Rahlstedter Leben September 2020
Das Stadtteilmagazin im Hamburg
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Zwiegespräch mit einem Pastor<br />
Matthias Marks: Corona hat ja viele existenzielle<br />
Fragen aufgeworfen. Interessant<br />
finde ich, dass dazu auch diese Frage gehört,<br />
und zwar nicht nur in frommen Kreisen.<br />
Auch Menschen, die von sich selber<br />
sagen, dass sie mit Kirche und Religion<br />
nicht viel am Hut haben, machen sich<br />
Gedanken darüber. Das zeigt: Religion –<br />
oder wie auch immer wir den Bezug zum<br />
Göttlichen nennen wollen – ist keine Sonderwelt,<br />
die man hat oder nicht hat. Wenn<br />
es im <strong>Leben</strong> um die Wurst geht, kommen<br />
unsere elementarsten Anliegen zum Vorschein<br />
und wir fragen nach einer höheren<br />
Macht: „Ist da jemand, der es gut mit mir<br />
meint? Der uns in dieser Krise beschützt?<br />
Der Corona die Stirn bieten kann?“ Aber<br />
dieses Ausgreifen über uns selbst hinaus<br />
kann auch noch andere Gründe haben.<br />
Wir Menschen tun uns leichter, mit einer<br />
solchen Krise klarzukommen, wenn es<br />
einen Schuldigen gibt, der dafür bestraft<br />
werden kann. Corona ist unsichtbar. Wem<br />
soll die Strafe gelten? Und dann kommen<br />
archaische Bewältigungsmuster ins Spiel:<br />
Gott als Richter schickt Corona, um die<br />
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Ist Corona<br />
eine Strafe Gottes?<br />
Fragen: Virginie Siems Antworten: Matthias Marks<br />
Bosheit der Menschen abzustrafen. Eine<br />
gereifte Religiosität sieht anders aus.<br />
Virginie Siems: Naturereignisse als Strafe<br />
Gottes zu verstehen – dafür liefert die<br />
Bibel ja schon grauenvolle Beispiele.<br />
M.M.: Vielleicht denken Sie an die Sintflutgeschichte<br />
(1. Mose 7). Sie wird so erzählt,<br />
dass Gott die Bosheiten, die die Menschen<br />
auf der Erde anrichten, nicht länger<br />
ertragen will. Er bereut sogar, dass er die<br />
Menschen überhaupt geschaffen hat. Und<br />
weil er keine Chance sieht, dass sie sich<br />
bessern, macht er Tabula Rasa. Nur Noah<br />
mit seiner Familie bleibt bewahrt und mit<br />
ihm auf seiner Arche jeweils ein Paar von<br />
allen Tieren. So ist wenigstens die Möglichkeit<br />
gegeben, dass das <strong>Leben</strong> neu weitergehen<br />
kann.<br />
Aus dem Konfirmandenunterricht weiß<br />
ich noch, dass in der Bibel von Plagen die<br />
Rede ist.<br />
Wow, gut aufgepasst! Ja, diese Geschichte<br />
(2. Mose 7-11) ist ein Beispiel dafür, wie lebensbedrohliche<br />
Naturereignisse als Got-<br />
Fragen<br />
an Matthias<br />
Marks<br />
Pastor seit 2019<br />
in der<br />
Ev. Kirchengemeinde<br />
Alt-Rahlstedt<br />
tes Machtwerkzeuge verstanden werden.<br />
Gott hatte Mose berufen, das Volk Israel<br />
aus der ägyptischen Sklaverei in die Freiheit<br />
zu führen. Der Pharao weigerte sich,<br />
Gottes Plan zu unterstützen. Dann kam<br />
die erste Plage: Alle Gewässer wurden zu<br />
Blut, die Trinkwasserversorgung brach<br />
zusammen. Aber der Pharao „nahm's<br />
nicht zu Herzen“. Auch nicht, als die Daumenschraube<br />
mit weiteren Plagen immer<br />
weiter angezogen wurde: Frösche, Stechmücken,<br />
Stechfliegen, Viehpest, Blattern,<br />
Hagel, Heuschrecken, Finsternis. Erst zum<br />
Schluss, als es dem Pharao persönlich ans<br />
Leder ging und sein Sohn, der Thronnachfolger,<br />
starb, knickte er ein. Die 10 Plagen<br />
werden also nicht im Sinne einer Strafe,<br />
sondern eher als Druckmittel von oben<br />
verstanden.<br />
Wenn heute Menschen fragen, ob Corona<br />
eine Strafe Gottes ist, dann meinen sie<br />
das vielleicht auch so: ob Gott uns etwas<br />
damit sagen will; ob er uns damit ein<br />
Zeichen geben will, dass in der Welt etwas<br />
schief läuft; ob Corona uns wachrütteln<br />
soll, damit wir einsehen, was nicht<br />
stimmt?<br />
Dann wäre Corona aber kein Justizakt<br />
eines strafenden Gottes, sondern der Rettungsversuch<br />
eines liebenden Gottes. So<br />
gesehen macht es Sinn zu schauen, was<br />
Corona auch an Gutem gebracht hat. „Entschleunigung“<br />
ist so ein Stichwort. Wenn<br />
man bedenkt, wie rasant und hektisch das<br />
normale <strong>Leben</strong> für viele geworden war,<br />
wirkt Corona vielleicht heilsam. Kennen<br />
Sie die Geschichte: Eine Reisegruppe will<br />
den Dschungel erkunden. Ihr Gepäck wird<br />
von Ureinwohnern getragen. Am ersten<br />
Tag geht es zügig voran. Aber schon am<br />
zweiten Tag bleiben die Ureinwohner<br />
immer weiter hinter der Gruppe zurück.<br />
Schließlich bleiben sie sitzen. Auf die Frage,<br />
ob das ein Streik sei, ob sie vielleicht<br />
mehr Geld wollen, lautet die Antwort: Uns<br />
ist die Seele abhandengekommen und nun<br />
müssen wir warten, bis sie uns wieder eingeholt<br />
hat.<br />
Corona – die nötige Handbremse, damit<br />
wir Menschen mal wieder mehr zu uns<br />
selbst kommen?<br />
„Die Entdeckung der Langsamkeit“ heißt<br />
ein Roman von Sten Nadolny aus den<br />
80ern. Den könnte man mal wieder lesen.<br />
Natürlich ist eine selbst gewählte<br />
Entschleunigung, wie z.B. Urlaub, etwas<br />
anderes als eine erzwungene. Viele sind<br />
durch Corona in ein Loch gefallen, wissen<br />
mit der vielen freien Zeit nichts anzufangen,<br />
leiden unter Beziehungskonflikten<br />
oder Einsamkeit. Aber das zeigt eigentlich,<br />
dass da im Grunde etwas nicht stimmt,<br />
was durch Corona auf den Tisch gekommen<br />
ist. Das ungeheure Tempo kann das<br />
<strong>Leben</strong> im Großen und im Kleinen aus dem<br />
Gleichgewicht bringen, wir verlieren die<br />
Aufmerksamkeit für uns selbst und füreinander<br />
und das muss irgendwann zum<br />
Kollaps führen (vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung<br />
und Entfremdung, 2013). Insofern<br />
kann man nur hoffen, dass die Corona-Handbremse<br />
heilsam wirkt. Und wer<br />
das dann mit Gott in Verbindung bringen<br />
möchte, in dem Sinne, dass die abhandengekommene<br />
Seele die Chance bekommt,<br />
uns wieder einzuholen – warum nicht?<br />
Aus verschiedenen Ecken hört man ja die<br />
Worte, dass die Zeit nach Corona eine andere<br />
sein wird als vor Corona.<br />
Corona ist ein Einschnitt. Die ganze Welt<br />
ist betroffen und dank der Medien weiß<br />
auch die ganze Welt, dass wir damit alle<br />
in einem Boot sitzen. Aber das heißt nicht,<br />
dass darauf nur Gleichgesinnte versammelt<br />
sind. Was löst Corona in uns aus?<br />
Einerseits hat die Krise zu mehr Solidarität<br />
geführt. Es ist doch genial, wie Wissenschaftler<br />
weltweit zusammenarbeiten,<br />
um einen Impfstoff zu entwickeln, wie<br />
viel Hilfsbereitschaft überall sichtbar<br />
wird, auch in unserer Gemeinde, wie viel<br />
Die Krise bringt ans Licht,<br />
was für Menschen wir sind.<br />
Gutes in dieser Zeit überall entstanden ist.<br />
Großartig! Aber es gibt leider auch andere<br />
Beispiele, die zeigen, dass Corona zu mehr<br />
Egoismus und Abschottung führt. Die Krise<br />
bringt ans Licht, was für Menschen wir<br />
sind: ob unterm Strich in unserem <strong>Leben</strong><br />
die Liebe oder die Angst das Sagen hat.<br />
Ich bin sehr gewiss, dass Gott mit uns das<br />
erste will.<br />
Wie haben Sie die Corona-Krise bisher<br />
erlebt – persönlich und als Pastor in der<br />
Gemeinde?<br />
Im persönlichen <strong>Leben</strong> hat sich dadurch<br />
nicht viel verändert. Wir – meine Frau und<br />
ich – haben uns an die Hygiene-Regeln gehalten.<br />
Corona hat, Gott sei´s gedankt – einen<br />
Bogen um uns, unsere Familien und<br />
Freunde herum gemacht. Umso mehr waren<br />
wir in unseren Gedanken und Gebeten<br />
bei den Betroffenen. Die Freiräume im<br />
beruflichen Bereich konnten wir sinnvoll<br />
nutzen. In der Kirchengemeinde mussten<br />
wir natürlich vieles bedenken und den<br />
Corona-Bedingungen anpassen. Wie überall,<br />
durften die Gruppen und Kreise sich<br />
nicht treffen. Aber dass wir Pastor/innen<br />
deshalb nichts zu tun gehabt hätten, kann<br />
man nicht gerade sagen. Wir haben uns<br />
erfinderisch gezeigt, haben auf andere<br />
Weise Kontakt zu den Menschen gehalten<br />
und dabei viele kreative Dinge und neue<br />
Ideen verwirklicht. Ganz wichtig war uns,<br />
weiter regelmäßig Gottesdienste zu feiern.<br />
Weil das gemeinsam in der Kirche nicht<br />
möglich war, haben wir für jeden Sonntag<br />
und alle Festtage in der Passions- und<br />
Osterzeit Gottesdienste aufgezeichnet und<br />
über youtube gesendet. Dieses Angebot<br />
wurde von sehr vielen Menschen, auch<br />
von denen, die sonst kaum in der Kirche<br />
sind, dankbar angenommen, sogar auf<br />
Mallorca wurden unsere Gottesdienste regelmäßig<br />
angeschaut. Corona hat frischen<br />
Wind in die Gemeinde gebracht. Und das<br />
kann nun wirklich keine Strafe sein, sondern<br />
vielleicht sogar der Pfingstgeist. n<br />
www.kirche-alt-rahlstedt.de<br />
Kirche in Rahlstedt trotz Corona<br />
Seit Pfingsten feiern wir an jedem Sonn- und Feiertag wieder Präsenzgottesdienste.<br />
Damit möglichst viele Menschen daran teilnehmen können, finden bis auf weiteres<br />
alle Gottesdienste in unserer größten Kirche, der Martinskirche statt. Herzliche<br />
Einladung!<br />
Besonders laden wir zum Open-Air-Gottesdienst am Erntedankfest ein. Am<br />
27. <strong>September</strong> um 11 Uhr auf einem Bauernhof. Ein festlicher Gottesdienst unter<br />
Mitwirkung vieler Ehrenamtlicher, Landwirte aus der Gemeinde, musikalischen<br />
Akteuren und Ihrer Pastorinnen und Pastoren. „Kommet zuhauf …!“<br />
Thema der Kolumne mit Pastor Marks in der nächsten Ausgabe:<br />
Spiritualität, Mystik und die Zukunft der Kirchengemeinde.<br />
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28 <strong>Rahlstedter</strong> <strong>Leben</strong> 03/<strong>2020</strong><br />
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