswo<br />
nicht geben darf, hier diskutieren<br />
Menschen aus der ganzen Stadt in<br />
Echtzeit mit Politiker*innen. Es gibt<br />
Bar abende bis in die Nacht, Yogakurse<br />
und Shopping ohne Mundschutz. All<br />
das verbirgt sich hinter einer unscheinbaren<br />
Tür in einem Ottenser Hinterhof,<br />
wo der neue Social-TV-Kanal One<br />
Hamburg seit fast dreieinhalb Monaten<br />
unermüdlich dreht und sendet.<br />
„Kurz nach Hause, drei Stunden<br />
schlafen, und dann wieder hierher“, so<br />
beschreibt Maxime Billon die ersten<br />
Tage im Studio. Der 36-Jährige ist einer<br />
der sechs Gründer*innen von One<br />
Hamburg und vom ersten Moment an<br />
dabei. „Ich bin drei Stunden später dazugestoßen“,<br />
erzählt Isa Daur. Die<br />
26-Jährige sagt das, weil sich nur so die<br />
Entstehungsgeschichte des Senders erfassen<br />
lässt: in Stunden. Eine Runde<br />
hatte der Zeiger auf der Uhr gedreht,<br />
da hatte der Sender schon einen Namen.<br />
Zwei Stunden später standen die<br />
ersten Social-Media-Kanäle, Instagram,<br />
Facebook, Youtube, Twitch,<br />
Twitter, LinkedIn war in Mache. Auch<br />
die Idee für das Logo war fertig, bevor<br />
der Morgen graute. Dabei hatten sich<br />
die sechs Medienschaffenden ursprünglich<br />
gar nicht getroffen, um einen neuen<br />
Sender zu gründen. „Wir wollten eigentlich<br />
nur ein Bierchen zusammen<br />
trinken“, erzählt Billon. „Und dann<br />
kam eins zum anderen.“<br />
Denn was machen sechs kreative<br />
Köpfe, wenn gerade nichts zu tun ist?<br />
Sie hecken das nächste Projekt aus.<br />
Und diesmal war sogar absehbar, dass<br />
sie die Zeit dazu finden würden, es auch<br />
umzusetzen. Noch gab es an jenem<br />
Gründungsabend, dem 12. März, zwar<br />
keine verschärften Regeln in Hamburg.<br />
Aber dass die Coronapandemie längst<br />
im Gange war, ließ sich nicht mehr<br />
übersehen. „Shutdown hier, Shutdown<br />
dort – das konnte man schon hochrechnen“,<br />
sagt Billon.<br />
Die Stadt lebt<br />
im Digitalen<br />
wieder auf.<br />
Wo das analoge Stadtleben erstarrte,<br />
würde One Hamburg es im Digitalen<br />
wieder aufleben lassen – das ist die Idee<br />
hinter dem Social-TV-Sender. Sie funktioniert<br />
bis heute: Musiker*innen spielen<br />
live vor den Kameras und erreichen<br />
so ihre Fans zu Hause, lokale Bars und<br />
Geschäfte führen das Fernsehpublikum<br />
durch ihre Räume und erzählen, was<br />
bei ihnen gerade los ist. Auch Kunsthalle,<br />
Museen und Theater luden zu<br />
49
Beweglich bleiben trotz<br />
Stubenhockerei:<br />
Yogastunden und Poetry-<br />
Slam halten Körper<br />
und Geist fit.<br />
„Hausbesuchen“ ein und konnten so<br />
auch hinter verschlossenen Türen von<br />
sich hören lassen. Zudem spinnt One<br />
Hamburg politische und gesellschaftliche<br />
Debatten weiter – sei es im interaktiven<br />
Gespräch mit dem Bürgermeister,<br />
sei es bei der feministischen Talkshow.<br />
One Hamburg versteht sich als Bindeglied<br />
zwischen denen, die helfen können<br />
und denen, die Hilfe brauchen.<br />
Letztere gibt es krisenbedingt noch<br />
mehr als sonst. Auch deshalb gibt es eine<br />
Sendung zum Thema Privatinsolvenz<br />
und lädt das Team die Sozialsenatorin<br />
Melanie Leonhard (SPD) zum<br />
Interview auf das graue Sofa ein. Fragen<br />
stellen dabei nicht nur die<br />
Moderator*innen, sondern auch die<br />
Zuschauer*innen, die über Laptop, Tablet<br />
oder Handy live dabei sind. Isa<br />
Daur und Maxime Billon erklären, wie<br />
das geht: Die Zuschauer*innen posten<br />
Kommentare auf Youtube, Facebook<br />
oder Twitter, die dann ins Studio geleitet<br />
werden. So kann die Moderatorin<br />
die Frage aufgreifen. Wenn der Gast<br />
darauf eingeht, erscheint auch die Frage<br />
auf dem Bildschirm. Auch das heißt<br />
„Social TV“ – alle sind Teil der Sendung,<br />
alle dürfen mitreden.<br />
Die Idee kommt gut an. Schon vor<br />
der ersten Sendung bekamen Daur, Billon<br />
und ihre Mitstreiter*innen Jan<br />
Traupe, Patrick Kosmala, Anton Geissmar<br />
und Kim Dormann Rückenwind<br />
aus der SocialMediaCommunity. Die<br />
Netzwerke, die sie mit ihren Firmen<br />
Geheimtipp Hamburg, Redpinata,<br />
Museumsbesuche,<br />
interaktive Debatten<br />
und Livekonzerte: One<br />
Hamburg macht vieles<br />
digital möglich, was in<br />
Coronazeiten lange<br />
vermisst wurde.<br />
Moodmacher+ und Ideedialog geknüpft<br />
hatten, zahlten sich aus:<br />
Freund*innen und Follower*innen<br />
machten das Medium in Windeseile bekannt,<br />
teilten die ersten Posts und bewarben<br />
die Sendungen schon, bevor sie<br />
im Netz ausgestrahlt wurden. Wo andere<br />
Projekte langsam Fahrt aufnehmen,<br />
One Hamburg<br />
spinnt gesellschaftliche<br />
Debatten weiter.<br />
legte One Hamburg einen Senkrechtstart<br />
hin.<br />
„Es kommt mir vor, als ob das alles<br />
schon drei Jahre her ist“, sagt Isa Daur.<br />
Sie überlegt kurz und kommt zu dem<br />
Schluss: „Wir haben uns bis jetzt alle jeden<br />
Tag gesehen.“ Auch am Wochenende.<br />
Denn in einer Zeit, in der der<br />
50<br />
Bildschirm für viele das Fenster zur<br />
Stadt darstellte, waren Sendepausen<br />
nicht vorgesehen. Anfangs hätten sie sogar<br />
rund um die Uhr live senden wollen,<br />
erzählt Daur. Ideen gab es genug,<br />
Personal auch – ihre PR und Produktionsfirmen<br />
hätten ohnehin erst einmal<br />
nichts anderes tun können. Worauf also<br />
warten?<br />
Der Aufschlag kam am 19. März,<br />
eine Woche nach dem Gründungstreffen:<br />
Kultursenator Carsten Brosda<br />
(SPD) stellte sich als erster Gast den<br />
Fragen von Kim Dormann, Jan Traupe<br />
und den Zuschauer*innen – seitdem ist<br />
One Hamburg fast täglich auf Sendung.<br />
Rückblickend kann Maxime Billon<br />
kaum glauben, dass alles so schnell<br />
ging. Das Interview mit dem Kultursenator<br />
sei so spontan entstanden, dass eine<br />
Stunde vor Drehbeginn nicht einmal<br />
die Technik stand. Ein Testlauf, so wie<br />
sie es sonst machen würden? Undenkbar.<br />
„Wir sind zum Verleiher gerannt,<br />
um noch ein fehlendes Kabel zu bekommen,<br />
haben es reingesteckt, hat
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Kunzt&Kult<br />
Die<br />
Großuhrwerkstatt<br />
Bent Borwitzky<br />
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funktioniert, im nächsten Moment<br />
kommt er rein“, erzählt Maxime. „Unter<br />
normalen Umständen hätte das so<br />
gar nicht funktionieren können.“<br />
Heute lässt das Team es etwas ruhiger<br />
angehen. Zum einen ist nun auch<br />
draußen wieder mehr los, viele genießen<br />
trotz Corona den Sommer und<br />
treffen wieder Freund*innen im analogen<br />
Leben. „Da braucht man nicht zu<br />
denken, dass die Leute alle zu Hause<br />
sitzen und wir vier Shows am Tag machen<br />
müssen“, sagt Daur.<br />
Zum anderen fehlt die Ausstattung<br />
für so ein Programm: Im Studio wurde<br />
eingebrochen, Kameras, Objektive und<br />
Sendetechnik ausgeräumt. Der Schaden<br />
liege bei mindestens 100.000 Euro,<br />
sagen die Macher*innen. Versicherungsschutz?<br />
„Wir haben leider noch<br />
keinerlei Feedback von den Versicherungen“,<br />
sagen sie.<br />
Seit Ende März läuft deshalb eine<br />
Crowdfunding-Aktion. Daur, Billon<br />
und ihre Kollegen bitten nun selbst um<br />
Unterstützung. Sie hoffen, zumindest<br />
einen Teil des Verlustes wieder wettmachen<br />
zu können, drehen mit geliehenem<br />
Material weiter und nutzen die<br />
zwangsläufig ruhigeren Zeiten für neue<br />
kreative Ideen.<br />
„Es ist auch eine Gelegenheit, zu<br />
reflektieren: Welche Formate wollen wir<br />
weiterentwickeln, was führen wir fort?“,<br />
sagt Isa Daur. „Einfach zu senden, um<br />
zu senden, das macht keinen Sinn.“<br />
Weitergehen soll es zum Beispiel<br />
mit Sendungen wie „Musik für Musik“,<br />
in denen aufstrebende Künstler*innen<br />
51<br />
auf der Dachterrasse des Clubs The<br />
Sultans Cube auftreten und erzählen,<br />
wie sie die Coronakrise erleben – ein<br />
Format, bei dem das Publikum direkt<br />
an die Künstler*innen spenden kann<br />
und das One Hamburg exklusiv ausstrahlt,<br />
bevor es auf Youtube landet.<br />
Auch bewährte Shows wie „Kein Gesabbel“,<br />
Wein- oder Schokotasting, Finanztalk<br />
und der Yogaflow sollen im<br />
Programm bleiben. Darüber hinaus<br />
plant das Team neue Formate. Welche,<br />
das wollen Isa Daur und Maxime Billon<br />
noch nicht verraten. Nur so viel: „Es<br />
wird gut.“ •<br />
Kontakt: annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />
Sendung verpasst?<br />
Unter www.one-hh.de stellt sich der<br />
Social-TV-Sender One Hamburg vor. Hier<br />
wird das aktuelle Liveprogramm angekündigt.<br />
Wer bei Tastings oder interaktiven<br />
Debatten mitmachen möchte, sollte also<br />
rechtzeitig einschalten. Anschließend<br />
kommt alles in die Mediathek, die<br />
beständig wächst: Jede Sendung, die bei<br />
One Hamburg ausgestrahlt wurde, ist im<br />
Nachhinein rund um die Uhr abrufbar.<br />
JETZT<br />
SPENDEN<br />
Hamburger Sparkasse<br />
IBAN: DE5620050550<br />
1280167873<br />
BIC: HASPDEHHXXX<br />
Freilichtmuseum am Kiekeberg.<br />
www.kiekeberg-museum.de<br />
Landlust vor<br />
den Toren Hamburgs<br />
in Hamburgs Süden,<br />
direkt an der A7, HH-Marmstorf<br />
kostenfreie Parkplätze
Kult<br />
Tipps für den<br />
Monat <strong>Juli</strong>:<br />
subjektiv und<br />
einladend<br />
Film<br />
„Black Lives Matter“ im Kino<br />
Auch Spike Lees Film „Do the Right Thing“ und „To Kill a Mocking Bird“<br />
von Robert Mulligan sind Teil der Filmreihe im Metropolis Kino.<br />
„Ich bin kein Nigger, ich bin ein Mann.<br />
Aber wenn ihr denkt, ich sei ein Nigger,<br />
dann heißt das: Ihr braucht das. Und<br />
ihr müsst euch fragen, warum.“ Diese<br />
Worte stammen von James Baldwin,<br />
Zeitgenosse und Weggefährte von Martin<br />
Luther King und Malcolm X. Der<br />
Dokumentarfilm „I Am Not Your<br />
Negro“ greift sie wieder auf und kommentiert<br />
mit Baldwins Texten die Geschichte<br />
der Unterdrückung von<br />
Schwarzen in den USA von der Sklavenhaltung<br />
bis heute. Der Film ist wieder<br />
einmal brandaktuell – und zu sehen<br />
im Metropolis Kino, das dem Thema<br />
unter dem Motto „Black Lives Matter“<br />
eine dreiteilige Reihe widmet. •<br />
Metropolis, Kleine Theaterstrasse 10, ab<br />
Mi, 1.7., fünf Termine, ab 19 Uhr/21.45<br />
Uhr, Eintritt 7,50/5 Euro, Programm unter<br />
www.metropoliskino.de<br />
52
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Kunzt&Kult<br />
Nur auf den<br />
ersten Blick<br />
niedlich: Die<br />
Bilder und<br />
Skulpturen<br />
des Künstlerduos<br />
Doppeldenk<br />
spielen<br />
mit verbreiteten<br />
Klischees.<br />
Ausstellung<br />
In Gedanken weit weg<br />
Sommer ohne Sommerurlaub? Um<br />
ihr Publikum zumindest visuell in die<br />
Ferne schweifen zu lassen, verlängert<br />
die Galerie VisuleX ihre Ausstellung<br />
„Sehnsuchtsorte“, bei der unterschiedliche<br />
Fotograf*innen ihre liebsten<br />
Reiseziele ins Bild bannen. •<br />
VisuleX, Loogestraße 6, den ganzen<br />
Monat, Mi–Fr, 15–18 Uhr, Sa,<br />
13–18 Uhr, Eintritt frei, www.visulex.net<br />
FOTOS: FILMSTILL „DO THE RIGHT THING“ (S. 52), DOPPELDENK (S. 53 OBEN), WEYDEMANN BROS. GMBH/MONIKA PLURA (S. 53 UNTEN)<br />
Ausstellung<br />
Bauklötze staunen<br />
Bunt und witzig sehen sie aus, die kubischen Figuren des Leipziger Künstlerduos<br />
Doppeldenk. Doch bei näherem Hinsehen haben es die Skulpturen und Gemälde<br />
in sich: ein lächelnder Gerichtsvollzieher mit zwitscherndem Kuckuck auf der<br />
Schulter? Ein aus Neonröhren geformter Polizeiwagen mit Ringelschwänzchen?<br />
Die Werke der Ausstellung „100 +1 Jahre Bauhaus“ konfrontieren das Publikum<br />
mit verbreiteten und privat gehegten Klischees. Im Stil greifen die beiden Künstler<br />
die Formensprache des Bauhaus auf. Das ist auch gut fürs Geschäft, wie sie<br />
selbstironisch anmerken: „Besser verdienen mit Bauhaus!“ lautet einer ihrer Slogans<br />
für die Ausstellung. •<br />
Affenfaust Galerie, Paul-Roosen-Straße 43, Mi–So, 14–18 Uhr, Eintritt frei,<br />
www.affenfaustgalerie.de<br />
Kinder<br />
Freundschaft mit Startschwierigkeiten<br />
Es läuft nicht gut für Ben: Weil sein Dorf für den Braunkohleabbau weggebaggert<br />
werden soll, zieht die Familie in die Stadt. Hier ist Ben das „Landei“, soll in der<br />
Fußballmannschaft Abwehr spielen statt Tore schießen und in der Klasse alleine<br />
sitzen – bis Tariq dazu kommt, dessen<br />
Familie aus Syrien geflüchtet<br />
ist. Jetzt gibt es zwei Jungs in der<br />
Klasse, die die Pause allein verbringen,<br />
jeder auf einer Tischtennisplatte<br />
hockend, in Gedanken bei<br />
den Freunden zu Hause. Erst langsam<br />
kapiert Ben, dass Tariq ein<br />
ziemlich dufter Typ ist. Sie werden<br />
Freunde – und „Brüder“, wie Tariq<br />
sagt. Denn als Ben hört, dass Tariqs<br />
echter Bruder noch auf der Flucht<br />
ist, will er helfen. Der Film „Zu<br />
weit weg“ erzählt von Gefühlen, die<br />
fast jedes Kind kennt. •<br />
Abaton Kino, Allendeplatz 3 / Ecke<br />
Grindelhof, ab Do, 2.7.,<br />
Eintritt 5,50 Euro, www.abaton.de<br />
In seiner alten Mannschaft war Ben der Torjäger –<br />
in der neuen soll er plötzlich Abwehr spielen.<br />
Literatur<br />
Mobile Momentaufnahmen<br />
Geschichte schreiben kann jede*r: In<br />
Winterhude, Barmbek und Langenhorn<br />
ist zu diesem Zweck ein<br />
Schreibmobil unterwegs. Wer das<br />
Lastenrad mit aufmontierter Schreibmaschine<br />
antrifft, kann Platz nehmen<br />
und in frei gewähltem Stil den Moment<br />
festhalten. So entsteht ein Stimmungsbild<br />
von Hamburg-Nord, in<br />
dem viele zu Wort kommen. •<br />
Schreibmobil „Moment mal“, unterwegs<br />
in Hamburg-Nord, den ganzen Monat,<br />
momentmal.jimdosite.com<br />
Ausstellung<br />
Queere Fluchtgeschichten<br />
„Fluchtursache: Liebe“ heißt eine<br />
neue Sonderausstellung im Auswanderermuseum<br />
Ballinstadt. Sie widmet<br />
sich den vielen Menschen, die flüchten<br />
müssen, weil sie wegen ihrer Liebe<br />
zum angeblich „falschen“ Geschlecht<br />
verfolgt und angegriffen werden. •<br />
Auswanderermuseum Ballinstadt,<br />
Veddeler Bogen 2, Mi–So, 10–16.30 Uhr,<br />
Eintritt 13/11 Euro, www.ballinstadt.de<br />
Digitalangebot<br />
Vom Sofa in die Elphi<br />
Die Elbphilharmonie gilt vielen als<br />
elitärer Musentempel. Doch was geht<br />
drinnen wirklich vor? In einem großen<br />
Digitalprogramm stellt das Haus<br />
sich und seine Künstler*innen vor<br />
und erklärt, wie der „Elbphilharmonie<br />
Hilfsfonds“ funktioniert. •<br />
Elbphilharmonie, jederzeit online unter<br />
www.elbphilharmonie.de/blog<br />
53
Ausstellung<br />
Über den Dächern der Welt<br />
Die Hamburger Künstlerin Jeannine<br />
Platz ist Fachfrau fürs große Panorama:<br />
Zuletzt fuhr sie zwecks Landschaftsmalerei<br />
mit einem Eisbrecher ins Nordpolarmeer<br />
und in die Antarktis. „Ich<br />
wollte auf einer Eisscholle am Nordpol<br />
sitzen und die Weite malen“, erklärte sie<br />
nach ihrer Rückkehr. Es war keine<br />
leichte Expedition: Ständig drohten<br />
ihre Farben einzufrieren, ein Eisbär<br />
machte sich an dem Malzeug zu schaffen,<br />
als die Künstlerin gerade ihren Posten<br />
verlassen hatte. Für die Produktion<br />
ihrer Ausstellung „Suite View“ wählte<br />
Jeannine Platz deutlich komfortablere<br />
Orte. In mehr als 30 Großstädten von<br />
Tokio bis Mexico City bezog sie Suiten<br />
von Hotels mit atemberaubendem Ausblick,<br />
breitete ihre Leinwand auf dem<br />
Boden aus und malte, was sie vor dem<br />
54<br />
Jeannine Platz benutzt zum Malen keine Pinsel,<br />
sondern meistens ihre Finger.<br />
Fenster sah: Skylines, das Meer, glitzernde<br />
Industrielandschaften bei Nacht.<br />
Auch der Hamburger Hafen kommt in<br />
der Ausstellung groß raus, Planten un<br />
Blomen, die Alster. Zu sehen ist die<br />
malerische Weltreise in der Hafencity. •<br />
Nissis Kunstkantine, Am Dalmannkai 6,<br />
täglich nach Terminabsprache unter<br />
0160- 93 816 783, Eintritt frei,<br />
www.nissis-kunstkantine.de
Kunzt&Kult<br />
Kinofilm des Monats<br />
Ohne Flosse,<br />
mit Fluch<br />
FOTOS: JULIA LÖWE (S. 54), MIKE AUERBACH / LISCHKE&KLANDT FILMPRODUKTION (S. 55 OBEN), PRIVAT.<br />
Film<br />
Träumen am Tresen<br />
Theater<br />
Sprechwerk spielt wieder live<br />
Während die großen Theater sich in<br />
die Spielpause verabschieden, nimmt<br />
das Sprechwerk die Herausforderung<br />
an, trotz Corona wieder live zu spielen.<br />
Unter Sicherheitsauflagen startet<br />
das Programm mit einer Verwechslungskomödie<br />
des britischen Dramatikers<br />
Ayckbourn: „Halbe Wahrheiten“<br />
handelt von zwei Paaren, die sich immer<br />
tiefer in gefühlte und tatsächliche<br />
Betrügereien verstricken, bis kaum<br />
noch erkennbar ist, wer eigentlich mit<br />
wem fremdgeht. Mit absurder Komik<br />
und schwarzem Humor geht es weiter,<br />
wenn am 24. <strong>Juli</strong> mit „Hetz Hetz“ die<br />
zweite Produktion des Sommers startet:<br />
Nadja Lutter und Lydia Laleike<br />
spielen zwei WG-Bewohnerinnen, die<br />
am Rande des Burn-outs ihr Leben zu<br />
optimieren versuchen. •<br />
Sprechwerk, Klaus-Groth-Straße 23,<br />
ab Fr, 17.7., 20 Uhr, Eintritt 22/<br />
12,80 Euro, www.sprechwerk.hamburg<br />
55<br />
Barkeeper, Kumpel, Fels in der<br />
Brandung: Lene ist die gute Seele<br />
in Klaus' kleiner Kiezkneipe.<br />
In einer Berliner Kiezkneipe pflegt Lene die Seelen ihrer Stammkundschaft.<br />
Doch auch die Barfrau hat Träume. Ihr größter: das Konzert des dänischen<br />
Musikers Leif, den sie in der kleinen Kneipe groß rausbringen will. Leider hält<br />
Barchef Klaus davon gar nichts. Lene muss sich entscheiden: Setzt sie sich durch<br />
und damit alles auf eine Karte? „Leif in Concert – Vol.2“ heißt der Film,<br />
obwohl er vor „Vol.1“ erscheint. Die Vorgeschichte soll später folgen. •<br />
Open Air Kino, Schanzenpark, Di, 21.7., 10 Euro<br />
Autokino<br />
Klassisches Dilemma<br />
Auf der Flucht nach Europa gerät<br />
das Boot, in dem Francis sitzt, in einen<br />
Sturm und droht zu sinken. Nur<br />
knapp überlebt der Flüchtende und<br />
schwört sich, von nun an ein guter<br />
Mensch zu sein. Doch in Deutschland<br />
angekommen stellt er fest: In<br />
einer Gesellschaft, die ihm kaum<br />
Schutz bietet, ist das nicht leicht. Der<br />
Film „Berlin Alexanderplatz“ spielt<br />
mit dem Dilemma des gleichnamigen<br />
Romans und ergänzt als Wegbegleiter<br />
die Figur Franz Biberkopf in die<br />
Handlung. Im <strong>Juli</strong> ist er auf dem<br />
Heiligengeistfeld zu sehen. •<br />
Autokino „Bewegte Zeiten“, Heiligengeistfeld,<br />
Mi, 15.7., 20 Uhr, Eintritt ab 18 Euro,<br />
www.zeise.de<br />
Über Tipps für August freut sich<br />
Annabel Trautwein. Bitte bis zum 10.7.<br />
schicken: redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Filme mit Nixen sind am Ende<br />
meist traurig. Denn solche<br />
Frauen lieben selten glücklich.<br />
Und wenn, dann eben<br />
nur kurz. Den ollen Mythos<br />
erzählt Filmemacher Christian<br />
Petzold modern in seinem<br />
Berlinale-Film „Undine“.<br />
Die gleichnamige Protagonistin<br />
hat zwar keine Flosse,<br />
hat es trotzdem aber auch<br />
nicht leicht. Nicht nur, dass<br />
es für die Historikerin mit<br />
den Männern bislang nicht<br />
so lief, sie musste diese, wenn<br />
sie fremdgegangen oder fortgelaufen<br />
sind, umbringen. So<br />
will es der Fluch. Und Undine<br />
immer weniger. Als kluge<br />
und moderne Frau hat sie<br />
nämlich für Flüche noch weniger<br />
übrig als für untreue<br />
Männer. Zumal ihr neuer –<br />
Christoph, ein Berufstaucher<br />
– sie tatsächlich von ganzem<br />
Herzen liebt. Der erfahrene<br />
Kinogucker ahnt es längst:<br />
Das Drama schleicht sich in<br />
den Film wie der Hai in den<br />
Sardinenschwarm. Denn<br />
tauchten beide gerade erst<br />
durch eine zauberhafte Unterwasserwelt,<br />
werden die<br />
Zeichen immer bedrohlicher.<br />
Als Christoph bemerkt, dass<br />
Undine ihm etwas verheimlicht,<br />
distanziert er sich von<br />
seiner großen Liebe. Undine<br />
muss sich entscheiden. Zum<br />
Glück darf das Kino endlich<br />
wieder, was es immer am besten<br />
konnte: in zauberhafte<br />
Welten entführen, Geschichten<br />
erzählen, das Herz berühren.<br />
Das Zeise Kino zeigt<br />
dieses moderne Märchen<br />
Anfang <strong>Juli</strong>. •<br />
André Schmidt<br />
geht seit<br />
Jahren für uns<br />
ins Kino.<br />
Er arbeitet in der<br />
PR-Branche.
Hamburger<br />
Geschichte(n)<br />
#4<br />
Kunzt&Kult<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />
Weil sie keine Läden betreiben durften, boten<br />
jüdische Händler*innen ihre Waren unter freiem<br />
Himmel an. In der heutigen Neanderstraße ist<br />
vom damaligen Trubel nichts mehr zu spüren.<br />
Der jüdische Markt<br />
in der Neustadt<br />
Prachtvolle Kaufmannsfassaden lassen vermuten, dass in der<br />
Neanderstraße einst reiche Leute lebten. Stimmt nicht –<br />
nur ist die Geschichte der Armen dort kaum noch zu sehen.<br />
Wer das Flair des alten Hamburgs liebt,<br />
kommt um die Neustadt nicht herum.<br />
Spurensucher Jürgen Jobsen wohnt sogar<br />
mittendrin. „Als ich zum ersten Mal<br />
herkam, dachte ich: ‚Dass es so etwas<br />
noch in Hamburg gibt!‘“, schwärmt der<br />
Hinz&Kunzt-Mitarbeiter beim Spaziergang<br />
durch die Neanderstraße und<br />
die Peterstraße, die von prächtigen<br />
Häuserfronten gesäumt werden. Dabei<br />
ist einiges hier sprichwörtlich Fassade.<br />
Erst in den 1960er-Jahren ließ der Stifter<br />
und Mäzen Alfred C. Toepfer die<br />
Kulisse entstehen, die Historiker*innen<br />
bisweilen als „Disneyland“ belächeln.<br />
Ästhet Jürgen stört das nicht. Immerhin<br />
imitierten Toepfers Bauleute die Fassaden<br />
von Kaufmannshäusern, die es an<br />
anderer Stelle tatsächlich einmal gab –<br />
bevor sie Ende des 19. Jahrhunderts<br />
planiert wurden, um Raum zu schaffen<br />
für den Freihafen. „Ich befürworte das<br />
inzwischen, dass man sich zumindest<br />
nach außen hin an das Alte hält“, sagt<br />
TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />
FOTOS: HAMBURG BILDARCHIV,<br />
ANDREAS HORNOFF<br />
Jürgen. „Besser als gar nichts.“ Was ihn<br />
dagegen massiv stört: Vor lauter Pracht<br />
ist kaum mehr etwas wiederzufinden<br />
von der tatsächlichen Geschichte des<br />
Viertels. Denn in und um die heutige<br />
Neanderstraße lebten vor allem arme<br />
Jüdinnen und Juden, die hier täglich<br />
Markt hielten. Diskriminierende Gesetze<br />
verboten ihnen, Ladengeschäfte zu<br />
führen – also wichen sie mit Handkarren<br />
und Ständen auf die Straße aus<br />
und verkauften, was sie verkaufen durften:<br />
Importware, gebrauchte Kleidung,<br />
Möbel und Bücher. „Hier hat jeden Tag<br />
das Leben stattgefunden“, sagt Jürgen.<br />
Der Markt war so beliebt, dass selbst<br />
nach Einführung der Gewerbefreiheit<br />
im Jahr 1846 noch auf den Straßen der<br />
Neustadt gefeilscht wurde. Erst 1925<br />
verbot die Polizei das quirlige Treiben.<br />
Begründung: zu viel Autoverkehr.<br />
Wer sich heute noch für die sogenannte<br />
Judenbörse interessiert, findet in<br />
den Straßen kaum Spuren. „Ich kenne<br />
hier keine Tafel, die darauf hinweist“,<br />
sagt Jürgen. Er selbst stieß zufällig beim<br />
Recherchieren auf den Markt, als er einem<br />
anderen Thema auf der Spur war.<br />
Dass über die jüdische Geschichte<br />
seiner Nachbarschaft hinweggetäuscht<br />
wird, macht Jürgen auch am Straßennamen<br />
fest: „Neanderstraße“ – ihm<br />
fällt dazu als erstes der Neandertaler<br />
ein. Sollte mit der Umbenennung 1948<br />
an den berühmten Urmenschen erinnert<br />
werden, dessen Knochen erstmals<br />
in Deutschland gefunden wurden? Andere<br />
Quellen führen den Namen auf<br />
einen Kirchenmann zurück: August<br />
Neander. Der 1789 geborene Sohn jüdischer<br />
Kaufleute ließ sich in Hamburg<br />
evangelisch taufen. „Ich finde das fragwürdig,<br />
die Straße nach einem Juden<br />
zu benennen, der zum Christentum<br />
konvertiert ist“, sagt Jürgen. Wenn<br />
schon ein neues Schild, dann hätte<br />
es seiner Meinung nach eine gut sichtbare<br />
Gedenktafel sein sollen – zur Erinnerung<br />
an die einfachen jüdischen<br />
Straßenhändler*innen. •<br />
Kontakt: annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />
Jürgen Jobsen (64)<br />
war früher<br />
Hinz&Künztler und<br />
arbeitet seit Jahren im<br />
Vertrieb.<br />
Rätselfrage:<br />
Wie hieß die Neanderstraße, als dort<br />
noch Markt gehalten wurde?<br />
Schreiben Sie uns (siehe rechts)!<br />
FOTOS: ANDREAS HORNOFF<br />
56
ai15928331517_<strong>Juli</strong>_<strong>329</strong>.pdf 1 22.06.20 15:39<br />
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Rätsel<br />
ILLUSTRATION (BLEISTIFT IM IMPRESSUM): BERND MÖLCK-TASSEL<br />
Kehrgeräteteil<br />
Blasmusiker<br />
männliches<br />
Schwein<br />
Zitterpappel<br />
Teil der<br />
Westkarpaten<br />
zwei sich<br />
innig Zugeneigte<br />
Leihwagen,<br />
Taxi<br />
leichter<br />
Wind über<br />
dem Meer<br />
griech.<br />
Göttin<br />
des<br />
Unheils<br />
römischer<br />
Kaiser<br />
(96–98)<br />
5<br />
7<br />
8<br />
1<br />
Internat.<br />
Bankkontonummer<br />
(Abk.)<br />
2<br />
2<br />
Gutachten<br />
Pflanzenfaser<br />
zum<br />
Binden u.<br />
Flechten<br />
10<br />
Seil zum<br />
Segelzusammenholen<br />
verbündete<br />
Mächte<br />
3<br />
7<br />
das<br />
Seiende<br />
(Philosophie)<br />
Lebewesen<br />
Gemahlin<br />
Lohengrins<br />
wertloses<br />
Zeug,<br />
Plunder<br />
Roman von<br />
Erich<br />
Kästner<br />
veraltet:<br />
Ablehnung<br />
Stadt am<br />
Solling<br />
fertig<br />
gekocht<br />
Ausstoß<br />
eines<br />
Kfz-<br />
Motors<br />
europ.<br />
Fußballverband<br />
(Abk.)<br />
ai15928334049_<strong>Juli</strong>_<strong>329</strong>_Sudoku.pdf 1 22.06.20 15:43<br />
6<br />
9<br />
1<br />
6<br />
2<br />
5<br />
1<br />
3<br />
2<br />
6<br />
6<br />
4<br />
5<br />
4<br />
3<br />
9<br />
1<br />
8<br />
2<br />
5<br />
4<br />
5<br />
6<br />
7<br />
9<br />
1<br />
Bewohner<br />
Trojas<br />
Reiseweg<br />
6<br />
AR0909-1219_5sudoku<br />
kurz für:<br />
an das<br />
Seevogel,<br />
Papageientaucher<br />
ital.,<br />
lateinisch:<br />
Meer<br />
schmaler<br />
Durchlass<br />
deutsche<br />
Spielkarte<br />
Saale-<br />
Zufluss<br />
Zahnfüllung<br />
zartes<br />
Fleisch<br />
von der<br />
Lende<br />
Stockung,<br />
Stillstand<br />
(Verkehr)<br />
rechter<br />
Nebenfluss<br />
der Rhône<br />
Strohunterlage<br />
Weltmacht<br />
(Abk.)<br />
Kurzwort<br />
für das<br />
Alphabet<br />
Eingabe,<br />
Forderung,<br />
Gesuch<br />
Strom<br />
zum Balchaschsee<br />
Feuerstelle,<br />
Kochstelle<br />
Fluss<br />
in Peru<br />
Füllen Sie das Gitter so<br />
aus, dass die Zahlen von<br />
1 bis 9 nur je einmal in<br />
jeder Reihe, in jeder<br />
Spalte und in jedem<br />
Neun-Kästchen-Block<br />
vorkommen.<br />
Als Lösung schicken<br />
Sie uns bitte die farbig<br />
gerahmte, unterste<br />
Zahlenreihe.<br />
Lösungen an: Hinz&Kunzt, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />
per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />
Einsendeschluss: 24. <strong>Juli</strong> <strong>2020</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />
Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel oder die Antwort<br />
auf die Preisfrage auf Seite 56 einsendet, kann zwei Karten für die<br />
Hamburger Kunsthalle oder eins von zwei Sachbüchern „Green New Deal“<br />
(Hamburger Editionen) von Ann Pettifor gewinnen. Die Antwort auf die<br />
Juni-Preisfrage lautete: Nemini male. Das Lösungswort beim Kreuzworträtsel<br />
war: Mitgefuehl. Die Sudoku-Zahlenreihe: 417 895 263.<br />
6<br />
8<br />
1<br />
4<br />
7<br />
1<br />
8<br />
9<br />
8<br />
9<br />
5<br />
10<br />
6<br />
12195 – raetselservice.de<br />
Impressum<br />
Redaktion und Verlag<br />
Hinz&Kunzt<br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />
Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg<br />
Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />
Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />
E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />
Herausgeber<br />
Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />
Externer Beirat<br />
Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />
Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />
Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />
Thomas Magold (BMW-Niederlassungsleiter i.R.),<br />
Karin Schmalriede (Lawaetz-Stiftung),<br />
Dr. Bernd-Georg Spies (Russell Reynolds),<br />
Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />
Geschäftsführung Jörn Sturm<br />
Redaktion Birgit Müller (bim; Chefredakteurin, V.i.S.d.P.),<br />
Annette Woywode (abi; Stellv., CvD), Jonas Füllner (jof),<br />
Lukas Gilbert (lg), Jochen Harberg (joc), Ulrich Jonas (ujo),<br />
Benjamin Laufer (bela), Misha Leuschen (leu), Annabel Trautwein (atw)<br />
Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />
Korrektorat Kristine Buchholz und Kerstin Weber<br />
Redaktionsassistenz Cedric Horbach,<br />
Marina Schünemann, Anja Steinfurth<br />
Artdirektion grafikdeerns.de<br />
Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />
Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />
Anzeigenvertretung Caroline Lange,<br />
Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, c.lange@wahring.de<br />
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 24 vom 1. Januar 2019<br />
Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Sigi Pachan,<br />
Jürgen Jobsen, Meike Lehmann, Sergej Machov,<br />
Frank Nawatzki, Elena Pacuraru, Reiner Rümke, Marcel Stein,<br />
Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn<br />
Spendenmarketing Gabriele Koch<br />
Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />
Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel<br />
Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />
Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />
Chris Schlapp, Harald Buchinger<br />
Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />
Stefan Calin, Gheorghe-R zvan Marior, Pawel Marek Nowak<br />
Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />
Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger, Klaus Peterstorfer,<br />
Herbert Kosecki, Torsten Wenzel<br />
Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />
Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />
Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />
Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />
Umschlag-Druck Neef+Stumme premium printing GmbH & Co. KG<br />
QR Code ist ein eingetragenes Warenzeichen von Denso Wave Incorporated<br />
Spendenkonto Hinz&Kunzt<br />
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Die Hinz&Kunzt gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />
Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />
des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer 17/414/00797, vom<br />
21.1.2019, für den letzten Veranlagungszeitraum 2017 nach § 5 Abs.1 Nr. 9<br />
des Körperschaftssteuergesetzes von der Körperschaftssteuer und nach<br />
§ 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />
Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&Kunzt ist als<br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister beim<br />
Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen.<br />
Wir bestätigen, dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&Kunzt<br />
einsetzen. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte<br />
weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />
www.hinzundkunzt.de. Hinz&Kunzt ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />
obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />
Das Magazin wird von Journalisten geschrieben, Wohnungslose und<br />
ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter<br />
unterstützen die Verkäufer.<br />
Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />
Gesellschafter<br />
Druckauflage 2. Quartal <strong>2020</strong>:<br />
Coronabedingt gab es im April<br />
und Mai keine gedruckte Ausgabe.<br />
Druckauflage im Juni: 60.000<br />
57
Momentaufnahme<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />
Als im Juni Tausende<br />
in Hamburg gegen<br />
Rassismus demonstriert<br />
haben, war Eugene dabei.<br />
„Keiner wird<br />
als Rassist geboren“<br />
Eugene (50) verkauft Hinz&Kunzt vor Rewe in der Max-Brauer-Allee.<br />
TEXT: JONAS FÜLLNER<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
Der brutale Polizeieinsatz, der Ende<br />
Mai zum Tod des Afroamerikaners<br />
George Floyd in Minneapolis (USA)<br />
führte, löste weltweit Proteste gegen<br />
Rassismus aus. Auch in Hamburg<br />
gingen am 6. Juni Tausende unter dem<br />
Motto „Black Lives Matter“ auf die<br />
Straße – „Schwarze Leben zählen“.<br />
Eugene war dabei. Der 50-Jährige<br />
ist einer der wenigen Schwarzen unter<br />
den Hinz&Kunzt-Verkäufer*innen.<br />
Ende 2016 stieß der gebürtige Nigerianer<br />
zu Hinz&Kunzt. Auch auf Hamburgs<br />
Straßen erlebt er immer wieder<br />
Ausgrenzung: „Die Charakterzüge des<br />
Polizeibeamten in Minneapolis findet<br />
man leider überall auf der Welt“, sagt<br />
Eu gene auf Englisch, seiner Heimatsprache,<br />
mit der er sich im Gespräch sicherer<br />
fühlt. „Ich bin viel gereist, habe<br />
in unterschiedlichen Ländern gelebt<br />
und muss sagen: ‚Rassismus ist ein weltweites<br />
Problem.‘“<br />
Deswegen begrüßt er die aufkeimenden<br />
Proteste. Sie geben ihm Hoffnung.<br />
„Noboby is born a racist“, sagt<br />
Eugene – keiner wird als Rassist geboren.<br />
„Bringt man ein schwarzes und ein<br />
weißes Baby zusammen, dann spielen<br />
und lachen sie. Erst die Gesellschaft<br />
und ihre Ausschlüsse führen dazu, dass<br />
Menschen sich hassen und ablehnen.“<br />
Oftmals müssten vor allem die leiden,<br />
die sowieso schon am Rande stehen.<br />
Eugene weiß, wovon er spricht:<br />
Noch vor vier Jahren lebte er in der<br />
Notunterkunft Pik As. Dann kam es zu<br />
einem Wendepunkt in seinem Leben:<br />
Mit rund 100 anderen Obdachlosen<br />
aus Hamburg durfte der gläubige<br />
Christ 2016 einer Einladung des Papstes<br />
nach Rom folgen. Unterwegs kam er<br />
in Kontakt mit Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter<br />
Stephan Karrenbauer, der ihm<br />
später einen Platz im damaligen<br />
Hinz&Kunzt-Winternotprogramm<br />
vermittelte.<br />
Für Eugene ein echter Neustart.<br />
Der einst erfolgreiche Geschäftsmann<br />
war tief gestürzt. Ursprünglich kam er<br />
vor bald zehn Jahren nach Europa, um<br />
sein Geld in der Bekleidungsbranche zu<br />
verdienen.<br />
Anfänglich lief es gut. In Athen<br />
hatte er eine eigene Boutique. Doch<br />
auf dem Höhepunkt der griechischen<br />
Finanzkrise Mitte der 2010er-Jahre<br />
geriet Eugene in eine finanzielle Schieflage<br />
und musste sein Geschäft aufgeben.<br />
Wie viele andere suchte er sein Glück in<br />
Deutschland. Aber er fand keine Arbeit,<br />
erkrankte zudem und endete als Asylbewerber<br />
ohne echte Perspektive.<br />
Erst die Romreise wendete sein<br />
Leben zum Positiven. Nach dem Ende<br />
des Hinz&Kunzt-Winternotprogramms<br />
fand er gar eine Wohnung und damit<br />
den Weg raus aus der Obdachlosigkeit.<br />
Während sich sein Leben unglaublich<br />
schnell veränderte, macht er sich<br />
bezogen auf die Gesellschaft keine Illusion.<br />
„Rassismus entstand nicht von<br />
einem Tag auf den anderen“, sagt<br />
Eugene. „Das Problem entwickelte<br />
sich über Generationen. Es wird lange<br />
dauern, um den Rassismus wieder aus<br />
den Köpfen der Menschen zu bekommen.“<br />
Trotzdem ist Eugene angesichts<br />
der Proteste optimistisch: „Wenn ich<br />
mich jetzt umschaue und sehe, was<br />
gerade passiert, dann muss ich sagen:<br />
‚Die Reise hat begonnen.‘“ •<br />
Kontakt: jonas.fuellner@hinzundkunzt.de<br />
Eugene und alle anderen Hinz&Künztler<br />
erkennt man am Verkaufsausweis.<br />
6318<br />
58
KUNZT-<br />
KOLLEKTION<br />
BESTELLEN SIE DIESE UND WEITERE PRODUKTE BEI: Hinz&Kunzt gGmbH,<br />
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von Hinz&Kunzt<br />
Ein kulinarisches Dankeschön an die<br />
Hamburger*innen mit 25 Drei-Gänge-Menüs<br />
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Niemand kennt<br />
Hamburgs<br />
Straßen besser<br />
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„Ein mittelschönes Leben“<br />
Eine Geschichte über Obdachlosigkeit<br />
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von Kirsten Boie, illustriert<br />
von Jutta Bauer, 7. Auflage 2017.<br />
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