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HUK 329 Juli 2020

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Das Hamburger<br />

Straßenmagazin<br />

Seit 1993<br />

N O <strong>329</strong><br />

<strong>Juli</strong>.20<br />

2,20 Euro<br />

Davon 1,10 Euro für<br />

unsere Verkäufer*innen<br />

Ich zeige dem<br />

Leben die Zähne!<br />

Wie Frank und andere Hinz&Künztler*innen<br />

ihren Neustart erleben.


Davon 1,10 Euro für<br />

unsere Verkäufer*innen<br />

1_HK326_47L 1 31.03.20 11:07<br />

Davon 1,10 Euro für<br />

unsere Verkäufer*innen<br />

1_HK323_47L 1 22.04.20 15:10<br />

Jetzt die<br />

Ausgaben von<br />

April und Mai<br />

digital lesen!<br />

SYSTEMIRRELEVANT.<br />

ABER ÜBERLEBENSWICHTIG.<br />

2,20 Euro<br />

DANKE<br />

allen, die jetzt<br />

für andere<br />

da sind!<br />

Das Hamburger<br />

Straßenmagazin<br />

Seit 1993<br />

N O 326<br />

Apr.20<br />

2,20 Euro<br />

Online-Ausgabe<br />

Hinz&Kunzt<br />

lesen und<br />

spenden<br />

www.hinzundkunzt.de<br />

Das Hamburger<br />

N<br />

Straßenmagazin<br />

O 327<br />

Mai.20<br />

Seit 1993<br />

Öffne open.cam in deinem Smartphone-Browser<br />

und scanne die<br />

Ausgabe, die du nachlesen möchtest.<br />

„Lasst euch<br />

nicht unterkriegen!“<br />

Was Kai und andere Hinz&Künztler*innen<br />

mit Corona erleben.<br />

Ich leb jetzt<br />

im Hotel<br />

Schutz vor Corona: Wie sich Reiners Leben<br />

von Grund auf geändert hat.<br />

powered by


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Inhalt<br />

Ein Anfang und ein Ende<br />

Einige Hinz&Künztler*innen waren richtig aufgeregt,<br />

als wir im Juni mit der gedruckten Ausgabe<br />

wieder auf die Straße zurückkehrten – und wir<br />

auch. Ob der Verkaufsplatz noch existiert? Ob sich<br />

die Kund*innen noch an sie erinnern würden?<br />

Aber die meisten wurden mit offenen Armen<br />

wieder aufgenommen. „Die Menschen haben sich<br />

richtig gefreut“, sagt Sonja (Seite 32) und strahlt.<br />

Mutig hatten wir 60.000 Exemplare gedruckt – und<br />

was wir nicht zu hoffen gewagt hatten: Wir waren<br />

schon vor Monatsende ausverkauft.<br />

Leserinnenpost:<br />

Der Artikel von Benjamin<br />

Laufer (rechts) über den<br />

geplanten Abriss der<br />

Sternbrücke brachte<br />

Erika Hahn dermaßen auf<br />

die Palme, dass sie direkt in<br />

die Tasten haute. Mit dem<br />

Neubauentwurf konnte sie<br />

sich so gar nicht anfreunden<br />

(„Monster!“), und so schrieb<br />

sie ihre Kindheitserinnerungen<br />

an die Sternbrücke<br />

auf (S. 16).<br />

Apropos Zahlen: Die Mehrwertsteuersenkung auf<br />

16 Prozent macht beim Kauf eines Magazins für die<br />

Hinz&Künztler*innen ein paar Cent aus. Die geben<br />

wir weiter: Jede Woche bekommen sie jetzt ein Heft,<br />

das sie normalerweise für 1,10 Euro kaufen, gratis.<br />

Ende Juni ging unser Corona-Hilfsprojekt zu<br />

Ende. 119 Obdachlose hatten wir drei Monate lang<br />

in Hotels untergebracht (Seite 6). Eine kleine Pause<br />

von der Straße mit großer Wirkung.<br />

Ihre Birgit Müller Chefredakteurin<br />

(Schreiben Sie uns doch an info@hinzundkunzt.de)<br />

TITELBILD: MAURICIO BUSTAMANTE; FOTO OBEN: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />

Inhalt<br />

Stadtgespräch<br />

04 Gut&Schön<br />

06 Zimmer mit Aussicht:<br />

Das Ende des Hotelprojekts<br />

12 Zahlen des Monats:<br />

E-Scooter in Hamburg<br />

18 Bürgerschaft:<br />

Die Sprecher*innen fürs Soziale<br />

24 Garten Eden für Insekten<br />

30 Hörwettbewerb: So klingt Vielfalt<br />

Mehr als witzig:<br />

Nico Semsrott<br />

verbindet Satire<br />

mit Politik – seit<br />

einem Jahr auch<br />

im Europaparlament<br />

(S. 40).<br />

Mehr als Grün: Wie Landwirte Insekten<br />

beim Überleben helfen können (S. 24).<br />

32 Dem Leben die Zähne zeigen:<br />

Hinz&Künztler*innen und Corona<br />

38 Verkaufsstart: Wir sind wieder da!<br />

Lebenslinien<br />

16 Erika Hahn wuchs neben der<br />

Sternbrücke auf<br />

40 Satiriker oder Politiker?<br />

Nico Semsrott ist beides<br />

Freunde<br />

44 Lius Masken aus China<br />

Kunzt&Kult<br />

48 One Hamburg macht Social-TV<br />

52 Tipps für den <strong>Juli</strong><br />

56 Hamburger Geschichte(n)<br />

58 Momentaufnahme<br />

Rubriken<br />

15, 17 Kolumnen<br />

14, 23 Meldungen<br />

46 Leser*innenbriefe<br />

57 Rätsel, Impressum<br />

Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk


Stadt gibt Zuschüsse<br />

Wohnen hinter Grün<br />

Hauswände voller Blauregen, Clematis, Kletterrosen:<br />

Seit 1. Juni unterstützt die Umweltbehörde<br />

Eigentümer*innen bei der Begrünung ihrer Immobilie.<br />

Wer für minimum 1000 Euro Fassadengrün<br />

anlegt, wird mit bis zu 40 Prozent des Kaufpreises<br />

unterstützt. 500.000 Euro sind im Topf. Ziel:<br />

Anpassung an den Klimawandel, Temperaturen<br />

abmildern, Luftfeuchtigkeit erhöhen. JOC<br />

•<br />

Infos: www.hamburg.de/gruendach


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Gut&Schön<br />

Klön-Bude im Pflegeheim<br />

Von Angesicht<br />

zu Angesicht<br />

Ulrich Bartels leitet das<br />

Pflegeheim „Haus Weinberg“<br />

FOTOS: PICTURE ALLIANCE / IMAGEBROKER | CHRISTIAN OHDE (S. 4), MAURICIO BUSTAMANTE (OBEN),<br />

IMAGO IMAGES / SVEN SIMON (UNTEN LINKS), PICTURE ALLIANCE/DPA | MARKUS SCHOLZ (UNTEN RECHTS), ULRIKE GROSSBONGARDT/DAS RAUHE HAUS (RECHTS)<br />

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg<br />

Leichte Töne in schweren Zeiten<br />

Ende Juni beschenkten Thomas Rohde (Oboe),<br />

Christian Seibold (Klarinette) und José Silva (Fagott)<br />

vom Philharmonischen Staatsorchester Hamburg<br />

Hinz&Kunzt mit einem ungewöhnlichen Innenhofkonzert.<br />

Etwa 30 Hinz&Künztler*innen und<br />

Nachbar*innen lauschten Werken von Mozart,<br />

Ibert und Debussy. JOF<br />

•<br />

Schöne Geste mit Kick<br />

Die deutsche Fußballnationalmannschaft<br />

der Männer unterstützt mit<br />

einem Betrag von einer Viertelmillion<br />

Euro Coronahilfen für Wohnungslose,<br />

deren Lebensumstände<br />

sich durch die Pandemie nochmals<br />

erschwert haben. Mit dem Geld, das<br />

an die „Bundesarbeitsgemeinschaft<br />

Wohnungslosenhilfe“ gegangen ist,<br />

kann nicht nur im Alltag geholfen<br />

werden, gefördert wird auch der<br />

Infektionsschutz für die Betroffenen<br />

– selbst die Anmietung von Wohnraum<br />

ist denkbar. JOC<br />

•<br />

5<br />

Hamburgs Stolz: der CSD<br />

„Keep on fighting. Together!“ Das<br />

wäre das Motto gewesen für die diesjährigen<br />

Festivitäten von „Hamburg<br />

Pride“, in deren Rahmen auch der<br />

Christopher Street Day in Hamburg<br />

sein 40-jähriges Jubiläum gefeiert<br />

hätte. Coronagerechte Alternativen<br />

wie etwa eine Fahrraddemo werden<br />

geprüft, Onlineformate wie Talkshows<br />

oder Fotoausstellungen laufen<br />

schon an oder sind in Arbeit.<br />

Aktuelle Infos gibt es im <strong>Juli</strong> auf der<br />

Homepage •<br />

JOC<br />

Infos: www.hamburg-pride.de<br />

Ulrich Bartels ist begeistert.<br />

„Wenn man die Maske gefahrlos<br />

runternehmen kann,<br />

dann merkt man erst: Das ist<br />

ein Unterschied wie Tag und<br />

Nacht,“ sagt der Diakon und<br />

Leiter des Senioren- und Pflegeheims<br />

„Haus Weinberg“<br />

am Rauhen Haus. In der<br />

hauseigenen innovativen<br />

„Klön-Bude“ wird den<br />

Heimbewohner*innen nämlich<br />

auch in Zeiten von Corona<br />

ein unverhüllter Kontakt<br />

zu ihren Verwandten und<br />

Freund*innen ermöglicht.<br />

Das Prinzip ist so einfach<br />

wie erfolgreich: Direkt vor<br />

dem Heim wurde im Garten<br />

eine Hütte mit zwei Eingängen<br />

errichtet, die durch eine<br />

Plexiglasscheibe in zwei Bereiche<br />

getrennt ist. Darin klönen<br />

auf der einen Seite die<br />

Heimbewohner*innen, auf<br />

der anderen die Angehörigen<br />

– beidseits unmaskiert, weil<br />

virustechnisch ungefährlich!<br />

„Etwa der eigenen Mutter unmittelbar<br />

ins Gesicht schauen<br />

zu können, ist unheimlich entlastend“,<br />

hat Bartels gelernt.<br />

Das am 7. Mai gestartete<br />

Angebot ist zunächst auf 100<br />

Tage ausgelegt, über eine Verlängerung<br />

und weitere<br />

Finanzierung der angemieteten<br />

Klön-Bude wird aber aktuell<br />

im Rauhen Haus bereits<br />

nachgedacht. JOC •<br />

Infos und Fotos von der Bude:<br />

www.huklink.de/kloenbude


Heiner sagt von sich,<br />

dass er pflegeleicht sei<br />

und auch in einer WG leben<br />

könnte. Wie es für ihn<br />

weitergeht, weiß der<br />

60-Jährige noch nicht.


Zimmer mit<br />

Aussicht<br />

Um sie vor Corona zu schützen, waren<br />

170 Obdachlose drei Monate lang in Hotels<br />

untergebracht – auf Wunsch in Einzelzimmern.<br />

Organisiert hatten das die Tagesaufenthaltsstätte<br />

Alimaus, die Diakonie und Hinz&Kunzt. Ende Juni<br />

musste das Projekt beendet werden, denn<br />

die Spenden waren aufgebraucht.<br />

TEXT: BIRGIT MÜLLER<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE,<br />

ANDREAS HORNOFF


Wir würden uns mehr<br />

Gäste wie euch wünschen“,<br />

sagt Lisa Wobst<br />

vom Bedpark am Ende<br />

unseres Projekts, Obdachlose in Zeiten<br />

von Corona im Hotel unterzubringen.<br />

„Die meisten sind höflich, wissen, wie<br />

sie sich verhalten sollten und was sie lassen<br />

sollten.“ Auch Michael Funk, unter<br />

anderem Betreiber von My Bed in Bergedorf,<br />

findet für seine Hotelgäste nur<br />

Superlative: „Sehr toll, sehr positiv, super!“<br />

Das sehen auch seine Kund*innen<br />

so: „Es gibt sogar viele, die Geld spenden<br />

wollen, damit die Obdachlosen<br />

nicht wieder auf die Straße müssen.“<br />

Mit so viel Überschwänglichkeit<br />

war nicht zu rechnen, als wir vor drei<br />

Monaten starteten. Damals hatten die<br />

Tagesaufenthaltsstätte Alimaus, die<br />

Dia konie und Hinz&Kunzt von der<br />

Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH<br />

eine Großspende bekommen – um Obdachlose<br />

vor Corona in Sicherheit zu<br />

bringen.<br />

Und das ging so: Straßensozialarbeiter<br />

fragten Obdachlose, ob sie vorübergehend<br />

ein Einzelzimmer haben wollten.<br />

Und Menschen, die vorher keine Notunterkunft<br />

annehmen wollten und<br />

konnten, haben begeistert Ja gesagt. Alle,<br />

die in der Wohnungslosenhilfe arbeiten,<br />

wissen, was gemeint ist – und der<br />

8<br />

ein oder andere empathische Laie vermutlich<br />

auch. „Jeder Obdachlose ist<br />

permanent in einer Krise – und bräuchte<br />

dringend Privatsphäre“, sagt unser<br />

Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer.<br />

„Und sich dann in einer großen Unterkunft<br />

permanent mit 100 Leuten und<br />

mehr auseinanderzusetzen, die diesel-


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Artur (links) kam nicht nur zur Ruhe:<br />

Mit anderen Obdachlosen hat er den<br />

Garten im Bedpark verschönert.<br />

Gerade ist im Gespräch, dass er und<br />

Krzysztof (nicht im Bild) weiterhin im<br />

Hotel leben können – als Hausmeister.<br />

Unten: Für Daniel, Anja und Hund Kiwi<br />

hat Hotelbesitzer Michael Funk Sponsoren<br />

gefunden – sie dürfen länger bleiben.<br />

weicher ist Daniel geworden und zugänglicher.<br />

Das liegt natürlich daran,<br />

dass er nicht mehr trinkt. Aber auch daran,<br />

dass er zur Ruhe kommt und Bergedorf<br />

„etwas ländlicher“ ist. Oft machen<br />

die drei Ausflüge. Dass er sich<br />

ständig mit Leuten anlegt, sieht Daniel<br />

heute viel kritischer. „Ich bin zu abgestumpft“,<br />

sagt er und schüttelt etwas betreten<br />

den Kopf über sich selbst.<br />

Krzysztof: Der Pole ist seit vielen<br />

Jahren in Deutschland, hat viel gearbeitet,<br />

aber immer schwarz. Er trinkt mehr<br />

Alkohol, als ihm guttut, aber im Bedpark<br />

hat er zusammen mit einem anderen<br />

polnischen Obdachlosen angefangen,<br />

den Garten zu machen. „Um<br />

etwas zurückzugeben“, sagt er in gebrochenem<br />

Deutsch. Ganz ähnlich ist es<br />

bei Artur. Er hat nicht nur die Sache<br />

mit dem Garten initiiert, „um Danke zu<br />

sagen“, er hat auch wieder angefangen<br />

zu malen. Und er erzählt, dass er aus eiben<br />

Probleme haben, überfordert viele<br />

Menschen.“<br />

Mitkommen durften alle, ohne Ansehen<br />

der Person: egal, ob sie psychisch<br />

krank, alkohol­ oder drogenkrank sind,<br />

ob sie Hilfe vom Staat bekommen oder<br />

nicht, ob sie Papiere hatten oder nicht.<br />

Wichtig war nur: Sie hatten Kontakt zu<br />

Immer gastfreundlich:<br />

Myléne Delattre und<br />

Lisa Wobst vom Bedpark<br />

mit Hinz&Kunzt-<br />

Sozialarbeiter<br />

Stephan Karrenbauer.<br />

Rainer hat endlich die<br />

Kraft gehabt, Hartz IV<br />

zu beantragen. Er<br />

wohnt jetzt in einem<br />

Wohncontainer.<br />

Straßensozialarbeiter*innen. Er oder<br />

sie checkte die Gäste ins Hotel ein und<br />

blieb auch weiterhin Ansprechpartner*in.<br />

Es waren am Ende 170<br />

Menschen.<br />

Und das erwartete die Obdachlosen:<br />

Gastgeber*innen, die sich auf sie<br />

freuten und sie willkommen hießen. Ein<br />

9<br />

Einzelzimmer mit Bad, frischer Bettwäsche<br />

und einem Fernseher. Ein Schlüssel<br />

und die Möglichkeit, zu kommen<br />

und zu gehen, wann sie wollten.<br />

Sozialarbeiter*innen, die stundenweise<br />

für sie da waren.<br />

Selbst die Sozialarbeiter*innen waren<br />

erstaunt, wie schnell sich die Menschen<br />

erholten. Bei vielen passierte<br />

richtig etwas und einige haben jetzt<br />

mehr Power, ihr Leben anzugehen.<br />

Daniel beispielsweise. Der 37­jährige<br />

Hinz&Künztler lebt seit Jahren auf<br />

der Straße und hat einen riesigen Schäferhund.<br />

Daniel wird schnell aggressiv<br />

und legt sich auch gerne an. (Er hat übrigens<br />

erlaubt, dass ich das schreibe.)<br />

Kurz vor Corona hörten er und seine<br />

Freundin Anja (53) auf zu trinken – und<br />

sie durften sogar mit Hund im Hotel<br />

My Bed in Bergedorf einchecken. Viel<br />

Mitkommen<br />

durften alle, ohne<br />

Ansehen der<br />

Person.


ner Künstlerfamilie stammt und fünf<br />

Jahre die Kunsthochschule besuchte.<br />

Weil er nicht wusste, wie er sich durchschlagen<br />

sollte, ging er nach Deutschland,<br />

um zu arbeiten … und strandete.<br />

Hans (Name geändert): Seit geraumer Zeit<br />

dachte er, er hätte Darmkrebs. Er hatte<br />

ständig Schmerzen und konnte nicht<br />

10<br />

mehr aufs Klo. Beim Arzt war er nicht.<br />

Im Hotel hatte er seine eigene Toilette,<br />

das entspannte ihn wohl so, dass sich<br />

seine Verdauung wieder normalisierte<br />

und er keine Schmerzen mehr hat.<br />

Während es für unsereins völlig normal<br />

ist, jederzeit aufs Klo gehen zu können,<br />

war das für Hans in öffentlichen Einrichtungen<br />

immer eine Tortur, weil er<br />

auf dem sogenannten stillen Örtchen<br />

nie seine Ruhe hatte und ständig jemand<br />

gegen die Tür wummerte.<br />

Oder Rainer: Er fand auf der Straße<br />

keine Kraft, Hartz IV zu beantragen.<br />

Zwar war er im engen Austausch<br />

mit „seinem“ Straßensozialarbeiter,


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Gruppenbild mit Hund Kiwi<br />

(von links): Daniel, Anja,<br />

Jan, Michael Funk, der Inhaber<br />

von My Bed in Bergedorf,<br />

und die Straßensozialarbeiter<br />

<strong>Juli</strong>en Thiele<br />

(Caritas) und Johan<br />

Graßhoff (Diakonie).<br />

Beratung in lockerer Atmosphäre<br />

(Foto links): Krzysztof<br />

mit Hinz&Kunzt-<br />

Sozialarbeiter Jonas<br />

Gengnagel.<br />

Sven genießt es, wann immer<br />

er will, sich zu duschen<br />

und seine Hemden<br />

zu waschen. Er zieht vom<br />

Hotel in ein Wohnprojekt.<br />

Stadtgespräch<br />

wollte sich aber „nicht mit den Ämtern<br />

herumschlagen“. Schon nach kurzer<br />

Zeit im Hotel war für den 57-Jährigen<br />

klar: „Ich will nicht mehr auf die Straße<br />

zurück.“ Er bezieht jetzt Hartz IV und<br />

ist schon in einen Wohncontainer umgezogen.<br />

Wichtig war dabei für ihn:<br />

„Ich brauche ein Zimmer für mich allein<br />

– und es dürfen nicht zu viele Menschen<br />

mit Problemen sein, die dort<br />

wohnen.“ Aber genau das ist jetzt die<br />

Perspektive für die meisten, selbst wenn<br />

sich der städtische Unterkunftsbetreiber<br />

fördern und wohnen nun bemüht, einigen<br />

Obdachlosen eine Anschlussperspektive<br />

zu bieten: Angebote gibt es<br />

meist nur in großen Unterkünften und<br />

in Mehrbettzimmern.<br />

Natürlich ist auch ein Hotel keine<br />

Dauerlösung, aber es wäre schön, man<br />

könnte Bedingungen, wie sie im Hotel<br />

gegeben sind, so lange fortführen, bis<br />

alle einen Ort gefunden haben, an dem<br />

sie bleiben können.<br />

Es liegt am Geld, dass wir Ende Juni<br />

Schluss machen mussten. Die Großspenden<br />

sind aufgebraucht – trotz<br />

mehrfachen „Nachschlags“ von der Firma<br />

Reemtsma, Reemtsma-<br />

Mitarbeiter*innen sowie weiteren Stiftungen.<br />

Aber es gibt viele gute<br />

Nachrichten. Keine*r hat eine Corona-<br />

Infektion. Mehr noch: „Das Projekt hat<br />

in eindrucksvoller Weise gezeigt, dass<br />

die Forderung Housing First richtig ist“,<br />

sagt Dr. Kai Greve, stellvertretender<br />

Vorstandsvorsitzender der Alimaus.<br />

„Eine unglaubliche Erfolgsgeschichte!“<br />

In dieser kurzen Zeit haben immerhin<br />

fünf Menschen wieder einen sozialversicherungspflichtigen<br />

Job gefunden und<br />

sechs eine Unterkunft.<br />

Aber machen wir uns nichts vor:<br />

Die Mehrheit der Obdachlosen muss<br />

zurück auf die Straße. Vielleicht mit<br />

mehr Energie und Hoffnung als vorher.<br />

Die Initiatoren hoffen, „dass wir aus<br />

den Erfahrungen, die wir gemacht haben,<br />

Kraft und Ideen für die Zukunft<br />

schöpfen“, so Stephan Karrenbauer.<br />

Mindestens genauso wichtig ist aber,<br />

dass das Hotelprojekt Signalwirkung<br />

entfaltet. „Die Einzelunterbringung ist<br />

weder kosten- noch personalintensiv, es<br />

braucht keinen Sicherheitsdienst und<br />

sie gelingt dank guter sozialarbeiterischer<br />

Betreuung“, sagt Dirk Ahrens,<br />

Dia koniechef und Herausgeber von<br />

Hinz&Kunzt. Und was besonders wichtig<br />

ist: „Wir konnten Menschen erreichen,<br />

die sonst durch das Raster der<br />

städtischen Angebote fallen.“ •<br />

Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de<br />

ANKER<br />

DES<br />

LEBENS<br />

Hinz&Kunzt bietet obdachlosen<br />

Menschen Halt. Eine Art<br />

Anker für diejenigen, deren<br />

Leben aus dem Ruder<br />

gelaufen ist. Möchten Sie<br />

uns dabei unterstützen und<br />

gleichzeitig den Menschen,<br />

die bei Hinz&Kunzt Heimat und<br />

Arbeit gefunden haben, helfen?<br />

Dann hinterlassen Sie etwas<br />

Bleibendes – berücksichtigen<br />

Sie uns in Ihrem Testament! Als<br />

Testamentsspender wird Ihr<br />

Name auf Wunsch auf unserem<br />

Gedenk-Anker in der Hafencity<br />

graviert. Ein maritimes Symbol<br />

für den Halt, den Sie den<br />

sozial Benachteiligten mit Ihrer<br />

Spende geben.<br />

Wünschen Sie ein<br />

persönliches Gespräch?<br />

Kontaktieren Sie unseren<br />

Geschäfts führer Jörn Sturm.<br />

Tel.: 040/32 10 84 03<br />

oder Mail: joern.sturm@hinzundkunzt.de<br />

11


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Zahlen des Monats<br />

E-Scooter in Hamburg<br />

Zukunftsmodell<br />

oder Zumutung?<br />

3900<br />

E-Scooter stehen derzeit wieder auf Hamburgs Straßen zur Ausleihe bereit. Nach dem<br />

Start vergangenen Sommer hatten Verleihfirmen bis zu 4500 Elektroroller in Hamburg angeboten.<br />

Im Zuge der Coronapandemie stellten dann fast alle Anbieter ihre Dienste vorübergehend ein.<br />

Im Durchschnitt legte ein*e E-Scooter-Fahrer*in im Mai 2,9 Kilometer zurück und nutzte<br />

das umstrittene Gefährt knapp zehn Minuten, so die Wirtschaftsbehörde. Sie bekommt von den<br />

Verleihfirmen regelmäßig Daten übermittelt. Demnach wird ein Elektroroller im Schnitt 2,2-mal pro<br />

Tag genutzt, insgesamt kamen im Mai 71.720 Fahrten zusammen. Vor der Pandemie lag der<br />

Spitzenwert bei 295.000 Fahrten innerhalb eines Monats (September 2019).<br />

Ob das neue Verkehrsmittel der Umwelt mehr nützt oder schadet, ist ungewiss.<br />

„Aus Umweltsicht wäre es positiv, wenn der E-Scooter den Umstieg vom Pkw auf den ÖPNV<br />

erleichtert und die ,letzte Meile‘ mithilfe des Rollers zurückgelegt wird“, erklärte die Wirtschaftsbehörde<br />

gegenüber Hinz&Kunzt. Erkenntnisse hierzu liegen aber nicht vor. Allerdings hat der Einzug der<br />

Elektroroller womöglich dazu geführt, dass weniger Menschen aufs Leihfahrrad steigen:<br />

Zählte „StadtRAD“ im <strong>Juli</strong> 2018 noch 353.000 Ausleihvorgänge, waren es ein Jahr später nur<br />

303.000 – also satte 50.000 weniger. Im August 2019 lag das Minus bei 9000, im September<br />

bei 30.000, so der Senat in der Antwort auf eine Bürgerschaftsanfrage der Linken.<br />

Zwar stellen die Anbieter zunehmend auf Roller um, deren Akkus sich austauschen lassen.<br />

Doch ist deren Lebensdauer ebenso begrenzt wie die der Fahrzeuge. Seriöse Zahlen<br />

dazu gibt es nicht. Untersuchungen sprechen laut Umweltbundesamt von ein bis drei Monaten,<br />

Verleiher hingegen gehen bei neuen Modellen von mehr als zwölf Monaten aus. Problematisch sind vor<br />

allem die Akkus: Sie enthalten Rohstoffe wie Kobalt oder Lithium, bei deren Abbau oft Umwelt- und<br />

Menschenrechte verletzt werden.<br />

Nach dem Start des neuen Geschäftsmodells hatten Medien wiederholt über miese Lohn- und<br />

Arbeitsbedingungen der Menschen berichtet, die die Fahrzeuge einsammeln und aufladen. Die Anbieter<br />

Tier und Floatility erklärten auf Nachfrage, sie beschäftigten ausschließlich eigene Mitarbeiter*innen<br />

und bezahlten diese mit einem Festgehalt „über Mindestlohn“. Entlassungen infolge der Pandemie habe<br />

es nicht gegeben. Voi setzt nach eigenen Angaben auf „erfahrene Logistikunternehmen oder eigene<br />

Mitarbeiter“, äußerte sich zur Bezahlung aber nicht. Lime und Bird teilten mit, sie würden mittlerweile<br />

mit Subunternehmen zusammenarbeiten, die das Einsammeln, Laden und Verteilen der E-Roller<br />

erledigen. Wie die Dienstleister ihre Mitarbeiter*innen entlohnen, ließen die Firmensprecher offen. •<br />

TEXT: ULRICH JONAS<br />

ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />

13


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />

Meldungen (1)<br />

Politik & Soziales<br />

Kater Bob hat dem früheren Obdachlosen James<br />

sozusagen das Leben gerettet. Das Buch und der<br />

Film haben vielen geholfen, ihre eigenen Probleme<br />

zu lösen. Im Juni ist Bob mit 14 Jahren verstorben.<br />

Koalitionsvertrag<br />

Rot-Grün für Lieferkettengesetz<br />

Hamburgs SPD und Grüne wollen<br />

sich für ein Lieferkettengesetz stark<br />

machen. Das legten sie im Koalitionsvertrag<br />

fest. Es soll Unternehmen<br />

verpflichten, Menschenrechte und<br />

Umweltstandards zu beachten – auch<br />

im Ausland. Die Firmen wären dann<br />

etwa dafür verantwortlich, dass faire<br />

Löhne gezahlt und Höchstarbeitszeiten<br />

eingehalten werden. Die Diskussion<br />

eines Gesetzentwurfs aus Arbeitsund<br />

Entwicklungsministerium wird<br />

derzeit durch Widerstände von<br />

Wirtschaftsverbänden blockiert. LG<br />

•<br />

Zur Petition: www.lieferkettengesetz.de<br />

Studie des Gymnasiums Ohmoor<br />

Mieten steigen in Hamburg weiter an<br />

Um durchschnittlich 1,6 Prozent sind neu vermietete Wohnungen im Vergleich<br />

zum Vorjahr teurer geworden. Das haben Schüler*innen des Gymnasiums Ohmoor<br />

errechnet. Lag die Miete einer neu über Immobilienportale vermieteten<br />

Wohnung in Hamburg 2019 im Schnitt bei 13,24 Euro pro Quadratmeter, beträgt<br />

sie nun 13,45 Euro – 55,31 Prozent mehr als der Durchschnittswert des Mietenspiegels<br />

(8,66 Euro). Seit Mitte der 1980er-Jahre wertet die Schule einmal jährlich<br />

mehrere Tausend Inserate aus. Die Analysen zeigten, „dass die Neuvertragsmieten<br />

trotz des Wohnungsneubaus, der Mietpreisbremse und diverser Mieterschutzbestimmungen<br />

in der Zeit von 2000 bis <strong>2020</strong> fast doppelt so schnell gestiegen sind<br />

wie die Inflationsrate“, so Mietervereins-Chef Siegmund Chychla. UJO<br />

•<br />

Aus griechischen Lagern<br />

234 Flüchtlinge aufgenommen<br />

Deutschland nimmt nach langer Debatte<br />

243 Kinder und ihre Angehörigen<br />

aus griechischen Flüchtlingslagern<br />

auf. Die Diakonie begrüßte den<br />

Beschluss der Innenminister*innen<br />

und forderte mehr Engagement: „Mit<br />

diesen Zahlen wird weder den über<br />

40.000 Menschen, die aktuell in den<br />

griechischen Lagern leben, noch<br />

Griechenland selbst spürbar geholfen“,<br />

sagt Präsident Ulrich Lilie. UJO<br />

•<br />

War es ein Obdachloser?<br />

Weltberühmter Kater<br />

Leiche fünf Jahre unentdeckt Bob, der Streuner, ist tot<br />

Das Skelett eines Mannes hat eine Der berühmte Wegbegleiter des ehemaligen<br />

Obdachlosen James Bowen<br />

Spaziergängerin im Juni auf der Veddel<br />

in einem Zelt gefunden. Der Tote ist Mitte Juni verstorben. 2007 hatte<br />

lag wohl fünf Jahre lang unentdeckt der damals drogenkranke und vormals<br />

obdachlose James den Kater<br />

in einem Wäldchen an der Autobahn.<br />

Daneben fand die Polizei auch einen Bob verletzt und verwahrlost gefunden.<br />

Mit seiner Hilfe gelang es James<br />

Behandlungsbogen des Zahnmobils,<br />

das sich um Obdachlose kümmert – dann, seine Suchtprobleme zu überwinden.<br />

Später schrieb er die Ge-<br />

jedoch ohne Namen. Die Identität<br />

des 40 bis 60 Jahre alten Mannes soll schichte auf und landete damit einen<br />

mithilfe des Zahnschemas ermittelt Bestseller, der sogar verfilmt wurde.<br />

werden. Hinweise auf einen gewaltsamen<br />

Tod gibt es nicht. UJO<br />

2019 waren James und Bob zu Gast<br />

•<br />

bei Hinz&Kunzt. LG<br />

•<br />

Mittelmeer<br />

Bund erschwert Seenotrettung<br />

Der Bund hat neue Regeln für Schiffe<br />

eingeführt, die zur Seenotrettung eingesetzt<br />

werden. Kleinere Rettungsboote<br />

können nun nicht mehr als<br />

Sportboot registriert werden – angeblich<br />

aus Sicherheitsgründen. Seenotrettungsorganisationen<br />

halten das für<br />

vorgeschoben und beklagen eine<br />

„perfide Sabotage“ ihrer Arbeit. Wegen<br />

der neuen Sicherheitsanforderungen<br />

könnten die Schiffe bis auf<br />

Weiteres nicht auslaufen, so dieHamburger<br />

NGO „Resqship“. BELA<br />

•<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

14


Folgen der Coronapandemie I<br />

Tafeln beobachten „neue Form der<br />

Hilfsbedürftigkeit“<br />

Die Tafeln schlagen Alarm: „Es kommen vermehrt jüngere<br />

Menschen, die bis vor Kurzem überhaupt nicht auf die Tafeln<br />

angewiesen waren und nun vor Erleichterung weinen, weil sie<br />

etwas zu essen bekommen“, erklärte Jochen Brühl, Vorsitzender<br />

des Dachverbands Tafel Deutschland. Gleichzeitig blieben<br />

vor allem Ältere aus Angst vor Ansteckung fern: „Es gelingt<br />

uns momentan nicht, alle Menschen zu erreichen, die eigentlich<br />

unsere Unterstützung benötigen.“ Mitte Juni waren noch<br />

120 der bundesweit 949 Tafeln geschlossen. In Hamburg<br />

nähere man sich langsam einem „Normalbetrieb“ an, hieß es.<br />

Es mangele aber an Grundnahrungsmittel-Spenden wie Reis<br />

oder Nudeln. UJO<br />

•<br />

Mehr Infos unter www.hamburger-tafel.de<br />

Folgen der Coronapandemie II<br />

Konjunkturpaket: Diakonie fordert<br />

Nachbesserungen<br />

Insgesamt positiv, aber mit Verbesserungsbedarf: So schätzt die<br />

Diakonie das jüngste Konjunkturpaket der Bundesregierung<br />

ein. „Für Familien, die Anspruch auf Leistungen nach dem<br />

Bildungs- und Teilhabepaket haben, muss mehr getan werden,<br />

um verminderte Notfallhilfen, fehlende Sonderangebote sowie<br />

Zusatzkosten, wie beispielsweise im Homeschooling, auszugleichen“,<br />

sagte Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik der Diakonie.<br />

Ihr Vorschlag: monatlich 80 Euro pro Kind zusätzlich.<br />

Zudem müssten Computer zur Verfügung gestellt werden. Wie<br />

viele andere Sozialverbände fordert die Diakonie für die Dauer<br />

der Coronakrise außerdem 100 Euro pro Monat zusätzlich für<br />

Grundsicherungsempfänger*innen. LG<br />

•<br />

Mietsteigerungen<br />

Muss jeder Dritte wegziehen?<br />

Die kurze Verschnaufpause ist schon wieder vorbei: Ab <strong>Juli</strong> will<br />

die Saga Mieterhöhungen wieder umsetzen. Allerdings ist eine<br />

Stundung von Mietzahlungen bis Jahresende weiter möglich,<br />

erklärte das städtische Unternehmen. „Wir werden wegen<br />

Zahlungsschwierigkeiten aufgrund von Corona keinen Mieter<br />

kündigen oder gar räumen“, sagte Vorstand Wilfried Wendel.<br />

Bislang ließen sich 2800 der gut 135.000 Haushalte wegen der<br />

Pandemie die Mietzahlung stunden. Über Pläne, den bundesweiten<br />

Kündigungsschutz für Betroffene der Coronakrise bis<br />

September zu verlän-<br />

Stadtgespräch<br />

gern, war die Regierung<br />

bis Redaktionsschluss<br />

noch uneins. JOF/UJO<br />

•<br />

Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />

www.hinzundkunzt.de<br />

40 Jahre Mieter helfen Mietern<br />

Sylvia Sonnemann<br />

vom Verein Mieter<br />

helfen Mietern<br />

„Die Menschen<br />

schlaumachen“<br />

Hamburg im Sommer<br />

1980: Immobilienspekulant*innen<br />

versuchen<br />

in großem Stil,<br />

Mieter*innen aus Altbauten<br />

zu klagen, um diese<br />

abreißen oder saniert verkaufen<br />

zu können. Betroffene<br />

wehren sich, gründen<br />

Initiativen, besetzen Häuser.<br />

„Wie können wir am<br />

besten helfen?“, fragen<br />

sich engagierte Anwält*innen bei einem Treffen<br />

auf einem Eppendorfer Dachboden – und gründen<br />

den Verein Mieter helfen Mietern.<br />

„Hilfe zu Selbsthilfe“ ist bis heute das Leitmotiv,<br />

sagt Geschäftsführerin Sylvia Sonnemann,<br />

die seit 28 Jahren dabei ist. „Wir möchten<br />

die Menschen schlaumachen und nicht, dass<br />

sie bei der nächsten Betriebskostenabrechnung<br />

wieder zu uns kommen müssen.“ Ebenso wichtig<br />

sei immer die politische Ebene gewesen: Das<br />

Verbot der Zweckentfremdung von Wohnraum<br />

etwa sieht sie ebenso als ihren Erfolg ihrer Arbeit<br />

wie den Umstand, dass Vermieter*innen<br />

nach Modernisierungen nicht mehr unbegrenzt<br />

die Miete erhöhen dürfen.<br />

Bei der Mietpreisbremse allerdings sieht die<br />

Juristin weiter Handlungsbedarf angesichts von<br />

Vermieter*innen, die „15 Euro pro Quadratmeter<br />

für eine Souterrainwohnung“ fordern. Die<br />

Bremse sei „sehr schlecht gebastelt“, Hamburg<br />

brauche nach dem Vorbild Berlins „einen Mietenstopp<br />

für fünf bis sechs Jahre mindestens“.<br />

Auch wenn der Senat dieser Forderung bislang<br />

nicht folgt: Die Stimme von Mieter helfen<br />

Mietern reicht inzwischen bis in den Bundestag.<br />

Regelmäßig wird der Verein dort in Expertenkommissionen<br />

geladen und macht auf Missstände<br />

aufmerksam. Aktuell sieht Sonnemann Reformbedarf<br />

beim Kündigungsrecht, weil die<br />

derzeitige Rechtslage keinen ausreichenden<br />

Mieter*innenschutz gewährleiste: „Es kann nicht<br />

sein, dass ein Eigentümer wegen Eigenbedarf die<br />

Wohnung kündigen kann, weil er die zweimal im<br />

Jahr für seine Familientreffen nutzen will.“<br />

Ihre Geburtstagsparty haben die Mieterschützer*innen<br />

wegen Corona auf 2021. Geschenke<br />

verteilen sie aber jetzt schon: Wer Mieter<br />

helfen Mietern beitritt, erhält ab dem ersten<br />

Tag den kompletten Rechtsschutz. UJO<br />

•<br />

Mehr Infos im Internet unter www.mhmhamburg.de<br />

15


Stadtgespräch<br />

„Das Monster passt<br />

nicht hierher!“<br />

Nachdem unser Kollege Benjamin Laufer in der Juni-Ausgabe über<br />

die Pläne zum Abriss und Neubau der Sternbrücke geschrieben hatte,<br />

erreichte uns dieser Brief von unserer Leserin Erika Hahn.<br />

FOTOS: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong>,<br />

DB NETZ AG/VÖSSING INGENIEUR-GESELLSCHAFT MBH,<br />

HAMBURG BILDARCHIV<br />

Erika Hahn<br />

hatte schon als<br />

Kind eine enge<br />

Beziehung zur<br />

Sternbrücke.<br />

G<br />

estern war ich seit längerer<br />

Zeit mal wieder in der<br />

Stadt, ich wollte zu Y. Rocher,<br />

aber der Laden ist<br />

leer, wird wohl umgebaut. Gleich daneben<br />

ein netter junger H&K-Verkäufer,<br />

mit dem ich ins Gespräch komme. Mich<br />

interessiert, wieso er auf die Straße gekommen<br />

ist. Er erzählt mir seine Geschichte,<br />

er sucht eine Bleibe, hat aber<br />

evtl. Aussicht, etwas Passendes zu finden.<br />

Ich sehe ihn an und denke, er wird<br />

es schaffen, wieder ein „normales“<br />

Leben zu führen. Hätte ich ihm eigentlich<br />

auch sagen sollen. Ich kaufe mir die<br />

Zeitung. Zu Hause lese ich von der<br />

Sternbrücke und bin platt, dass sie<br />

abgerissen werden soll. Nun ja, es kann<br />

ja sein, dass sie nicht mehr sicher ist.<br />

Aber wer denkt sich eigentlich diese<br />

überdimensionale Ersatzbrücke aus?<br />

Das können nur Leute sein, die keine<br />

Ahnung von Altona haben, von der<br />

Bedeutung dieser Brücke!<br />

Ich habe von 1943 bis 1964 in der<br />

Wohlersallee gelebt. Meine Eltern und<br />

ich waren, nachdem wir im <strong>Juli</strong> 1943<br />

ausgebombt wurden (in Eimsbüttel,<br />

direkt neben Beiersdorf) zur Mutter<br />

meines Vaters in die Wohlersallee gezogen.<br />

Wir waren froh, ein 12 qm<br />

großes Zimmer zu bekommen. Das war<br />

eine karge, aber schöne Zeit für mich<br />

als Kind und als Teenie.<br />

Über die Sternbrücke fuhren viele<br />

Züge und nach dem Krieg oftmals die<br />

sogenannten „Kohlenzüge“. Wir waren<br />

alle sehr arm, hatten wenig zu essen<br />

und nichts zum Heizen. Manche Leute<br />

haben die Treppengeländer verfeuert.<br />

Aber zwei- bis drei-mal pro Woche hörte<br />

man den lauten Ruf „Kohlenzug“ in<br />

der Wohlersallee. Sofort Sack oder<br />

Eimer gepackt und zur Sternbrücke<br />

gerannt. Hinauf am Anfang und Ende<br />

der Brücke, die großen Jungs sprangen<br />

auf die Waggons und warfen Kohlen,<br />

Koks, Briketts herunter. Der Zug musste<br />

hier nämlich wegen einer Steigung<br />

die Geschwindigkeit verringern und<br />

schnaufte langsam über die Brücke. Wir<br />

Kleinen sammelten auf, so viel wir<br />

konnten, und rannten nach Hause mit<br />

unserer kostbaren Last. Oft ertönte ein<br />

Pfiff, „Polizei“, sodass man evtl. alles<br />

stehen und liegen lassen musste.<br />

16


„Die Ersatzbrücke<br />

muss<br />

angemessen sein.“<br />

Wir hatten wieder für ein paar Tage ein<br />

warmes Zimmer und meine Mutter<br />

konnte auf dem kleinen Kanonenofen<br />

kochen. Meine Eltern und ich hatten<br />

ein Zimmer von 12 qm (ein umgebauter<br />

Balkon) mit Etagenbett, einen Tisch,<br />

zwei Stühle, eine kleine Kommode und<br />

den Kanonenofen. Einen Hund hatten<br />

wir auch noch. Den hatte ich auf dem<br />

Weg von der Schule in einem Trümmerhaufen<br />

an der Holstenstraße gefunden.<br />

Ich wuchs dort heran, nach der Beendigung<br />

der Schule in der Haubachstraße<br />

wollte ich gern Kindergärtnerin<br />

werden, aber niemand wollte mich nehmen,<br />

weil ich so klein und so dünn war.<br />

Rund 40.000<br />

Autos, Lkw und<br />

Busse schieben<br />

sich heute unter<br />

der Stern brücke<br />

entlang – täglich!<br />

Deswegen fällt<br />

der Neubauentwurf<br />

der Bahn so<br />

gigantisch aus,<br />

denn so könnte<br />

auf die Stützen<br />

unter der Brücke<br />

verzichtet werden<br />

und der Straßenverkehr<br />

hätte<br />

mehr Platz.<br />

Dass das mal ein<br />

Problem werden<br />

würde, daran war<br />

beim Bau der<br />

Brücke 1925<br />

noch nicht zu<br />

denken.<br />

Stadtgespräch<br />

Es hieß immer: „Das schafft die nie, die<br />

Kinder hochzuheben oder zu tragen.“<br />

Na ja, so war es eben. Ich begann dann<br />

als Lehrling in einer Anwaltskanzlei. Im<br />

1. Lehrjahr gab es 30 DM Lohn.<br />

Ich half dann noch ab und zu in dem<br />

kleinen Café an der Sternbrücke als<br />

Bedienung aus, um mir ein Fahrrad<br />

kaufen zu können.<br />

Ab und zu gingen wir (eine kleine<br />

Gruppe von 5–6 Jugendlichen) ins<br />

Kino an der Sternbrücke (zur Spätvorstellung<br />

um 22.30 Uhr. Das kostetete<br />

nur 50 Pfennig). Das Kino hieß nur<br />

„Floh­Kino“, weil man unter Garantie<br />

einen hatte, wenn man nach Hause ging.<br />

Das alles nur zum Verständnis für<br />

alle, die inzwischen hier wohnen. Engagiert<br />

euch im Widerstand! Die Ersatzbrücke<br />

muss angemessen sein, nicht so<br />

ein Monster. Das passt nicht hierher.<br />

Wehrt euch! •<br />

Kontakt: benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />

Sternbrücke<br />

Wird es doch<br />

kein Monster?<br />

Was Erika Hahn so auf die<br />

Palme bringt, ist der Entwurf<br />

für den Neubau der Sternbrücke,<br />

den die Bahn ohne<br />

Beteiligung der Öffentlichkeit<br />

erarbeitet hat. 18 Meter<br />

höher als das bisherige Bauwerk,<br />

weil die Verkehrsbehörde<br />

einen Neubau ohne<br />

Stützen wollte, damit unter<br />

der Brücke mehr Platz für<br />

den Verkehr ist.<br />

Als wir im Juni darüber<br />

berichteten, sah es nicht gut<br />

aus für das Anliegen von vielen<br />

Anwohner*innen, eine<br />

kleinere Alternative durchzusetzen.<br />

Obwohl auch Altonas<br />

Bezirkschefin Stefanie von<br />

Berg (Grüne) den Entwurf<br />

„furchtbar“ und „ganz<br />

schlimm“ fand, erteilte sie<br />

Ende Mai in der Mopo einer<br />

Neuplanung die Absage,<br />

auch wenn sich die Bezirksversammlung<br />

geschlossen<br />

dafür ausgesprochen hatte:<br />

„Der Drops ist gelutscht.“<br />

Doch kaum war der<br />

Senat neu zusammengesetzt<br />

und von Bergs Parteifreund<br />

Anjes Tjarks Verkehrssenator,<br />

kam Bewegung in die Sache:<br />

Die Bürgerschaftsfraktionen<br />

von SPD und Grünen wollen<br />

nun plötzlich doch eine<br />

Alternative prüfen lassen, mit<br />

drei Stützen und damit weniger<br />

monströs als die bisherigen<br />

Pläne. „Uns ist wichtig,<br />

dass das Verfahren von Sorgfalt<br />

geprägt wird, um Transparenz<br />

und Vertrauen in den<br />

Neubau aufbauen zu können“,<br />

sagt SPD­Fraktionschef<br />

Dirk Kienscherf. Und<br />

Mareike Engels (Grüne)<br />

betont: „Beim Vergleich der<br />

Varianten ist uns wichtig,<br />

dass auch die Verkehrsführung<br />

unter der Brücke<br />

betrachtet wird.“ Was wieder<br />

einmal zeigt: Sich wehren<br />

zahlt sich aus. BELA<br />

•<br />

17


Sie ringen<br />

ums Soziale<br />

Nach der Bürgerschaftswahl hat sich einiges in den Fraktionen im Hamburger Rathaus<br />

verändert. Auch bei den sozialpolitischen Sprecher*innen gibt es frischen Wind. Wir stellen Ihnen<br />

die Abgeordneten vor, die in den kommenden fünf Jahren im Parlament für Soziales – und<br />

damit auch für Obdachlose – zuständig sind. Mit der kleinsten „Fraktion“ fangen wir an.<br />

TEXTE: ULRICH JONAS, JONAS<br />

FÜLLNER, BENJAMIN LAUFER<br />

FOTOS: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />

Sie will niemanden bevormunden<br />

Anna von Treuenfels-Frowein (FDP)<br />

58 Jahre, verheiratet, drei Kinder (24, 23, 17<br />

Jahre), Juristin, derzeit Vollzeitpolitikerin;<br />

seit 2009 bei der FDP, seit 2011 in der<br />

Hamburgischen Bürgerschaft<br />

Berührungsängste hat diese Frau offenbar<br />

kaum: „Ich quatsche öfter mal eine<br />

Runde mit Obdachlosen und höre mir<br />

deren Geschichten an“, sagt Anna von<br />

Treuenfels-Frowein. Sie habe dabei einiges<br />

gelernt, erzählt die 58-jährige<br />

FDP-Politikerin: dass es viele Gründe<br />

gibt, warum Menschen auf der Straße<br />

landen. Dass Reden ihnen das Gefühl<br />

vermittelt, mit der Not nicht alleingelassen<br />

zu werden. Und „dass es immer<br />

einen Neuanfang geben kann“.<br />

Angesichts solcher Erkenntnisse erstaunt<br />

es nicht, dass die Liberale aufsuchende<br />

Sozialarbeit ausbauen würde:<br />

„Da wird die Hilfe nicht aufgedrängt,<br />

sondern erst mal mit den Menschen gesprochen.“<br />

Auch für das sogenannte<br />

Housing First macht sie sich stark, die<br />

Idee also, Obdachlosen als Erstes eine<br />

Wohnung zu beschaffen und anschließend<br />

zu schauen, welche Unterstützung<br />

sie brauchen. In den USA und Finnland<br />

werde das erfolgreich praktiziert.<br />

Eine Sozialpolitikerin im klassischen<br />

Sinne ist Anna von Treuenfels-<br />

Frowein nicht. Das hat auch mit der besonderen<br />

Rolle zu tun, die sie nach der<br />

Wahl ausfüllen muss: Die FDP ist knapp<br />

an der Fünfprozenthürde gescheitert,<br />

sie selbst per Direktwahl Abgeordnete<br />

geworden. Nun muss sie alleine ihre<br />

Partei vertreten, eine Mammutaufgabe,<br />

bei der ihr die neun Jahre Erfahrung<br />

zugutekommen, die sie in der Bürgerschaft<br />

gesammelt hat. Trotzdem weiß<br />

sie: „Ich kann nicht alle Themen in der<br />

Tiefe beackern. Dafür habe ich gute<br />

Mitarbeiter.“<br />

Ein Herzensanliegen ist ihr das<br />

Thema Bildung. Es war der Streit um<br />

eine Reform des Schulsystems, der sie<br />

2008 in die Politik geführt hat. Damals<br />

wollte der schwarz-grüne Senat das gemeinsame<br />

Lernen aller Kinder in der<br />

Grundschule auf sechs Jahre ausdehnen<br />

– was vor allem lernschwachen<br />

Kindern helfen sollte – und gleichzeitig<br />

das Elternwahlrecht abschaffen. „Das<br />

geht zu weit!“, fand sie und wurde Teil<br />

einer Initiative, die die Stadt spaltete –<br />

und später FDP-Mitglied, „weil das die<br />

einzige Partei war, die uns unterstützt<br />

hat und mit der wir gemeinsam einen<br />

Volksentscheid gewonnen haben“.<br />

„Über den Ansatz kann man diskutieren“,<br />

sagt Anna von Treuenfels-Frowein<br />

heute über die Idee der Primarschule.<br />

„Aber man kann so etwas nicht<br />

von heute auf morgen einführen – und<br />

vor allem nicht per Zwang.“ Dass ihr<br />

Herz für die Liberalen schlägt, hat aber<br />

nicht nur mit dieser Geschichte zu tun:<br />

„Die FDP steht für Bürgerrechte und<br />

Freiheit“ – Werte, die auch ihr wichtig<br />

seien. „Dass Menschen manchmal mit<br />

erzieherischem Tun bevormundet werden,<br />

habe ich schon als Kind nicht gemocht.“<br />

UJO<br />

•<br />

18


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Sie will Lösungen präsentieren<br />

Stephanie Rose (Linke)<br />

32 Jahre, verheiratet, eine Tochter<br />

(15 Monate); Sozialökonomin, Referentin für<br />

Gleichstellung an der HafenCity Universität<br />

Hamburg; seit 2015 bei den Linken, 2017 bis<br />

2019 im Regionalausschuss Wilhelmsburg-<br />

Veddel, 2019/<strong>2020</strong> in der Bezirksversammlung<br />

Mitte als sozialpolitische Sprecherin<br />

ihrer Fraktion, seit <strong>2020</strong> in der Bürgerschaft<br />

Wenn Stephanie Rose morgens früh in<br />

ihrem Quartier unterwegs ist, sieht sie<br />

Menschen aus Südosteuropa, die auf<br />

dem sogenannten Arbeiterstrich auf<br />

Tagelöhner-Jobs warten. Wäre sie<br />

Hamburger Sozialsenatorin, sagt die<br />

32-Jährige, würde sie diesen Menschen<br />

Perspektiven eröffnen: „Auch sie sollen<br />

ein gutes Leben haben!“ Von der Macht<br />

ist die Linke als kleine Oppositionspartei<br />

allerdings weit entfernt.<br />

Die neue sozialpolitische Sprecherin<br />

ihrer Fraktion wohnt in Wilhelmsburg,<br />

„in einem Brennpunkt“, und sie<br />

lebt gerne dort, denn: „Der Umgang ist<br />

sehr herzlich, die Nachbarschaft multikulturell.“<br />

Erste Erfahrungen in der<br />

Oppositionsarbeit hat die gebürtige Paderbornerin<br />

hier im Lokalen gesammelt,<br />

im Regionalausschuss Wilhelmsburg-Veddel.<br />

Sie habe dort gelernt,<br />

„dass man viel bewirken kann, wenn<br />

man Initiativen einlädt“; dann werde<br />

ein Antrag der Linken von den anderen<br />

Parteien nicht einfach nur abgelehnt,<br />

sondern auch mal diskutiert. Zuletzt<br />

war sie in der Bezirksversammlung Mitte<br />

die Stimme für Soziales ihrer Fraktion.<br />

Vergeblich forderte sie dort vergangenen<br />

November die Öffnung des<br />

Winternotprogramms für alle Obdachlosen,<br />

„obwohl das sämtliche<br />

Expert*innen bei einer Anhörung eindeutig<br />

befürwortet haben“.<br />

Ein konkretes sozialpolitisches Ziel,<br />

das sie bis zur nächsten Wahl unbedingt<br />

erreicht haben will, mag Rose angesichts<br />

der klaren Verhältnisse in der<br />

Bürgerschaft nicht nennen. Ob Coronazuschlag<br />

für Einkommensschwache<br />

oder Hotelunterbringung für Obdachlose<br />

in Zeiten der Pandemie: Anträge<br />

ihrer Partei wurden von Rot-Grün zuletzt<br />

in aller Regel abgeschmettert. Entmutigt<br />

ist Stephanie Rose davon nicht.<br />

„Unsere Aufgabe als Opposition ist es,<br />

immer wieder darauf hinzuweisen: Es<br />

gibt gute Lösungen.“ Dass die Geld<br />

kosten, ist der Sozialökonomin mit<br />

Doktortitel klar, weshalb sie fordert:<br />

„Wir müssen Reiche stärker<br />

besteuern.“<br />

Für soziales Engagement im Privaten<br />

habe sie angesichts der Dreifachbelastung<br />

– Kleinkind, Job, Partei – leider<br />

keine Zeit, sagt Stephanie Rose. Wobei,<br />

eine Ausnahme gibt es: Die Mietshäuser,<br />

in denen sie mit ihrer Familie<br />

wohnt, gehören dem Immobilienkonzern<br />

Vonovia und sollen modernisiert<br />

werden. Da saftige Mieterhöhungen<br />

drohen und ihr Mann Jurist ist, will sie<br />

„Treffen organisieren, damit möglichst<br />

alle ihre Rechte kennenlernen“. UJO<br />

•<br />

19


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />

Er will dicke Bretter bohren<br />

Andreas Grutzeck (CDU)<br />

58 Jahre, verheiratet, zwei Kinder (26 und<br />

28 Jahre), Immobilienmakler; seit 1976 in der<br />

CDU, seit 1986 in der Bezirksversammlung<br />

Altona, zuletzt als stellvertretender Vorsitzender<br />

und Sprecher der Fachausschüsse<br />

Soziales und Regionale Stadtteilentwicklung;<br />

seit <strong>2020</strong> Abgeordneter in der<br />

Hamburgischen Bürgerschaft und<br />

sozialpolitischer Fraktionssprecher<br />

Andreas Grutzeck ist ein richtig alter<br />

Hase in der Politik. „Ich war mit 14 auf<br />

einer Versammlung der Jungen Union,<br />

das hat mich nicht wieder losgelassen“,<br />

erzählt der 58-Jährige beim Gespräch<br />

in der Altonaer CDU-Geschäftsstelle.<br />

Sozialpolitik war für den jungen Osdorfer<br />

da aber noch kein Thema: Als Abgeordneter<br />

in der Bezirksversammlung<br />

sitzt er anfangs im Kultur- und Jugendausschuss.<br />

Erst, als die Altonaer Stadtteilzentren<br />

in den 1980ern zum politischen<br />

Thema werden, eröffnet sich ihm<br />

dieses Politikfeld. „Dadurch bin ich ein<br />

bisschen da reingerutscht“, erinnert er<br />

sich. „Ich finde, dass die Stadtteilzentren<br />

eine wichtige Funktion haben.“ Mit<br />

dieser Ansicht war er damals aber in<br />

seiner Partei eher in der Minderheit:<br />

„In den 80er-Jahren war das nicht unsere<br />

politische Baustelle. Damals gab es<br />

ja fast noch Feindschaft zwischen den<br />

Stadtteilzentren und der CDU“, sagt<br />

Grutzeck. Er stellte sich jedoch auf die<br />

Hinterbeine, machte sich gegen den<br />

Mainstream der Partei stark für die<br />

Zentren: „Das hat in der eigenen Partei<br />

nicht immer nur Begeisterung ausgelöst,<br />

hat aber Stück für Stück doch<br />

geklappt.“<br />

Heute habe er nicht mehr ganz so<br />

viel Spaß am Konflikt, sagt er, streitet<br />

aber an anderer Stelle für eine andere<br />

Haltung der Christdemokrat*innen:<br />

Immer wieder hat er im Bezirk die<br />

ganztägige Öffnung des Winternotprogramms<br />

gefordert – obwohl die CDU-<br />

Bürgerschaftsfraktion das anders sah.<br />

Und Grutzeck bleibt optimistisch: „Ich<br />

glaube, wir kommen noch dahin, dass<br />

die CDU das insgesamt fordert.“<br />

Dabei kann er weder als Bezirksabgeordneter<br />

noch in seiner neuen Rolle<br />

als Oppositionspolitiker in der Bürgerschaft<br />

direkt Einfluss auf die Senatspolitik<br />

nehmen. Frustriert ihn das? „Das<br />

ist nun mal das Bohren dicker Bretter“,<br />

sagt Grutzeck. „In der Bürgerschaft ist<br />

das ja noch viel schlimmer geworden.<br />

Da wird ja wirklich jeder Antrag von<br />

uns abgelehnt!“ Was also tun? „Einfach<br />

weiterbohren.“<br />

Das hat er sich für die Legislaturperiode<br />

vorgenommen, in der Bürgerschaft<br />

wie innerhalb seiner eigenen<br />

Fraktion. „Die CDU kann sozialpolitisch<br />

ein bisschen mehr vertragen“, findet<br />

er. Dabei will er seine Partei jetzt<br />

auch auf Landesebene unterstützen,<br />

Politik für Senior*innen und Behinderte<br />

machen. Und für Obdachlose, zum<br />

Beispiel mit der Forderung nach<br />

Housing First. BELA<br />

•<br />

20


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Sie will gutes Leben für alle<br />

Mareike Engels (Grüne)<br />

31 Jahre, verheiratet, zwei Kinder,<br />

Studentin und stellvertretende Bürgerschaftspräsidentin;<br />

seit 2009 bei den<br />

Grünen, seit 2015 in der Hamburgischen<br />

Bürgerschaft<br />

Während sich in den vergangenen Jahren<br />

bei den Grünen in Hamburg fast alles<br />

um die Themen Verkehrswende,<br />

Klimaschutz und offene Gesellschaft<br />

drehte, richtete Mareike Engels den<br />

Blick auf diejenigen, die von Förderprogrammen<br />

für Lastenräder wohl niemals<br />

profitieren werden. Die 31-Jährige<br />

ist – so muss man wohl sagen – das soziale<br />

Gewissen der Partei.<br />

Geboren in Ostfriesland zog Engels<br />

nach dem Abitur über die Zwischenstation<br />

Hannover schließlich 2008 nach<br />

Hamburg, um dort Soziologie zu studieren<br />

und sich nebenbei bei den Grünen<br />

zu engagieren. „Es mag pathetisch<br />

klingen, aber ich hatte schon immer<br />

den Wunsch, das gute Leben für alle<br />

hinzubekommen.“<br />

Aus dem Wunsch wurde 2015<br />

ernst, als die damals 26-Jährige für Till<br />

Steffen in die Bürgerschaft nachrückte.<br />

„Wir haben einiges erreicht“, sagt sie<br />

rückblickend nicht ohne Stolz. Schmunzelnd<br />

fügt sie hinzu, dass es für<br />

Hinz&Kunzt und die Wohnungslosenhilfe<br />

wohl nie schnell genug gehen könne.<br />

Aber ein Housing-First-Projekt und<br />

eine Pension für osteuropäische<br />

Wanderarbeiter*innen seien jetzt immerhin<br />

auf den Weg gebracht. Und für<br />

Hilfeempfängerinnen gäbe es inzwischen<br />

kostenlose Verhütungsmittel. Eine<br />

Herzenssache der Sozialpolitikerin.<br />

„Das ist dann nicht gleich die Weltrevolution,<br />

aber man macht das Leben besser“,<br />

sagt Engels, die sich bereits als Jugendliche<br />

politisierte und über die<br />

Anti-Castor-Proteste in Niedersachsen<br />

erstmals in Kontakt mit der Grünen Jugend<br />

kam.<br />

Stärker als das Thema Umwelt beschäftigte<br />

sie allerdings schon damals<br />

die Frage nach Chancengerechtigkeit.<br />

„Uns wurde in der Schule immer gesagt:<br />

‚Leiste, leiste, leiste, dann hast du<br />

die gleichen Chancen‘“, erinnert sich<br />

Engels. „Und dann schaut man sich<br />

um, wessen Mütter wirklich Karriere<br />

gemacht haben, und dann merkt man<br />

schnell, dass es so nicht stimmt.“ Für sie<br />

war klar: „Ich hingegen wollte mich<br />

nicht finanziell abhängig von einem<br />

Ehemann machen.“<br />

Sie hat diesen Schritt als Berufspolitikerin,<br />

die in der Sommerpause endlich<br />

ihre Masterarbeit schreiben will,<br />

geschafft. Sorgenvoller blickt sie derzeit<br />

auf die Lage vieler armer Menschen in<br />

Hamburg. „Corona verschärft die Finanzlage“,<br />

sagt Engels. Die Wirtschaft<br />

sei bekanntlich bereits eingebrochen<br />

und es sei schwer abzuschätzen, was<br />

noch kommt: „Wir müssen daher noch<br />

stärker das Augenmerk auf diejenigen<br />

richten, die es schon in guten Zeiten<br />

schwer hatten.“ JOF<br />

•<br />

21


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />

Sie will Perspektiven schaffen<br />

Ksenija Bekeris (SPD)<br />

42 Jahre, verheiratet, ein Kind,<br />

Berufsschullehrerin und stellvertretende<br />

Fraktionsvorsitzende; seit 2003 bei der SPD,<br />

seit 2008 in der Bürgerschaft<br />

Wenn Ksenija Bekeris aktuell die Berichte<br />

über Rassismus in den USA verfolgt,<br />

schweifen die Gedanken der<br />

42-Jährigen gelegentlich zurück in ihre<br />

Vergangenheit. Anfang der 2000er-Jahre<br />

absolvierte die junge Soziologiestudentin<br />

ein Auslandsjahr in Detroit.<br />

„Auch damals war die Spaltung in Arm<br />

und Reich, in Weiß und Schwarz extrem<br />

– das konnte ich nicht aushalten“,<br />

erinnert sie sich.<br />

Um Deutschland vor ähnlichen<br />

Entwicklungen zu bewahren, entschloss<br />

sich die damals Mittzwanzigerin zum<br />

Engagement in der Politik. Es waren<br />

das Programm und die Geschichte der<br />

Sozialdemokratie, die sie überzeugten.<br />

Dass sie innerhalb weniger Jahre der<br />

Weg gleich in die Bürgerschaft führte,<br />

verdanke sie dem damals neu eingeführten<br />

Wahlsystem, erzählt Bekeris<br />

und schmunzelt. Überraschend erhielt<br />

sie 2008 ein Direktmandat.<br />

Zwölf Jahre später zählt Ksenija<br />

Bekeris bereits zu den Routiniers. Als<br />

sie ins Parlament einzog, musste sie anfangs<br />

auf die Oppositionsbank – der<br />

Bürgermeister hieß noch Ole von Beust<br />

(CDU). So wie heute die Linke forderte<br />

Bekeris damals die Einzelunterbringung<br />

aller Wohnungslosen. Heute darauf<br />

angesprochen, räumt sie ein: „Da<br />

muss ich ihnen ganz ehrlich sagen: ‚Ja,<br />

das wäre spitze‘. Aber sie müssen sehen,<br />

dass wir da über 32.000 Plätze in der<br />

öffentlich-rechtlichen Unterbringung<br />

reden. Da können wir nicht alle umwandeln.<br />

Es besteht aber noch<br />

Handlungsbedarf.“<br />

Aber mal abgesehen von der Einzelunterbringung:<br />

Hätten nicht andere<br />

Projekte längst umgesetzt werden können?<br />

Nicht jede Idee sei eben sofort finanzierbar,<br />

entgegnet Bekeris. Wobei<br />

die Diplomsoziologin stolz hervorhebt,<br />

dass zwei Projekte jetzt im Koalitionsvertrag<br />

fest verankert sind, die auch Experten<br />

aus der Wohnungslosenhilfe seit<br />

Jahren fordern: ein Housing-First-Projekt<br />

für Obdachlose und eine Pension<br />

für obdachlose Wanderarbeiter*innen.<br />

Selbstverständlich werde dadurch erst<br />

einmal wenigen geholfen und nicht generell<br />

die Obdachlosigkeit beseitigt.<br />

„Aber ich will den Menschen eine andere<br />

Perspektive als die öffentlich-rechtliche<br />

Unterbringung eröffnen“, erläutert<br />

Bekeris. „Und dafür kann ich<br />

Kompromisse eingehen und mich darauf<br />

einlassen, dass nicht alles sofort<br />

kommt.“<br />

Sie müsse immer wieder abwägen,<br />

„an welcher Stelle ich für was kämpfe“.<br />

Und sie ergänzt augenzwinkernd:<br />

Wenn sie dann gegenüber den<br />

Kolleg*innen mal nachgebe, „habe ich<br />

an anderer Stelle vielleicht auch mal einen<br />

gut“. JOF<br />

•<br />

22


Meldungen (2)<br />

Politik & Soziales<br />

Städtischer Coronaschutz<br />

Notunterkünfte bleiben geöffnet<br />

Die städtischen Unterbringungsangebote für Obdachlose<br />

zum Schutz vor Corona bleiben bis zum Start des<br />

Winternotprogramms im November geöffnet. Auch die<br />

Mehrzahl der ehrenamtlich betriebenen Wohncontainer<br />

auf dem Gelände von Kirchen und Hochschulen stehe<br />

weiter zur Verfügung, ebenso die neu geschaffenen Angebote<br />

für obdachlose Frauen und Sexarbeiter*innen.<br />

Obdachlose, die an Corona erkrankt sind, sollen ab August<br />

nicht mehr in der Jugendherberge in Horn, sondern<br />

an einem „alternativen Standort“ untergebracht werden.<br />

Die Angebote der Stadt sind gut ausgelastet: Die Großunterkunft<br />

in der Friesenstraße war Ende Mai zu 80<br />

Prozent belegt, die Unterkunft in der Kollaustraße zu 60<br />

Prozent. Das teilte der Senat auf Anfrage der CDU mit.<br />

Allein an diesen beiden Orten schliefen somit rund 650<br />

Menschen, die unter gewöhnlichen Umständen in<br />

Hamburg kein Dach über dem Kopf hätten. UJO<br />

•<br />

Unser Rat<br />

zählt.<br />

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Großunterkünfte<br />

Gefährlich wie ein Kreuzfahrtschiff<br />

Bewohner*innen von Großunterkünften sind besonders<br />

gefährdet, an Corona zu erkranken. Das ist das Ergebnis<br />

einer Studie der Uni Bielefeld. Hat sich ein*e<br />

Bewohner*in infiziert, „ist das Risiko einer Infektion für<br />

alle anderen Menschen in dem Heim ebenfalls hoch und<br />

liegt bei etwa 17 Prozent“, so der Epidemiologe Kayvan<br />

Bozorgmehr. Diese Zahl sei vergleichbar mit der Ansteckungsrate<br />

auf Kreuzfahrtschiffen. Und: „In Einzelfällen<br />

lag das Risiko noch weit höher.“ Verantwortlich dafür sei<br />

die große räumliche Nähe der Menschen in Sammelunterkünften,<br />

so Oliver Razum, Co-Autor der Studie.<br />

„Die beengten Verhältnisse begünstigen eine rasche Ausbreitung.“<br />

Zur Prävention empfehlen die Forscher*innen<br />

dezentrale Unterbringung. UJO<br />

•<br />

Wieso die AfD fehlt<br />

Wir stellen hier nicht den Sozialpolitiker der AfD vor. Für uns<br />

ist die Alternative für Deutschland keine Partei wie jede andere.<br />

Es gibt nach wie vor Funktionsträger in der Partei, die<br />

menschenverachtende Reden führen oder mit Nazis kooperieren.<br />

Teile der Partei werden nun sogar vom Verfassungsschutz<br />

beobachtet – wie die Hamburger Jugendorganisation<br />

JA, wo der sozialpolitische Sprecher im Vorstand war. BIM<br />

•<br />

© Opmeer Reports<br />

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Garten Eden<br />

für Insekten<br />

In Deutschland gibt es immer weniger Insekten – auch, weil die industrielle<br />

Landwirtschaft ihre Lebensräume zerstört. Im Hamburger Umland zeigt ein Projekt,<br />

wie Bauern es anders machen können.<br />

TEXT: ANNETTE WOYWODE<br />

FOTOS: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong>


Den Klatschmohn hat<br />

die Loki Schmidt Stiftung<br />

2017 zur Blume<br />

des Jahres gekürt –<br />

stellvertretend für viele<br />

andere bedrohte Arten.


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Stadtgespräch<br />

Da hängen lauter Brote und<br />

Brötchen!“, freut sich Daniel<br />

Schulz. Zufrieden schaut<br />

er über das Weizenfeld, auf<br />

dem kräftige grüne Halme mit schwerem<br />

Fruchtstand dicht an dicht bis zum<br />

Horizont gedeihen. Schulz ist Landwirt<br />

in Oetjendorf, einem Ortsteil der Gemeinde<br />

Hoisdorf gleich um die Ecke<br />

von Ahrensburg. Einen Marktfruchtbetrieb<br />

führt er, also Gemüse, Raps oder<br />

eben Weizen – so was baut er an, ganz<br />

konventionell. Das heißt unter anderem,<br />

für ihn ist der Einsatz von Schädlings-<br />

und Wildkrautbekämpfungsmitteln<br />

kein Tabu, „es geht nicht ohne“,<br />

meint der 30-Jährige. Dann dreht er<br />

sich um und sein Blick schweift über das<br />

Nachbarfeld. „Aber wenn wir so weitermachen<br />

wie bisher, wird es schwer<br />

für die Landwirtschaft“, sagt er. Deshalb<br />

lässt er hier auf 33.000 Quadratmetern<br />

Blumen wachsen, das ist eine<br />

„Wenn wir so weitermachen,<br />

wird<br />

es schwer für die<br />

Landwirtschaft.“<br />

BAUER DANIEL SCHULZ<br />

stäubung die Ernährung des Menschen<br />

sichern. Von den 107 weltweit am häufigsten<br />

angebauten Kulturpflanzen<br />

werden laut Naturschutzbund immerhin<br />

91 von Insekten bestäubt. Besonders<br />

Wild- und Honigbienen sind darin<br />

Meister. Fehlen die Tiere, hat das dramatische<br />

Folgen, wie der Dokumentarfilm<br />

„More Than Honey“ schon vor<br />

acht Jahren zeigte: In manchen chinesischen<br />

Provinzen gibt es so gut wie keine<br />

Bienen und andere Bestäuber mehr.<br />

Fläche größer als vier Fußballfelder.<br />

Ein wahrer Garten Eden für Bienen,<br />

Fliegen, Schmetterlinge, Käfer oder<br />

Wespen. Denn ohne diese Insekten, die<br />

die Pflanzen bestäuben, geht es eben<br />

auch nicht.<br />

Doch die haben es schwer, nicht<br />

nur in Oetjendorf. Laut einer wissenschaftlichen<br />

Studie (siehe Infokasten) geht<br />

der Bestand zurück: um erschreckende<br />

75 Prozent zwischen 1989 und 2014 –<br />

und es geht weiter bergab. Vor allem<br />

die industrielle Landwirtschaft gilt als<br />

Insektenkiller: der massive Einsatz von<br />

Insektiziden und Herbiziden, behandeltes<br />

Saatgut und riesige Monokulturen.<br />

Wenn nicht das Gift die Tiere umbringt,<br />

müssen sie schlichtweg<br />

verhungern – auch die, die über die Be-<br />

Stolz zeigt Konrad Ellegast sein Bienenhotel, in dem 40 Prozent der „Zimmer“ belegt<br />

sind. Das Frühstück für die Gäste gibt‘s nebenan auf der Blumenwiese.<br />

27


Daniel Schulz in seinem<br />

Weizenfeld: Wenn es gut geht,<br />

bekämpfen die Nützlinge von<br />

der Blumenwiese nebenan<br />

hier bald Schädlinge.


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Stadtgespräch<br />

Früchte reifen dort nur noch, wenn<br />

Menschen die Insektenarbeit übernehmen:<br />

In Obstbaumplantagen betupfen<br />

sie mit kleinen Pinselchen bewaffnet<br />

Blüte für Blüte mit Pollen.<br />

„Wie viel nach dieser Methode in<br />

Deutschland ein Kilo Kirschen kosten<br />

würde, können Sie sich vorstellen“, sagt<br />

Konrad Ellegast. Seit 40 Jahren ist der<br />

80-Jährige Imker. Eigentlich, weil sein<br />

Sohn als kleiner Junge unbedingt Honigbienen<br />

haben wollte. „Irgendwann<br />

wurde er böse gestochen. Danach hatte<br />

er die Nase voll“, erzählt er. Ellegast<br />

selbst war dagegen so fasziniert von den<br />

Tieren, dass er dem Hobby treu geblieben<br />

ist. Der Bienenfan wurde Kuratoriumsmitglied<br />

der Deutschen Wildtier<br />

Stiftung, und er hat sowohl den Dokumentarfilm<br />

gesehen als auch die Studie<br />

gelesen. Danach war ihm gleich klar:<br />

Das Thema Insektensterben ist „so relevant<br />

wie der Klimawandel“.<br />

Ellegast ist kein Öko, entsprechend<br />

hält er nichts davon, die gesamte Landwirtschaft<br />

auf ökologischen Anbau umzustellen.<br />

Aber „fünf Prozent seiner<br />

Ackerfläche kann jeder Landwirt abzwacken“<br />

und als Bienenwiese anlegen.<br />

So könne ein Netz verteilt über ganz<br />

Deutschland entstehen, möglichst engmaschig,<br />

denn „die Biester fliegen maximal<br />

zwei, drei Kilometer. Es nützt nichts,<br />

Was die Wissenschaft sagt<br />

Für eine Langzeitstudie hat der Entomologische Verein Krefeld zwischen 1989<br />

und 2014 an 88 Standorten in Nordrhein-Westfalen Insektenfallen aufgestellt.<br />

Die darin gesammelten Fluginsekten wurden bestimmt und die Masse aller<br />

Tiere gewogen. Dabei wurde ein Rückgang des Bestandes um 75 Prozent festgestellt,<br />

allein 60 Prozent der im Großraum Krefeld einst heimischen Hummelarten<br />

gelten als ausgestorben. Weitere Infos: www.huklink.de/insektenstudie<br />

Die Studie ist bis heute die einzige wirklich wissenschaftliche Untersuchung,<br />

die das Insektensterben nachweist und die industrielle Landwirtschaft als<br />

Hauptverursacher ermittelt, sagt Dr. Andreas Kinser, stellvertretender Leiter für<br />

Natur- und Artenschutz bei der Deutschen Wildtier Stiftung. Es sei aber plausibel,<br />

dass die Ergebnisse auf das Bundesgebiet übertragbar sind. Derzeit laufen<br />

weitere Studien zum Thema. Weitere Infos: www.deutschewildtierstiftung.de<br />

Mehr zur Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union:<br />

www.huklink.de/EU-agrarfoerderung<br />

hier in Oetjendorf etwas zu machen und<br />

dann erst wieder in Niedersachsen“, sagt<br />

Ellegast. Weil der einstige Vorstandsvorsitzende<br />

der Phoenix AG ein wirtschaftlich<br />

und strategisch denkender Mann ist,<br />

erwartet er nicht, dass die Landwirte<br />

Spendierhosen tragen: „Der fehlende<br />

Ertrag muss kompensiert werden“, sagt<br />

er. „Egal ob von Privatleuten, Stiftungen<br />

oder am besten dem Staat.“ Und um zu<br />

zeigen, wie es funktionieren kann, startete<br />

Ellegast ein Projekt – zusammen mit<br />

der Deutschen Wildtier Stiftung, dem<br />

Rotary Club Ahrensburg und Marktfruchtbauer<br />

Daniel Schulz. Das ferne<br />

Ziel: Mithilfe der Rotary Clubs, die es<br />

weltweit gibt, soll das Projekt national<br />

und international bekannt werden und<br />

Nachahmer finden.<br />

Der junge Landwirt Schulz war sofort<br />

bereit, seinen Acker für zunächst<br />

sechs Jahre in eine Blühwiese umzuwandeln.<br />

Für ihn ist es aber auch eine<br />

reine Win-win-Situation, denn Rotary<br />

zahlt ihm weit mehr als es die EU täte,<br />

wenn der Landwirt eine Fläche nachhaltig<br />

und umweltschonend bewirtschaftet<br />

(zweite Säule der Gemeinsamen<br />

EU-Agrarpolitik). „Da verdiene<br />

ich mehr, wenn ich Weizen anbaue“,<br />

sagt Daniel Schulz. Rotary gleicht das<br />

aus. Zusätzlich entfällt das Risiko eines<br />

Ernteausfalls zum Beispiel durch Dürre<br />

oder Sturm. Und weniger Arbeit machen<br />

die Blumen obendrein: Düngen<br />

und Spritzen ist verboten. Nur einmal<br />

im Frühjahr wird gemäht und jedes<br />

Jahr frisch gesät: „Sonst setzen sich bestimmte<br />

Kräuter durch und dann gibt’s<br />

einen Einheitsbrei“, erklärt Konrad Ellegast.<br />

Von Mai bis Oktober muss es<br />

„Insektensterben<br />

ist so relevant<br />

wie der<br />

Klimawandel.“<br />

INITIATOR KONRAD ELLEGAST<br />

kunterbunt blühen, denn die Tiere<br />

durchlaufen zu unterschiedlichen Zeiten<br />

ihre jeweiligen Entwicklungsstadien,<br />

vom Ei über Larve und Puppe bis<br />

zum erwachsenen Insekt. Da muss der<br />

Tisch reich gedeckt sein.<br />

Die Blumenwiese gedeiht nun<br />

schon im dritten Jahr. Und es schaut gut<br />

aus für die Insektenwelt. Ein Wildbienenhotel,<br />

das der Ex-Manager am<br />

Rand des Feldes aufgestellt hat, war im<br />

ersten Jahr nur mäßig belegt. Im zweiten<br />

waren schon rund 40 Prozent der<br />

Schilfröhren und Bohrlöcher in Holzscheiben<br />

versiegelt. Konrad Ellegast,<br />

der Rotary Club und Daniel Schulz<br />

sind so ein gutes Team, dass in diesem<br />

Jahr eine zweite Blühwiese mit 34.000<br />

Quadratmetern entstehen konnte – als<br />

Sponsoren gewannen sie zusätzlich das<br />

Fahrgastunternehmen Free Now. „Was<br />

gibt es Schöneres, als so eine Bienenweide<br />

vor der Tür zu haben?“, fragt der<br />

Landwirt. Und fügt hinzu: „Es wäre<br />

doch toll, wenn sich hier Nützlinge entwickeln,<br />

die auf das Weizenfeld gehen<br />

und die Schädlinge bekämpfen. Denn<br />

am liebsten würde man auf Pflanzenschutzmittel<br />

ja ganz verzichten – wenn<br />

es was anders gäbe.“ Vielleicht klappt<br />

das ja. •<br />

Kontakt: annette.woywode@hinzundkunzt.de<br />

29


Stadtgespräch<br />

„Hier spielt die Musik“<br />

Campus Uhlenhorst<br />

Hier wird gebrummt, gesungen, gepfiffen und gegroovt: Die Jugendlichen des<br />

Campus Uhlenhorst haben alle möglichen Sounds zu einer originellen Collage<br />

zusammengemixt. Zunächst hat jede*r einen eigenen Beitrag erstellt und in eine<br />

Handy-Nachrichtengruppe eingestellt. So konnten die Teens mit Lernbeeinträchtigung<br />

alle Beiträge hören und immer weiter ergänzen. Die Jungs<br />

und Mädchen hatten spannende Geräuschideen: „Ich habe ein Körpergeräusch<br />

mit dem Hals gemacht“, sagt Emilio. „Das habe ich dann mit dem<br />

Handy aufgenommen.“ Auch Morton war kreativ: „Ich habe einen Beatbox-<br />

Rhythmus gemacht und per Sprachnachricht verschickt.“ Projektbegleiter<br />

Henning hat alles zusammengeschnitten. „Als ich den Song zusammenfügt<br />

habe, musste ich ihn 100-mal hintereinander hören, das war manchmal<br />

anstrengend. Aber es war toll zu erleben, wie das Stück immer dichter wurde.“<br />

„Pusteblume“<br />

Matti, Tillman, Mikio und Max<br />

vom Lise-Meitner-Gymnasium<br />

Für Matti, Tillman, Mikio und Max war<br />

der Audiobeitrag anfangs nur eine eher<br />

lästige Hausaufgabe für den Religionsunterricht.<br />

Aber bei der Umsetzung haben<br />

die Fünftklässler Feuer gefangen<br />

und die originelle Geschichte einer<br />

Puste blume entwickelt, die auf ihrer<br />

Reise durch die Stadt viele Beobachtungen<br />

macht. „Meine Eltern haben ein<br />

bisschen bei der Idee geholfen“, räumt<br />

Tillman ein. Auch die anderen hatten<br />

teilweise Unterstützung von Erwachsenen.<br />

Aber die unterschiedlichen Soundeffekte<br />

haben sie mit zwei Smartphones<br />

ganz alleine aufgenommen. Das sollte<br />

doch für eine gute Note sorgen.<br />

„Die Vielfalts-AG stellt sich vor“<br />

Anouk Niemax, <strong>Juli</strong>us-Leber-Schule<br />

Jede Woche trifft sich die Schule-ohne-Rassismus-Vielfalts-AG an der <strong>Juli</strong>us- Leber-<br />

Schule in Schnelsen. Dabei sind Lehrer*innen und Schüler*innen der Jahrgänge 10<br />

bis 13. Eine von sieben Beteiligten am Wettbewerb ist Anouk Niemax. Die 17-Jährige<br />

hat sich mit Rassismus in Schulbüchern beschäftigt. „So wollen wir ein Bewusstsein<br />

für Diversität schaffen und auf das Problem im Unterricht eingehen.“<br />

„The diversity of sounds“<br />

Mieke, Gymnasium Hochrad<br />

Als Miekes Lehrerin den Wettbewerb an ihre<br />

Klasse geschickt hat, war die 13-Jährige leider<br />

krank. Was ist vielfältig am Kranksein, fragte<br />

sie sich. „Da fiel mir gleich das Essen ein“, erzählt<br />

Mieke. Gesagt, getan. Sie mampfte Apfel,<br />

Cornflakes, ungetoastetes und getoastetes<br />

Brot und nahm die dabei entstehenden Geräusche<br />

auf. „Ich hätte nicht erwartet, dass<br />

das so viel Spaß macht.“<br />

Reinhören:<br />

Um die Hörbeiträge<br />

der Schüler*innen<br />

zu hören, scannen<br />

Sie den QR-Code<br />

oder folgen Sie<br />

diesem Link:<br />

www.huklink.de/<strong>329</strong>-audiyou<br />

30


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

So klingt<br />

Vielfalt<br />

Rund 30 Beiträge zum Thema „Vielfalt“ haben Schülerinnen und Schüler<br />

beim diesjährigen Hörwettbewerb von AudiYou und Hinz&Kunzt<br />

eingereicht – trotz Corona. Einige stellen wir hier vor. Hören Sie rein!<br />

TEXT: SYBILLE ARENDT<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE (1), NELE BERENDS (1), PRIVAT<br />

Alles war anders in diesem Jahr: Normalerweise<br />

endet der Hörwettbewerb<br />

von AudiYou und Hinz&Kunzt mit einer<br />

spannenden Preisverleihung. Bis zur<br />

letzten Minute wird nicht verraten, wer<br />

gewonnen hat. An eine Veranstaltung<br />

mit 100 Leuten war in diesem Jahr natürlich<br />

wegen Corona nicht zu denken.<br />

Wir hatten sogar Sorge, ob überhaupt<br />

jemand mitmacht. Doch die war unbegründet:<br />

30 Beiträge gingen im Postfach<br />

von Initiatorin Stephanie Landa ein.<br />

Darunter hat die Jury neun als besonders<br />

hörenswert ausgezeichnet. •<br />

Kontakt: sybille.arendt@hinzundkunzt.de<br />

Sie haben gut hören: Stephanie Landa von AudiYou ( 2 ) und Sybille Arendt von Hinz&Kunzt ( 3 )<br />

zusammen mit den Jurymitgliedern Karen Kandzia (Studentin, 1 ) , Sylvia Linneberg (Bücherhallen Hamburg, 4 ) ,<br />

Autorin Isabel Abedi ( 5 ) und Synchronsprecher und Schauspieler Sascha Draeger ( 6 ) .<br />

4<br />

3<br />

5<br />

1<br />

2<br />

6<br />

31


Cornelia pendelte<br />

zwischen Kinderbetreuung<br />

und Hinz&Kunzt.<br />

Dem Leben die<br />

Zähne zeigen!<br />

Es war ein fulminanter Neustart und ein tolles Wiedersehen mit den Kund*innen.<br />

Aber Corona ist eine harte Belastungsprobe. Zum Glück sind es die<br />

Verkäufer*innen gewohnt, sich durchzubeißen.<br />

TEXT: BIRGIT MÜLLER, JONAS FÜLLNER, LUKAS GILBERT<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE


Alexander verbrachte viel<br />

Zeit mit seinem 70-jährigen<br />

Vermieter – und hielt<br />

deshalb viel Abstand zu<br />

anderen.


Thomas hat schon viel erlebt.<br />

Corona ist „nur“ eine<br />

weitere Herausforderung.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

„Ich hatte so sehr den Drang, zu meinem Verkaufsplatz bei<br />

Lidl zu gehen“, sagt Sonja. Aber sie hatte Angst.<br />

Frank zeigt dem Leben immer die Zähne – und lacht.<br />

So versucht er, sich auch in Krisen bei Laune zu halten.<br />

Thomas, 52, teilt sich mit einem anderen Hinz&Künztler ein Zimmer mit<br />

Bad und Kochnische. Sein Verkaufsplatz liegt am Grindelhof.<br />

Die Coronazeit hat Thomas dank seiner Kund*innen einigermaßen gut überstanden.<br />

„In den Restaurants rund um meinen Verkaufsplatz durfte ich immer<br />

wieder kostenlos essen“, erzählt er. Andere hätten ihm Essen und Getränke vom<br />

Einkaufen mitgebracht. Ein richtig gutes Gefühl sei das gewesen, sagt der<br />

Hinz&Künztler: „Ich bin froh und dankbar, dass ich mit der Hilfe der Menschen<br />

aus dem Grindelviertel so gut über die Runden gekommen bin. Ich bin gut aufgefangen<br />

worden.“ Dennoch: Nicht mehr verkaufen zu können, nicht mehr selbst<br />

für seinen Lebensunterhalt zu sorgen – das war schwer für Thomas. „Doch seit<br />

ich endlich wieder Magazine abholen konnte, geht’s mir wieder gut“, sagt er.<br />

„Wieder verkaufen zu können, wieder was für mein Geld zu tun, das ist ein richtig<br />

gutes Gefühl. Für mich – und, ich denke, meine Kunden freuen sich auch.“ •<br />

35


Alexander, 49, wohnt in Sasel und verkauft<br />

vor Aldi an der Bramfelder Straße.<br />

„Mit zu viel Freizeit komme ich schlecht<br />

zurecht. Ich muss immer etwas tun“, sagt der<br />

49-jährige Hinz&Künztler, angesprochen auf<br />

die Corona-Pause. So war es schon in seinen<br />

vorherigen Jobs in der Gastro. „Ich arbeite lieber,<br />

als Urlaub zu nehmen.“ Während<br />

andere entspannen, bricht bei Alexander im<br />

Kopf das große Chaos aus. Ein Mechanismus,<br />

den er während der Corona-Pandemie<br />

plötzlich durchbrach. Statt Reißaus zu<br />

nehmen, trotzte er dem Lockdown und verbrachte<br />

schöne Tage mit seinem Vermieter<br />

und Nachbarn im Garten. „Der ist jetzt 70<br />

Jahre alt und gehört dadurch zur Risikogruppe.“<br />

Deswegen erledigte Alexander die<br />

Einkäufe und führte den Hund aus. Und<br />

obwohl er noch ein paar März-Ausgaben<br />

zur Hand hatte, stoppte Alexander den<br />

Verkauf – aus Rücksicht auf seinen Nachbarn.<br />

„Ich bin überrascht, wie gut es mir<br />

ging. Aber ich muss sagen: Wie lange ich<br />

das ausgehalten hätte, weiß ich nicht.“<br />

Jetzt, zurück am Verkaufsplatz, fühlt er<br />

sich deutlich wohler. •<br />

Cornelia, 38, verkauft nicht nur Hinz&Kunzt, sondern ist bei<br />

uns auch Reinigungskraft. Seit 2015 lebt die Rumänin, ihr<br />

Mann und ihre vier Kinder (vier bis 16 Jahre) in Hamburg.<br />

Sie verkauft bei Penny in der Saseler Straße.<br />

„Alle haben gefragt: ‚Wie geht’s?‘ Weil wir uns ja lange nicht<br />

gesehen haben“, sagt Cornelia. Direkt Angst vor Corona hatte sie<br />

nicht. Aber sie hat aufgepasst. „Auch die Nachbarn haben wir<br />

nicht oft gesehen, weil ich Abstand halte.“ Dreimal in der Woche<br />

kommt sie zur Arbeit und putzt, „viel mehr als vor Corona“.<br />

Mehrmals am Tag reinigt sie Sanitäranlagen, die Oberflächen<br />

und alle Griffe. Corona ist anstrengend für sie. „Aber auch schön.<br />

Wir waren alle zu Hause. Ich hatte viel Arbeit, auch im Garten.<br />

Aber Stress ist das nicht.“ •<br />

36


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Sonja, 59, wohnt in der Kollaustraße,<br />

ganz in der Nähe von Lidl, ihrem Verkaufsplatz.<br />

„Ich hatte so sehr den Drang, zu Lidl zu gehen, aber ich hatte Angst. Ich<br />

habe Asthma und ein Emphysem, da bin ich natürlich sehr gefährdet. Mir<br />

ging es psychisch ziemlich schlecht. Ich habe dann angefangen, das Fami-<br />

liengrab zu pflegen. Nein, das hat mich nicht noch mehr runtergezogen.<br />

Im Gegenteil: Ich habe das für meinen verstorbenen Vater gemacht. Das<br />

bin ich ihm schuldig. Er hatte immer Angst, dass sich niemand drum küm-<br />

mert. Und für mich ist das wie ein Garten. Jetzt bin ich aber wahnsinnig<br />

froh, dass wir wieder Zeitungen verkaufen können. Ich bin richtig aufge-<br />

blüht. Die Kunden haben sich auch so gefreut. ‚Du bist ja wieder da!‘, ha-<br />

ben einige gesagt. Und ein paar Kinder haben sich auch gefreut und ge-<br />

fragt: ‚Hast du uns auch Bonbons mitgebracht?‘ Weil: Samstags bring ich<br />

immer Bonbons mit. Und ein Lkw-Fahrer hat gehupt, als er mich gesehen<br />

hat. Von dem habe ich auch die Maske, den kenn ich, weil ich öfter was<br />

aus dem Weg räume, wenn er kommt.“ •<br />

Frank, 47, schläft hier und da und auf der<br />

Straße, er verkauft meist auf der Reeperbahn.<br />

„Dass es endlich wieder losgeht! Das war ein total<br />

komisches Gefühl, als alles geschlossen war. So<br />

leer habe ich die Reeperbahn noch nie gesehen.<br />

Und dann ohne Geld. Aber ich lasse mich nicht<br />

unterkriegen, das sieht man ja an der Maske: Ich<br />

zeige dem Leben die Zähne. Eigentlich versuche<br />

ich ja immer, einen Scherz zu machen, hab meine<br />

Kapitänsmütze auf und erzähle Seemannsgeschichten.<br />

Aber auf einmal war da niemand<br />

mehr. Keine Kneipe, wo man auch mal ein<br />

Wasser kriegen konnte. Das war mir früher gar<br />

nie aufgefallen: Es gibt nirgendwo einfach mal<br />

einen Brunnen, wo du dir die Flasche auffüllen<br />

kannst. Das geht doch nicht, da müsste man<br />

mal was tun. Es könnte doch auch mal eine Extremsituation<br />

geben, wo man Wasser braucht.<br />

Und dann steht man vor dem Nichts.“ •<br />

37


Thomas freut sich, wieder<br />

verkaufen zu können:<br />

„Die letzten Monate waren<br />

so was von langweilig!“<br />

Wir sind<br />

wieder da!<br />

Seit Juni gibt es Hinz&Kunzt nach der Corona-Zwangspause<br />

endlich wieder als gedrucktes Magazin. Wir haben Eindrücke<br />

von den ersten beiden Verkaufstagen gesammelt und dabei<br />

viele glückliche Hinz&Künztler*innen getroffen.<br />

TEXT: LUKAS GILBERT<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Zweieinhalb lange Monate<br />

konnte Hinz&Kunzt wegen<br />

Corona nicht als gedrucktes<br />

Magazin erscheinen. Eine<br />

Katastrophe für die mehr als 600<br />

Hinz&Künztler*innen! Umso größer<br />

war die Freude bei Verkäufer*innen<br />

und Teammitgliedern, als es Anfang<br />

Juni wieder losging. In den Wochen zuvor<br />

hatte sich unser Vertriebsteam viele<br />

Gedanken gemacht, um den Neustart<br />

möglichst reibungslos ablaufen zu lassen:<br />

Um Abstände einzuhalten wurde der<br />

Verkaufsstart auf zwei Tage gestreckt,<br />

durch spezielle Zeitungsboxen ist nun<br />

ein kontaktloser Verkauf möglich. „Eine<br />

Riesenlast ist von uns abgefallen“, freut<br />

sich Vertriebschef Christian Hagen.<br />

Tomasz ist stolz darauf,<br />

dass er in Coronazeiten<br />

nicht wieder angefangen<br />

hat zu trinken: „Ich bin seit<br />

sechs Jahren trocken!“<br />

„Alle waren so hilfsbereit und hoch motiviert,<br />

wir haben alle gut zusammengearbeitet<br />

– das ist eine Erfahrung, die<br />

uns alle stärken wird.“ •<br />

Kontakt: lukas.gilbert@hinzundkunzt.de<br />

38


Zum Verkaufsstart mussten die<br />

Hinz&Künztler*innen zeitlich versetzt<br />

kommen. So wurde es im<br />

Hof nicht zu voll und alle konnten<br />

die Abstände einhalten.<br />

Die Magazine wurden<br />

an mehreren Fenstern<br />

ausgegeben. Natürlich<br />

mit Maske!<br />

„Endlich geht es<br />

wieder los“, sagt<br />

Elke, die sich<br />

besonders darauf<br />

freut, ihre<br />

Kund*innen<br />

wiederzusehen.<br />

Unten: Sozialarbeiter Stephan<br />

Karrenbauer im Gespräch mit<br />

Thomas. Rechts: Peter ist<br />

glücklich, endlich wieder an<br />

seinem Verkaufsplatz stehen<br />

zu können.


Lebenslinien<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />

Europas<br />

letzte<br />

Hoffnung<br />

Ist das noch Satire oder schon Politik? Der Hamburger<br />

Nico Semsrott macht einfach beides gleichzeitig. Seit<br />

einem Jahr sitzt er als Abgeordneter für „Die PARTEI“<br />

im Europaparlament – und interessiert auf seinen<br />

Social-Media-Kanälen Hunderttausende für sperrige<br />

Themen. Jetzt plant er sogar eine Late-Night-Show.<br />

TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />

FOTOS: VANESSA ESTRELLA GÖTTLE, BENEDIKT MANDL,<br />

SNAPSHOT/FLORIAN BOILLOT/FUTUR, EUROPAPARLA-<br />

MENT, PICTURE ALLIANCE/DPA/MICHAEL KAPPELER<br />

Die Kapuze ist das Markenzeichen<br />

von Semsrott. Ohne sie<br />

würde er sich im Parlament<br />

ausgeliefert fühlen, sagt er.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Lebenslinien<br />

W<br />

ie man mit Satire Politik<br />

macht, wusste Nico<br />

Semsrott schon 2005:<br />

Als die Schulleitung<br />

des Hamburger Sophie-Barat-Gymnasiums<br />

seine Schülerzeitung verboten<br />

hatte, wollte der junge Redakteur das<br />

nicht auf sich sitzen lassen. Kurzerhand<br />

wandelte der 19-Jährige ein Dixi-Klo<br />

vor der Schule zum Zeitungskiosk<br />

um. Aufschrift: „Schülerzeitungsverbot?<br />

Da scheiß ich drauf!“<br />

Von Hinz&Kunzt bis Spiegel<br />

Online berichten damals<br />

viele Medien über den<br />

„Kampf um die Pressefreiheit“<br />

an der katholischen<br />

Privatschule, auch die Bürgerschaft<br />

befasst sich damit.<br />

„Ich hatte auch Angst,<br />

dass ich von der Schule<br />

fliege, aber es hat irre viel<br />

Spaß gemacht!“, erinnert<br />

sich Semsrott.<br />

15 Jahre später sitzt er im<br />

Europäischen Parlament in<br />

Brüssel und hält ein goldenes<br />

Schild mit der Aufschrift „Strasbourg“<br />

in die Höhe. Als Europaabgeordneter<br />

fordert er die Umbenennung<br />

des Sitzungssaals, damit die<br />

Parlamentarier*innen nicht<br />

mehr zwölfmal im Jahr<br />

in die französi-<br />

sche Stadt reisen müssen, wie es die<br />

EU-Regularien vorschreiben, sondern<br />

einfach im gleichnamigen Raum tagen<br />

könnten. Eine der vielen Absurditäten,<br />

um die in der EU seit Jahrzehnten Mitgliedsstaaten<br />

und Parlamentarier*innen<br />

streiten: „The second seat is a waste of<br />

money“, erklärt Semsrott. Mehr als eine<br />

halbe Milliarde Euro würde das Hinund<br />

Herreisen pro Legislaturperiode<br />

kosten, jährlich 20.000 Tonnen CO 2<br />

verursachen. „Möge diese Sitzung der<br />

historische Moment sein, in dem das Europäische<br />

Parlament endlich aufbegehrt<br />

und die Kontrolle über sein Schicksal<br />

übernimmt!“, fordert Semsrott auf Englisch.<br />

Dazu hebt er die linke Faust.<br />

Eigentlich hält er diese Rede nicht<br />

wirklich für den Petitionsausschuss des<br />

Europaparlaments, auch wenn er zu<br />

ihm spricht, sondern für seine<br />

Zuschauer*innen auf den Social-Media-Kanälen<br />

– allein auf Youtube wurde<br />

das Video darüber mehr als 370.000-<br />

mal angesehen. Hunderttausende für so<br />

ein trockenes Thema der Europapolitik<br />

zu interessieren, das schafft sonst niemand.<br />

Es ist der Erfolg eines neuen Politikstils,<br />

den Semsrott und sein Parteikollege<br />

Martin Sonneborn geprägt<br />

haben, die beide für die Satirepartei<br />

„Die PARTEI“ im Parlament sitzen,<br />

Semsrott jetzt seit ziemlich genau einem<br />

Jahr. Auf Instagram, Twitter und<br />

Facebook folgen ihm mehr als 700.000<br />

Menschen. Reichweiten, von denen andere<br />

Abgeordnete nur träumen können:<br />

Die Hamburger Liberale<br />

Svenja Hahn etwa kommt auf<br />

gut 8600 Follower*innen.<br />

Der Weg dorthin war für<br />

Semsrott allerdings weit. Er<br />

beginnt im Hamburger<br />

Stadtteil Niendorf, in<br />

dem Nico als Lehrerkind<br />

aufwächst. „Das<br />

war so unglaublich<br />

normal“, erinnert er<br />

sich im Skype-<br />

Gespräch mit<br />

Hinz&Kunzt. Und


Lebenslinien<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />

Semsrotts Karriere begann 2005 in einem Dixi-Klo. 2019 zog er mit Martin Sonneborn in<br />

das Europaparlament ein – und legt seitdem dort den Finger in die Wunde. Zum Beispiel,<br />

indem er auf Lobbyismus aufmerksam macht: „In einer gemäßigten Demokratie sollte man<br />

wenigstens so Werbebanner tragen, damit alle wissen, für wen man arbeitet.“<br />

das meint er nicht wirklich positiv: „Im<br />

Sinne von durchschnittlich, bürgerlich,<br />

weiß, privilegiert, behütet … boring<br />

eben.“ Irgendwie langweilig und ein<br />

bisschen wie jetzt im Europaparlament,<br />

„Ich habe<br />

Sehnsucht nach<br />

mehr Leben und<br />

Teilhabe.“<br />

legt er sarkastisch nach: „Ich bin an einem<br />

Ort, dessen Werte ich nicht teile,<br />

und ich habe die ganze Zeit Sehnsucht<br />

nach mehr Leben, Auseinandersetzung<br />

und Teilhabe.“ Eben ganz so wie damals<br />

in Niendorf.<br />

Zum Satiriker ist er dann auf der<br />

katholischen Privatschule an der Alster<br />

geworden, sagt er, weil dort Ausgedachtes<br />

als Realität verkauft worden sei.<br />

Während in Gebeten das Gute im Menschen<br />

gepriesen wurde, hätten manche<br />

Lehrer mit Druck und Einschüchterungen<br />

gearbeitet: „Das ist genau das Spannungsfeld,<br />

in dem Komik und Satire<br />

42<br />

entstehen“, meint Semsrott. Im Frontalunterricht<br />

fühlt er sich schlecht aufgehoben,<br />

mit dem autoritären Stil der Schulleitung<br />

kommt er nicht zurecht. „Ich<br />

finde es immer schrecklich, auf Befehle<br />

von anderen zu hören, ich finde es viel<br />

besser, wenn ich selbst etwas entwickeln<br />

kann“, sagt er. Zum Beispiel einen Zeitungskiosk<br />

im Dixi-Klo.<br />

Nach der Schule klagt er sich ins<br />

Studium der Soziologie und Geschichte<br />

an der Uni Hamburg ein, nur um es<br />

nach sechs Wochen wieder abzubrechen.<br />

„Ich bin dann depressiv ins Bett<br />

gegangen und habe erst mal gar nichts


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Lebenslinien<br />

gemacht“, sagt er salopp daher, meint<br />

es aber ganz ernst: Zwischen 16 und 23<br />

war Nico Semsrott durchgehend depressiv.<br />

Daraus macht er kein Geheimnis,<br />

im Gegenteil: Er entdeckt 2008 im<br />

Hamburger Club Molotow den Poetry-<br />

Slam für sich und spricht in seinem Programm<br />

über die Krankheit, macht Witze<br />

über Depressionen. „Für mich ist es<br />

total schön, wichtig und entlastend, eine<br />

Bühne zu haben, wo der Schmerz<br />

rauskann“, sagt er. „Das hat mir total<br />

viel geholfen.“<br />

Als depressiver Komiker wird er<br />

schließlich berühmt, der schwarze Kapuzenpullover<br />

wird zu seinem Markenzeichen.<br />

Er tritt regelmäßig in der „heuteshow“<br />

des ZDF auf, macht immer<br />

wieder auch politisches Kabarett, zum<br />

Beispiel gegen die Leistungsgesellschaft<br />

und die AfD. Und ganz nebenbei sammelt<br />

er Hunderttausende Follower-<br />

*innen auf Social Media. Bis ihm das<br />

alles zu viel wurde: „Das war zwar auch<br />

schön, aber je länger es ging, desto größer<br />

wurde der Druck und die Angst, das<br />

wieder zu verlieren“, sagt Semsrott. Die<br />

Anfrage der Partei, ob er nicht in die<br />

Politik wechseln wolle, kam daher genau<br />

zum richtigen Zeitpunkt: „Ich wusste<br />

nicht, dass ich das wollte, bevor ich gefragt<br />

wurde. Als ich gefragt wurde, hab<br />

ich gemerkt: ‚Oh, das interessiert mich<br />

wirklich!‘“<br />

Seit 2019 ist also Brüssel die Bühne,<br />

auf der sein Schmerz rauskann. Seine<br />

Rolle als Abgeordneter muss er aber<br />

noch finden: Anders als sein Genosse<br />

Sonneborn stimmt er zwar im Parlament<br />

nicht einfach abwechselnd mit Ja<br />

oder Nein, sondern hat sich der grünen<br />

Fraktion angeschlossen. Aber auch nach<br />

einem Jahr als Parlamentarier hat er die<br />

Regeln dieses neuen Spiels noch nicht<br />

ganz verstanden – was aber auch für seine<br />

Mitspieler*innen gilt. Ein Tweet von<br />

@nicosemsrott kann heute ausreichen,<br />

um eine Antwort von Kommissionspräsidentin<br />

Ursula von der Leyen zu provozieren,<br />

die er so in eine Debatte über<br />

„rassismusverharmlosende Politik“ hineinziehen<br />

kann. „Das ist für mich viel<br />

spannender, intellektuell herausfordernder<br />

und relevanter als das, was ich vorher<br />

gemacht habe“, sagt Semsrott.<br />

Aber natürlich steckt noch jede Menge<br />

vom alten Nico im neuen. Er hat auch<br />

den Kapuzenpullover nicht ausgezogen<br />

und erst recht nicht gegen einen Anzug<br />

getauscht. Auch weil er ihm Sicherheit<br />

gibt, sagt er: „Wenn ich in dem Raum<br />

meine Kapuze abnähme, würde ich<br />

mich ausgelieferter fühlen.“ Schließlich<br />

hat seine Kunstfigur zehn Jahre lang<br />

eingeübt, sich öffentlich zu äußern und<br />

zu provozieren. Dass er nur eine Rolle<br />

spielt, ist für Nico Semsrott normal.<br />

Und auch im Europarlament findet er<br />

das nicht unangemessen, im Gegenteil:<br />

„Die anderen spielen ihre Rollen, die<br />

megakomisch sind, und ich spiele meine<br />

Rolle, die ich in dem Kontext eigentlich<br />

vernünftig finde.“<br />

Womit wir beim schwierigen Verhältnis<br />

von Nico Semsrott zur EU sind.<br />

Was bei ihm manchmal nach populistischem<br />

Bashing klingen mag, kann er mit<br />

fundamentaler Kritik unterfüttern. Und<br />

er ist vieles, aber sicher kein Anti-Europäer.<br />

Aber das Staatengebilde wird ihm<br />

zu konservativ gelenkt – und zu undemokratisch<br />

organisiert: „Wenn man sich<br />

die EU anguckt, haben die Nationalstaaten<br />

die Macht, die Kommission hat auch<br />

ein bisschen was zu sagen und das Parlament<br />

darf zu manchem noch einen<br />

Kommentar abgeben“, kritisiert er.<br />

Um die Idee des Europaparlaments<br />

zu retten, müsste man eigentlich noch<br />

mal neu damit anfangen, findet Semsrott.<br />

„Ein Parlament, das nicht mal<br />

selbst Gesetze vorschlagen kann, ist einfach<br />

ein Witz in sich!“ Und über diesen<br />

Konstruktionsfehler kann er sich dann<br />

auch richtig aufregen. „Ich bin ja jetzt<br />

schon ein Jahr Abgeordneter und ich<br />

finde das immer noch falsch“, redet er<br />

sich in Rage. „Es ist falsch, Europawahlen<br />

abzuhalten, wenn das Parlament<br />

nicht die Repräsentation und die Macht<br />

hat, die man dem Bürger suggeriert!“<br />

Und als Angehöriger der Opposition ist<br />

er besonders machtlos im machtlosen<br />

Parlament. Was ihn zusätzlich deprimiert:<br />

„Ich kann mit meinem Stimmenanteil<br />

von 0,14 Prozent eigentlich nur<br />

zugucken. Es gibt mittlerweile eine Diktatur<br />

innerhalb der EU, und nichts passiert“,<br />

beklagt er frustriert das Abdriften<br />

Ungarns nach ganz rechts und das Aus-<br />

43<br />

bleiben europäischer Reaktionen. Der<br />

Typ mit dem Kapuzenpullover in der<br />

letzten Reihe? Unter diesen Umständen<br />

nur angemessen, findet Semsrott.<br />

Deswegen ist klassische Parlamentsarbeit<br />

seine Sache nicht. „Ich bin dafür<br />

da, zu irritieren und den Betrieb zu stören“,<br />

erzählt er und legt lachend nach:<br />

„Im ersten Jahr bin aber hauptsächlich<br />

ich irritiert und mein Betrieb ist gestört<br />

„Ich bin dafür<br />

da, zu irritieren<br />

und den Betrieb<br />

zu stören.“<br />

worden.“ Das Format Europaabgeordneter<br />

entwickelt er beständig weiter:<br />

Gerade arbeitet er mit seinem Team an<br />

einer Late-Night-Show, in der er die europäische<br />

Öffentlichkeit am Parlamentsgeschehen<br />

teilhaben lassen will.<br />

Satirisch und politisch, wie es John Oliver<br />

in den USA vorgemacht und Jan<br />

Böhmermann in Deutschland adaptiert<br />

hat. Nur eben für die ganze Union.<br />

„Ich bin überzeugt davon, dass Demokratie<br />

nicht ohne Öffentlichkeit funktionieren<br />

kann“, sagt er. „Es ist meine Aufgabe,<br />

die herzustellen und für<br />

Diskussionen zu sorgen.“ Ein Abgeordneter,<br />

der die Grenze zur Rolle der Medien<br />

verwischt – ist das denn demokratisch?<br />

„Darüber haben wir auch schon<br />

ein Erklärvideo vorbereitet.“<br />

Es sind jedenfalls große Pläne – und<br />

Nico Semsrott hat Angst, an seinen Ansprüchen<br />

zu scheitern. „Ich spüre den<br />

Auftrag total, für die 900.000 Wähler<br />

da was rauszuholen“, offenbart er.<br />

„Mich quält die ganze Zeit die Frage:<br />

Mache ich genug daraus?“ Dabei kann<br />

er an seinem Anspruch, mit dem er vergangenes<br />

Jahr zur Wahl angetreten war,<br />

eigentlich kaum scheitern. Sein Slogan<br />

lautete bloß: Für Europa reicht’s. •<br />

Kontakt: benjamin.laufer@hinzundkunzt.de


Freunde<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />

„Krisen kommen<br />

und gehen“<br />

Guosheng Liu stammt aus<br />

dem chinesischen Henan und lebt<br />

seit 30 Jahren in Deutschland.<br />

Guosheng Liu wollte unbedingt etwas Gutes für Obdachlose tun – und organisierte uns 8000 Masken<br />

aus China. Dabei ist der Gründer des Reiseveranstalters Chinatours selbst gerade in der Krise.<br />

Er musste wegen Corona Insolvenz anmelden.<br />

TEXT: MISHA LEUSHEN<br />

FOT0: MIGUEL FERRAZ<br />

Ein Straßenmagazin, das von<br />

Journalist*innen geschrieben<br />

und von Obdachlosen verkauft<br />

wird? Ganz schön exotisch<br />

fand Guosheng Liu diese Idee, als<br />

er zum ersten Mal von Hinz&Kunzt<br />

hörte. „Dann habe ich einige Ausgaben<br />

gelesen und war sehr beeindruckt“, erzählt<br />

der 55-Jährige. Denn Vorurteile<br />

abzubauen, indem man Menschen miteinander<br />

in Kontakt bringt, das ist auch<br />

das Herzensanliegen von Guosheng<br />

44<br />

Liu. Der Gründer des Reiseveranstalters<br />

Chinatours ist ebenfalls Gründer der<br />

Gesellschaft für Deutsch-Chinesische<br />

Verständigung (GDCV) in Hamburg.<br />

Dass die Coronapandemie in China<br />

begann, hat diese Verständigung<br />

deutlich schwieriger gemacht.<br />

Als Spezialist für Chinareisen war<br />

sein Unternehmen besonders hart betroffen.<br />

Doch trotz der angemeldeten<br />

Insolvenz ist Guosheng Liu bemerkenswert<br />

entspannt und plant einen geschäftlichen<br />

Neuanfang. „Alles hat seine<br />

positiven Seiten“, erklärt er. „Krisen<br />

kommen und gehen; sie bringen Botschaften<br />

und wir können daraus lernen,<br />

wenn wir sie verstehen.“<br />

Der Geschäftsmann lebt seit rund<br />

30 Jahren in Deutschland und pflegt<br />

noch immer gute Kontakte nach China,<br />

vor allem in seine Heimatprovinz<br />

Henan, die Hamburg wirtschaftlich eng<br />

verbunden ist. Deshalb spendete Henan<br />

40.000 Masken für Hamburg und bat


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

die GDCV, die Verteilung dort zu übernehmen,<br />

wo die Masken dringend gebraucht<br />

werden: in Schulen, Altersheimen,<br />

Kliniken – und 8000 Masken<br />

gingen an die Verkäufer*innen von<br />

Hinz&Kunzt. „Wir können die Welt<br />

nicht ändern, aber wir können etwas<br />

dafür tun, dass sie zu einem besseren<br />

Ort wird“, sagt Guosheng Liu.<br />

Es schmerzt ihn, dass China in<br />

Deutschland zunehmend kritisch gesehen<br />

wird – nicht nur aufgrund von Corona.<br />

„Die Menschen haben ein veraltetes<br />

Bild von China“, findet er. Der<br />

Blick auf die vielen positiven Veränderungen<br />

werde dadurch verstellt. „Ich<br />

möchte zwei Kulturen zusammenbringen,<br />

die chinesische und die europäische“,<br />

erklärt er. „Wir können viel voneinander<br />

lernen, ohne die eigene<br />

Lebensweise aufzugeben.“<br />

Dass das funktionieren kann, hat er<br />

selbst erlebt. In China studierte er Germanistik,<br />

arbeitete im Tourismus und<br />

kam mit 26 Jahren nach Deutschland.<br />

„Ich habe in Schwaben das Bierbrauen<br />

Freunde<br />

gelernt“, erzählt er lachend. Auf Umwegen<br />

kam er nach Hamburg und<br />

begann ein Studium der Sinologie. Um<br />

das zu finanzieren, organisierte er Reisen<br />

nach China. „Das wurde mein Beruf<br />

und mein Lebenswerk.“<br />

Seine Gesellschaft für Deutsch-<br />

Chinesische Verständigung gründete<br />

der Vater zweier erwachsener Kinder,<br />

„weil ich China nach Europa bringen<br />

wollte“. Mitglied kann jeder werden,<br />

die meisten haben sich bereits für den<br />

internationalen Austausch engagiert.<br />

Musik, Kultur, Sport – in allen Feldern<br />

bietet die Gesellschaft einen Jugendaustausch,<br />

auch wenn Corona dies vorerst<br />

gestoppt hat.<br />

Deutschland sei für China ein großes<br />

Vorbild, auch wenn es nie so werde<br />

wie Deutschland: „Dafür ist die Kultur<br />

zu andersartig. Aber wir wollen weltoffen<br />

sein, eine zivile Gesellschaft, in der<br />

Diskussionen möglich sind“, sagt Guosheng<br />

Liu überzeugt. •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

JA,<br />

ICH WERDE MITGLIED<br />

IM HINZ&KUNZT-<br />

FREUNDESKREIS.<br />

Damit unterstütze ich die<br />

Arbeit von Hinz&Kunzt.<br />

Meine Jahresspende beträgt:<br />

60 Euro (Mindestbeitrag für<br />

Schüler*innen/Student*innen/<br />

Senior*innen)<br />

100 Euro<br />

Euro<br />

Datum, Unterschrift<br />

Ich möchte eine Bestätigung<br />

für meine Jahresspende erhalten.<br />

(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />

Meine Adresse:<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Nr.<br />

PLZ, Ort<br />

Telefon<br />

E-Mail<br />

Einzugsermächtigung:<br />

Dankeschön<br />

Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />

Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />

Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />

Wir danken allen unseren Spender*innen,<br />

die uns in den vergangenen schwierigen<br />

Wochen geholfen haben. Dazu gehören<br />

natürlich alle Mitglieder im<br />

Freundeskreis von Hinz&Kunzt! Viele<br />

haben noch einmal extra gespendet!<br />

DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />

• IPHH • wk it services<br />

• Produktionsbüro<br />

Romey von Malottky GmbH<br />

Axel Ruepp Rätselservice<br />

• Hamburger Kunsthalle<br />

• bildarchiv-hamburg.de<br />

• die Geburtstagsgäste von<br />

Lutz Horbach zum 80. Geburtstag,<br />

obwohl die Feier wegen Corona<br />

ausfallen musste<br />

• Manfred Bruer und Gäste<br />

anlässlich des 70. Geburtstags,<br />

auch hier wird nachgefeiert!<br />

• Marika Hellmund und Studierende<br />

der HAW im Fachbereich Modedesign,<br />

sie haben Masken genäht und<br />

verkauft – für Hinz&Kunzt!<br />

NEUE FREUNDE:<br />

• Marc Bartscht • Lutz Bauer<br />

• Antje Dombrowski • Niklas Ehlers<br />

• Petra und Karsten Frank<br />

• Gitta und Norbert Hinrichs<br />

• Susanne Kaiser • Tom Köhler<br />

• Moritz Kurz • Stefan Oehmann<br />

• Nils Otto • Oliver Rodhorst<br />

• Till Sander • Monika Siegel<br />

• Tobias Völker • Micha Wiebe<br />

IBAN<br />

BIC<br />

Bankinstitut<br />

Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />

der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />

Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />

Ja<br />

Nein<br />

Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />

Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />

Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />

Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />

genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />

jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />

mehr von uns bekommen möchten, können<br />

Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />

personenbezogenen Daten widersprechen.<br />

Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />

einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />

Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />

Hinz&Kunzt-Freundeskreis<br />

Altstädter Twiete 1-5, 20095 Hamburg<br />

Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />

45<br />

HK <strong>329</strong>


Buh&Beifall<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />

Was unsere Leser*innen meinen<br />

„Wie schön, dass Sie alle zurück sind.“<br />

Tragfähiger Kompromiss<br />

H&K Online: Lob und Tadel für<br />

Koalitionsvertrag<br />

Wenn die einen meckern und die anderen<br />

loben, hat man wahrscheinlich einen<br />

tragfähigen Kompromiss gefunden.<br />

Sehen wir mal … HANS KAUTZ VIA FACEBOOK<br />

Danke, Bob und James!<br />

H&K Online und Meldungen S. 14:<br />

„Bob, der Streuner“ ist tot<br />

Bob mischt jetzt garantiert den Katzenhimmel<br />

ordentlich auf mit seinen<br />

Geschichten vom wilden Leben ! Gute<br />

Reise, Kumpel! KATER PLÜSCH VIA FACEBOOK<br />

Ich erinnere mich noch gut an<br />

die Begegnung … Bob hat zwar gepennt,<br />

aber seine Präsenz war deutlich<br />

zu spüren … Danke, Bob und James …<br />

Danke … und jetzt, Bob, mach es gut,<br />

du wirst vermisst. MARCUS JUNG VIA FACEBOOK<br />

Wiedersehen mit Verkäufer*innen<br />

H&K 328: Danke, Hamburg!<br />

Endlich, wie schön, dass Sie alle zurück<br />

sind.<br />

KERSTIN STARCKE-GIESE VIA FACEBOOK<br />

War klasse, endlich „meinen“<br />

Verkäufer wiederzusehen!<br />

LUTHERMANSFRIEND VIA INSTAGRAM<br />

Das freut mich so sehr, zumal ja<br />

ebenfalls unsere sozialen Kontakte dabei<br />

eine große Rolle spielen. Alles Gute<br />

für Sie alle und bitte bleiben Sie gesund!<br />

MICHAELA BRIGITTE BOHL VIA FACEBOOK<br />

Coole Sache! Weiter so und<br />

bleibt gesund und stark!<br />

ULLA MEIER VIA FACEBOOK<br />

Briefe von Leser*innen geben die Meinung der<br />

Verfasser*innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />

Wir behalten uns vor, die Briefe zu kürzen.<br />

Wir trauern um<br />

Karl Martin Klemm<br />

21. September 1936 – 28. April <strong>2020</strong><br />

Karl Martin war Verkäufer der ersten Stunde und<br />

ist nach langer Krankheit verstorben.<br />

Die Verkäufer*innen und das<br />

Team von Hinz&Kunzt<br />

Wir trauern um<br />

Detlef Vollmer<br />

3. April 1972 – 12. Juni <strong>2020</strong><br />

Detlef hat lange Hinz&Kunzt verkauft, bis er<br />

aufgehört hat, um seine Frau zu pflegen.<br />

Die Verkäufer*innen und das<br />

Team von Hinz&Kunzt<br />

Wir trauern um<br />

Stefan „Roberto” Witt<br />

23. März 1984 – Juni <strong>2020</strong><br />

HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />

DER ETWAS<br />

ANDERE<br />

STADTRUNDGANG<br />

Roberto verstarb viel zu jung nach langer schwerer<br />

Krankheit im Altonaer Krankenhaus.<br />

Die Verkäufer*innen und das<br />

Team von Hinz&Kunzt<br />

Wir trauern um<br />

Werner Ahmed<br />

03. Mai 1949 – Mai <strong>2020</strong><br />

Werner hat schon länger keine Hinz&Kunzt mehr<br />

verkauft. Er verstarb überraschend im Mai <strong>2020</strong>.<br />

Die Verkäufer*innen und das<br />

Team von Hinz&Kunzt<br />

Wollen Sie Hamburgs City einmal mit anderen Augen sehen?<br />

Abseits der teuren Fassaden zeigt Hinz&Kunzt Orte, die in<br />

keinem Reiseführer stehen: Bahnhofs mission statt Rathausmarkt,<br />

Drogenberatungsstelle statt Alsterpavillon, Tages aufent halts stätte<br />

statt Einkaufspassage.<br />

Anmeldung: bequem online buchen unter<br />

www.hinzundkunzt.de oder Telefon 040/32 10 83 11<br />

Kostenbeitrag: 10/5 Euro<br />

Nächste Termine: 5.7., 12.7., 19.7., 26.7.<strong>2020</strong>, 15 Uhr


Kunzt&Kult<br />

Digitales Stadtleben: One Hamburg macht Social-TV für alle (S. 48).<br />

Spurensuche: Jürgen Jobsen zeigt, wo früher der jüdische Markt in Hamburg war (S. 56).<br />

Rassismus: Wieso Hinz&Künztler Eugene Hoffnung schöpft (S. 58).<br />

Corona macht erfinderisch: Weil<br />

Lichtspielhäuser während der Pandemie<br />

schließen mussten, verwandelte das Zeise-Kino<br />

das Heiligengeistfeld in ein Autokino.<br />

Immerhin: Seit dem 25. Juni können Sie Filme<br />

auch wieder drinnen gucken.<br />

FOTO: THOMAS PANZAU


Jan Traupe, Maxime Billon und<br />

Isa Daur (von links) sind drei<br />

der sechs Gründer*innen von<br />

One Hamburg. Auch die<br />

Studiohunde Eddi und Kowalsky<br />

gehören fest zum Team.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Kunzt&Kult<br />

Da geht<br />

noch was!<br />

Als das Coronavirus Hamburg lahmlegte, holten sie das<br />

Stadtleben ins Netz: Der Social-TV-Sender One Hamburg<br />

sieht sich als Bindeglied der Gesellschaft.<br />

TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />

FOTOS: ANDREAS HORNOFF UND ONE HAMBURG<br />

E<br />

ine Backsteinwand, ein graues<br />

Sofa, Teppich, Topfpflanzen<br />

– etwa so sieht der Ort<br />

aus, an dem sich im Frühjahr<br />

<strong>2020</strong> Hamburgs Kulturszene verdichtet.<br />

Hier steigen Livekonzerte, die es anderswo<br />

nicht geben darf, hier diskutieren<br />

Menschen aus der ganzen Stadt in<br />

Echtzeit mit Politiker*innen. Es gibt<br />

Bar abende bis in die Nacht, Yogakurse<br />

und Shopping ohne Mundschutz. All<br />

das verbirgt sich hinter einer unscheinbaren<br />

Tür in einem Ottenser Hinterhof,<br />

wo der neue Social-TV-Kanal One<br />

Hamburg seit fast dreieinhalb Monaten<br />

unermüdlich dreht und sendet.<br />

„Kurz nach Hause, drei Stunden<br />

schlafen, und dann wieder hierher“, so<br />

beschreibt Maxime Billon die ersten<br />

Tage im Studio. Der 36-Jährige ist einer<br />

der sechs Gründer*innen von One<br />

Hamburg und vom ersten Moment an<br />

dabei. „Ich bin drei Stunden später dazugestoßen“,<br />

erzählt Isa Daur. Die<br />

26-Jährige sagt das, weil sich nur so die<br />

Entstehungsgeschichte des Senders erfassen<br />

lässt: in Stunden. Eine Runde<br />

hatte der Zeiger auf der Uhr gedreht,<br />

da hatte der Sender schon einen Namen.<br />

Zwei Stunden später standen die<br />

ersten Social-Media-Kanäle, Instagram,<br />

Facebook, Youtube, Twitch,<br />

Twitter, LinkedIn war in Mache. Auch<br />

die Idee für das Logo war fertig, bevor<br />

der Morgen graute. Dabei hatten sich<br />

die sechs Medienschaffenden ursprünglich<br />

gar nicht getroffen, um einen neuen<br />

Sender zu gründen. „Wir wollten eigentlich<br />

nur ein Bierchen zusammen<br />

trinken“, erzählt Billon. „Und dann<br />

kam eins zum anderen.“<br />

Denn was machen sechs kreative<br />

Köpfe, wenn gerade nichts zu tun ist?<br />

Sie hecken das nächste Projekt aus.<br />

Und diesmal war sogar absehbar, dass<br />

sie die Zeit dazu finden würden, es auch<br />

umzusetzen. Noch gab es an jenem<br />

Gründungsabend, dem 12. März, zwar<br />

keine verschärften Regeln in Hamburg.<br />

Aber dass die Coronapandemie längst<br />

im Gange war, ließ sich nicht mehr<br />

übersehen. „Shutdown hier, Shutdown<br />

dort – das konnte man schon hochrechnen“,<br />

sagt Billon.<br />

Die Stadt lebt<br />

im Digitalen<br />

wieder auf.<br />

Wo das analoge Stadtleben erstarrte,<br />

würde One Hamburg es im Digitalen<br />

wieder aufleben lassen – das ist die Idee<br />

hinter dem Social-TV-Sender. Sie funktioniert<br />

bis heute: Musiker*innen spielen<br />

live vor den Kameras und erreichen<br />

so ihre Fans zu Hause, lokale Bars und<br />

Geschäfte führen das Fernsehpublikum<br />

durch ihre Räume und erzählen, was<br />

bei ihnen gerade los ist. Auch Kunsthalle,<br />

Museen und Theater luden zu<br />

49


Beweglich bleiben trotz<br />

Stubenhockerei:<br />

Yogastunden und Poetry-<br />

Slam halten Körper<br />

und Geist fit.<br />

„Hausbesuchen“ ein und konnten so<br />

auch hinter verschlossenen Türen von<br />

sich hören lassen. Zudem spinnt One<br />

Hamburg politische und gesellschaftliche<br />

Debatten weiter – sei es im interaktiven<br />

Gespräch mit dem Bürgermeister,<br />

sei es bei der feministischen Talkshow.<br />

One Hamburg versteht sich als Bindeglied<br />

zwischen denen, die helfen können<br />

und denen, die Hilfe brauchen.<br />

Letztere gibt es krisenbedingt noch<br />

mehr als sonst. Auch deshalb gibt es eine<br />

Sendung zum Thema Privatinsolvenz<br />

und lädt das Team die Sozialsenatorin<br />

Melanie Leonhard (SPD) zum<br />

Interview auf das graue Sofa ein. Fragen<br />

stellen dabei nicht nur die<br />

Moderator*innen, sondern auch die<br />

Zuschauer*innen, die über Laptop, Tablet<br />

oder Handy live dabei sind. Isa<br />

Daur und Maxime Billon erklären, wie<br />

das geht: Die Zuschauer*innen posten<br />

Kommentare auf Youtube, Facebook<br />

oder Twitter, die dann ins Studio geleitet<br />

werden. So kann die Moderatorin<br />

die Frage aufgreifen. Wenn der Gast<br />

darauf eingeht, erscheint auch die Frage<br />

auf dem Bildschirm. Auch das heißt<br />

„Social TV“ – alle sind Teil der Sendung,<br />

alle dürfen mitreden.<br />

Die Idee kommt gut an. Schon vor<br />

der ersten Sendung bekamen Daur, Billon<br />

und ihre Mitstreiter*innen Jan<br />

Traupe, Patrick Kosmala, Anton Geissmar<br />

und Kim Dormann Rückenwind<br />

aus der Social­Media­Community. Die<br />

Netzwerke, die sie mit ihren Firmen<br />

Geheimtipp Hamburg, Redpinata,<br />

Museumsbesuche,<br />

interaktive Debatten<br />

und Livekonzerte: One<br />

Hamburg macht vieles<br />

digital möglich, was in<br />

Coronazeiten lange<br />

vermisst wurde.<br />

Moodmacher+ und Ideedialog geknüpft<br />

hatten, zahlten sich aus:<br />

Freund*innen und Follower*innen<br />

machten das Medium in Windeseile bekannt,<br />

teilten die ersten Posts und bewarben<br />

die Sendungen schon, bevor sie<br />

im Netz ausgestrahlt wurden. Wo andere<br />

Projekte langsam Fahrt aufnehmen,<br />

One Hamburg<br />

spinnt gesellschaftliche<br />

Debatten weiter.<br />

legte One Hamburg einen Senkrechtstart<br />

hin.<br />

„Es kommt mir vor, als ob das alles<br />

schon drei Jahre her ist“, sagt Isa Daur.<br />

Sie überlegt kurz und kommt zu dem<br />

Schluss: „Wir haben uns bis jetzt alle jeden<br />

Tag gesehen.“ Auch am Wochenende.<br />

Denn in einer Zeit, in der der<br />

50<br />

Bildschirm für viele das Fenster zur<br />

Stadt darstellte, waren Sendepausen<br />

nicht vorgesehen. Anfangs hätten sie sogar<br />

rund um die Uhr live senden wollen,<br />

erzählt Daur. Ideen gab es genug,<br />

Personal auch – ihre PR­ und Produktionsfirmen<br />

hätten ohnehin erst einmal<br />

nichts anderes tun können. Worauf also<br />

warten?<br />

Der Aufschlag kam am 19. März,<br />

eine Woche nach dem Gründungstreffen:<br />

Kultursenator Carsten Brosda<br />

(SPD) stellte sich als erster Gast den<br />

Fragen von Kim Dormann, Jan Traupe<br />

und den Zuschauer*innen – seitdem ist<br />

One Hamburg fast täglich auf Sendung.<br />

Rückblickend kann Maxime Billon<br />

kaum glauben, dass alles so schnell<br />

ging. Das Interview mit dem Kultursenator<br />

sei so spontan entstanden, dass eine<br />

Stunde vor Drehbeginn nicht einmal<br />

die Technik stand. Ein Testlauf, so wie<br />

sie es sonst machen würden? Undenkbar.<br />

„Wir sind zum Verleiher gerannt,<br />

um noch ein fehlendes Kabel zu bekommen,<br />

haben es reingesteckt, hat


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Kunzt&Kult<br />

Die<br />

Großuhrwerkstatt<br />

Bent Borwitzky<br />

Uhrmachermeister<br />

Telefon: 040/298 34 274<br />

www.grossuhrwerkstatt.de<br />

Verkauf und Reparatur<br />

von mechanischen Tisch-,<br />

Wand- und Standuhren<br />

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TAIJIQUAN<br />

MEDITATION<br />

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www.tai-chi- lebenskunst.de<br />

funktioniert, im nächsten Moment<br />

kommt er rein“, erzählt Maxime. „Unter<br />

normalen Umständen hätte das so<br />

gar nicht funktionieren können.“<br />

Heute lässt das Team es etwas ruhiger<br />

angehen. Zum einen ist nun auch<br />

draußen wieder mehr los, viele genießen<br />

trotz Corona den Sommer und<br />

treffen wieder Freund*innen im analogen<br />

Leben. „Da braucht man nicht zu<br />

denken, dass die Leute alle zu Hause<br />

sitzen und wir vier Shows am Tag machen<br />

müssen“, sagt Daur.<br />

Zum anderen fehlt die Ausstattung<br />

für so ein Programm: Im Studio wurde<br />

eingebrochen, Kameras, Objektive und<br />

Sendetechnik ausgeräumt. Der Schaden<br />

liege bei mindestens 100.000 Euro,<br />

sagen die Macher*innen. Versicherungsschutz?<br />

„Wir haben leider noch<br />

keinerlei Feedback von den Versicherungen“,<br />

sagen sie.<br />

Seit Ende März läuft deshalb eine<br />

Crowdfunding-Aktion. Daur, Billon<br />

und ihre Kollegen bitten nun selbst um<br />

Unterstützung. Sie hoffen, zumindest<br />

einen Teil des Verlustes wieder wettmachen<br />

zu können, drehen mit geliehenem<br />

Material weiter und nutzen die<br />

zwangsläufig ruhigeren Zeiten für neue<br />

kreative Ideen.<br />

„Es ist auch eine Gelegenheit, zu<br />

reflektieren: Welche Formate wollen wir<br />

weiterentwickeln, was führen wir fort?“,<br />

sagt Isa Daur. „Einfach zu senden, um<br />

zu senden, das macht keinen Sinn.“<br />

Weitergehen soll es zum Beispiel<br />

mit Sendungen wie „Musik für Musik“,<br />

in denen aufstrebende Künstler*innen<br />

51<br />

auf der Dachterrasse des Clubs The<br />

Sultans Cube auftreten und erzählen,<br />

wie sie die Coronakrise erleben – ein<br />

Format, bei dem das Publikum direkt<br />

an die Künstler*innen spenden kann<br />

und das One Hamburg exklusiv ausstrahlt,<br />

bevor es auf Youtube landet.<br />

Auch bewährte Shows wie „Kein Gesabbel“,<br />

Wein- oder Schokotasting, Finanztalk<br />

und der Yogaflow sollen im<br />

Programm bleiben. Darüber hinaus<br />

plant das Team neue Formate. Welche,<br />

das wollen Isa Daur und Maxime Billon<br />

noch nicht verraten. Nur so viel: „Es<br />

wird gut.“ •<br />

Kontakt: annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />

Sendung verpasst?<br />

Unter www.one-hh.de stellt sich der<br />

Social-TV-Sender One Hamburg vor. Hier<br />

wird das aktuelle Liveprogramm angekündigt.<br />

Wer bei Tastings oder interaktiven<br />

Debatten mitmachen möchte, sollte also<br />

rechtzeitig einschalten. Anschließend<br />

kommt alles in die Mediathek, die<br />

beständig wächst: Jede Sendung, die bei<br />

One Hamburg ausgestrahlt wurde, ist im<br />

Nachhinein rund um die Uhr abrufbar.<br />

JETZT<br />

SPENDEN<br />

Hamburger Sparkasse<br />

IBAN: DE5620050550<br />

1280167873<br />

BIC: HASPDEHHXXX<br />

Freilichtmuseum am Kiekeberg.<br />

www.kiekeberg-museum.de<br />

Landlust vor<br />

den Toren Hamburgs<br />

in Hamburgs Süden,<br />

direkt an der A7, HH-Marmstorf<br />

kostenfreie Parkplätze


Kult<br />

Tipps für den<br />

Monat <strong>Juli</strong>:<br />

subjektiv und<br />

einladend<br />

Film<br />

„Black Lives Matter“ im Kino<br />

Auch Spike Lees Film „Do the Right Thing“ und „To Kill a Mocking Bird“<br />

von Robert Mulligan sind Teil der Filmreihe im Metropolis Kino.<br />

„Ich bin kein Nigger, ich bin ein Mann.<br />

Aber wenn ihr denkt, ich sei ein Nigger,<br />

dann heißt das: Ihr braucht das. Und<br />

ihr müsst euch fragen, warum.“ Diese<br />

Worte stammen von James Baldwin,<br />

Zeitgenosse und Weggefährte von Martin<br />

Luther King und Malcolm X. Der<br />

Dokumentarfilm „I Am Not Your<br />

Negro“ greift sie wieder auf und kommentiert<br />

mit Baldwins Texten die Geschichte<br />

der Unterdrückung von<br />

Schwarzen in den USA von der Sklavenhaltung<br />

bis heute. Der Film ist wieder<br />

einmal brandaktuell – und zu sehen<br />

im Metropolis Kino, das dem Thema<br />

unter dem Motto „Black Lives Matter“<br />

eine dreiteilige Reihe widmet. •<br />

Metropolis, Kleine Theaterstrasse 10, ab<br />

Mi, 1.7., fünf Termine, ab 19 Uhr/21.45<br />

Uhr, Eintritt 7,50/5 Euro, Programm unter<br />

www.metropoliskino.de<br />

52


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Kunzt&Kult<br />

Nur auf den<br />

ersten Blick<br />

niedlich: Die<br />

Bilder und<br />

Skulpturen<br />

des Künstlerduos<br />

Doppeldenk<br />

spielen<br />

mit verbreiteten<br />

Klischees.<br />

Ausstellung<br />

In Gedanken weit weg<br />

Sommer ohne Sommerurlaub? Um<br />

ihr Publikum zumindest visuell in die<br />

Ferne schweifen zu lassen, verlängert<br />

die Galerie VisuleX ihre Ausstellung<br />

„Sehnsuchtsorte“, bei der unterschiedliche<br />

Fotograf*innen ihre liebsten<br />

Reiseziele ins Bild bannen. •<br />

VisuleX, Loogestraße 6, den ganzen<br />

Monat, Mi–Fr, 15–18 Uhr, Sa,<br />

13–18 Uhr, Eintritt frei, www.visulex.net<br />

FOTOS: FILMSTILL „DO THE RIGHT THING“ (S. 52), DOPPELDENK (S. 53 OBEN), WEYDEMANN BROS. GMBH/MONIKA PLURA (S. 53 UNTEN)<br />

Ausstellung<br />

Bauklötze staunen<br />

Bunt und witzig sehen sie aus, die kubischen Figuren des Leipziger Künstlerduos<br />

Doppeldenk. Doch bei näherem Hinsehen haben es die Skulpturen und Gemälde<br />

in sich: ein lächelnder Gerichtsvollzieher mit zwitscherndem Kuckuck auf der<br />

Schulter? Ein aus Neonröhren geformter Polizeiwagen mit Ringelschwänzchen?<br />

Die Werke der Ausstellung „100 +1 Jahre Bauhaus“ konfrontieren das Publikum<br />

mit verbreiteten und privat gehegten Klischees. Im Stil greifen die beiden Künstler<br />

die Formensprache des Bauhaus auf. Das ist auch gut fürs Geschäft, wie sie<br />

selbstironisch anmerken: „Besser verdienen mit Bauhaus!“ lautet einer ihrer Slogans<br />

für die Ausstellung. •<br />

Affenfaust Galerie, Paul-Roosen-Straße 43, Mi–So, 14–18 Uhr, Eintritt frei,<br />

www.affenfaustgalerie.de<br />

Kinder<br />

Freundschaft mit Startschwierigkeiten<br />

Es läuft nicht gut für Ben: Weil sein Dorf für den Braunkohleabbau weggebaggert<br />

werden soll, zieht die Familie in die Stadt. Hier ist Ben das „Landei“, soll in der<br />

Fußballmannschaft Abwehr spielen statt Tore schießen und in der Klasse alleine<br />

sitzen – bis Tariq dazu kommt, dessen<br />

Familie aus Syrien geflüchtet<br />

ist. Jetzt gibt es zwei Jungs in der<br />

Klasse, die die Pause allein verbringen,<br />

jeder auf einer Tischtennisplatte<br />

hockend, in Gedanken bei<br />

den Freunden zu Hause. Erst langsam<br />

kapiert Ben, dass Tariq ein<br />

ziemlich dufter Typ ist. Sie werden<br />

Freunde – und „Brüder“, wie Tariq<br />

sagt. Denn als Ben hört, dass Tariqs<br />

echter Bruder noch auf der Flucht<br />

ist, will er helfen. Der Film „Zu<br />

weit weg“ erzählt von Gefühlen, die<br />

fast jedes Kind kennt. •<br />

Abaton Kino, Allendeplatz 3 / Ecke<br />

Grindelhof, ab Do, 2.7.,<br />

Eintritt 5,50 Euro, www.abaton.de<br />

In seiner alten Mannschaft war Ben der Torjäger –<br />

in der neuen soll er plötzlich Abwehr spielen.<br />

Literatur<br />

Mobile Momentaufnahmen<br />

Geschichte schreiben kann jede*r: In<br />

Winterhude, Barmbek und Langenhorn<br />

ist zu diesem Zweck ein<br />

Schreibmobil unterwegs. Wer das<br />

Lastenrad mit aufmontierter Schreibmaschine<br />

antrifft, kann Platz nehmen<br />

und in frei gewähltem Stil den Moment<br />

festhalten. So entsteht ein Stimmungsbild<br />

von Hamburg-Nord, in<br />

dem viele zu Wort kommen. •<br />

Schreibmobil „Moment mal“, unterwegs<br />

in Hamburg-Nord, den ganzen Monat,<br />

momentmal.jimdosite.com<br />

Ausstellung<br />

Queere Fluchtgeschichten<br />

„Fluchtursache: Liebe“ heißt eine<br />

neue Sonderausstellung im Auswanderermuseum<br />

Ballinstadt. Sie widmet<br />

sich den vielen Menschen, die flüchten<br />

müssen, weil sie wegen ihrer Liebe<br />

zum angeblich „falschen“ Geschlecht<br />

verfolgt und angegriffen werden. •<br />

Auswanderermuseum Ballinstadt,<br />

Veddeler Bogen 2, Mi–So, 10–16.30 Uhr,<br />

Eintritt 13/11 Euro, www.ballinstadt.de<br />

Digitalangebot<br />

Vom Sofa in die Elphi<br />

Die Elbphilharmonie gilt vielen als<br />

elitärer Musentempel. Doch was geht<br />

drinnen wirklich vor? In einem großen<br />

Digitalprogramm stellt das Haus<br />

sich und seine Künstler*innen vor<br />

und erklärt, wie der „Elbphilharmonie<br />

Hilfsfonds“ funktioniert. •<br />

Elbphilharmonie, jederzeit online unter<br />

www.elbphilharmonie.de/blog<br />

53


Ausstellung<br />

Über den Dächern der Welt<br />

Die Hamburger Künstlerin Jeannine<br />

Platz ist Fachfrau fürs große Panorama:<br />

Zuletzt fuhr sie zwecks Landschaftsmalerei<br />

mit einem Eisbrecher ins Nordpolarmeer<br />

und in die Antarktis. „Ich<br />

wollte auf einer Eisscholle am Nordpol<br />

sitzen und die Weite malen“, erklärte sie<br />

nach ihrer Rückkehr. Es war keine<br />

leichte Expedition: Ständig drohten<br />

ihre Farben einzufrieren, ein Eisbär<br />

machte sich an dem Malzeug zu schaffen,<br />

als die Künstlerin gerade ihren Posten<br />

verlassen hatte. Für die Produktion<br />

ihrer Ausstellung „Suite View“ wählte<br />

Jeannine Platz deutlich komfortablere<br />

Orte. In mehr als 30 Großstädten von<br />

Tokio bis Mexico City bezog sie Suiten<br />

von Hotels mit atemberaubendem Ausblick,<br />

breitete ihre Leinwand auf dem<br />

Boden aus und malte, was sie vor dem<br />

54<br />

Jeannine Platz benutzt zum Malen keine Pinsel,<br />

sondern meistens ihre Finger.<br />

Fenster sah: Skylines, das Meer, glitzernde<br />

Industrielandschaften bei Nacht.<br />

Auch der Hamburger Hafen kommt in<br />

der Ausstellung groß raus, Planten un<br />

Blomen, die Alster. Zu sehen ist die<br />

malerische Weltreise in der Hafencity. •<br />

Nissis Kunstkantine, Am Dalmannkai 6,<br />

täglich nach Terminabsprache unter<br />

0160- 93 816 783, Eintritt frei,<br />

www.nissis-kunstkantine.de


Kunzt&Kult<br />

Kinofilm des Monats<br />

Ohne Flosse,<br />

mit Fluch<br />

FOTOS: JULIA LÖWE (S. 54), MIKE AUERBACH / LISCHKE&KLANDT FILMPRODUKTION (S. 55 OBEN), PRIVAT.<br />

Film<br />

Träumen am Tresen<br />

Theater<br />

Sprechwerk spielt wieder live<br />

Während die großen Theater sich in<br />

die Spielpause verabschieden, nimmt<br />

das Sprechwerk die Herausforderung<br />

an, trotz Corona wieder live zu spielen.<br />

Unter Sicherheitsauflagen startet<br />

das Programm mit einer Verwechslungskomödie<br />

des britischen Dramatikers<br />

Ayckbourn: „Halbe Wahrheiten“<br />

handelt von zwei Paaren, die sich immer<br />

tiefer in gefühlte und tatsächliche<br />

Betrügereien verstricken, bis kaum<br />

noch erkennbar ist, wer eigentlich mit<br />

wem fremdgeht. Mit absurder Komik<br />

und schwarzem Humor geht es weiter,<br />

wenn am 24. <strong>Juli</strong> mit „Hetz Hetz“ die<br />

zweite Produktion des Sommers startet:<br />

Nadja Lutter und Lydia Laleike<br />

spielen zwei WG-Bewohnerinnen, die<br />

am Rande des Burn-outs ihr Leben zu<br />

optimieren versuchen. •<br />

Sprechwerk, Klaus-Groth-Straße 23,<br />

ab Fr, 17.7., 20 Uhr, Eintritt 22/<br />

12,80 Euro, www.sprechwerk.hamburg<br />

55<br />

Barkeeper, Kumpel, Fels in der<br />

Brandung: Lene ist die gute Seele<br />

in Klaus' kleiner Kiezkneipe.<br />

In einer Berliner Kiezkneipe pflegt Lene die Seelen ihrer Stammkundschaft.<br />

Doch auch die Barfrau hat Träume. Ihr größter: das Konzert des dänischen<br />

Musikers Leif, den sie in der kleinen Kneipe groß rausbringen will. Leider hält<br />

Barchef Klaus davon gar nichts. Lene muss sich entscheiden: Setzt sie sich durch<br />

und damit alles auf eine Karte? „Leif in Concert – Vol.2“ heißt der Film,<br />

obwohl er vor „Vol.1“ erscheint. Die Vorgeschichte soll später folgen. •<br />

Open Air Kino, Schanzenpark, Di, 21.7., 10 Euro<br />

Autokino<br />

Klassisches Dilemma<br />

Auf der Flucht nach Europa gerät<br />

das Boot, in dem Francis sitzt, in einen<br />

Sturm und droht zu sinken. Nur<br />

knapp überlebt der Flüchtende und<br />

schwört sich, von nun an ein guter<br />

Mensch zu sein. Doch in Deutschland<br />

angekommen stellt er fest: In<br />

einer Gesellschaft, die ihm kaum<br />

Schutz bietet, ist das nicht leicht. Der<br />

Film „Berlin Alexanderplatz“ spielt<br />

mit dem Dilemma des gleichnamigen<br />

Romans und ergänzt als Wegbegleiter<br />

die Figur Franz Biberkopf in die<br />

Handlung. Im <strong>Juli</strong> ist er auf dem<br />

Heiligengeistfeld zu sehen. •<br />

Autokino „Bewegte Zeiten“, Heiligengeistfeld,<br />

Mi, 15.7., 20 Uhr, Eintritt ab 18 Euro,<br />

www.zeise.de<br />

Über Tipps für August freut sich<br />

Annabel Trautwein. Bitte bis zum 10.7.<br />

schicken: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Filme mit Nixen sind am Ende<br />

meist traurig. Denn solche<br />

Frauen lieben selten glücklich.<br />

Und wenn, dann eben<br />

nur kurz. Den ollen Mythos<br />

erzählt Filmemacher Christian<br />

Petzold modern in seinem<br />

Berlinale-Film „Undine“.<br />

Die gleichnamige Protagonistin<br />

hat zwar keine Flosse,<br />

hat es trotzdem aber auch<br />

nicht leicht. Nicht nur, dass<br />

es für die Historikerin mit<br />

den Männern bislang nicht<br />

so lief, sie musste diese, wenn<br />

sie fremdgegangen oder fortgelaufen<br />

sind, umbringen. So<br />

will es der Fluch. Und Undine<br />

immer weniger. Als kluge<br />

und moderne Frau hat sie<br />

nämlich für Flüche noch weniger<br />

übrig als für untreue<br />

Männer. Zumal ihr neuer –<br />

Christoph, ein Berufstaucher<br />

– sie tatsächlich von ganzem<br />

Herzen liebt. Der erfahrene<br />

Kinogucker ahnt es längst:<br />

Das Drama schleicht sich in<br />

den Film wie der Hai in den<br />

Sardinenschwarm. Denn<br />

tauchten beide gerade erst<br />

durch eine zauberhafte Unterwasserwelt,<br />

werden die<br />

Zeichen immer bedrohlicher.<br />

Als Christoph bemerkt, dass<br />

Undine ihm etwas verheimlicht,<br />

distanziert er sich von<br />

seiner großen Liebe. Undine<br />

muss sich entscheiden. Zum<br />

Glück darf das Kino endlich<br />

wieder, was es immer am besten<br />

konnte: in zauberhafte<br />

Welten entführen, Geschichten<br />

erzählen, das Herz berühren.<br />

Das Zeise Kino zeigt<br />

dieses moderne Märchen<br />

Anfang <strong>Juli</strong>. •<br />

André Schmidt<br />

geht seit<br />

Jahren für uns<br />

ins Kino.<br />

Er arbeitet in der<br />

PR-Branche.


Hamburger<br />

Geschichte(n)<br />

#4<br />

Kunzt&Kult<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />

Weil sie keine Läden betreiben durften, boten<br />

jüdische Händler*innen ihre Waren unter freiem<br />

Himmel an. In der heutigen Neanderstraße ist<br />

vom damaligen Trubel nichts mehr zu spüren.<br />

Der jüdische Markt<br />

in der Neustadt<br />

Prachtvolle Kaufmannsfassaden lassen vermuten, dass in der<br />

Neanderstraße einst reiche Leute lebten. Stimmt nicht –<br />

nur ist die Geschichte der Armen dort kaum noch zu sehen.<br />

Wer das Flair des alten Hamburgs liebt,<br />

kommt um die Neustadt nicht herum.<br />

Spurensucher Jürgen Jobsen wohnt sogar<br />

mittendrin. „Als ich zum ersten Mal<br />

herkam, dachte ich: ‚Dass es so etwas<br />

noch in Hamburg gibt!‘“, schwärmt der<br />

Hinz&Kunzt-Mitarbeiter beim Spaziergang<br />

durch die Neanderstraße und<br />

die Peterstraße, die von prächtigen<br />

Häuserfronten gesäumt werden. Dabei<br />

ist einiges hier sprichwörtlich Fassade.<br />

Erst in den 1960er-Jahren ließ der Stifter<br />

und Mäzen Alfred C. Toepfer die<br />

Kulisse entstehen, die Historiker*innen<br />

bisweilen als „Disneyland“ belächeln.<br />

Ästhet Jürgen stört das nicht. Immerhin<br />

imitierten Toepfers Bauleute die Fassaden<br />

von Kaufmannshäusern, die es an<br />

anderer Stelle tatsächlich einmal gab –<br />

bevor sie Ende des 19. Jahrhunderts<br />

planiert wurden, um Raum zu schaffen<br />

für den Freihafen. „Ich befürworte das<br />

inzwischen, dass man sich zumindest<br />

nach außen hin an das Alte hält“, sagt<br />

TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />

FOTOS: HAMBURG BILDARCHIV,<br />

ANDREAS HORNOFF<br />

Jürgen. „Besser als gar nichts.“ Was ihn<br />

dagegen massiv stört: Vor lauter Pracht<br />

ist kaum mehr etwas wiederzufinden<br />

von der tatsächlichen Geschichte des<br />

Viertels. Denn in und um die heutige<br />

Neanderstraße lebten vor allem arme<br />

Jüdinnen und Juden, die hier täglich<br />

Markt hielten. Diskriminierende Gesetze<br />

verboten ihnen, Ladengeschäfte zu<br />

führen – also wichen sie mit Handkarren<br />

und Ständen auf die Straße aus<br />

und verkauften, was sie verkaufen durften:<br />

Importware, gebrauchte Kleidung,<br />

Möbel und Bücher. „Hier hat jeden Tag<br />

das Leben stattgefunden“, sagt Jürgen.<br />

Der Markt war so beliebt, dass selbst<br />

nach Einführung der Gewerbefreiheit<br />

im Jahr 1846 noch auf den Straßen der<br />

Neustadt gefeilscht wurde. Erst 1925<br />

verbot die Polizei das quirlige Treiben.<br />

Begründung: zu viel Autoverkehr.<br />

Wer sich heute noch für die sogenannte<br />

Judenbörse interessiert, findet in<br />

den Straßen kaum Spuren. „Ich kenne<br />

hier keine Tafel, die darauf hinweist“,<br />

sagt Jürgen. Er selbst stieß zufällig beim<br />

Recherchieren auf den Markt, als er einem<br />

anderen Thema auf der Spur war.<br />

Dass über die jüdische Geschichte<br />

seiner Nachbarschaft hinweggetäuscht<br />

wird, macht Jürgen auch am Straßennamen<br />

fest: „Neanderstraße“ – ihm<br />

fällt dazu als erstes der Neandertaler<br />

ein. Sollte mit der Umbenennung 1948<br />

an den berühmten Urmenschen erinnert<br />

werden, dessen Knochen erstmals<br />

in Deutschland gefunden wurden? Andere<br />

Quellen führen den Namen auf<br />

einen Kirchenmann zurück: August<br />

Neander. Der 1789 geborene Sohn jüdischer<br />

Kaufleute ließ sich in Hamburg<br />

evangelisch taufen. „Ich finde das fragwürdig,<br />

die Straße nach einem Juden<br />

zu benennen, der zum Christentum<br />

konvertiert ist“, sagt Jürgen. Wenn<br />

schon ein neues Schild, dann hätte<br />

es seiner Meinung nach eine gut sichtbare<br />

Gedenktafel sein sollen – zur Erinnerung<br />

an die einfachen jüdischen<br />

Straßenhändler*innen. •<br />

Kontakt: annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />

Jürgen Jobsen (64)<br />

war früher<br />

Hinz&Künztler und<br />

arbeitet seit Jahren im<br />

Vertrieb.<br />

Rätselfrage:<br />

Wie hieß die Neanderstraße, als dort<br />

noch Markt gehalten wurde?<br />

Schreiben Sie uns (siehe rechts)!<br />

FOTOS: ANDREAS HORNOFF<br />

56


ai15928331517_<strong>Juli</strong>_<strong>329</strong>.pdf 1 22.06.20 15:39<br />

WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Rätsel<br />

ILLUSTRATION (BLEISTIFT IM IMPRESSUM): BERND MÖLCK-TASSEL<br />

Kehrgeräteteil<br />

Blasmusiker<br />

männliches<br />

Schwein<br />

Zitterpappel<br />

Teil der<br />

Westkarpaten<br />

zwei sich<br />

innig Zugeneigte<br />

Leihwagen,<br />

Taxi<br />

leichter<br />

Wind über<br />

dem Meer<br />

griech.<br />

Göttin<br />

des<br />

Unheils<br />

römischer<br />

Kaiser<br />

(96–98)<br />

5<br />

7<br />

8<br />

1<br />

Internat.<br />

Bankkontonummer<br />

(Abk.)<br />

2<br />

2<br />

Gutachten<br />

Pflanzenfaser<br />

zum<br />

Binden u.<br />

Flechten<br />

10<br />

Seil zum<br />

Segelzusammenholen<br />

verbündete<br />

Mächte<br />

3<br />

7<br />

das<br />

Seiende<br />

(Philosophie)<br />

Lebewesen<br />

Gemahlin<br />

Lohengrins<br />

wertloses<br />

Zeug,<br />

Plunder<br />

Roman von<br />

Erich<br />

Kästner<br />

veraltet:<br />

Ablehnung<br />

Stadt am<br />

Solling<br />

fertig<br />

gekocht<br />

Ausstoß<br />

eines<br />

Kfz-<br />

Motors<br />

europ.<br />

Fußballverband<br />

(Abk.)<br />

ai15928334049_<strong>Juli</strong>_<strong>329</strong>_Sudoku.pdf 1 22.06.20 15:43<br />

6<br />

9<br />

1<br />

6<br />

2<br />

5<br />

1<br />

3<br />

2<br />

6<br />

6<br />

4<br />

5<br />

4<br />

3<br />

9<br />

1<br />

8<br />

2<br />

5<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

9<br />

1<br />

Bewohner<br />

Trojas<br />

Reiseweg<br />

6<br />

AR0909-1219_5sudoku<br />

kurz für:<br />

an das<br />

Seevogel,<br />

Papageientaucher<br />

ital.,<br />

lateinisch:<br />

Meer<br />

schmaler<br />

Durchlass<br />

deutsche<br />

Spielkarte<br />

Saale-<br />

Zufluss<br />

Zahnfüllung<br />

zartes<br />

Fleisch<br />

von der<br />

Lende<br />

Stockung,<br />

Stillstand<br />

(Verkehr)<br />

rechter<br />

Nebenfluss<br />

der Rhône<br />

Strohunterlage<br />

Weltmacht<br />

(Abk.)<br />

Kurzwort<br />

für das<br />

Alphabet<br />

Eingabe,<br />

Forderung,<br />

Gesuch<br />

Strom<br />

zum Balchaschsee<br />

Feuerstelle,<br />

Kochstelle<br />

Fluss<br />

in Peru<br />

Füllen Sie das Gitter so<br />

aus, dass die Zahlen von<br />

1 bis 9 nur je einmal in<br />

jeder Reihe, in jeder<br />

Spalte und in jedem<br />

Neun-Kästchen-Block<br />

vorkommen.<br />

Als Lösung schicken<br />

Sie uns bitte die farbig<br />

gerahmte, unterste<br />

Zahlenreihe.<br />

Lösungen an: Hinz&Kunzt, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />

per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />

Einsendeschluss: 24. <strong>Juli</strong> <strong>2020</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />

Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel oder die Antwort<br />

auf die Preisfrage auf Seite 56 einsendet, kann zwei Karten für die<br />

Hamburger Kunsthalle oder eins von zwei Sachbüchern „Green New Deal“<br />

(Hamburger Editionen) von Ann Pettifor gewinnen. Die Antwort auf die<br />

Juni-Preisfrage lautete: Nemini male. Das Lösungswort beim Kreuzworträtsel<br />

war: Mitgefuehl. Die Sudoku-Zahlenreihe: 417 895 263.<br />

6<br />

8<br />

1<br />

4<br />

7<br />

1<br />

8<br />

9<br />

8<br />

9<br />

5<br />

10<br />

6<br />

12195 – raetselservice.de<br />

Impressum<br />

Redaktion und Verlag<br />

Hinz&Kunzt<br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />

Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg<br />

Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />

Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />

E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />

Herausgeber<br />

Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />

Externer Beirat<br />

Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />

Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />

Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />

Thomas Magold (BMW-Niederlassungsleiter i.R.),<br />

Karin Schmalriede (Lawaetz-Stiftung),<br />

Dr. Bernd-Georg Spies (Russell Reynolds),<br />

Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />

Geschäftsführung Jörn Sturm<br />

Redaktion Birgit Müller (bim; Chefredakteurin, V.i.S.d.P.),<br />

Annette Woywode (abi; Stellv., CvD), Jonas Füllner (jof),<br />

Lukas Gilbert (lg), Jochen Harberg (joc), Ulrich Jonas (ujo),<br />

Benjamin Laufer (bela), Misha Leuschen (leu), Annabel Trautwein (atw)<br />

Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />

Korrektorat Kristine Buchholz und Kerstin Weber<br />

Redaktionsassistenz Cedric Horbach,<br />

Marina Schünemann, Anja Steinfurth<br />

Artdirektion grafikdeerns.de<br />

Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />

Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />

Anzeigenvertretung Caroline Lange,<br />

Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, c.lange@wahring.de<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 24 vom 1. Januar 2019<br />

Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Sigi Pachan,<br />

Jürgen Jobsen, Meike Lehmann, Sergej Machov,<br />

Frank Nawatzki, Elena Pacuraru, Reiner Rümke, Marcel Stein,<br />

Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn<br />

Spendenmarketing Gabriele Koch<br />

Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />

Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel<br />

Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />

Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Chris Schlapp, Harald Buchinger<br />

Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Stefan Calin, Gheorghe-R zvan Marior, Pawel Marek Nowak<br />

Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />

Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger, Klaus Peterstorfer,<br />

Herbert Kosecki, Torsten Wenzel<br />

Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />

Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />

Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />

Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />

Umschlag-Druck Neef+Stumme premium printing GmbH & Co. KG<br />

QR Code ist ein eingetragenes Warenzeichen von Denso Wave Incorporated<br />

Spendenkonto Hinz&Kunzt<br />

IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73<br />

BIC: HASPDEHHXXX<br />

Die Hinz&Kunzt gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />

Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />

des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer 17/414/00797, vom<br />

21.1.2019, für den letzten Veranlagungszeitraum 2017 nach § 5 Abs.1 Nr. 9<br />

des Körperschaftssteuergesetzes von der Körperschaftssteuer und nach<br />

§ 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />

Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&Kunzt ist als<br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister beim<br />

Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen.<br />

Wir bestätigen, dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&Kunzt<br />

einsetzen. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte<br />

weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />

www.hinzundkunzt.de. Hinz&Kunzt ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />

obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />

Das Magazin wird von Journalisten geschrieben, Wohnungslose und<br />

ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter<br />

unterstützen die Verkäufer.<br />

Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />

Gesellschafter<br />

Druckauflage 2. Quartal <strong>2020</strong>:<br />

Coronabedingt gab es im April<br />

und Mai keine gedruckte Ausgabe.<br />

Druckauflage im Juni: 60.000<br />

57


Momentaufnahme<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>329</strong>/JULI <strong>2020</strong><br />

Als im Juni Tausende<br />

in Hamburg gegen<br />

Rassismus demonstriert<br />

haben, war Eugene dabei.<br />

„Keiner wird<br />

als Rassist geboren“<br />

Eugene (50) verkauft Hinz&Kunzt vor Rewe in der Max-Brauer-Allee.<br />

TEXT: JONAS FÜLLNER<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Der brutale Polizeieinsatz, der Ende<br />

Mai zum Tod des Afroamerikaners<br />

George Floyd in Minneapolis (USA)<br />

führte, löste weltweit Proteste gegen<br />

Rassismus aus. Auch in Hamburg<br />

gingen am 6. Juni Tausende unter dem<br />

Motto „Black Lives Matter“ auf die<br />

Straße – „Schwarze Leben zählen“.<br />

Eugene war dabei. Der 50-Jährige<br />

ist einer der wenigen Schwarzen unter<br />

den Hinz&Kunzt-Verkäufer*innen.<br />

Ende 2016 stieß der gebürtige Nigerianer<br />

zu Hinz&Kunzt. Auch auf Hamburgs<br />

Straßen erlebt er immer wieder<br />

Ausgrenzung: „Die Charakterzüge des<br />

Polizeibeamten in Minneapolis findet<br />

man leider überall auf der Welt“, sagt<br />

Eu gene auf Englisch, seiner Heimatsprache,<br />

mit der er sich im Gespräch sicherer<br />

fühlt. „Ich bin viel gereist, habe<br />

in unterschiedlichen Ländern gelebt<br />

und muss sagen: ‚Rassismus ist ein weltweites<br />

Problem.‘“<br />

Deswegen begrüßt er die aufkeimenden<br />

Proteste. Sie geben ihm Hoffnung.<br />

„Noboby is born a racist“, sagt<br />

Eugene – keiner wird als Rassist geboren.<br />

„Bringt man ein schwarzes und ein<br />

weißes Baby zusammen, dann spielen<br />

und lachen sie. Erst die Gesellschaft<br />

und ihre Ausschlüsse führen dazu, dass<br />

Menschen sich hassen und ablehnen.“<br />

Oftmals müssten vor allem die leiden,<br />

die sowieso schon am Rande stehen.<br />

Eugene weiß, wovon er spricht:<br />

Noch vor vier Jahren lebte er in der<br />

Notunterkunft Pik As. Dann kam es zu<br />

einem Wendepunkt in seinem Leben:<br />

Mit rund 100 anderen Obdachlosen<br />

aus Hamburg durfte der gläubige<br />

Christ 2016 einer Einladung des Papstes<br />

nach Rom folgen. Unterwegs kam er<br />

in Kontakt mit Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter<br />

Stephan Karrenbauer, der ihm<br />

später einen Platz im damaligen<br />

Hinz&Kunzt-Winternotprogramm<br />

vermittelte.<br />

Für Eugene ein echter Neustart.<br />

Der einst erfolgreiche Geschäftsmann<br />

war tief gestürzt. Ursprünglich kam er<br />

vor bald zehn Jahren nach Europa, um<br />

sein Geld in der Bekleidungsbranche zu<br />

verdienen.<br />

Anfänglich lief es gut. In Athen<br />

hatte er eine eigene Boutique. Doch<br />

auf dem Höhepunkt der griechischen<br />

Finanzkrise Mitte der 2010er-Jahre<br />

geriet Eugene in eine finanzielle Schieflage<br />

und musste sein Geschäft aufgeben.<br />

Wie viele andere suchte er sein Glück in<br />

Deutschland. Aber er fand keine Arbeit,<br />

erkrankte zudem und endete als Asylbewerber<br />

ohne echte Perspektive.<br />

Erst die Romreise wendete sein<br />

Leben zum Positiven. Nach dem Ende<br />

des Hinz&Kunzt-Winternotprogramms<br />

fand er gar eine Wohnung und damit<br />

den Weg raus aus der Obdachlosigkeit.<br />

Während sich sein Leben unglaublich<br />

schnell veränderte, macht er sich<br />

bezogen auf die Gesellschaft keine Illusion.<br />

„Rassismus entstand nicht von<br />

einem Tag auf den anderen“, sagt<br />

Eugene. „Das Problem entwickelte<br />

sich über Generationen. Es wird lange<br />

dauern, um den Rassismus wieder aus<br />

den Köpfen der Menschen zu bekommen.“<br />

Trotzdem ist Eugene angesichts<br />

der Proteste optimistisch: „Wenn ich<br />

mich jetzt umschaue und sehe, was<br />

gerade passiert, dann muss ich sagen:<br />

‚Die Reise hat begonnen.‘“ •<br />

Kontakt: jonas.fuellner@hinzundkunzt.de<br />

Eugene und alle anderen Hinz&Künztler<br />

erkennt man am Verkaufsausweis.<br />

6318<br />

58


KUNZT-<br />

KOLLEKTION<br />

BESTELLEN SIE DIESE UND WEITERE PRODUKTE BEI: Hinz&Kunzt gGmbH,<br />

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Tel. 32 10 83 11. Preise zzgl. Versandkostenpauschale 4 Euro, Ausland auf Anfrage.<br />

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von Hinz&Kunzt<br />

Ein kulinarisches Dankeschön an die<br />

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Hamburgs<br />

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„Ein mittelschönes Leben“<br />

Eine Geschichte über Obdachlosigkeit<br />

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von Kirsten Boie, illustriert<br />

von Jutta Bauer, 7. Auflage 2017.<br />

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