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Online Programmheft Die Agonie und die ... - Theater Dortmund

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DIE AGONIE UND DIE EKSTASE<br />

DES STEVE JOBS<br />

VON MIKE DAISEY<br />

DEUTSCH VON JENNIFER WHIGHAM<br />

UND ANNE-KATHRIN SCHULZ<br />

DEUTSCHSPRACHIGE ERSTAUFFÜHRUNG<br />

3. NOVEMBER 2012 AM SCHAUSPIEL DORTMUND<br />

MIT ANDREAS BECK<br />

REGIE: JENNIFER WHIGHAM<br />

BÜHNE UND KOSTÜME: ANTONELLA MAZZA<br />

LICHT: ROLF GIESE<br />

DRAMATURGIE: AK SCHULZ<br />

REGIEASSISTENZ: TILMAN OESTEREICH<br />

AUSSTATTUNGSASSISTENZ: NEJLA KALK<br />

SOUFFLAGE: SOLVEIG-FREYA OSTERMANN<br />

INSPIZIENZ: TILLA WIENAND<br />

2


TECHNISCHE ABTEILUNGEN Thomas Bohl, Thomas Pohlmann (Technische Leitung<br />

Schauspiel), Gero Wendland, Klaus Winnecke (Bühnenmeister), Ralph Jürgens (Leiter der<br />

Beleuchtungsabteilung), Sibylle Stuck, Rolf Giese (Beleuchtungsmeister), Lutz Essfeld (Leiter<br />

Tonabteilung), Gertfried Lammersdorf (Leiter Tonabteilung Schauspiel), Anton Aquinas Nesaray<br />

(Leiter Requisite), Michael Otto (Pyrotechnik <strong>und</strong> Waffenmeister), Hans-Joachim Klose (Leiter<br />

Werkstätten), Jan Schäfer (Konstruktion <strong>und</strong> Stellvertretende Werkstättenleitung), Frank Kalweit<br />

(Leiter Schlosserei), Peter Mues (Leiter Dekowerkstatt), Andreas Schmelter (Leiter Schreinerei),<br />

Bernd Schwarzer (Leiter Malsaal), Annette Preik (Zeichnerin), Ute Werner (Leiterin<br />

Kostümabteilung), Susanne Gregorzewski (Gewandmeisterin), Monika Knauer (Leiterin Maske),<br />

Daniela Leidag (Technisches Betriebsbüro), Thomas Meissner (Technischer Direktor) FÜR DIE<br />

EINRICHTUNG VERANT-WORTLICH Thomas Bohl, Thomas Pohlmann, Gero Wendland,<br />

Klaus Winnecke (Bühnenmeister), Rolf Giese (Beleuchtungsmeister), Julia Bilyk, Christof<br />

Spiewak (Beleuchtung), Markus Neuhaus, Stefanie Sareyka (Requisite), Marika Erdmann, Tanja<br />

Grewe, Christiane Petri (Garderobe), Thorsten Busch, Helmut Michael, Rafael Mondaca Varas,<br />

Rajan Raajalingam, Mahmoud Samaghi (Bühnentechnik)<br />

IMPRESSUM Spielzeit 2012/2013, Herausgeber: <strong>Theater</strong> Dortm<strong>und</strong>, Geschäftsführende<br />

Direktorin: Bettina Pesch, Schauspieldirektor: Kay Voges, Redaktion: AK Schulz, Probenfotos:<br />

Birgit Hupfeld, Titelplakatgestaltung: sputnic.tv<br />

Mit fre<strong>und</strong>licher Unterstützung von<br />

www.esgehtwieder.de<br />

3


„ICH BEGANN, MIR GEDANKEN<br />

ZU MACHEN - DACHTE, DASS,<br />

WENN DIESES TELEFON VIER<br />

BILDER DRAUF HAT, DIE PER<br />

HAND ALS TEST GEMACHT<br />

WURDEN, DANN MUSS JEDES<br />

iPHONE VIER BILDER DRAUF<br />

HABEN, DIE ALS TEST<br />

GEMACHT WERDEN, JEDES<br />

iPHONE AUF DER WELT. PER<br />

HAND. ICH FING AN,<br />

NACHZUDENKEN.<br />

UND DAS IST IMMER EIN<br />

PROBLEM, BEI JEDER<br />

RELIGION. DER MOMENT, IN<br />

DEM MAN ANFÄNGT,<br />

NACHZUDENKEN.“<br />

5


Sie ist voller W<strong>und</strong>er – <strong>die</strong> Apple-Welt der sanft leuchtenden Laptops,<br />

<strong>die</strong> Welt, in der Menschen ein so inniges Verhältnis zu ihrem<br />

Mobiltelefon aufbauen, dass man von Fre<strong>und</strong>schaft sprechen kann. In<br />

DIE AGONIE UND DIE EKSTASE DES STEVE JOBS begegnet<br />

einem Apple-Fan <strong>die</strong> dunkle Seite seines besten Fre<strong>und</strong>es nördlich von<br />

Hongkong. Denn dort, im chinesischen Shenzhen, endet sie, <strong>die</strong><br />

ZAUBERWELT von iPhone, iPod <strong>und</strong> iPad.<br />

„iCity“ wird <strong>die</strong> gigantische Fabrikwelt des Elektronikproduzenten<br />

Foxconn genannt, der inzwischen immer wieder in das Auge der<br />

Weltöffentlichkeit gerät – spätestens, seitdem er 2010 nach Mitarbeiter-<br />

Selbstmorden Fangnetze zwischen <strong>die</strong> Hochhäuser spannen ließ.<br />

Es ist <strong>die</strong> Geschichte eines glühenden Apple-Verehrers, dem <strong>die</strong><br />

Unschuld abhanden kommt. <strong>Die</strong> Geschichte seiner Lieblingscomputer,<br />

seiner Lieblingsfirma. Und <strong>die</strong> seines großen Helden: Steven Paul Jobs<br />

(1955-2011), als „iGod“ verehrter Erfinder von Kult-Produkten für <strong>die</strong><br />

Informationselite – charismatischer Frontmann einer milliardenschweren<br />

Weltfirma, <strong>die</strong> seit ihrer Gründung 1976 in einer Garage vor allem dafür<br />

geliebt wird, anders zu sein als alle anderen. „THINK DIFFERENT“?<br />

Westliche Doppelmoral in Zeiten der Globalisierung: Kann ein<br />

visionärer Konzern, der ausgerechnet für seine Liebe zum Detail<br />

berühmt ist, <strong>die</strong> Zustände an seinem Hauptproduktionsort aus den<br />

Augen verloren haben? Und: Welchen ethischen Preis sind<br />

Konsumenten bereit, für ihre Technologieverliebtheit in Kauf zu<br />

nehmen?<br />

Mike Daisey (*1976) ist amerikanischer Künstler <strong>und</strong> Autor von über 20<br />

Bühnenprogrammen. Sein Erfolgsmonolog DIE AGONIE UND DIE<br />

EKSTASE DES STEVE JOBS, der teilweise autobiographisch ist,<br />

wurde 2010 in Portland uraufgeführt <strong>und</strong> wiederholt kontrovers<br />

diskutiert.<br />

Unter www.mikedaisey.blogspot.com steht das englische Original<br />

zum kostenlosen Download bereit.<br />

6


DER BLINDE FLECK<br />

13. Mai 2012: Nach vielen Emails zwischen Dortm<strong>und</strong> <strong>und</strong> New York in Vorbereitung<br />

auf <strong>die</strong> Deutschsprachige Erstaufführung von DIE AGONIE UND DIE EKSTASE DES<br />

STEVE JOBS am Schauspiel Dortm<strong>und</strong> in der Regie von Jennifer Whigham gibt es ein<br />

persönliches Treffens von Mike Daisey <strong>und</strong> Dramaturgin Anne-Kathrin Schulz. Der 1976<br />

geborene US-amerikanische Autor <strong>und</strong> Performer von über 20 Bühnenprogrammen ist<br />

mit seiner Frau, der Regisseurin Jean-Michele Gregory zu Besuch in Berlin.<br />

DAISEY Das Stück speist sich aus meiner eigenen Lebensgeschichte <strong>und</strong> aus Ergebnissen<br />

meiner Recherchen. Ich habe zum Beispiel acht Biographien über Steve Jobs<br />

gelesen.<br />

SCHULZ Acht?<br />

DAISEY Ja, <strong>und</strong> ich kann jedem nur davon abraten. Sie sind alle fürchterlich. Alle leiden an<br />

dem selben Problem: <strong>Die</strong> Biographien von Wirtschaftsbossen sind nie besonders<br />

interessant, weil im Leben von Wirtschaftsbossen nicht wirklich viel passiert. Das<br />

ist sogar bei Steve Jobs so – <strong>und</strong> er ist vermutlich der interessanteste<br />

Wirtschaftboss von allen. Es ist auch ein Problem des Formats – <strong>die</strong> Verlage<br />

wollen 300, 400-Seiten-Bücher. Ein sechzigseitiges Buch über Steve Jobs wäre<br />

sicher faszinierende Lektüre. Und sein Leben ist großartiges Material für einen<br />

<strong>Theater</strong>abend, aber nicht für eine 400-Seiten-Biographie. <strong>Die</strong> letzte war ja sogar<br />

700 Seiten lang! Aber ich habe sie alle gelesen. Es gibt auch noch andere Einflüsse<br />

– <strong>die</strong> Struktur <strong>die</strong>ses Monologs war z.B. stark beeinflusst von dem Roman<br />

NEUROMANCER von William Gibson. Auch eine gewisse Art, mit Worten<br />

umzugehen. Auch SNOW CRASH von Neal Stephenson spielte eine Rolle. Es<br />

gibt im Monolog einige erzählerische Passagen, <strong>die</strong> von SNOW CRASH inspiriert<br />

sind. <strong>Die</strong>ses Heraufbeschwören von Distopien. Und weitere Inspirationsquellen<br />

werden ja im Text genannt – z.B. 1984 <strong>und</strong> BLADERUNNER.<br />

SCHULZ In der Recherchephase fürs <strong>Theater</strong>stück – wobei, sollte ich DIE AGONIE<br />

UND DIE EKSTASE DES STEVE JOBS überhaupt als solches bezeichnen?<br />

DAISEY Es ist eigenartig... Ich selber nenne meine Monologe immer einfach Monologe,<br />

jedenfalls bei meinen eigenen Aufführungen. Sie sind ehrlich gesagt der erste<br />

Dramaturg eines <strong>Theater</strong>s, den ich treffe, also Repräsentant einer anderen<br />

Produktion, <strong>die</strong> den Text realisiert. Ich habe das Transkript ja erst im Februar<br />

2012 online gestellt. Ich habe auch schon ein <strong>Theater</strong>stück geschrieben, aber mein<br />

Fokus lag immer auf meinen Monologen. Wenn ich sie selber performe,<br />

bezeichne ich sie absichtlich nicht als „<strong>Theater</strong>stück“, weil sie nicht wirklich den<br />

traditionellen Gesetzen eines <strong>Theater</strong>stücks gehorchen. Es gibt ja normalerweise<br />

auch keinen Stücktext, kein Transkript. Und ich selber bin auch kein Schauspieler<br />

im klassischen Sinne – wenn ich auf der Bühne bin, in einer Rolle, dann höchstens<br />

in dem Sinne, wie wir alle immerzu eine Rolle spielen.<br />

Aber es ist natürlich sofort ein anderer Fall, wenn es ein Transkript gibt <strong>und</strong> einen<br />

Schauspieler. Dann ist es durchaus eine Art <strong>Theater</strong>stück. Aber das ist wirklich<br />

neues Terrain für mich. Ich wurde über <strong>die</strong> Jahre immer wieder gebeten, von<br />

meinen Monologen Transkripte anzufertigen, aber das hier ist das erste, das es<br />

tatsächlich gibt.<br />

7


SCHULZ Viele der Hintergründe, warum <strong>die</strong>ser Monolog entstanden ist, sind Teil des<br />

Textes. Für mich gibt <strong>die</strong>ser autobiographische Aspekt dem Text sehr viel Kraft:<br />

<strong>die</strong> Reise, <strong>die</strong> sowohl eine innerer als auch eine äußere Reise ist –<br />

Bestandsaufnahmen, Recherche an vielen Orten.<br />

DAISEY Recherche ist schon seit längerem Teil meiner Arbeit, ja. Und der Rechercheteil<br />

wird zum Teil der Geschichte. Vor Ort recherchieren, Zeuge sein, <strong>und</strong> dann<br />

Geschichten auf Gr<strong>und</strong>lage <strong>die</strong>ser Erlebnisse zu erzählen. Für meinen Monolog<br />

THE LAST CARGO CULT, der sich mit der globalen Finanzkrise beschäftigt,<br />

war ich z.B. mehrere Wochen auf einer Insel im Südpazifik, wo <strong>die</strong> Menschen<br />

unser Verständnis vom Wert des Geldes nicht teilen.<br />

Bei DIE AGONIE UND DIE EKSTASE DES STEVE JOBS war es so, <strong>und</strong> das<br />

kommt ja auch im Text vor, dass ich auf <strong>die</strong>se Bilder aus der Fabrik gestoßen bin.<br />

Und dann das gemacht habe, was <strong>die</strong> meisten machen würden: Ich habe<br />

gegooglet. Und bin sehr schnell auf Menschenrechtsberichte von Nicht-<br />

Regierungs-Organisationen gestoßen, aus den letzten zehn Jahren, <strong>und</strong> <strong>die</strong> haben<br />

mich wirklich gefesselt. Und erstaunt, weil sie über viel Schlimmeres <br />

berichten als alles, was im öffentlichen Diskurs vorkam. Und das sind<br />

renommierte Organisationen, <strong>und</strong> niemand widerspricht ihren Ergebnissen. Man<br />

spricht einfach nicht darüber. Und ich fragte mich – wenn das alles stimmt, <strong>und</strong> es<br />

scheint ja zu stimmen, warum hört man nichts darüber? Wenn alle es wissen,<br />

warum ist es uns egal? Das fragte ich auch mich selber. Woher kommt <strong>die</strong>ser<br />

blinde Fleck?<br />

Foto: Jean-Michele Gregory<br />

8


Es war nicht so, dass ich, mit Reporterhut auf dem Kopf, wild auf der Suche nach<br />

einer „Story“ war. <strong>Die</strong>ser blinde Fleck hat mich interessiert, <strong>die</strong>se Leerstelle, <strong>die</strong> es<br />

auch in mir selber gab. Ich bin in der Lage, mein Laptop in seine Bauteile zu<br />

zerlegen, aber ich hatte nie einen Schritt weitergedacht. Und: Gerade Hightech-<br />

Fans sind ja oft besessen von Fragen wie, wo genau eine bestimmte Platine<br />

herkommt, mit was für einem Chipset, es gibt Codes auf den Bauteilen... Und mir<br />

wurde klar, dass ich zwar viel darüber wusste, wo Bauteile herkommen, aber nicht,<br />

wie sie zusammengesetzt werden. Genau da gab es bei mir einen blinden Fleck,<br />

eine Leerstelle. Und interessanterweise lag <strong>die</strong>se Leerstelle genau an dem Punkt,<br />

wo sie bei uns offenbar immer liegt: Beim Punkt Arbeitkraft. Immer wenn es um<br />

Arbeit, Arbeitskraft geht, legen wir gerne eine Leerstelle drüber, weil wir nicht<br />

hinschauen wollen.<br />

Ich bin von Hause aus eigentlich kein Aktivist, habe zwar viele politische<br />

Ansichten, war aber nie im Umfeld von politischen Gruppen. <strong>Die</strong>ser Monolog ist<br />

mit Abstand der aktivistischste, den ich je gemacht habe – <strong>und</strong> der Gr<strong>und</strong> ist<br />

wohl, dass mir bei der Recherche bewusst wurde, dass man tatsächlich ziemlich<br />

einfach etwas tun könnte. Was aber nicht passiert.<br />

Es ist nicht <strong>die</strong> Sorte <strong>Theater</strong>, <strong>die</strong> zwar über <strong>die</strong> Arbeitsbedingungen in China<br />

erzählt, aber dann sagt: „Wirtschaft ist ein sehr komplexes Thema, China ist ein<br />

komplexes Land. Und wie können wir jemals wissen, was richtig <strong>und</strong> was falsch<br />

ist? <strong>Die</strong> Welt ist so groß. Und wir alle leben in ihr.“ Und dann eine lange Pause,<br />

bevor langsam <strong>die</strong> Scheinwerfer dunkler werden. Und alle würden rausgehen mit<br />

einem „Jaja...alles furchtbar komplex...“.<br />

Ich glaube, dass <strong>die</strong> logistischen Fragen zwar komplex sind, aber nicht so komplex<br />

<strong>und</strong> unüberwindbar, dass mein, dass unser Verhalten zu rechtfertigen wäre.<br />

SCHULZ Auch <strong>die</strong> Firmen würden wohl kaum in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Apple<br />

beispielsweise gilt seit Jahren als visionärstes <strong>und</strong> innovativstes Unternehmen der<br />

Branche <strong>und</strong> ist finanziell höchst erfolgreich. Anfang 2012 gab Apple bekannt,<br />

dass <strong>die</strong> Bruttogewinnspanne im vierten Quartal 2011 bei 44,7 Prozent lag – dass<br />

also durchschnittlich knapp <strong>die</strong> Hälfte des Verkaufspreises jedes Geräts direkt auf<br />

<strong>die</strong> Apple Konten fließen.<br />

<strong>Die</strong> Firma hat ein Barvermögen von 100 Milliarden Dollar.<br />

DAISEY <strong>Die</strong> Arbeitskosten in China sind lächerlich gering. Andere Elektronikfirmen haben<br />

vielleicht kleinere Gewinnmargen als Apple, aber alle könnten sich Reformen<br />

finanziell leisten, ohne Frage.<br />

Ich habe schon NEUROMANCER oder SNOW CRASH erwähnt – solche<br />

Bücher faszinieren mich, <strong>und</strong> mir ist irgendwann bewusst geworden, dass solche<br />

Szenarien nicht nur im Science-Fiction-Genre zu finden sind, sondern bereits in<br />

unserer realen Welt existieren. Und ich das lediglich nicht sehen wollte.<br />

Mit den Sonderwirtschaftszonen hat China Orte geschaffen, in denen <strong>die</strong><br />

Unternehmen das Sagen haben. Da kann man sehen, wie <strong>die</strong> Zukunft aussehen<br />

wird. Es ist kein menschlicher Stiefel mehr, der einem da ins Gesicht tritt, es ist<br />

der Fußtritt eines Unternehmens. Welches immer noch einen Teil von uns<br />

darstellt, klar. Aber es ist ein Fußtritt jenseits persönlicher Verantwortung. Man<br />

kann keine Individuen mehr verantwortlich machen.<br />

SCHULZ Könnte es sein, dass eine Geschichte, <strong>die</strong> hinter <strong>die</strong> ökonomischen Kulissen eines<br />

Smartphones blickt, auf <strong>die</strong> dunkle Seite, uns emotional eher betrifft, als wenn es<br />

um unseren Teppich ginge, wo <strong>und</strong> wie <strong>die</strong>ser hergestellt wird <strong>und</strong> von wem?<br />

9


DAISEY Wir haben hier ein Gerät, dass so Teil unserer intimsten Privatsphäre ist, als wäre<br />

es Teil von uns, in uns eingebaut, Teil unserer Körper. Im Monolog heißt es: <strong>Die</strong><br />

Zukunft ist schon da, wir sind schon Cyborgs. <strong>Die</strong>se Geräte sind ein untrennbarer<br />

Bestandteil unseres Blicks auf unsere Existenz. Wir sehen <strong>die</strong> Welt, <strong>und</strong> zwar auch<br />

durch unser Telefon. Man sitzt z.B. physisch miteinander beim Kaffee <strong>und</strong> ist<br />

gleichzeitig auf Facebook <strong>und</strong> Twitter aktiv. Das fasziniert mich.<br />

Ich war schon früh in Netzwerken unterwegs, noch bevor es das Internet gab, wie<br />

wir es heute kennen. Aber ich <strong>und</strong> <strong>die</strong> anderen damals wussten, dass wir Freaks<br />

waren, Außenseiter. Aber heutzutage ist praktisch jeder dabei. <strong>Die</strong> Welt heute<br />

besteht aus vielen Schichten. Heutzutage sind wir hier <strong>und</strong> gleichzeitig kennen wir<br />

Leute per Facebook <strong>und</strong> Twitter. Und je realer all <strong>die</strong>se Sachen werden <strong>und</strong> sich<br />

all <strong>die</strong>se Schichten um uns legen, desto wertvoller ist <strong>die</strong> Option, <strong>die</strong>se ganzen<br />

menschlichen Beziehungen per Telefon zu pflegen. Das einzige, was ich vielleicht<br />

– <strong>und</strong> das ist jetzt ein großes „vielleicht“ – öfter bei mir habe als mein Telefon, ist<br />

mein Portemonnaie. Vielleicht. Aber das ist nur ein Behältnis. Mein Telefon ist<br />

etwas völlig anderes. Es ist ein Portal.<br />

SCHULZ Und damit etwas sehr persönliches. Ich war beim ersten Lesen von DIE<br />

AGONIE UND DIE EKSTASE DES STEVE JOBS überrascht über <strong>die</strong><br />

Fallgeschwindigkeit, <strong>die</strong> der Text in mir erreicht. Ich bin kein leidenschaftlicher<br />

Apple-Fan oder Computerexperte – ich benutze zwar ein Laptop, würde es aber<br />

sicher nicht zur Entspannung in seine 43 Einzelteile zerlegen, aber: Es ist ein<br />

Stück über uns, heute. Das irritiert, das trifft.<br />

DAISEY Interessanterweise gab es eigentlich immer zwei Shows, <strong>die</strong> sehr verschieden sind<br />

– <strong>die</strong> im <strong>Theater</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> draußen. Seit der Uraufführung haben Tech-Experten<br />

<strong>und</strong> Branchenvertreter sehr bösartig agiert, reagiert, auf den Halbschatten an<br />

Informationen, den es über den Abend gab, auf <strong>die</strong> Fußabdrücke, <strong>die</strong> er hinterließ<br />

– aber nicht im <strong>Theater</strong>raum selber.<br />

SCHULZ Nach der New Yorker Premiere kam der große Erfolg.<br />

DAISEY Ich habe teilweise bis zu zwei, drei Interviews am Tag gegeben, über Monate,<br />

während ich abends aufgetreten bin. Tagsüber gab es also eine ganz andere Art<br />

von <strong>Theater</strong> als abends.<br />

Eine Kernfrage <strong>die</strong> der Abend stellt ist: „Sollte es uns kümmern?“ – auf den<br />

ersten Blick erstmal eine Frage, <strong>die</strong> man doch nicht ernsthaft überhaupt stellen<br />

muss. Aber dennoch das Herz des Stückes.<br />

SCHULZ Der Text behauptet, ein Virus zu beinhalten.<br />

DAISEY Und man kann nicht kontrollieren, wie genau <strong>die</strong> Immunreaktion auf ein Virus<br />

ausfällt – weder im <strong>Theater</strong>raum noch global.<br />

SCHULZ Irgendwann haben Journalisten herausgef<strong>und</strong>en, dass Sie kein Journalist sind,<br />

sondern Künstler.<br />

Dazu ein kurzer Blick zurück: 2010 reisen Mike Daisey <strong>und</strong> Jean-Michele Gregory nach China. Später im<br />

Jahr ist <strong>die</strong> Uraufführung von THE AGONY AND THE ECSTASY OF STEVE JOBS in Portland,<br />

danach touren <strong>die</strong> beiden durch Amerika. 2011 beschert <strong>die</strong> New Yorker Premiere dem Monolog schlagartig nicht<br />

nur national sondern auch international große Aufmerksamkeit, was sicher auch daran liegt, dass <strong>die</strong> Person Steve<br />

Jobs gerade im Fokus der Öffentlichkeit steht – der Apple-Chef war kurz zuvor, am 5. Oktober 2011, an Krebs<br />

10


verstorben. Im Januar 2012 ist Daisey zu Gast bei Ira Glass in der Radiosendung „This American Life“. In<br />

<strong>die</strong>sem journalistischen Format wird auch ein Auszug aus Daiseys Monolog gesendet. „Mr Daisey and the Apple<br />

Factory“ wird zu einer der meist herunter geladenen TAL-Episoden. Zwei Wochen später, am 25. Januar 2012,<br />

veröffentlicht <strong>die</strong> renommierte New York Times in der Reihe „The iEconomy“ einen Artikel von Journalist<br />

Charles Duhigg über Apple, Aluminiumstaub-Explosionen, <strong>die</strong> Foxconn-Fabriken <strong>und</strong> China: IN CHINA,<br />

HUMAN COSTS ARE BUILT INTO AN IPAD. <strong>Die</strong> Debatte über Globalisierungsethik am Beispiel<br />

des Unternehmens Apple ist auf einem Höhepunkt angelangt, Apple bemüht sich um Schadensbegrenzung.<br />

<strong>Die</strong> Redaktion von „This American Life“ zieht <strong>die</strong> Episode mit Mike Daisey einige Wochen später zurück, mit<br />

dem Vorwurf, dass Daisey u.a. den Anschein erweckt habe, den kompletten Geschichtsstrang des Monologs, der<br />

in China spielt, persönlich erlebt zu haben, einige Details verfälschend dramatisch zugespitzt sowie den Sender<br />

bezüglich der Kontaktdaten seiner Übersetzerin getäuscht zu haben (was Daisey zugibt). Noch Monate später<br />

wird Mike Daisey im Internet mit Häme überschüttet. Inzwischen hat er <strong>die</strong> sachlich umstrittenen 5 Minuten<br />

seines ca. 90-minütigen <strong>Theater</strong>textes überarbeitet, beide Versionen stehen kostenlos im Internet.<br />

SCHULZ Da ist ja ein Fokusklau in Reinform passiert. Reaktion des Immunsystems? <strong>Die</strong><br />

Debatte verschob sich sofort komplett – weg von den Selbstmorden chinesischer<br />

Arbeiter, weg von den unumstrittenen Zuständen bei Foxconn, weg von Apple,<br />

weg von Fragen der Verantwortung. Hin zu Charakterstu<strong>die</strong>n zur Person Mike<br />

Daisey, zur Frage, was <strong>Theater</strong> darf <strong>und</strong> was nicht, <strong>und</strong> wie sich Kunst von<br />

Journalismus unterscheidet. <strong>Die</strong> Tech-Branche muss sich ins Fäustchen gelacht<br />

haben. Und nicht nur <strong>die</strong>! Jen Whigham <strong>und</strong> ich saßen hier in Deutschland an<br />

unseren Rechnern <strong>und</strong> konnten förmlich <strong>die</strong> Erleichterung im Netz spüren, <strong>die</strong><br />

einem aus den „Mike Daisey hat gelogen“-Headlines erfreut entgegenstrahlte: ‚<strong>Die</strong><br />

Details? Egal! Vorbei mit den gemischten Gefühle, alles wieder gut!’<br />

11


DAISEY Ich bin wütend auf mich selber. Ich habe Fehler gemacht, einige ethisch<br />

fragwürdige, falsche Entscheidungen getroffen <strong>und</strong> trage dafür <strong>die</strong><br />

Verantwortung. Was ich aber am meisten bedauere, ist, dass ich einigen Menschen<br />

<strong>die</strong> Möglichkeit gegeben habe, <strong>die</strong> Aufmerksamkeit von den wirklich wichtigen<br />

Punkten wegzulenken.<br />

SCHULZ Das Thema China ist glücklicherweise aber weiter präsent. Auch Foxconn ist jetzt<br />

viel öfter in der Presse als früher – <strong>und</strong> damit auch <strong>die</strong> Unternehmen, <strong>die</strong> dort<br />

produzieren lassen. Wir hören inzwischen recht regelmäßig aus chinesischen<br />

Fabriken.<br />

DAISEY Es gibt viele Menschen auf der Welt, <strong>die</strong> sich mit Arbeitsethik <strong>und</strong><br />

Arbeitspraktiken beschäftigen, es gibt aber auch einen großen Pool voll<br />

Fraktionen, Ressourcen <strong>und</strong> Energie, der gegen solche Untersuchungen<br />

anarbeitet.<br />

SCHULZ Es geht schließlich um viel Geld.<br />

DAISEY Ja.<br />

SCHULZ Auch Charles Duhigg von der New York Times bleibt am Ball.<br />

DAISEY Seine Arbeit ist wirklich großartig. Und Steve Wozniak<br />

war <strong>und</strong> ist ein wichtiger Unterstützer, hat mich auch nach der Sache mit „This<br />

American Life“ weiter öffentlich unterstützt, auch auf wiederholte Nachfrage –<br />

was viele aus der Tech-Branche immer noch nicht fassen können.<br />

12


„THIS AMERICAN LIFE“ – SENDUNG VOM 16. MÄRZ 2012 (NATIONAL PUBLIC RADIO)<br />

Moderator Ira Glass im Gespräch mit Charles Duhigg von der New York Times<br />

(Auszug)<br />

(...)<br />

GLASS Ein Aspekt, über den Sie <strong>und</strong> David Barboza in Ihrer Serie berichten, sind <strong>die</strong> schmalen Gewinnmargen für Apple-<br />

Zulieferer. Können Sie uns mehr dazu sagen, <strong>und</strong> über <strong>die</strong> Relevanz?<br />

DUHIGG Gerne. Weil es eine große Rolle spielt. Apple ist bei den Zulieferern dafür<br />

bekannt, einer der aggressivsten Verhandlungspartner überhaupt zu sein, wenn es<br />

um <strong>die</strong> Preise geht, <strong>die</strong> sie bereit sind zu zahlen. Denn jeder weiß, dass, wenn man<br />

Apple als Klienten gewinnt, gewinnt man gleichzeitig enorm an Reputation. Also<br />

versucht im Prinzip jeder Zulieferer, mit Apple zusammenzuarbeiten, weil das wie<br />

eine Qualitätssiegel ist.<br />

GLASS Dass sie hohe Qualität produzieren können, <strong>und</strong> das in hoher Quantität?<br />

DUHIGG Genau. Apple ist der Gold-Standard. Und deswegen hat Apple <strong>die</strong>se enorm starke<br />

Verhandlungsposition. Und <strong>die</strong> nutzen sie, so sagten mir meine Quellen, sehr<br />

aggressiv, sie kommen <strong>und</strong> sagen „Zeigt uns eure gesamte Kostenstruktur, jeden<br />

Posten, der Geld kostet, <strong>und</strong> eure internen Finanzen. Und wir werden euch eine<br />

hauchdünne Gewinnmarge geben, <strong>die</strong> ihr behalten dürft.“<br />

Diverse Firmen <strong>und</strong> diverse Aktivisten außerhalb von Firmen haben berichtet,<br />

dass einer der Gründe, warum <strong>die</strong> Bedingungen bei Apple-Zulieferern so hart<br />

sind, ist, weil sie buchstäblich nicht das Geld haben, bessere Bedingungen zu<br />

finanzieren, dass, sobald Apple auftaucht <strong>und</strong> sagt „Wir werden euch hauchdünne<br />

Gewinnmargen geben“, dass dann <strong>die</strong> Zulieferer anfangen, an allen Ecken zu<br />

sparen. Oder es sich nicht leisten können, mehr Menschen für <strong>die</strong> Fließband-<br />

Arbeit einzustellen, was verhindern würde, dass <strong>die</strong> Arbeiter so lange Schichten<br />

haben.<br />

(...)<br />

GLASS Alle, <strong>die</strong> solche Produkte besitzen, sollen <strong>die</strong> sich jetzt schlecht fühlen?<br />

DUHIGG Es ist nicht meine Aufgabe, jemandem zu sagen, ob er sich schlecht fühlen soll<br />

oder nicht. Ich bin Reporter bei der New York Times. Meine Aufgabe ist es,<br />

Fakten zu sammeln <strong>und</strong> letztendlich jedem selbst <strong>die</strong>se Entscheidung zu<br />

überlassen. Ich kann Ihnen das Argument nennen, das mir gegenüber genannt<br />

wurde, als es darum ging, warum man sich schlecht fühlen sollte, <strong>und</strong> jeder kann<br />

davon halten, was er will.<br />

Das Argument war, dass es in <strong>die</strong>sem Land mal Zeiten gab, in denen harte<br />

Arbeitsbedingungen Teil des wirtschaftlichen Fortschritts waren. Als Nation<br />

haben wir irgendwann entschieden, dass das inakzeptabel ist. Wir haben Gesetze<br />

verabschiedet, <strong>die</strong> verhindern sollten, dass amerikanische Arbeiter jemals wieder<br />

solchen harten Arbeitsbedingungen ausgesetzt sein würden. Und was heute<br />

passiert, ist, dass wir, anstatt <strong>die</strong>sen Lebensstandard zu exportieren - was in<br />

unserer Macht läge - wir <strong>die</strong>se harten Arbeitsbedingungen in ein anderes Land<br />

exportiert haben. Sollten man sich also schlecht fühlen, wenn jemand zwischen 12<br />

13


<strong>und</strong> 24 St<strong>und</strong>en am Tag arbeitet, um das iPhone herzustellen, das man in der<br />

Tasche hat-<br />

(...)<br />

Ist es für Sie ein angenehmes Gefühl, zu wissen, dass iPhones <strong>und</strong> iPads <strong>und</strong><br />

andere Produkte unter weniger harten Arbeitsbedingungen hergestellt werden<br />

könnten, aber dass <strong>die</strong>se harten Bedingungen aufrecht erhalten werden durch eine<br />

Industrie, <strong>die</strong> Sie mit Ihrem Geld unterstützen.<br />

GLASS Verstehe. Ich bin direkter Nutznießer von <strong>die</strong>sen harten Bedingungen.<br />

DUHIGG Sie sind nicht nur der direkte Nutznießer, Sie sind sogar einer der Gründe, warum<br />

sie überhaupt existieren. Wenn Sie andere Entscheidungen treffen würden, wenn<br />

Sie andere Bedingungen fordern würden, wenn Sie fordern würden, dass andere<br />

denselben Arbeitnehmerschutz haben, den Sie haben, dann wären <strong>die</strong><br />

Bedingungen in Übersee anders.<br />

14

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