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Ralf-Uwe Beck: Augenblick mal (Leseprobe)

Zwei-Minuten-Andachten mitten aus dem Leben – tiefsinnig, anregend, humorvoll Ralf-Uwe Beck, bekannt durch die MDR-Radioreihe »Augenblick mal«, durchkreuzt mit seinen Zwei-Minuten-Texten den Alltag. Mal Andacht, mal Statement wirken sie wie ein Einspruch: Augenblick mal, da war doch noch was. Er greift Themen aus dem Nachrichtenstrom und unserem rasanten Alltag auf und lässt sie unter die Haut gehen: tiefsinnig, politisch, mitunter zornig oder humorvoll.

Zwei-Minuten-Andachten mitten aus dem Leben – tiefsinnig, anregend, humorvoll

Ralf-Uwe Beck, bekannt durch die MDR-Radioreihe »Augenblick mal«, durchkreuzt mit seinen Zwei-Minuten-Texten den Alltag. Mal Andacht, mal Statement wirken sie wie ein Einspruch: Augenblick mal, da war doch noch was. Er greift Themen aus dem Nachrichtenstrom und unserem rasanten Alltag auf und lässt sie unter die Haut gehen: tiefsinnig, politisch, mitunter zornig oder humorvoll.

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RALF-UWE<br />

BECK<br />

<strong>Augenblick</strong><br />

<strong>mal</strong><br />

Zwei-Minuten-Texte,<br />

die den Alltag durchkreuzen


<strong>Ralf</strong>-<strong>Uwe</strong> <strong>Beck</strong><br />

<strong>Augenblick</strong><br />

<strong>mal</strong><br />

Zwei-Minuten-Texte,<br />

die den Alltag durchkreuzen


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten<br />

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

© 2020 by Wartburg Verlag GmbH, Weimar<br />

Printed in Germany<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich<br />

geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes<br />

ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und<br />

strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,<br />

Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in<br />

elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Covergestaltung: Anja Haß, Leipzig<br />

Coverfoto: willma.../photocase.de<br />

Innenlayout und Satz: Steffi Glauche, Leipzig<br />

Druck und Bindung: CPI books GmbH<br />

ISBN 978-3-86160-574-4<br />

www.wartburgverlag.net


Inhalt<br />

Der christliche Stachel 9<br />

Wir haben einen Baum gepflanzt 11<br />

Das Land, in dem Milch und Honig fließen 13<br />

Wählen gehen 15<br />

Sockel der Freiheit 16<br />

Maria von Katutura 18<br />

14 Prozent 19<br />

Boten des Unheils 21<br />

Fragen statt anpassen 23<br />

Nicht wie werden, wie wollen wir leben? 25<br />

Fridays for Future 27<br />

Einerseits, andererseits 29<br />

Was es austrägt 31<br />

Muttererde 33<br />

Was kommt, wird gewickelt 34<br />

Lasst die Kinder 36<br />

Die Kinder von Moria 38<br />

Stell dir vor 41<br />

Stolpern, nicht poltern 43<br />

Der blinde Luther 45<br />

5


Was wir schuldig sind 46<br />

Ohne Ausnahme 48<br />

Griezmann und die Schadenfreude 50<br />

Ein Freund 51<br />

Der falsche Hals 52<br />

Die drei Siebe des Sokrates 54<br />

Inschallah 56<br />

Störung im Betriebsablauf 57<br />

Wie die Kinder 59<br />

Der mittlere Tisch 60<br />

Heilige Pflicht 62<br />

Gotteslohn 63<br />

Die gute Seele 64<br />

Siebenschläfer 66<br />

Unser Meer 68<br />

Was ist der Mensch? 70<br />

Das Paradies am Wegesrand 72<br />

Geschenke 74<br />

Smartphone oder ich, entscheide dich 75<br />

Langeweile 77<br />

Salz der Gewaltlosigkeit 78<br />

Gib nicht auf 80<br />

Die Trümmer der Geschichte ausgraben 82<br />

Sagen, was ist 84<br />

Schwerter zu Pflugscharen 86<br />

Propheten und das Klima 88<br />

Dämonen und Schweine 90<br />

6


Gewalt gegen Frauen 92<br />

Schlechte Nachrichten 94<br />

Wie Leo übers Wasser geht 96<br />

Aufrecht gehen 98<br />

Enger werden die Kreise 100<br />

Schon das ewige Leben 102<br />

Eine weise Entscheidung 104<br />

Seht einander an 106<br />

Es gibt einen Tag im Jahr 108<br />

Von der Faust zur offenen Hand 110<br />

Über den Autor 112<br />

7


Der<br />

christliche Stachel<br />

Ich bin evangelisch – und: aus Eisenach. Hier hat Luther die<br />

Bibel übersetzt und ins Land gerufen: Lest selbst, denkt<br />

selbst! Protestant ist quasi mein zweiter Vorname. Also:<br />

Einen Papst, einen, der alles regelt, immer recht hat, den<br />

braucht es nicht. Aber wenn es denn einen geben sollte, nun<br />

ja, dann müsste der so sein wie Franziskus. »Buona sera« –<br />

dieses schlichte »Guten Abend« waren seine ersten Worte im<br />

neuen Amt. An seinem Geburtstag geht er und lädt Obdachlose<br />

an seine Kaffeetafel. Während die Politiker Europas sich<br />

darin übertreffen, Flüchtlinge aus unserem Bewusstsein zu<br />

verdrängen, geht er zu ihnen. Und nimmt einfach drei syrische<br />

Familien, Muslime übrigens, mit nach Hause. Er wäscht<br />

ihnen die Füße.<br />

Er redet für die, für die niemand mehr redet. Und dabei klagt<br />

er an: den Kapitalismus, die Umweltzerstörung. Eine Wirtschaft,<br />

die sich nur um Profit kümmert, beschreibt er mit<br />

drei Worten: Diese Wirtschaft tötet.<br />

Ja, diese Welt ist kompliziert, und Politik muss Kompromisse<br />

machen. Aber die christliche Botschaft ist nun <strong>mal</strong> so einfach<br />

9


wie kompromisslos: »Siehe, ein Mensch«, das meint Franziskus,<br />

wenn er sich Geflüchteten zuwendet, Obdachlosen und<br />

Hungernden. So kompliziert die Dinge sein mögen: Den Menschen<br />

sehen und ansehen, darauf kommt es an. Das Leben<br />

heiligen. Das Elend ist keine biblische Plage. Die Ungerechtigkeiten<br />

schreien zum Himmel, aber sie sind nicht vom Himmel<br />

gefallen, sondern von Menschen gemacht. Und was<br />

Menschen anrichten, können sie auch heilen.<br />

Franziskus feilt den christlichen Stachel nicht schön rund,<br />

bis er nicht mehr weh tut, wie so viele, die sich auf das Christentum<br />

berufen, sondern er spitzt ihn an. So wird der christliche<br />

Glaube zu einer Provokation, die diese Welt bitter nötig<br />

hat.<br />

10


14 Prozent<br />

Klimaschützer, Bauern, die Lebensmittelindustrie, Supermarktketten<br />

– sie alle streiten sich ums Essen. Am Ende landet<br />

die Diskussion immer bei uns, wir Verbraucher würden<br />

ja nicht mehr zahlen wollen. Daher der Preisdruck, der auf<br />

Kosten der Bauern und der Umwelt geht. Da stellt sich die<br />

Frage, was uns Ernährung wert ist.<br />

14 Prozent. Von all unseren Euros geben wir 14 Prozent für<br />

Lebensmittel aus. In den USA liegt der Anteil sogar unter<br />

zehn Prozent. Wer in den USA Familien besucht, erlebt mitunter,<br />

dass zu Hause nur noch im Vorbeigehen gegessen<br />

wird: Jeder nimmt sich aus dem Kühlschrank, isst im Stehen<br />

und Gehen. Auf mich wirkt das abstoßend. Was uns das<br />

Essen wert ist und unsere Esskultur – das hängt zusammen.<br />

Es ist gesünder, sich Zeit zu lassen rund ums Essen. Zu warten,<br />

bis alle am Tisch sitzen – auch auf den, der gekocht hat,<br />

auch auf die, die den Tisch gedeckt hat. Dann sagt einer:<br />

Guten Appetit. Und erst dann lädt man sich etwas auf den<br />

Teller oder beißt ins Brot. Das hält unseren Alltag kaum auf.<br />

Diesen Moment zu warten, heißt zu verstehen: Was da auf<br />

dem Tisch steht, ist nicht selbstverständlich. Das Brot<br />

19


kommt nicht aus der Tüte, der Käse nicht aus der Plaste -<br />

packung, die Milch nicht aus dem Tetrapack, die Gurken<br />

wachsen nicht im Glas …<br />

Irgendwo ist etwas gewachsen, hat es Mutter Erde hergegeben,<br />

hat sich jemand gekümmert, ist ein Tier getötet, ist die<br />

Natur belastet worden. Sich das in diesem kurzen Moment,<br />

bis alle sitzen, klar zu machen, kostet nicht das Leben, aber<br />

es würdigt es. Und das ist fast so etwas wie ein Tischgebet:<br />

Wir haben täglich Brot zu essen, wir werden immer wieder<br />

satt, lass uns auch den nicht vergessen, der nichts zu essen<br />

hat.<br />

20


Fragen<br />

statt anpassen<br />

»Huhu, hört ihr mich?« – Das fragt ein Jugendlicher die Politiker.<br />

Eine große Zeitung hatte vor der Bundestagswahl junge<br />

Menschen aufgerufen, zu fragen, was sie politisch bewegt.<br />

Und die Fragen wurden dann auf einer ganzen Seite abgedruckt,<br />

die hier zum Beispiel: »Liefert Deutschland wirklich<br />

Waffen in Kriegsgebiete und warum?« – »Warum ist die Bildungspolitik<br />

so verschieden von Bundesland zu Bundesland?«<br />

– »Wie kann es sein, dass Kindergärtner, Alten- und<br />

Krankenpflegerinnen so wenig Geld bekommen, obwohl sie<br />

sich täglich um das Wohl anderer kümmern, während Anwälte,<br />

… sich riesige Häuser, teure Autos und Luxusurlaube<br />

leisten können?«<br />

Da legen junge Leute ihre Finger in Wunden, die uns Ältere<br />

schon lange nicht mehr schmerzen: die Rüstungsexporte,<br />

die Kluft zwischen Arm und Reich, die krepelige Bildungspolitik.<br />

Kompliziert das alles. Auch deshalb sind wir ängstlich,<br />

dass unsere Kinder und Enkel in dieser Welt nicht zurechtkommen,<br />

sie anecken, dadurch ihre Chancen schmälern<br />

könnten. Wir wollen, dass sie bestehen. Oft meinen wir damit<br />

aber: Sie sollen sich anpassen.<br />

23


Dabei ist es doch das Vorrecht von Kindern und Jugendlichen,<br />

die Welt zu hinterfragen. Sie sind es, die die Zustände<br />

wahrnehmen – mit einem Blick, der noch nicht von Gewöhnung<br />

und Bequemlichkeit getrübt ist. Also fragen sie: Muss<br />

das so sein? Wieso? Wozu soll das gut sein? Geht das nicht<br />

auch anders? Wir sollten sie ermutigen, ihre Fragen zu stellen,<br />

hart und beharrlich, damit wir antworten oder zugeben,<br />

dass wir keine Antworten haben. Auch das kann der Anfang<br />

sein, die Dinge zu ändern. Jedenfalls ist der Weg dorthin mit<br />

Fragezeichen gepflastert.<br />

24


Einerseits,<br />

andererseits<br />

Ich kann Floskeln nicht ab, die sind mir zu beliebig. Kirchenleute<br />

sagen beispielsweise gern: »Ein Stück weit könnte …<br />

es so oder so sein.« Ja, was denn nun? Oder: »einerseits, aber<br />

andererseits«. Was soll ich damit? Rede Klartext, komm auf’n<br />

Punkt, entscheide dich!<br />

Aber irgendwie bin ich zur Zeit ein Stück weit auch verunsichert.<br />

Es scheint in Mode zu kommen, seine Meinung wie<br />

eine Betonplatte auf den Boden fallen lassen und sich dann<br />

draufzustellen: Die Politiker sind alle korrupt, alle. Wumm.<br />

Die Kirche, die ist doch eh nur von gestern. Wumm. Flüchtlinge<br />

wollen nur an unseren Wohlstand. Wumm. Da liegt sie<br />

die Betonplatte, das ist meine Meinung, da steh ich drauf –<br />

und pfeif auf eure.<br />

Und weiter? Nichts geht da weiter. Vielleicht sollten wir dieses<br />

»einerseits, andererseits« eine Zeit lang doch wieder verwenden,<br />

so als Lockerungsübung. Klar gibt es Politiker, die<br />

sind korrupt, aber andererseits gibt es viele, die sich ehrlich<br />

29


ins Zeug legen. Einerseits ist die Kirche von gestern, ist ja<br />

auch zweitausend Jahre alt, andererseits, wenn sie sich, was<br />

ihr Job ist, um die Menschen kümmert, ist sie oft dem Zeitgeist<br />

voraus. Einerseits wirkt unser Reichtum auf Fremde<br />

recht überzeugend, andererseits sind sie vor Krieg, Hunger<br />

und Elend geflohen.<br />

Einerseits kann man mit Betonplatten eine Fläche schön<br />

dicht machen, andererseits wächst dann nichts mehr. Zwischen<br />

uns.<br />

30


Die Kinder<br />

von Moria<br />

Ort des Geschehens: das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen<br />

Insel Lesbos. Vorgesehen ist das Lager für 3000<br />

Flüchtlinge. Im Winter 2019/2020 sitzen dort 20000 Menschen<br />

fest, darunter drei bis viertausend Kinder und Jugendliche<br />

– ohne Eltern. Um Weihnachten herum gibt es dringende<br />

Appelle: Erbarmt euch, holt doch wenigstens die<br />

Kinder da raus! Drei Bundesländer wollten sofort helfen: Niedersachsen,<br />

Berlin und Thüringen. Kurz danach melden sich<br />

Dutzende Kommunen; auch sie wollen Flüchtlinge aufnehmen.<br />

Aber nein, nein, das geht nicht, die Bundesregierung will das<br />

nicht. Sie verhandelt, damit eine europäische Lösung gefunden<br />

wird. Da passt kein deutscher Alleingang. Kinder, das<br />

müsst ihr doch verstehen. Jesus hin oder her, aber so einfach<br />

ist das nicht. Das kann dauern, Politik ist eben so.<br />

Währenddessen ziehen sich die Kinder in Moria aus dem Leben<br />

zurück. Sie spielen nicht mehr, reden nicht mehr, sie sit-<br />

38


zen im Zelt und starren vor sich hin. Zweijährige reißen sich<br />

die Haare aus und kratzen sich die Arme auf. Allen setzt die<br />

Kälte zu, die erbärmliche Nässe, der Schlamm, in dem die<br />

Zelte versinken. Dazwischen Dixi-Klos, eins für 200 Menschen.<br />

Weihnachten singen wir: Ihr Kinderlein kommet, ach kommet<br />

doch all … Gefeiert wird die Geburt eines Kindes. Zart<br />

und zerbrechlich. Zur Welt gekommen in einem Stall. Sehr<br />

einfache Verhältnisse. Dieses Kind in der Krippe berührt uns,<br />

jedes Jahr. Jedenfalls an Weihnachten. Ihr Kinderlein kommet<br />

… für die Weihnachtsidylle reicht es, aber auch für<br />

Barmherzigkeit? Wenn von Weihnachten mehr bleiben soll<br />

als ein paar abgebrannte Kerzen, dann muss sich das auch<br />

an den Kindern in Moria zeigen.<br />

Dann, es geht auf Ostern zu, endlich die befreiende Nachricht:<br />

Die deutsche Regierung hat sich darauf verständigt,<br />

Kinder und Jugendliche aus den überfüllten Flüchtlingslagern<br />

in Griechenland aufzunehmen. Wenn es eine Koalition<br />

der Willigen gibt, also auch andere Länder einen angemessenen<br />

Anteil übernehmen. Wenn die Kinder unter 14 Jahre<br />

alt sind, wenn sie allein – ohne Eltern – unterwegs sind oder<br />

wenn sie schwer erkrankt sind. Das trifft wohl auf 1000 bis<br />

1500 Kinder zu.<br />

Das ist eine gute Nachricht. Für diese Kinder. Das ist eine<br />

schlechte Nachricht für Fünfzehn-, Sechzehn- und Siebzehnjährige.<br />

Es ist eine beschämende Nachricht für dieses<br />

Europa. Als wäre dieses Europa mit seinen 500 Millionen<br />

39


Menschen, mit seiner Wirtschaftskraft nicht größer als Erfurt<br />

oder Halle. Wie erbärmlich.<br />

Wenn, wenn, wenn … wenn sie krank, wenn sie unter vierzehn,<br />

wenn sie allein sind. Die Regierung hat ein Raster festgelegt<br />

für die offizielle Barmherzigkeit. Dieses Raster ist so<br />

eng wie die Vorstellung der Koalitionspartner, was sozial<br />

oder was christlich ist.<br />

Nächstenliebe und Barmherzigkeit sind bedingungslos.<br />

Christlich zu glauben, zu denken und zu fühlen, bedeutet,<br />

die Schicksale, die Menschen hinter den Nachrichten zu sehen.<br />

40


Stell dir vor<br />

Manch<strong>mal</strong>, wenn sichtbar wird, wie sehr die Welt aus den<br />

Fugen ist, wie oft es ohne Sinn und Verstand über Leichen<br />

geht, der Hass den Ton angibt, schaue ich mir ein Video an.<br />

Es zeigt Menschen, die irgendwo auf dieser Erde allein auf<br />

einem Platz stehen und ein Instrument spielen: Clarence aus<br />

den Niederlanden singt, Reinaldo aus Brasilien spielt Gitarre,<br />

James aus den USA am Schlagzeug, Noel aus Argentinien<br />

am Piano, Ijeoma aus Nigeria, eine ganze Gruppe aus Mali,<br />

eine andere aus Ghana, Raju aus Nepal, Rajhesh aus Indien<br />

und noch viele mehr.<br />

Sie spielen alle dieselbe Melodie. Im Video sind alle zusammengeschnitten<br />

und so wird daraus ein Orchester, ein Weltorchester.<br />

Sie spielen gemeinsam Imagine, ein Lied von John<br />

Lennon.<br />

Ein paar, nicht alle, singen den Text; übersetzt heißt es da:<br />

»Stell dir vor, es gäbe … keine Hölle unter uns, über uns nur<br />

der Himmel. … Stell dir vor, es gäbe keine Länder. … Nichts,<br />

wofür es sich zu töten oder sterben lohnt. … Stell dir vor,<br />

alle Menschen leben ihr Leben in Frieden. Stell dir vor, es<br />

41


gäbe keinen Besitz mehr. … Keinen Grund für Gier oder Hunger.<br />

Eine Menschheit in Brüderlichkeit. Stell dir vor, alle Menschen<br />

teilen sich die Welt. Du wirst vielleicht sagen, ich sei<br />

ein Träumer, aber ich bin nicht der Einzige. Ich hoffe, eines<br />

Tages wirst auch du einer von uns sein und die ganze Welt<br />

wird wie eins sein.«<br />

So geht das Lied zu Ende. Ja, denke ich, so könnte die Welt<br />

sein. Aber es ist eben nur ein Traum. Einspruch: Träumst du<br />

allein, hat John Lennon gesagt, ist es nur ein Traum. Träumen<br />

wir zusammen, wird es Realität.<br />

42


Enger werden<br />

die Kreise<br />

Ich habe <strong>mal</strong> einen Freund danach gefragt, wie es seiner<br />

schon recht betagten Mutter geht. Und er sagte: Die Kreise<br />

werden nun enger. Es war nur der eine Satz. Mehr musste er<br />

gar nicht sagen. Ich kannte ja seine Mutter: wach und interessiert<br />

und immer irgendwie mit dabei und mittendrin. Ich<br />

hatte sofort wieder vor Augen, wie sie da im Büro einer<br />

Bürgerinitiative bei einer großen politischen Aktion in Südtirol<br />

half. Und so schrieb ich ihm:<br />

Enger werden die Kreise<br />

wer weiß schon, wann<br />

und in den Schläfen<br />

hämmert nur noch leise,<br />

was zu tun ist, ist getan,<br />

nicht mehr, ich lege<br />

keine neuen Gleise,<br />

nur noch eines<br />

für die letzte Reise.<br />

100


Das hat er seiner Mutter vorgelesen. Ich fand das mutig, sie<br />

auf die letzte Reise anzusprechen. Sie aber hat nur genickt.<br />

Es war, was sie zeitlebens wollte: Wenn die Kräfte nachlassen,<br />

spüren, dass alles erledigt ist. Lebenssatt seinen Frieden<br />

mit dem eigenen Leben und dem Leben überhaupt zu machen.<br />

Was zu tun ist, ist getan. Ich lege keine neuen Gleise.<br />

Ich werde nicht mehr getrieben und muss mich selbst nicht<br />

mehr antreiben. Ich bereite mich vor auf die letzte Reise.<br />

Was für eine Gnade, wem das so gelingt. Und dann? Wohin<br />

führt die letzte Reise? Wer weiß das schon. Während hier die<br />

Kreise enger werden, könnte es sein, sie weiten sich, wenn<br />

wir die letzte Reise antreten. Könnte sein. Dann für immer.<br />

101


Über den Autor<br />

<strong>Ralf</strong>-<strong>Uwe</strong> <strong>Beck</strong>, Jahrgang 1962, ist Theologe, Bürgerrechtler<br />

und Autor. Er leitet die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der<br />

Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Politisch<br />

engagiert sich der parteilose <strong>Beck</strong> in zahlreichen Initiativen<br />

für den Umwelt- und Klimaschutz, für Bürgerrechte und<br />

Demokratie sowie für Flüchtlinge. 2015 erhielt er für sein Engagement<br />

das Bundesverdienstkreuz. Er lebt in Eisenach.<br />

<strong>Beck</strong> gehört zum Autorenteam der MDR-Rundfunkandachten<br />

»<strong>Augenblick</strong> <strong>mal</strong>«. Die Texte dieses Buches basieren auf Andachten<br />

aus dieser Sendereihe. Wir danken dem MDR, dass<br />

wir den Titel der Sendung und die Manuskripte der Andachten<br />

für dieses Buch nutzen dürfen.<br />

112


<strong>Ralf</strong>-<strong>Uwe</strong> <strong>Beck</strong>, bekannt durch die MDR-<br />

Radioreihe »<strong>Augenblick</strong> <strong>mal</strong>«, durchkreuzt<br />

mit seinen Zwei-Minuten-Texten den Alltag.<br />

Mal Andacht, <strong>mal</strong> Statement wirken sie<br />

wie ein Einspruch: <strong>Augenblick</strong> <strong>mal</strong>,<br />

da war doch noch was. Er greift Themen<br />

aus dem Nachrichtenstrom und unserem<br />

rasanten Alltag auf und lässt sie unter<br />

die Haut gehen: tiefsinnig, politisch, mitunter<br />

zornig oder humorvoll.<br />

ISBN 978-3-86160-574-4<br />

EUR 10,00 [D] | EUR 10,30 [A]

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