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HUK 333 November 2020

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Das Hamburger<br />

Straßenmagazin<br />

Seit 1993<br />

N O <strong>333</strong><br />

Nov.20<br />

2,20 Euro<br />

Davon 1,10 Euro für<br />

unsere Verkäufer*innen<br />

„Ich war<br />

ein Neonazi“<br />

Der Aussteiger: Oliver Riek war jahrelang<br />

rechtsradikal. Heute warnt er vor der Szene.


Rainer<br />

Zeitungsverkäufer<br />

Kenner der Straße<br />

Foto-Künztler<br />

Neu:<br />

Hamburger Foto-Kalender<br />

von Hinz&Kunzt<br />

Kalender<br />

2021<br />

6,80 Euro<br />

Davon 3,40 Euro für<br />

unsere Verkäufer*innen


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Inhalt<br />

TITELBILD: MAURICIO BUSTAMANTE; FOTO OBEN: ANDREAS HORNOFF<br />

Inhalt<br />

Stadtgespräch<br />

04 Gut&Schön<br />

06 Wie Oliver Riek aus der rechten<br />

Szene ausstieg<br />

14 Zahlen des Monats: Corona ist<br />

„Brandbeschleuniger“ für den Hunger<br />

16 Rüdiger Nehbergs Angehörige wollen<br />

sein Lebenswerk fortführen<br />

38 Kein Lebensplatz für Michi: Obdachloser<br />

stirbt auf dem Großneumarkt<br />

42 Psychisch kranke Obdachlose:<br />

„Die Situation ist dramatisch.“<br />

Tod, Elend und eine Hoffnung<br />

75 Jahre nach Kriegsende: Der ukrainisch-amerikanische<br />

Fotograf Sasha Maslov hat weltweit Veteran*innen fotografiert. (S. 28)<br />

Östro 430:<br />

Nach 40 Jahren<br />

will Martina Weith<br />

mit ihrer Punkband<br />

wieder auf die<br />

Bühne. (S. 48)<br />

Mikrowohnungen<br />

20 Hamburger macht aus Schiffscontainern<br />

Wohnungen<br />

24 Mikrowohnen-Beispiele aus aller Welt<br />

26 Interview: Stadtentwicklungsexperte<br />

Bernd Kniess über Mikrowohnungen<br />

Fotoreportage<br />

28 Veteran*innen blicken 75 Jahre nach<br />

Kriegsende auf ihr Leben zurück<br />

Freunde<br />

44 Renate Mayer näht Masken – und<br />

spendet den Erlös an Hinz&Kunzt<br />

Kunzt&Kult<br />

48 Frauen-Punk: Östro 430<br />

52 Tipps für den <strong>November</strong><br />

56 Hamburger Geschichte(n)<br />

58 Momentaufnahme<br />

Zuversichtlich trotz harter<br />

Themen: Nach dem Tod<br />

von Rüdiger Nehberg im<br />

April wollen seine Witwe<br />

Annette Nehberg-Weber<br />

(Zweite von rechts), ihre<br />

Tochter Sophie und ihr<br />

Sohn Roman das Lebenswerk<br />

des Abenteurers und<br />

Menschenrechtlers weiterführen.<br />

Chefredakteurin<br />

Birgit Müller traf die<br />

drei zum Interview.<br />

Acht Menschen sind in den vergangenen sechs Monaten<br />

auf der Straße gestorben. Acht! Und die Straßen<br />

sind voller Obdachloser. Die Verelendung<br />

nimmt immer mehr zu. Und immer öfter hören wir<br />

Geschichten, dass Menschen Hilfe brauchten und sie<br />

nicht bekamen. Wie Michi, der auf dem Großneumarkt<br />

gestorben ist (Seite 38). Das ist alarmierend,<br />

weil wir uns coronabedingt auf noch schwerere Zeiten<br />

einstellen müssen.<br />

Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns noch<br />

eine Nachricht: Laut NDR eröffnet die Stadt noch<br />

eine Unterkunft für 250 Obdachlose und eine Tagesaufenthaltsstätte<br />

in der City, wo sonst gefeiert wird:<br />

in der Markhalle. Die Details waren bis Redaktionsschluss<br />

noch unklar, unsere Nachfragen hat die Sozialbehörde<br />

nicht beantwortet. Ob die Angebote ausreichen,<br />

ist derzeit nicht absehbar. Die Linke fordert<br />

deshalb einen Runden Tisch (siehe Seite 13) – wir<br />

würden das sehr begrüßen.<br />

Toll fänden wir, wenn die Stadt Obdach lose in<br />

Einzelzimmern unterbringen würde – womöglich in<br />

leer stehenden Hotels. Wir haben das ja für ein paar<br />

Monate dank einer Spende machen können. Eine<br />

Win-win-Situation, weil sowohl Obdachlose als<br />

auch Hotels die Coronazeit so besser überstehen.<br />

Das ist nur ein Traum, aber die Hoffnung stirbt ja<br />

bekanntlich zuletzt. •<br />

Ihre Birgit Müller Chefredakteurin<br />

(Schreiben Sie uns doch an info@hinzundkunzt.de)<br />

Rubriken<br />

12 Meldungen<br />

46 Buh&Beifall<br />

57 Rätsel, Impressum<br />

Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk


Neuer Job<br />

Schild-Bürger<br />

Als er durch Corona seine Arbeit<br />

im Supermarkt verlor, kam der<br />

Südafrikaner Lusindiso Malgas<br />

auf eine neue Geschäftsidee.<br />

Wie die „Süddeutsche Zeitung“<br />

berichtete, stellte er sich mit selbst<br />

bemalten Schildern mit lustigen<br />

Botschaften („Lass uns mittagessen<br />

gehen – du zahlst“), aber<br />

auch politischen an den Straßenrand<br />

und bat Autofahrer*innen<br />

um Spenden. Das kam hervorragend<br />

an, jetzt gibt es sogar ein<br />

Crowdfunding für Malgas. JOC<br />


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Gut&Schön<br />

Nach Hilfe der Stadt<br />

Kunstdomizil<br />

„Dose“ bleibt!<br />

Sprecherin der Dosenfabrik:<br />

Künstlerin Marianne Janze<br />

FOTOS: ANNIQUE BESTER / YES AND PHOTOS (S. 4), MARKUS SCHWER / VIVA CON AGUA (OBEN),<br />

RADIO FRANCE / NICOLAS OLIVIER (UNTEN LINKS), MAURICIO BUSTAMANTE (UNTEN RECHTS), INGEBORG SCHLÖMER<br />

Preisverleihung am 6. Dezember<br />

Geldregen für Viva con Agua<br />

„Wertschätzung für unsere weltweiten Trinkwasserund<br />

Hygieneprojekte“: So freut sich Viva-con-Agua-<br />

Geschäftsführerin Carolin Stüdemann über die<br />

Verleihung des mit 20.000 Euro dotierten Marion-<br />

Dönhoff-Förderpreises. Prämiert wird das große<br />

Engagement (im Bild: Pfandsammler*innen für VcA) für<br />

internationale Verständigung und Versöhnung. JOC<br />

•<br />

Ein echter Hauptgewinn<br />

Glückstag für vier Obdachlose in<br />

der französischen Küstenstadt Brest:<br />

Mit einem geschenkten Rubbellos<br />

gewannen sie den Höchstbetrag von<br />

50.000 Euro. Obdachlose würden<br />

sich regelmäßig vor seinem Geschäft<br />

aufhalten, sagte der Ladeninhaber<br />

gegenüber der bretonischen Lokalzeitung<br />

Ouest-France. „Oft spenden<br />

unsere Kunden eine Münze oder<br />

ein Rubbellos.“ Die Obdachlosen –<br />

drei Männer und eine Frau – seien<br />

überglücklich gewesen und hätten<br />

sich den Gewinn gerecht geteilt. JOF<br />

•<br />

Moderator & guter Mensch<br />

Für sein soziales Engagement<br />

ist NDR-Moderator Carlo von<br />

Tiedemann mit der Verdienstmedaille<br />

zum Verdienstorden der<br />

Bundesrepublik ausgezeichnet<br />

worden. Der 76-Jährige (Im Bild<br />

2017 gemeinsam mit Hinz&Künztler<br />

Chris) unterstützt das Hamburger<br />

Kinderhospiz „Sternenbrücke“,<br />

den Verein „Quickborn hilft“ für<br />

in Not geratene Kinder und bereits<br />

seit 2007 die Norderstedter Tagesaufenthaltsstätte<br />

für Obdachlose.<br />

JOC<br />

•<br />

Sie nennen ihre künstlerische<br />

Heimat liebevoll nur „die<br />

Dose“ – und nun ist endlich<br />

der Deckel drauf: Mit dem<br />

Ankauf der alten Dosenfabrik<br />

in der Stresemannstraße 374<br />

für 13 Millionen Euro durch<br />

die Stadt Hamburg, sind die<br />

33 dortigen Künstler*innen<br />

und etwa 60 Autor*innen des<br />

„Writer’s Room“ in ihrem zukünftigen<br />

kreativen Schaffen<br />

abgesichert. Damit endet der<br />

mehr als zehnjährige Kampf<br />

um den Erhalt der „Dose“ als<br />

Kunststandort.<br />

„Wir sind alle dankbar“,<br />

sagt Sprecherin Marianne<br />

Janze, seit 1999 selbst in der<br />

„Dose“ dabei. „Zwischendurch<br />

war die Gefahr doch<br />

ganz, ganz groß, dass es nach<br />

2022 hier nicht mehr weitergegangen<br />

wäre.“<br />

Vor allem für die vielen,<br />

oft nur mit kleinem Einkommen<br />

lebenden älteren Kunstschaffenden<br />

in den insgesamt<br />

28 Ateliers, gibt es jetzt überlebenswichtige<br />

Planungssicherheit.<br />

Auch Malerin und<br />

Zeichnerin Janze selbst hat<br />

„kein Auto, kein iPad und<br />

keinen Urlaub“, weil sie sich<br />

nach einem Geschichtsstudium<br />

„lieber der Kunst verschrieben“<br />

hat. Im Frühjahr<br />

2021 wird das 25-jährige Jubiläum<br />

der „Dose“ nachgefeiert.<br />

Kultursenator Carsten<br />

Brosda will dabei sein. JOC •<br />

Mehr Infos unter:<br />

www.dosenfabrik-hamburg.de<br />

5


„Ich war ein<br />

Neonazi“<br />

Viele Jahre war Oliver Riek ein Rechtsradikaler.<br />

Heute warnt der 39-jährige Hamburger andere vor der<br />

Szene. Hier erzählt er seine Geschichte.<br />

PROTOKOLL: ULRICH JONAS<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE


Oliver Riek wurde in eine Burschenschaft eingeladen und fühlte sich von den Mitgliedern<br />

verstanden. Dadurch sympathisierte er immer stärker mit der rechten Szene, sagt er.<br />

I<br />

ch war immer ein Einzelgänger,<br />

schon als Jugendlicher. Habe viel<br />

gelesen, viel gegrübelt. Mit 17<br />

begann ich mir Fragen zu stellen:<br />

Warum sprechen wir Deutsch? Was ist<br />

Deutschland überhaupt? Und was<br />

ist Schwarz-Rot-Gold? Ich fing an, Geschichtsbücher<br />

zu lesen.<br />

Mein Opa war kurz vor meiner Geburt<br />

gestorben und hatte ein Fotoalbum<br />

hinterlassen. Während des Krieges war<br />

er Unteroffizier im Fernmelderegiment<br />

gewesen und überall herumgekommen:<br />

Polen, Russland, Nordafrika. Und er<br />

wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.<br />

„Der muss richtig was geleistet<br />

haben, ein richtiger Krieger gewesen<br />

sein“, dachte ich damals. Ich habe<br />

ihn glorifiziert – vielleicht auch, weil<br />

mein Vater auf Nimmerwiedersehen<br />

verschwunden war, als ich zwei war.<br />

Was ich in der Schule hörte, reichte<br />

mir nicht. Mein Elternhaus war sozialdemokratisch<br />

geprägt. Aber das<br />

ging nie in die Tiefe. In der Familie<br />

sprachen wir nicht über Politik und das<br />

„Dritte Reich“. Ich bastelte mir mein<br />

eigenes Bild von Deutschland und seiner<br />

Geschichte: dass wir nur ein<br />

Rumpfstaat sind, ohne Identität und<br />

Tradition, ein besetztes Land, bevormundet<br />

von fremden Mächten wie den<br />

USA und Israel.<br />

„Wir waren<br />

Täter. Geistige<br />

Brandstifter.“<br />

8<br />

Nach der Schule begann ich eine Bäckerlehre<br />

und freundete mich mit dem<br />

Konditor an. Wir stellten fest, dass wir<br />

uns beide für Geschichte interessierten<br />

und in der Vergangenheit lebten. Bald<br />

hörten wir stundenlang Reden von<br />

Hitler und Goebbels. Ein Freund des<br />

Konditors lud uns zu einem Burschenschaftsabend<br />

ein. Ich wusste damals<br />

nicht, was studentische Verbindungen<br />

sind. Aber ich fand das spannend.<br />

Die Burschenschaft war die Chattia<br />

Friedberg zu Hamburg (siehe Seite 11).<br />

Sie feierte die Sonnenwende auf einem<br />

großen Grundstück irgendwo in<br />

Schleswig-Holstein. Ein riesiges Lagerfeuer<br />

brannte, das war spektakulär. Die<br />

Menschen waren nett und kultiviert:<br />

Ärzte, Juristen, Bankfilialleiter in Anzügen,<br />

die sich für mich, den Lehrling, interessierten.<br />

Noch am selben Abend<br />

wurde ich aufgenommen.<br />

Ich hatte endlich das Gefühl, verstanden<br />

zu werden. Mit Auserwählten<br />

zusammen zu sein, die von Geschichte<br />

Ahnung hatten wie ich. Und das waren<br />

keine plumpen Neonazis. Da drohte dir<br />

keiner Schläge an, wenn du Gerhard<br />

Schröder gut fandest. Die sagten: „Ja,<br />

der ist schon nicht schlecht. Aber …“<br />

Die schauen erst mal, wie weit sie gehen<br />

können. Wie empfänglich du bist für<br />

rechtes Gedankengut. Und dann rutscht


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

du langsam immer weiter rein. Und<br />

später ziehst du selbst andere hinein.<br />

In der Burschenschaft gibt es einen<br />

starken Ehrenkodex. Wenn du Hilfe<br />

brauchst, bekommst du Hilfe. Und<br />

zwar von allen. Ich, der Einzelgänger,<br />

war auf einmal nicht mehr nur der kleine<br />

Bäckerlehrling. Sondern Teil einer<br />

Gruppe von Menschen, die mich mochten<br />

und die ich mochte. Das war toll.<br />

Du fühlst dich nicht mehr angreifbar.<br />

Wir waren nicht gewalttätig, das<br />

war nicht mein Ding und auch nicht<br />

das der Burschenschaft. An Publicity<br />

war die nicht interessiert. Aber wir sahen<br />

uns zum Beispiel den Film „Schindlers<br />

Liste“ an, und bei jedem Juden, der<br />

erschossen wurde, stießen wir mit einem<br />

Schnaps an. Und wenn Rechtsradikale<br />

mal wieder ein Flüchtlingsheim<br />

in Brand gesetzt hatten, freuten wir uns.<br />

Wenn ich heute daran zurückdenke,<br />

könnte ich über mich selbst kotzen. Wir<br />

waren Täter. Geistige Brandstifter.<br />

Selbstverständlich gab es enge Kontakte<br />

zu anderen rechtsradikalen Gruppen.<br />

Führende Leute waren Mitglieder<br />

der NPD, ehemalige SS-Offiziere wurden<br />

zu Vortragsabenden geladen und<br />

vermeintliche Wissenschaftler erklärten<br />

uns, warum es den Holocaust nie gegeben<br />

habe. Die Idee war, die Gesellschaft<br />

still und heimlich zu unterwandern.<br />

Einflussreiche Menschen sollten als Mitglieder<br />

gewonnen werden und helfen,<br />

die Demokratie zu zerstören. „Hitler<br />

hat lange genug geschlafen!“, hieß es<br />

oft. Oder: „Der Umsturz wird kommen,<br />

es dauert nicht mehr lange …“<br />

Ich lebte in einer Blase. Mit der Familie<br />

gab es viel Stress. Ich wiegelte ab,<br />

sagte: „Die sind alle nett, wir machen<br />

nichts Schlimmes. Und ich bin der Meinung,<br />

dass in Deutschland zu viel Pack<br />

herumläuft. Dass wir nicht das Sozialamt<br />

der Welt sind!“ Versuch mal, mit so<br />

jemandem zu diskutieren – da kannst<br />

du nur verlieren. Meine Familie gab auf.<br />

Dachte sich: „Solange er nicht im Knast<br />

landet, soll er mal machen …“<br />

Nach der Lehre beschloss ich, zur<br />

Bundeswehr zu gehen. Die war für die<br />

„Ich habe<br />

gelernt, dass<br />

Hassen anstrengend<br />

ist.“<br />

Verbindung jedoch nicht mehr als eine<br />

von den Amerikanern eingesetzte Hilfsarmee.<br />

Die Konsequenz: Ich wurde aus<br />

der Verbindung rausgeschmissen. Von<br />

einem Tag auf den anderen, so mein<br />

Gefühl, hatte ich niemanden mehr. Das<br />

war hart. Meine Gesinnung aber änderte<br />

sich nicht.<br />

Vier Jahre war ich bei der Bundeswehr.<br />

Der Grat zwischen Patriotismus,<br />

Nationalismus und Rechtsradikalismus<br />

ist schmal: Wenn du nicht mit erhobenem<br />

Arm durch die Kaserne läufst und<br />

deine Einstellung geschickt verkleidest,<br />

hast du da keine Probleme. Ich fand bald<br />

meine Zuhörer. Einmal jedoch feierte eine<br />

Gruppe Gebirgsjäger auf der Stube.<br />

Ihr Trinkspruch war „Ski heil!“. Ein Kamerad<br />

aber hatte „Sieg Heil!“ verstanden<br />

und alarmierte den Militärischen<br />

Abschirmdienst. Die wurden dann so<br />

richtig in die Mangel genommen. Da<br />

dachte ich: „Du musst aufpassen!“ Andererseits:<br />

Jeder meiner Kameraden<br />

wusste, was ich für eine Einstellung hatte<br />

– gemeldet hat das keiner.<br />

Anschließend wollte ich Restaurantfachmann<br />

lernen. Ein Freund der Familie<br />

empfahl mir ein Hotel, das sich Integration<br />

und Inklusion auf die Fahnen<br />

geschrieben hatte. Ich wusste das damals<br />

nicht und war froh, dass ich nicht<br />

selbst auf die Suche gehen musste. Und<br />

er hoffte, meine Einstellung könnte sich<br />

dort ändern. Über die sprach ich beim<br />

Bewerbungsgespräch natürlich nicht –<br />

und bekam die Lehrstelle.<br />

Auf einmal kam ich in Kontakt mit<br />

Ausländern. Darunter waren auch solche,<br />

die auf dem Arbeitsmarkt meist<br />

9<br />

wenig Chancen haben. Eine Kollegin<br />

war eine junge Afghanin, die Traumatisches<br />

erlebt haben muss und deshalb<br />

nicht so leistungsfähig war wie andere.<br />

Zu einem Kollegen sagte ich eines Tages:<br />

„Was macht die eigentlich hier?<br />

Die hat hier nichts zu suchen! Die kann<br />

den Job nicht, und richtig Deutsch<br />

spricht sie auch nicht!“<br />

Solche Bemerkungen machte ich<br />

nur gegenüber anderen Auszubildenden.<br />

Oft waren die stinksauer. Doch keiner<br />

hat den Hoteldirektor informiert –<br />

vielleicht weil ich die nicht deutschen<br />

Kollegen nie persönlich angriff. Vielleicht<br />

auch, weil die anderen Azubis<br />

sich so etwas dachten wie: „In der Beziehung<br />

hat er einen an der Klatsche –<br />

aber sonst ist er eigentlich ganz nett.“<br />

Eines Abends, auf dem Heimweg,<br />

fragte mich ein Pakistani nach dem<br />

Weg. Kurz überlegte ich, ob ich überhaupt<br />

antworten sollte. Dann erklärte<br />

ich ihm, wo er lang musste. Er fing an<br />

zu erzählen: dass er hier studiert, sich<br />

was aufbauen will. Wir freundeten uns<br />

an, weil er einfach nett war. Aber er<br />

blieb die Ausnahme: Alle anderen Ausländer<br />

fand ich weiterhin scheiße.<br />

Es folgten weitere Erlebnisse, die<br />

wie kleine Trigger wirkten. Einmal hatten<br />

wir eine Außer-Haus-Veranstaltung.<br />

An der Spüle stand ein Schwarzer, den<br />

alle Smiley nannten, weil er immer gut<br />

gelaunt war. Der arbeitete 16 Stunden<br />

am Stück und beschwerte sich nicht ein<br />

einziges Mal – obwohl er den ranzigsten<br />

Job machte, den es in der Gastronomie<br />

gibt. Für diesen Menschen spürte<br />

ich auf einmal Respekt.<br />

Mit der Zeit fing ich an, meine Vorstellungen<br />

zu hinterfragen. „Eigentlich<br />

tut mir ja keiner von den Ausländern<br />

was“, dachte ich. „Sie machen ihren<br />

Job gut und wir verstehen uns.“ Ich fing<br />

an, mich zu fragen: „Was bringt dir das,<br />

so zu denken?“ In dieser Zeit habe ich<br />

gelernt, dass Hassen anstrengend ist.<br />

Du gehst durch die Straßen und suchst<br />

permanent die Fehler der anderen. Ein<br />

Beispiel: Du siehst einen türkisch aussehenden<br />

Mann, der ausspuckt. Da


Stadtgespräch<br />

Als Oliver Riek Migrant*innen<br />

kennenlernte, begann er, sein<br />

Weltbild zu hinterfragen.<br />

dachte ich früher: „Das ist ein Kanake,<br />

der auf deutschen Boden rotzt – das<br />

geht gar nicht! Aber von dem erwarte<br />

ich ja nichts anderes!“ Heute denke ich:<br />

„Ferkel. Aber wer so etwas macht, ist<br />

mir egal.“<br />

Kurz bevor ich mich 2015 in einer<br />

Zeitung öffentlich als ehemaliger Neonazi<br />

geoutet habe, hatte ich ein weiteres<br />

Schlüsselerlebnis: In der Nachbarschaft<br />

wohnte eine Familie aus Syrien. Eines<br />

Abends stand die Tochter vor der Tür,<br />

in der Hand einen Teller mit Selbstgebackenem.<br />

Sie sagte: „Frohe Weihnachten!“<br />

Da sagte ich mir: „Jetzt mach ich<br />

Schluss mit dem ganzen Dreck!“<br />

Ich habe mich selbst entradikalisiert.<br />

Eines Abends habe ich mich zum Beispiel<br />

ins Auto gesetzt, bin durch die<br />

Gegend gefahren und habe mich gefragt:<br />

„Wieso eigentlich hasse ich Juden?<br />

Warum lehne ich Menschen ab,<br />

die ich nicht kenne, und eine Religion,<br />

mit der ich mich noch nie beschäftigt<br />

habe?“ So ein Ausstieg ist ein langer,<br />

zäher, schmerzlicher Prozess: Du<br />

musst lernen, dich von dem zu verabschieden,<br />

was dir lange Sicherheit gegeben<br />

hat.<br />

Heute bin ich an Schulen und Unis<br />

unterwegs und kläre auf. Sage denen,<br />

die sich von der rechten Szene und ihrem<br />

Gedankengut angezogen fühlen:<br />

„Wenn du dir dein Leben und das deiner<br />

Familie und Freunde nicht kaputtmachen<br />

willst, lass es! Weil das verschenkte<br />

Lebenszeit ist. Weil Hass nicht<br />

der Lebensinhalt eines Menschen sein<br />

sollte – denn er macht dich kaputt.“ •<br />

Kontakt: ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />

„In die Opfer hineinversetzen“<br />

Marius Dietrich begleitet Menschen bei ihrem Ausstieg aus der rechten Szene.<br />

Hinz&Kunzt-Autor Ulrich Jonas hat mit ihm über seine Arbeit gesprochen.<br />

Hinz&Kunzt: Die Geschichte von<br />

Oliver ist keine typische, oder?<br />

Das Besondere bei Oliver ist, dass er<br />

den Ausstieg aus eigener Kraft geschafft<br />

hat. Das ist außergewöhnlich. In<br />

aller Regel ist das Umfeld ja Teil der<br />

Szene. Wir raten dann zum langsamen,<br />

leisen Ausstieg. Das schützt auch vor<br />

An fein dungen.<br />

Wie kommen Sie an die<br />

Menschen ran?<br />

Manche melden sich selbst. In anderen<br />

Fällen sind es Angehörige, Sozialarbeiter*innen<br />

oder Lehrer*innen. Unser<br />

Gesprächsangebot ist immer freiwillig.<br />

Denn mit Menschen, die ein geschlossenes<br />

Weltbild haben, brauchst du<br />

nicht zu diskutieren. Wir sehen uns nicht<br />

als Nazi-Versteher*innen. Wir sind da<br />

für Menschen, die ein ernsthaftes Interesse<br />

haben, sich mit ihrer Geschichte<br />

und Ideologie zu beschäftigen.<br />

Wie sieht diese Beschäftigung<br />

konkret aus?<br />

Aussteiger*innen müssen erkennen,<br />

dass sie eine menschenverachtende<br />

Ideologie haben. Und begreifen: Sie<br />

sind Täter*in gewesen. Täter*in bist du<br />

nicht nur, wenn du körperliche Gewalt<br />

ausübst. Sondern auch, wenn du rassistische<br />

Texte schreibst. Selbst mit<br />

Blicken kannst du Täter*in werden. Mit<br />

diesen Menschen muss sich jemand<br />

auseinandersetzen. Einen Zugang<br />

finden. Sie unterstützen. Im schlimmsten<br />

Fall brauchen sie eine neue Wohnung,<br />

einen neuen Job, und, das<br />

Schwierigste: neue Freund*innen.<br />

10<br />

Was ist das Ziel Ihrer Beratung?<br />

Irgendwann muss der Perspektivenwechsel<br />

gelingen. Die Täter*innen müssen<br />

sich in die Opfer hineinversetzen:<br />

Wie geht es Menschen, die ich verletzt<br />

und abgewertet habe? Und zu was kann<br />

das führen, was ich gemacht habe, zu<br />

was hat es geführt in der Geschichte?<br />

Wir sprechen übrigens lieber von Betroffenen,<br />

weil der Begriff Opfer unter<br />

anderem oft abwertend benutzt wird.<br />

Sind Aussteiger*innen automatisch gute<br />

Aufklärer*innen?<br />

Manche Ex-Täter*innen sind sehr laut.<br />

Ich finde es befremdlich, wenn solche<br />

Menschen mit der Verbreitung ihrer<br />

Geschichten auf YouTube-Kanälen<br />

Geld verdienen. Wer erzählt, wie toll<br />

das war, hat sich nicht eine Minute in


Stadtgespräch<br />

Anmerkung der Redaktion, die Chattia Friedberg zu Hamburg<br />

erklärte auf Nachfrage (Auszüge): „Jegliche Unterstellung<br />

der Heroisierung nationalsozialistischen Gedanken gutes weisen<br />

wir scharf von uns. Die Gruselgeschichte mit dem Trinkspiel<br />

beim Ansehen des Filmes ,Schindlers Liste‘ ist eine<br />

ebenso abstruse Behauptung. Nie haben wir auf<br />

so eine Weise den Holocaust verhöhnt. … Herr Riek wurde<br />

dereinst tatsächlich aus unserer Gemeinschaft ausgeschlossen.<br />

Allerdings nicht wegen seiner Tätigkeit als Soldat.<br />

Die Gründe für diesen Ausschluss ergaben sich aus<br />

seinen hetzerischen Aussagen gegenüber Ausländern und<br />

Juden, als auch seinem untragbaren Verhalten unter<br />

Alkoholeinfluss.“<br />

Die Pennale Burschenschaft Chattia Friedberg zu Hamburg<br />

wird seit Langem vom Hamburger Verfassungsschutz<br />

beobachtet. „Seit ihrer Gründung … sind in der PB! Chattia<br />

Personen aktiv, die Beziehungen in die rechtsextremistische<br />

Szene unterhalten, unter anderem für die NPD aktiv waren<br />

und die deutliche Sympathien für den National sozialismus zu<br />

erkennen geben“, heißt es im 2018er-Bericht der Behörde.<br />

Im neuesten Bericht wird die „zurückhaltende Außendarstellung“<br />

der Burschenschaft erklärt: Diese „dürfte in<br />

erster Linie taktisch begründet sein, um für den Vorwurf des<br />

Rechtsextremismus keine Angriffsfläche zu bieten“.<br />

Solidarisch<br />

anlegen!<br />

WENN MEIN GELD<br />

PERSPEKTIVEN FÜR<br />

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INFORMATIONEN UNTER 040-94362800<br />

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NACHHALTIGE GELDANLAGE SEIT 1975.<br />

die von rechter Gewalt Betroffenen hineinversetzt.<br />

Solche Aussteiger*innen behaupten gerne, dass sie da<br />

reingerutscht sind. Das ist Quatsch: Sie haben selbst<br />

entschieden.<br />

Was kann jede*r Einzelne gegen Rechtsradikalismus tun?<br />

Das Wichtigste: Werte vermitteln und Grenzen aufzeigen.<br />

Wenn jemand in meinem Umfeld Menschen abwertet<br />

oder diskriminiert, muss ich sagen: „Das<br />

sehe ich anders – und damit bin ich nicht alleine.“ •<br />

Kontakt: ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />

Beratungsstellen:<br />

Kontakt: Kurswechsel, Telefon 0800/565 78 00 56,<br />

www.kurswechsel-hamburg.de<br />

Weitere Beratungsstellen, auch für Betroffene rechter<br />

Gewalt, unter www.huklink.de/gegen-rechts<br />

11<br />

Damit Sie auch in<br />

Zukunft lächeln:<br />

Unsere Beratung schützt Sie vor den<br />

Folgen sozialer Härte – ob Altersarmut,<br />

Krankheit, Pflegefall,<br />

Unfall oder Arbeitslosigkeit.<br />

Auch in Ihrer Nähe!<br />

Jetzt Mitglied werden:<br />

www.sovd-hh.de<br />

oder anrufen:<br />

040 / 611 60 70<br />

Sozialverband Deutschland<br />

Landesverband Hamburg


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>333</strong>/NOVEMBER <strong>2020</strong><br />

Meldungen<br />

Politik & Soziales<br />

Im Oktober erhielt<br />

Esther Bejarano<br />

den Hermann-<br />

Maas-Preis der<br />

evangelischen Kirche.<br />

Die 95-jährige<br />

Zeitzeugin wurde<br />

für ihren Einsatz<br />

gegen Rassismus<br />

und Ausgrenzung<br />

ausgezeichnet.<br />

Neues Insolvenzrecht<br />

Schuldnerberatungen erhalten Zulauf<br />

Die vom Bund geplante Verkürzung des Insolvenzverfahrens von sechs auf drei<br />

Jahre lässt auf sich warten. Es gebe noch Gesprächsbedarf, hieß es aus dem Justizausschuss.<br />

Bei einer Anhörung übten Expert*innen deutliche Kritik: So soll das<br />

verkürzte Verfahren für Privatschuldner*innen zunächst nur bis 2025 möglich<br />

sein. „Darin zeigt sich ein unangebrachtes Misstrauen“, sagt Matthias Butenob<br />

von der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung Hamburg. Er bemängelt<br />

zudem, dass Auskunfteien Insolvenzdaten drei Jahre lang speichern dürfen sollen<br />

und nicht wie ursprünglich vorgesehen ein Jahr. Derweil werden die wirtschaftlichen<br />

Folgen der Coronapandemie sichtbar: Jede dritte Beratungsstelle erlebe in<br />

diesem Herbst mehr Zulauf als im vergangenen Jahr, so das Ergebnis einer<br />

bundesweiten Umfrage der Caritas. Auch die Hamburger Verbraucherzentrale<br />

meldet steigende Zahlen, so Beraterin Kerstin Föller: „Die Anfragen haben stark<br />

zugenommen.“ In der Folge sei die Wartezeit von drei auf fünf Monate gestiegen.<br />

Inwieweit die Coronakrise zu einer steigenden Zahl von Insolvenzen führen wird,<br />

ist noch unklar. UJO<br />

•<br />

Minijobs<br />

Streit um höhere Verdienstgrenzen<br />

Die Union will die Verdienstgrenze bei Minijobs von 450 auf 530 Euro monatlich<br />

erhöhen. Einen entsprechenden Vorschlag brachte das CDU-geführte Nordrhein-<br />

Westfalen in den Bundesrat ein. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD)<br />

lehnte den Vorstoß ab: „In den vergangenen Monaten mussten viele geringfügig<br />

Beschäftigte schmerzhaft erfahren, dass sie keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld<br />

haben und bei Jobverlust kein Arbeitslosengeld erhalten“, so ein Sprecher.<br />

Die Minijob-Zentrale meldete zuletzt 837.000 geringfügig Beschäftigte (12 Prozent)<br />

weniger als im Vorjahr. UJO<br />

•<br />

Immobilienhandel<br />

Saga verkauft an Investor<br />

Obwohl die Saga eigentlich keine<br />

Wohnungen mehr verkauft und<br />

wenn, dann nur an Selbstnut zer­<br />

*innen, hat das städtische Unternehmen<br />

nach Hinz&Kunzt-Informationen<br />

vor wenigen Wochen eine alte<br />

Stadtvilla mit drei Wohnungen an<br />

eine Immobiliengesellschaft veräußert.<br />

In der September-Ausgabe von<br />

Hinz&Kunzt hatte eine Nachbarin<br />

noch gewarnt: „Was hier passiert,<br />

stinkt nach Spekula tion.“ Gegenüber<br />

Hinz&Kunzt wollte der Käufer keine<br />

Angaben zur weiteren Nutzung machen.<br />

Die Saga wiederum hatte offenbar<br />

keine Bedenken beim Verkauf.<br />

Das Haus passe nicht „in das Bestandsportfolio<br />

des Unternehmens“,<br />

so ein Sprecher. Deswegen habe der<br />

Verkauf „im Vordergrund“ gestanden<br />

– und nicht die weitere Nutzung.<br />

Den Bewohner *innen des benachbarten<br />

Wohnprojektes wiederum wirft<br />

die Saga vor, dass sie lediglich zur<br />

„privaten Wohnnutzung“ ein Interesse<br />

an dem Haus gezeigt hätten. JOF<br />

•<br />

Mietenpolitik<br />

Erfolgreiche Volksbegehren<br />

Dauerhaft bezahlbare Mieten: Das ist<br />

das Ziel zweier Volksinitiativen, mit<br />

denen sich die Bürgerschaft befassen<br />

muss, nachdem ein Bündnis aus<br />

Mietervereinen und Initiativen je<br />

14.200 Unterschriften gesammelt hat.<br />

Die Forderungen: Die Stadt soll ihre<br />

Grundstücke nicht mehr verkaufen,<br />

sondern nur noch per Erbbaurecht<br />

verpachten. Und auf städtischen<br />

Grundstücken sollen nur noch Wohnungen<br />

entstehen, deren Miete Sozial<br />

wohnungsniveau nicht überschreitet.<br />

Macht sich die Bürgerschaft die<br />

Anliegen nicht innerhalb von vier<br />

Monaten zu eigen, kann das Bündnis<br />

ein Volksbegehren beantragen. BELA<br />

•<br />

FOTO: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />

12


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Landgericht<br />

Prozessauftakt nach<br />

Tötung eines Obdachlosen<br />

in Rothenburgsort<br />

Vor dem Hamburger Landgericht<br />

muss sich seit Oktober ein 37-Jähriger<br />

wegen des Totschlags an dem<br />

Obdachlosen Mariusz verantworten.<br />

Die Staatsanwaltschaft wirft Arunas<br />

B. vor, den 45-Jährigen im April in<br />

Rothenburgsort mit „mindestens sieben<br />

wuchtigen Stichen“ mit einem<br />

Küchenmesser vorsätzlich getötet zu<br />

haben – „aus ungeklärtem Anlass“,<br />

wie es in der Anklageverlesung hieß.<br />

Auf die Spur des Angeklagten kam<br />

die Polizei mit Bildern einer Überwachungskamera.<br />

Drei der sieben<br />

Messerstiche trafen den Bauch und<br />

sollen das Opfer tödlich verletzt haben.<br />

Vor der Tat sollen sich Arunas<br />

und Mariusz ein Zimmer im Winternotprogramm<br />

geteilt haben. Bis Redaktionsschluss<br />

hatte der Angeklagte<br />

sich noch nicht zu den Vorwürfen<br />

geäußert. Zunächst waren fünf<br />

Verhandlungstage angesetzt, der letzte<br />

für den 30. <strong>November</strong>. BELA<br />

•<br />

Energiearmut<br />

Etwas weniger Stromsperren<br />

2176 Haushalten wurde im dritten<br />

Quartal der Strom gesperrt, so Stromnetz<br />

Hamburg auf H&K-Nachfrage.<br />

Im Vergleichszeitraum des Vorjahres<br />

lag die Zahl bei 2317. Der Trend entspricht<br />

Zahlen, die die Bundesnetzagentur<br />

veröffentlichte. Demnach<br />

wurde 2019 bundesweit 289.000<br />

Haushalte den Strom abgeklemmt,<br />

zwei Prozent weniger als 2018.<br />

Der Paritätische Wohlfahrtsverband<br />

forderte trotzdem erneut eine Reform<br />

von Hartz IV: Stromkosten müssten<br />

in tatsächlicher Höhe über nommen<br />

werden. Derzeit zahlen die Ämter<br />

pro Person höchstens eine Pauschale<br />

von 33,31 Euro monatlich. UJO<br />

•<br />

Stadt öffnet weitere Notunterkunft<br />

Obdachlosenhilfe in der kalten Jahreszeit<br />

Die Stadt eröffnet im <strong>November</strong> eine dritte Notunterkunft für Obdachlose.<br />

Damit erhöht sich die Zahl der Plätze im Winternotprogramm auf mehr als<br />

1000. Das berichtet der NDR. Allerdings müssen die Obdachlosen morgens raus<br />

und dürfen erst um 17 Uhr wiederkommen. Und das, obwohl die Tagesaufenthaltsstätten<br />

coronabedingt nicht voll funktionsfähig sind. Dafür eröffnet die Stadt<br />

allerdings in der City eine neue Tagesaufenthaltsstätte – und zwar in der Markthalle.<br />

Auch fürs Essen soll gesorgt sein: Die Obdachlosen sollen in den Unterkünften<br />

ein Abendessen und in den Tagesaufenthaltsstätten auch ein Frühstück und<br />

ein Mittagessen erhalten.<br />

Die Behörde gibt an, ein Pandemiekonzept zu haben und hat auch Quarantänestationen<br />

eingerichtet. Unsere Nachfragen zur Unterbringung und zum<br />

Pandemiekonzept wurden allerdings nicht beantwortet.<br />

Wegen der vielen Todesfälle unter Obdachlosen und Versorgungslücken im<br />

Hilfesystem fordert die Linksfraktion jetzt einen Runden Tisch. Hinz&Kunzt<br />

hofft, dass der Vorschlag aufgegriffen wird.<br />

Und eine gute Nachricht: Seit dem 25. Oktober ist der Kältebus wieder zwischen<br />

19 und 24 Uhr auf Hamburgs Straßen unterwegs. Bei Bedarf werden hilflose<br />

Obdachlose sogar in eine Notunterkunft gefahren. Im vergangenen Winter zählten<br />

die Ehrenamtlichen insgesamt 511 dieser Transporte. Der Kältebus ist eine<br />

Ini tiative der Alimaus. Die Rufnummer lautet: 0151/65 68 33 68. JOF/BIM<br />

•<br />

Europäischer Gerichtshof<br />

Rechte von EU-Zuwander*innen gestärkt<br />

Verlieren EU-Zuwander*innen ihren Job, haben sie und ihre Familien<br />

Anspruch auf staatliche Hilfe, wenn die Kinder hier zur Schule gehen.<br />

Das hat der Europäische Gerichtshof entschieden (AZ: C-181/19). Die Begründung:<br />

Den Betroffenen stehe „das Recht auf Gleichbehandlung“ zu. Im strittigen<br />

Fall hatte ein polnischer Staatsbürger geklagt. Er wohnte seit 2013 mit seinen<br />

beiden Töchtern in Deutschland, hatte ab 2015 in mehreren Jobs gearbeitet und<br />

war 2016 arbeitslos geworden. Zunächst zahlte das Jobcenter der Familie<br />

Hilfe, lehnte die Weiter bewilligung im Juni 2017 aber ab. Argument des Amtes:<br />

Der Mann befinde sich „zum Zweck der Arbeitssuche in Deutschland“.<br />

Der Fall landete schließlich vor dem Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen,<br />

das den Europäischen Gerichtshof anrief. Der wies darauf hin, dass die<br />

Entscheidung auch andere nationale Gerichte binde, „die mit einem ähnlichen<br />

Problem befasst werden“. Der Paritätische Gesamtverband sprach von „einem<br />

äußerst praxisrelevanten Urteil“.<br />

Das Bundesarbeitsministerium teilte auf Nachfrage mit, es werde die zuständige<br />

Bundesagentur für Arbeit auffordern, „entsprechend dem Urteil zu verfahren<br />

und Unionsbürger*innen mit einem aus dem Schulbesuch abgeleiteten Aufenthaltsrecht<br />

Leistungen zu gewähren“.<br />

Und: „Etwaige weitere Auswirkungen<br />

des Urteils bedürfen einer eingehenden<br />

Prüfung.“ UJO<br />

•<br />

Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />

www.hinzundkunzt.de<br />

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Zahlen des Monats<br />

Corona als Krisenverstärker<br />

Hunger weltweit besiegen:<br />

Ziel in Gefahr!<br />

Mehr als 690.000.000<br />

Menschen weltweit leiden aktuell unter chronischem Hunger – das ist schon jede*r elfte<br />

Erdenbürger*in. Allein 144 Millionen Kinder sind aufgrund chronischer Unterernährung zu klein für ihr<br />

Alter. „Dabei wirkt die Coronakrise beim Thema Hunger wie ein Brandbeschleuniger“, sagt der<br />

Vorstandsvorsitzende der Deutschen Welthungerhilfe, Mathias Mogge, auf Anfrage von Hinz&Kunzt.<br />

Unabsehbare negative Folgen durch die Globalität der Krankheit befürchtet auch das<br />

„World Food Programme“ (WFP) der Vereinten Nationen: „Die Covid-19-Pandemie zerstört<br />

die Welt, wie wir sie kannten. Die rasche weltweite Ausbreitung droht Millionen von Menschen zu treffen,<br />

die bereits jetzt unter Hunger, Mangelernährung und den Auswirkungen von Konflikten und<br />

Katastrophen leiden.“ Auch, um den durch Corona dramatisch erschwerten Kampf gegen<br />

den weltweiten Hunger möglichst aufmerksamkeitsstark und effektiv fortführen zu können, wird das<br />

WFP am 10. Dezember mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.<br />

138 Millionen hungernde Menschen will das WFP dieses Jahr trotz der widrigen Umstände für<br />

Helfende und Betroffene erreichen. Das im Dezember 1961 gegründete Hilfswerk ist heute die weltweit<br />

größte humanitäre Organisation im Kampf gegen den Hunger und arbeitet seit 1996 auch mit der<br />

Deutschen Welthungerhilfe zusammen. Besonders betroffen: viele afrikanische Länder südlich der<br />

Sahara. Laut des gerade veröffentlichten aktuellen „Welthungerindex“ der Welthungerhilfe rechnen die<br />

Vereinten Nationen als Folge der Coronapandemie, „dass für jeden Prozentpunkt, um den das globale<br />

Bruttoinlandsprodukt sinkt, für weitere 700.000 Kinder Wachstumsverzögerungen die Folge sein<br />

werden, und es zu fast 130.000 zusätzlichen Todesfällen bei Kindern führen könnte“.<br />

Das selbstverpflichtende Ziel der internationalen Staatengemeinschaft mit der<br />

„Agenda2030“ – in zehn Jahren soll Hunger weltweit besiegt sein – gerät nun in Gefahr.<br />

„Wenn wir bei der Hungerbekämpfung so weitermachen wie bisher, werden es 37 Länder bis 2030 nicht<br />

schaffen, ein niedriges Hungerniveau zu erreichen“, sagt Welthungerhilfe-Präsidentin Marlehn Thieme.<br />

Auf der Homepage des WFP (de.wfp.org) finden Interessierte einen Link zur neuen, interaktiven<br />

„Welthungerseite“. Sie zeigt fast in Echtzeit aktuelle Daten zur Ernährungssituation in mehr als<br />

90 Ländern und trifft auch Prognosen für Orte, für die nur begrenzt Daten verfügbar sind. •<br />

TEXT: JOCHEN HARBERG<br />

ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />

Mehr Infos im Internet unter www.welthungerhilfe.de<br />

15


Annette Nehberg-Weber, Tochter<br />

Sophie und Sohn Roman<br />

wollen das Vermächtnis des<br />

Abenteurers und Menschenrechtlers<br />

Rüdiger Nehberg weiterführen.


Stadtgespräch<br />

„Niemand ist<br />

zu gering, die<br />

Welt zu verändern“<br />

Das sagte einst Rüdiger Nehberg (Foto rechts). Er setzte sich für den Regenwald, indigene Völker und gegen<br />

die weibliche Genitalverstümmelung ein. Nehbergs Frau Annette, ihr Sohn Roman und ihre Tochter Sophie wollen<br />

die Ideen und Projekte des verstorbenen Abenteurers und Menschenrechtlers in seinem Sinne weiterführen.<br />

TEXT: BIRGIT MÜLLER<br />

FOTOS: ANDREAS HORNOFF (LINKS) UND TARGET-NEHBERG<br />

Sommerferien 2003. Sophie ist<br />

13 Jahre alt und sitzt mit ihren<br />

Eltern im Helikopter über dem<br />

Urwald von Brasilien. Schon<br />

das klingt nicht gerade nach einem<br />

normalen Urlaub. Aber was ist schon<br />

normal, wenn es sich beim Stiefvater<br />

um den Abenteurer und Menschenrechtler<br />

Rüdiger Nehberg handelt?<br />

„Und plötzlich war der Rüdiger weg“,<br />

erinnert sie sich. Erst allmählich dämmerte<br />

ihr, dass er sich gerade abgeseilt<br />

hatte. Irgendwie hatten die Erwachsenen<br />

wohl vergessen, ihr das mitzuteilen.<br />

Aber so richtig Angst hatte sie nicht.<br />

„Er war ja schließlich Sir Vival.“<br />

Am 1. April <strong>2020</strong> ist Rüdiger Nehberg<br />

gestorben, kurz vor seinem<br />

85. Geburtstag starb er in seinem Zuhause<br />

in Rausdorf, einer alten Mühle,<br />

umgeben von einem Überlebenscamp.<br />

Ohne Corona wäre die Familie vermutlich<br />

in alle Winde zerstreut gewesen:<br />

Rüdiger Nehberg, seine zweite<br />

Frau Annette Weber (60) und ihre<br />

Kinder Sophie (heute 30) und Roman<br />

(35). „So konnten wir noch als Familie<br />

zusammen sein“, sagt Roman.<br />

Auf dem Grundstück zündeten sie<br />

„ein letztes Lagerfeuer für Rüdiger“ an,<br />

erzählt Roman. „Kurze Zeit später<br />

kam auch schon der Erste, der mit<br />

dem Rucksack losgelaufen ist von<br />

Norderstedt bis Rausdorf und dann mit<br />

uns am Feuer saß.“<br />

Wochenlang bekam die Familie<br />

Besuch. Einige Fans hätten sogar<br />

Rüdigers Deutschlandmarsch gemacht,<br />

aber verkehrt rum – vom Süden in den<br />

Norden – und seien auch vorbeigekommen<br />

„und haben Abschied genommen.<br />

Da haben wir uns sehr gehalten<br />

gefühlt.“<br />

„Viele haben gesagt: ‚Rüdiger, du<br />

hast mein Leben verändert!‘“, sagt<br />

Sophie. Obwohl sie ihn vielleicht nur<br />

aus Büchern oder von einem einzigen<br />

Vortrag kannten.<br />

Eine einzige Begegnung hat ja auch<br />

dem Leben der Familie Weber eine neue<br />

Wendung gegeben. 1997 war das, da<br />

lebte Annette Weber mit Roman (damals<br />

12) und Sophie (7) noch in Offenburg.<br />

Eines Tages kam ihr Sohn aufgeregt<br />

nach Hause: Rüdiger Nehberg sei<br />

in der Stadt und er wolle unbedingt zu<br />

seinem Diavortrag. Annette Weber wunderte<br />

sich noch: „Seit wann interessierst<br />

du dich denn für Indianer?“ Denn sie<br />

hatte just Nehbergs Buch über die Yanomami<br />

in Brasilien gelesen. „Seit ich elf<br />

Jahre alt bin, wollte ich den Indianern<br />

medizinisch helfen“, sagt die gelernte<br />

Arzthelferin. Roman wiederum hatte<br />

damals mit „Indianern“ gar nichts am<br />

Hut: Er wollte die Abenteuergeschichten<br />

hören und wissen, wie man draußen<br />

überlebt. Abends dann war Roman<br />

gleich hin und weg von Rüdiger Nehberg,<br />

der wiederum war begeistert von<br />

seiner Mutter – und lud Mutter und<br />

Sohn noch auf einen Drink ein, etwas<br />

später zu sich ins Überlebenscamp. „Das<br />

hätte Roman mir ja nie verziehen, wenn<br />

ich das abgelehnt hätte“, sagt Annette<br />

Nehberg-Weber.<br />

Drei Jahre später zogen die drei<br />

nach Rausdorf. Es sollte der „Auftakt für<br />

ein spannendes, abenteuerliches Leben<br />

sein“, wie Roman sagt. Spielen wie<br />

andere Kinder und Jugendliche? „Klar<br />

haben wir auch mal was Normales<br />

gespielt wie … Schach“, sagt Sophie.<br />

Aber meist war es eher eine Survival-<br />

Ausbildung: „An Winterabenden saßen<br />

wir manchmal auf dem Sofa und haben<br />

Knoten geübt. Könnte man ja mal<br />

Eröffnung der kleinen Urwaldklinik für die Wai pi 2012 im brasilianischen Regenwald.


Roman und Sophie Weber mit ihrer Mutter Annette bei den Wai pi. 706.000 Hektar meist unberührter<br />

Regenwald gehören zu dem Gebiet der 2500 Wai pi. Sie sehen es als ihre Aufgabe, den Urwald zu schützen.<br />

gebrauchen“, sagt Sophie. Oder einen<br />

Brand im Haus simuliert. „Samstagmorgens<br />

um 8 Uhr, da seilten wir uns dann<br />

alle aus dem Dachfenster ab.“<br />

Es blieb nicht bei den Trockenübungen.<br />

Sophie war elf und Roman<br />

16, als sie mit Rüdiger und Annette<br />

zum ersten Mal in den Urwald gingen.<br />

„Rüdiger hat mir gezeigt, was man beachten<br />

muss, damit keine Schlangen<br />

kommen: Man muss stark auftreten,<br />

weil sie ja nicht hören, sondern die Vibration<br />

spüren.“ Das war für sie als Jugendliche<br />

eine „unglaublich reiche Erfahrung“.<br />

Und bei den Wai pi, einem<br />

Nomadenvolk in Brasilien, lernte Sophie<br />

eine ihrer besten Freundinnen kennen,<br />

die Tochter des Häuptlings.<br />

Auch für Roman war es eine<br />

„komplett neue Welt: Die ursprüngliche<br />

Lebensweise, das Zusammenleben in<br />

und mit der Natur, das war so faszinierend<br />

für mich, dass ich relativ früh<br />

gesagt habe: ‚Ich möchte mich für<br />

Indigene und den Regenwald einsetzen,<br />

Zeit meines Lebens.‘“<br />

Ihre Mutter Annette hatte da schon<br />

ihr erstes Projekt gestartet: Als Dankeschön<br />

für ihre Unterstützung bei einem<br />

Projekt hatte Rüdiger Nehberg sie im<br />

Jahr 2000 erstmalig mit zu den Wai pi<br />

genommen. Für sie sei sofort klar gewesen,<br />

dass sie helfen wollte. „Aber wir entscheiden<br />

so etwas ja nie alleine, sondern<br />

machen das, was die Menschen vor Ort<br />

brauchen und wollen“, sagt sie. Das<br />

wurde dann auf einer Versammlung der<br />

Häuptlinge tief im Wald besprochen<br />

und beschlossen: „Sie bräuchten eine<br />

Krankenstation, weil sie durch den Kontakt<br />

zu den Weißen mit ihren mitgebrachten<br />

Krankheiten zu tun hätten,<br />

gegen die sie im Urwald keine Medizin<br />

haben“, sagt Annette. „Das war im Jahr<br />

2000, und im Jahr 2002 haben wir die<br />

Einweihung der ersten Krankenstation<br />

gefeiert – und da waren Roman und<br />

Sophie auch schon mit dabei.“<br />

Etwa zur gleichen Zeit las Annette<br />

Nehberg-Weber ein Buch ihres Mannes:<br />

„Überleben in der Wüste Danakil“.<br />

Unter anderem wird dort die Begegnung<br />

mit Aischa beschrieben, einer<br />

jungen Frau vom Stamm der Afar.<br />

Aischa war genital verstümmelt worden<br />

und litt Höllenqualen.<br />

200 Millionen Frauen sind davon<br />

betroffen, recherchierten sie. 85 Prozent<br />

von ihnen sind Muslimas.<br />

Sie wollten unbedingt etwas dagegen<br />

tun, und Rüdiger wusste auch<br />

schon wie: „Ich möchte mit dem Islam<br />

18<br />

gemeinsam die Mädchen schützen, weil<br />

die Genitalverstümmelung immer religiös<br />

begründet wird, aber was den Mädchen<br />

angetan wird, ist keine religiöse<br />

Pflicht und ist eigentlich gegen die<br />

Religion.“<br />

Im Jahr 2000 gründeten sie deshalb<br />

ihren Verein Target, was man mit<br />

„Ziel“ übersetzen könnte. Unfassbar:<br />

„Ich möchte<br />

mich dafür<br />

ein setzen, Zeit<br />

meines Lebens.“<br />

ROMAN WEBER<br />

Rüdiger Nehberg und seine Frau schafften<br />

es tatsächlich, dass hochrangige religiöse<br />

Führer zu Konferenzen kamen,<br />

die sie initiiert hatten. Und unfassbar,<br />

dass es in vielen Ländern inzwischen eine<br />

Fatwa (religiöses Gutachten) gibt, die die<br />

Verstümmelung verbietet. Aber eine<br />

jahrhundertealte Tradition abzuschaffen,<br />

wird noch Jahrzehnte dauern, das<br />

ist den Nehberg-Webers klar.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Aber gerne wollten sie den Mädchen<br />

und Frauen, die in der Folge der Verstümmelung<br />

beim Urinieren, bei der<br />

Regel, beim Geschlechtsverkehr und<br />

bei der Geburt furchtbare Schmerzen<br />

leiden, auch praktisch helfen: 2010 begannen<br />

sie mit dem Bau einer Geburtsklinik<br />

mitten in der Danakilwüste in<br />

Äthiopien. Erst mal ging alles schief,<br />

wie sie feststellten, als sie gemeinsam<br />

mit Roman nach Äthiopien reisten.<br />

„Wir saßen einen Abend zusammen,<br />

und Rüdiger hat mir das Projekt<br />

gezeigt, und es war uns eigentlich klar:<br />

Das Projekt könnte total nach hinten<br />

losgehen“, erinnert sich Roman. „Die<br />

Wüste war sehr steinig, weit abgelegen,<br />

selbst die Bauunternehmer wollten<br />

nicht mit ihren Geräten in die Region<br />

kommen, und der Bauunternehmer,<br />

der tatsächlich vor Ort war, war komplett<br />

überfordert“, so Roman. „Die<br />

Wasserleitung war höchstens fünf<br />

Zentimeter unter der Erde verbuddelt,<br />

das Wasser spritzte nur so raus, die<br />

elektrischen Leitungen, an denen die<br />

ganze Klinik dranhing, waren nicht geerdet.<br />

Wir wussten: Wenn wir nicht aufpassen,<br />

scheitert das ganze Projekt.“<br />

Roman überlegte nicht lange, rief<br />

einen Freund an: ein Allroundtalent in<br />

Sachen Bau. „Der sagte nur trocken:<br />

,Wie sind die Koordinaten? Ich komme.‘“<br />

Eine ganze Gruppe von Freunden<br />

und Ehrenamtlichen kam in die<br />

Wüste, und zusammen mit einheimischen<br />

Helfern stellten sie eine kleine<br />

Klinik mit zwei OP-Räumen hin.<br />

Allerdings: Statt drei bis sechs Monate<br />

– wie Roman dachte – brauchten<br />

sie noch drei Jahre. „Es war ein Knochenjob“,<br />

sagt er: Alleine für die Wasserleitung<br />

brauchten sie mit 150 Männern,<br />

ausgerüstet nur mit Spitzhacke<br />

und Schaufel zwei Monate. „Da waren<br />

teilweise riesige Felsen, da musste<br />

nachts Feuer drunter gemacht werden,<br />

dann musste tags mit den Hämmern<br />

gearbeitet werden“, sagt Roman. 2015<br />

wurde die Klinik eröffnet: „Es wurde<br />

ein großes gemeinsames Herzensprojekt,<br />

es soll so ein Leuchtfeuer in der<br />

Wüste sein.“<br />

Auch Sophie liebt es, dieses Anpacken<br />

und Selbermachen. In den vergangenen<br />

fünf Jahren lebte sie in Brasilien<br />

und hat sich um Projekte bei den<br />

Direkte Hilfe: In der<br />

Danakilwüste in<br />

Äthiopien bauten<br />

Rüdiger Nehberg<br />

und Target eine<br />

moderne Geburtsklinik<br />

für genitalverstümmelte<br />

Frauen.<br />

Target verpflichtet<br />

sich, die Krankenstationen<br />

in Schuss<br />

zu halten. Wichtig:<br />

Es sollen in den<br />

Projekten immer<br />

auch Indigene<br />

arbeiten. Unten: In<br />

der Urwaldklinik im<br />

brasilianischen<br />

Regenwald werden<br />

Wai pi auch<br />

zu Laborarbeiter­<br />

*innen ausgebildet.<br />

19<br />

Wai pi gekümmert. Denn längst sind<br />

zwei weitere Krankenstationen dazugekommen,<br />

und aus der ersten Krankenstation<br />

ist eine Urwaldklinik geworden:<br />

„Patienten können jetzt auch über<br />

Nacht bleiben, und es gibt ein kleines<br />

Labor, wo Indigene zu Laborarbeitern<br />

ausgebildet werden.“<br />

Aber es geht nicht nur um Krankenstationen,<br />

es geht auch um die Zukunft<br />

der 2500 Wai pi. „Solange sie<br />

hier leben, gehört das Gebiet ihnen“,<br />

sagt Roman: 706.000 Hektar Regenwald,<br />

der noch relativ unberührt ist und<br />

den die Wai pi als Ranger schützen<br />

wollen. Jetzt unterstützt Target sie mit<br />

Messern, Gummistiefeln und GPS-Geräten.<br />

„Auch die Wai pi müssen zukunftsfähig<br />

sein und am Weltgeschehen<br />

teilnehmen“, sagt Sophie. „Letztes Jahr<br />

hat Roman hier eine Internetstation gebaut,<br />

das war ein großer Wunsch der<br />

Wai pi.“ Jetzt in Coronazeiten sei die<br />

Internetstation ein Segen: Alle Informationen<br />

liefen darüber, und sie konnten<br />

Telefonkonferenzen abhalten.<br />

Nicht nur bei den Wai pi geht es<br />

um die Zukunft, auch bei Annette,<br />

Roman und Sophie. Inzwischen sind sie<br />

hauptberuflich bei Target. Jetzt in<br />

Coronazeiten leben sie gemeinsam auf<br />

dem Gelände in Rausdorf. So lange, bis<br />

es wieder losgeht mit den Reisen in den<br />

Urwald und in die Wüste zu den Projekten,<br />

die sie zusammen mit Rüdiger<br />

Nehberg angeschoben hatten – und die<br />

sie jetzt ohne ihn gemeinsam weiterführen<br />

wollen. •<br />

Kontakt: birgit.mueller@hinzundkunzt.de<br />

Die Nehbergs und Target:<br />

Der Verein engagiert sich für indigene<br />

Völker wie die Wai pi, den Regenwald<br />

und gegen Genitalverstümmelung.<br />

Mehr Infos unter www.target-nehberg.de


Klein, ja.<br />

Aber oho?<br />

Mikrowohnungen liegen voll im Trend. Es gibt sie<br />

als Luxusvariante zu Mondpreisen – mancherorts<br />

werden sie aber auch für Arme gebaut, als Maßnahme<br />

gegen die grassierende Wohnungsnot. Beispiele<br />

aus Hamburg und der Welt.


Zwölf Mikrowohnungen<br />

in Seecontainern für<br />

Menschen in Wohnungsnot<br />

entstehen gerade in<br />

Harburg.


Mikrowohnungen<br />

Dass hinter den<br />

Wandverkleidungen<br />

aus Holz ein<br />

Container steckt,<br />

sieht man nicht.<br />

Die Wohnungen<br />

sind zwar schmal,<br />

für Bauherrn<br />

Christoph Deneke<br />

(36) aber dennoch<br />

ein Zukunftsmodell.<br />

„Der Bedarf ist riesig“<br />

Für Menschen in Wohnungsnot gibt es in Hamburg viel zu wenig Wohnungen –<br />

und trotzdem entstehen zu wenig neue. Projektentwickler Christoph Deneke stellt<br />

sich gegen den Trend und peppt alte Schiffscontainer zu Mikrowohnungen auf.<br />

TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />

FOTOS: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />

Sind ausrangierte Schiffscontainer<br />

die Lösung für ein großes<br />

Problem auf dem Hamburger<br />

Wohnungsmarkt? Zumindest<br />

können sie ein Teil davon sein, ist der<br />

Projektentwickler Christoph Deneke<br />

überzeugt. Er lässt die Container mit<br />

seiner Firma C2PD zu Mikrowohnungen<br />

ausbauen und vermietet sie an<br />

Menschen, die sonst kaum eine Chance<br />

auf dem Wohnungsmarkt haben.<br />

„Es bringt Spaß, die Mieter sind freudig<br />

und dankbar, der Bedarf ist riesig“,<br />

sagt er.<br />

Dass er auf Mikroapartments in<br />

Schiffscontainern setzt, hat für Deneke<br />

vor allem praktische Gründe: Den Innenausbau<br />

lässt er komplett außerhalb<br />

fertigen. Wenn die Wohnungen mit<br />

dem Kran auf die Baustelle gehievt<br />

werden, müssen sie nur noch ans<br />

Strom- und Wassernetz angeschlossen<br />

22<br />

werden. Für Deneke ist das einfacher,<br />

als auf der Baustelle ein Haus bauen zu<br />

lassen. Und günstiger ist es auch.<br />

Das neueste Projekt von C2PD<br />

steht in Harburg, kurz vor der Grenze<br />

zu Niedersachsen. Noch sieht es hier<br />

nach Baustelle aus, die meisten Container<br />

sind bei unserem Besuch Mitte Oktober<br />

noch leer. Die Wohnungen darin<br />

sind naturgemäß schmal, dank der großen<br />

Fensterfronten vorne und hinten


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

aber einigermaßen hell. Das eingebaute<br />

Bad in der Mitte kann sich sehen lassen,<br />

die Wärme kommt überall aus der Fußbodenheizung.<br />

Die äußere Containeroptik<br />

soll bald hinter einer Verkleidung<br />

aus Holz verschwinden, so wie auch<br />

schon bei Denekes „Jugendbuden“ genanntem<br />

Projekt in Bergedorf.<br />

In einige der Harburger Wohnungen<br />

könnten bald Hinz&Künztler*innen<br />

einziehen, die anderen werden über<br />

den gemeinnützigen Träger Lawaetzwohnen&leben<br />

an junge Erwachsene<br />

vermittelt. Alle brauchen einen sogenannten<br />

Dringlichkeitsschein von den<br />

Behörden, sind also amtlich in Wohnungsnot.<br />

Die Miete bekommt Deneke<br />

dann zunächst vom Amt, er hat sie exakt<br />

so hoch angesetzt, wie es die Höchstsätze<br />

der Sozialbehörde hergeben: 501,50 Euro<br />

warm für 25 Quadratmeter, das sind<br />

15 Euro kalt pro Quadratmeter. „Es ist<br />

eine stolze Miete“, räumt der Bauherr<br />

ein, versichert aber gleichzeitig, dass seine<br />

Rendite nicht besonders hoch ausfällt.<br />

„Schön wär’s!“ Zumindest bei dem<br />

Harburger Projekt wäre das Ergebnis<br />

„mit Glück eine schwarze Null.“<br />

Er hätte es auch anders machen<br />

können, Eigentumswohnungen bauen<br />

und teuer verkaufen, wie viele andere<br />

Investor*innen es machen würden. Das<br />

aber ist seine Sache nicht. „Ich finde es<br />

richtig, für solche Leute Wohnungen zu<br />

bauen“, sagt er. „Und wenn ich damit<br />

noch ein bisschen Geld verdienen kann:<br />

umso besser!“ Dafür nimmt er dann<br />

auch in Kauf, dass die Mieter*innen<br />

ihm manchmal etwas mehr Arbeit machen.<br />

Zum Beispiel, wenn das Jobcenter<br />

ihnen die Leistungen kürzt. „Im härtesten<br />

Fall würde das bedeuten, dass die<br />

Person die Wohnung verliert. Das finde<br />

ich aber falsch“, sagt Deneke. Lieber<br />

warte er ein paar Monate auf die Miete<br />

oder ziehe auch schon mal einen Rechtsanwalt<br />

hinzu – für eine*n Mieter*in.<br />

So viel Toleranz und Engagement<br />

sucht man bei vielen Vermieter*innen<br />

vergeblich, weiß man in der Abteilung<br />

Jugend & Wohnen der Lawaetz. Dort<br />

ist man froh über die Projekte von<br />

Christoph Deneke. „Es gibt keine anderen<br />

Eigentümer, die so was machen“,<br />

sagt Leiter Olaf Schumacher. Etwa 300<br />

Mikrowohnungen<br />

23<br />

junge Erwachsene, die vorher in betreuten<br />

Jugendwohnungen gelebt haben,<br />

vermittelt sein Projekt jährlich in reguläre<br />

Wohnungen. Wenn es genügend<br />

Wohnungen dafür gäbe, könnten es<br />

doppelt so viele sein, sagt Schumacher:<br />

„Für diese Zielgruppe wird einfach viel<br />

zu wenig gebaut.“ Sowohl nach Bergedorf<br />

als auch nach Harburg hat Jugend<br />

& Wohnen Mieter*innen vermittelt.<br />

Trotzdem seien Denekes Containerwohnungen<br />

nicht für jeden das Richtige:<br />

Zu abgelegen, um von dort zum<br />

Ausbildungsplatz zu pendeln, und zu<br />

teuer, um irgendwann die Miete aus eigener<br />

Tasche zu bezahlen. „Die jungen<br />

Menschen sollen und wollen sich ja<br />

„Für diese<br />

Zielgruppe wird<br />

viel zu wenig<br />

gebaut.“ OLAF SCHUMACHER<br />

vom Jobcenter lösen“, sagt Schumacher.<br />

„Und im Verhältnis zur Wohnfläche<br />

ist das für viele eine Menge Geld.“<br />

Eigentlich wünscht er sich richtige,<br />

ganz normale Wohnungen für seine<br />

Klient*innen, allein: die gibt es kaum.<br />

Da sei eine solche Mikrowohnung immer<br />

noch „viel besser als ein Platz im Doppelzimmer<br />

in einer Wohnunterkunft“.<br />

Auch Christoph Deneke weiß, dass<br />

das Containerimage bei vielen nicht gut<br />

ankommt. Zu naheliegend ist der Vergleich<br />

mit den Wohncontainern in städtischen<br />

Unterkünften. Im nächsten Jahr<br />

will er sein Konzept weiterentwickeln:<br />

Dann sollen die Mikrowohnungen<br />

aus Holz gebaut werden. Er findet<br />

übrigens, dass andere es ihm nachtun<br />

und ebenfalls Wohnungen für Hartz-<br />

IV-Empfänger*innen bauen sollten:<br />

„Dann verdient man halt nicht 150,<br />

sondern nur 100 Prozent. Das ist ja<br />

nicht schlimm.“ •<br />

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Wie können wir Ihnen helfen?


Mikrowohnungen<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>333</strong>/NOVEMBER <strong>2020</strong><br />

Platz ist in der kleinsten Hütte<br />

Sogenanntes Mikrowohnen gilt in Großstädten als Trend. Manche Projekte schließen Lücken<br />

auf dem Wohnungsmarkt. Bei anderen geht es vor allem ums Geldverdienen.<br />

TEXT: ULRICH JONAS<br />

Sprungbrett in die Wohnung<br />

Diese Container sind extrem begehrt: „Wir bekommen täglich<br />

Anfragen“, sagt Ulrich Magdeburg (Foto oben), Geschäftsführer<br />

der Neue Wohnung. Die gemeinnützige GmbH begleitet seit 1996<br />

Obdach lose in Hamburg auf dem Weg in eigene vier Wände – auch<br />

indem sie sie übergangsweise in umgebauten Schiffscontainern<br />

unterbringt. Wer auf der Straße gelebt hat, schätzt die besondere<br />

Wohnform oft, so Magdeburg: „Man wohnt ebenerdig, kann nachts<br />

die Tür offen lassen und bekommt nicht das Gefühl, eingesperrt zu<br />

sein.“ Klar ist aber auch: „Eine Dauerlösung ist das für uns nicht.“<br />

Je 18 der Zwölf-Quadratmeter-Heime stehen an zwei Standorten in<br />

Altona und Barmbek. Jede*r Bewohner*in hat einen Container für<br />

sich, Küche, Dusche und Waschküche werden gemeinsam genutzt,<br />

„auch damit Gemeinschaft entsteht“, sagt der Geschäftsführer.<br />

Ein*e Sozialarbeiter*in und ein*e Haustechniker*in pro Platz sorgen<br />

dafür, dass es den Menschen an nichts fehlt. „Sechs bis 14 Monate“<br />

wohnen die in den Containern, dann greift die nächste Stufe des<br />

Projekts: Dank einer Kooperation mit der städtischen Wohnungsgesellschaft<br />

Saga ziehen die ehemals Obdachlosen in ganz normale<br />

Wohnungen. Mehr als 60 haben auf diese Weise in den vergangenen<br />

drei Jahren den Sprung in eine eigene Wohnung geschafft.<br />

Ein Erfolgsgeheimnis: Eine Sozialarbeiterin begleitet sie auch in<br />

der Zeit nach dem Umzug aus dem Container. „94 Prozent der Mietverhältnisse<br />

laufen störungsfrei“, sagt Magdeburg. In den anderen<br />

Fällen, etwa wenn es zu Mietschulden kommt, „helfen wir“.<br />

•<br />

24


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Mikrowohnungen<br />

FOTOS HONGKONG: INSP / REUTERS / TYRONE SIU<br />

FOTOS S. 24 UND LINKS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Gefühlter Luxus<br />

Mehr als 200.000 Menschen<br />

in Hongkong nennen nur ein<br />

Zimmer ihr Zuhause – die Wohnungsnot<br />

in der asiatischen<br />

Millionenmetropole ist dramatisch.<br />

Lau Kai Fai, seine Frau<br />

und ihr Sohn, ein Teenager,<br />

mussten bis vor Kurzem auf so<br />

wenig Raum leben, dass sie nie<br />

gemeinsam, sondern nur nacheinander<br />

essen konnten. Nun<br />

sind sie in ein von der Stadt neu<br />

errichtetes Modulhaus umgezogen.<br />

Die 27 Quadrat meter<br />

in dem vierstöckigen Gebäude<br />

aus übereinandergestapelten<br />

Schiffscontainern fühlten sich<br />

an „wie ein Lotto gewinn“, sagt<br />

der 70-jährige Familienvater.<br />

Für die Errichtung des Blocks<br />

hat die Stadt nicht mal die Hälfte<br />

dessen ausgegeben, was der<br />

Bau neuer Wohnungen gekostet<br />

hätte – die Miete ist dementsprechend<br />

gering. Zwei Jahre<br />

dürfen Lau Kai Fai und seine<br />

Familie im Containerapartment<br />

leben. In dieser Zeit hoffen sie<br />

eine Sozialwohnung zu finden,<br />

sagt Lau. „Sonst müssen wir<br />

wieder ein Zimmer suchen.“ •


Stylish und teuer<br />

Das „Woodie“, Hamburgs größtes in Modulbauweise errichtetes Holzhaus, wurde vielfach<br />

gelobt wegen seines innovativen Konzepts. Wer in einem der 371 Ein-Zimmer-Apartments<br />

lebt, wohnt nachhaltig und stylish. Der Preis dafür ist allerdings happig: 488 Euro kalt<br />

pro Monat kosten 19,2 Quadratmeter inklusive Küchenzeile und Duschbad, hinzu kommen<br />

91 Euro an Nebenkosten. Hochpreisige Apartments für Studierende zu bauen, gilt als<br />

besonders renditeträchtig, geht aber am Bedarf vorbei, sagt Jürgen Allemeyer, Geschäftsführer<br />

des Studierendenwerks Hamburg: „Diese überhöhten Mieten sind schlicht<br />

zu teuer und können auf dem Markt eine Spirale auslösen, die sich an der überdurchschnittlichen<br />

Entwicklung von Mieten für Apartments und WG-Zimmer zeigt.“<br />

•<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

„Städte müssen neue Modelle entwickeln“<br />

Stadtentwicklungsexperte Bernd Kniess im Interview.<br />

INTERVIEW: ULRICH JONAS; FOTO: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />

Professor Bernd Kniess (59)<br />

lehrt Urban Design an der<br />

HafenCity Universität Hamburg.<br />

Hinz&Kunzt: Herr Professor Kniess, ist<br />

Mikrowohnen ein neuer Trend in Großstädten?<br />

BERND KNIESS: Absolut, insbesondere in Metropolen<br />

wie London. Ein Beispiel wäre<br />

das sogenannte Co-Living, ein Hybrid zwischen<br />

Hotel und Wohngemeinschaft. Dort<br />

haben Sie ein neun Quadratmeter großes<br />

Zimmer und dazu Gemeinschaftsbereiche<br />

und Serviceangebote. Das ist aber nicht<br />

wirklich günstig: In London zahlen Sie<br />

dafür je nach Ausstattung ab 230 Pfund<br />

(254 Euro, die Red.) die Woche aufwärts.<br />

26<br />

In Hamburg gibt es ähnliche Angebote, etwa für<br />

Studierende – mit beispielsweise knapp 500 Euro<br />

Kaltmiete monatlich ebenfalls nicht preiswert.<br />

Bauen, auch der Wohnungsbau, ist ein Geschäft.<br />

Es geht darum, Rendite zu erzielen.<br />

In Ihrem Beispiel des Studentenwohnens ist<br />

die Schmerzgrenze das, was manche Studierende<br />

sich monatlich leisten können. Die<br />

Einheiten sind minimiert – was im Ergebnis<br />

zu einem hohen Quadratmeterpreis führt.<br />

Für Menschen mit wenig Geld bedeutet<br />

Mikrowohnen zum Beispiel ein Leben im<br />

Container. Kann das eine Lösung sein?<br />

Angesichts des überspannten Marktes ist<br />

erst mal jedes Projekt gut, das günstigen<br />

Wohnraum schafft. Dass Container nachhaltig<br />

sind, bezweifle ich allerdings, zumal<br />

es sich oft nicht um ausgemusterte Seecontainer<br />

handelt. Wichtig ist mir beim Mikrowohnen<br />

aber noch ein anderer Aspekt: Es<br />

sollte immer auch Gemeinschaftsbereiche<br />

geben – Räume, wie es früher das Wohnzimmer<br />

war.<br />

Welche Formen des Wohnens halten Sie für<br />

zukunftsweisend?


Die kleinste Wohnung Deutschlands<br />

Auch Menschen mit wenig Geld sollen in Großstädten leben<br />

können, meint der Berliner Architekt Van Bo Le-Mentzel.<br />

Möglich machen soll das die „100-Euro-Wohnung“: 6,4 Quadratmeter<br />

Fläche, die alle Grundbedürfnisse abdecken, weil<br />

die Deckenhöhe 3,60 Meter beträgt – und die nicht mehr als<br />

100 Euro Miete im Monat kosten sollen. Le-Mentzel sieht<br />

seinen Entwurf als Element von Mehrgenerationenhäusern,<br />

in denen Menschen unabhängig von Herkunft und Status in<br />

sozialen Nachbarschaften zusammenleben. Einen Prototypen<br />

der „100-Euro-Wohnung“ als Tiny House gibt es bereits.<br />

•<br />

FOTO: CCBYSA / TINYFOUNDATION<br />

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Für Städte wie Hamburg, bei denen es darum geht, den<br />

Flächenverbrauch zu senken, zum Beispiel das sogenannte<br />

Co-Housing: Gemischte Wohnprojekte mit großen Gemeinschaftsräumen,<br />

die unterschiedliche Eigentumsformen<br />

ermöglichen und dabei preiswerten Wohnraum<br />

schaffen, indem sie dessen Kosten querfinanzieren. Das<br />

Projekt „Wohnvielfalt“ am Grasbrookpark ist ein Beispiel<br />

dafür, ebenso das IBEB in Berlin.<br />

Wie kann generell mehr Wohnraum für Menschen mit<br />

wenig Geld entstehen?<br />

Die Kosten explodieren vor allem deshalb, weil die<br />

Bodenpreise so stark ansteigen. Da müssen die Städte<br />

handeln und neue Modelle entwickeln.<br />

Zum Beispiel?<br />

Indem sie Grundstücke per Erbpacht vergeben und dort<br />

dauerhaft günstige Mieten als Bedingung festschreiben.<br />

Das ist ja das Ziel der Volksinitiative „Keine Profite mit<br />

Boden und Miete“, die die Mietervereine gestartet haben<br />

– und in Hamburg noch keine Praxis. •<br />

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Kontakt: ulrich.jonas@hinzundkunzt.de<br />

Das Projekt Wohnvielfalt am Grasbrookpark<br />

FOTO: THOMAS HAMPEL<br />

Hinz&Kunzt bietet obdachlosen Menschen Halt. Eine Art Anker<br />

für diejenigen, deren Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Möchten<br />

Sie uns dabei unterstützen und gleichzeitig den Menschen, die<br />

bei Hinz&Kunzt Heimat und Arbeit gefunden haben, helfen? Dann<br />

hinterlassen Sie etwas Bleibendes – berücksichtigen Sie uns<br />

in Ihrem Testament! Als Testamentsspender wird Ihr Name auf<br />

Wunsch auf unseren Gedenk-Anker in der Hafencity graviert. Ein<br />

maritimes Symbol für den Halt, den Sie den sozial Benachteiligten<br />

mit Ihrer Spende geben.


Weltkriegs-<br />

Veteranen<br />

Der ukrainisch-amerikanische Fotograf<br />

Sasha Maslov reiste rund um den Globus,<br />

um Menschen zu treffen, die im<br />

Zweiten Weltkrieg gekämpft haben.<br />

Annette Woywode hat mit ihm geskypt.<br />

28


Fotoreportage<br />

A<br />

ls Sasha Maslov noch in der<br />

Ukraine lebte und dort zur<br />

Schule ging, kamen immer<br />

mal wieder Veteran*innen<br />

in den Unterricht. Männer und Frauen,<br />

die von ihrem Kampf im Zweiten<br />

Weltkrieg berichteten, dem „Großen<br />

Vaterländischen Krieg“, wie er in der<br />

Sowjetunion und auch zu postsowjetischen<br />

Zeiten genannt wurde. „Die ganzen<br />

Erzählungen waren immer sehr<br />

patriotisch und überhöht“, erzählt der<br />

36-Jährige via Skype aus seiner New<br />

Yorker Wohnung.<br />

Schon immer haben ihn historische<br />

Zusammenhänge fasziniert. Doch erst<br />

nach seinem Umzug in die USA vor elf<br />

Jahren sah sich der Fotograf etliche<br />

Dokumentationen über den Zweiten<br />

Weltkrieg an. „Da wurde mir klar: Je<br />

nachdem, aus welchem Land die Leute<br />

kommen, erzählen sie eine andere Geschichte.<br />

Und sie malen das Ergebnis<br />

dieses globalen Ereignisses in den<br />

Farben, die für ihre Interpretation der<br />

Geschichte besser geeignet sind.“<br />

Etwa zur gleichen Zeit wollte Maslov<br />

seinen beruflichen Schwerpunkt ändern,<br />

weg vom reinen Fotojournalismus<br />

und hin zum Geschichtenerzählen mittels<br />

Porträtfotografie. „Ich war auf der<br />

Suche nach einem Projekt, das mir<br />

beim Übergang helfen würde“, sagt er.<br />

So kam er auf die Idee, Welt kriegsveteran*innen<br />

in unterschiedlichen<br />

Län dern zu besuchen. Herausgekommen<br />

sind Fotos von Menschen in ihrer<br />

Alltagskleidung oder gar in ihren alten<br />

Uniformen, inmitten ihrer Wohnzimmer,<br />

in denen sich ihr ganzes Leben<br />

widerzuspiegeln scheint.<br />

JAPAN: Kikuchi Tsukuba-Shi, Jahrgang 1929, hatte „keine<br />

Angst vor dem Tod. Wir alle sind einer Gehirnwäsche unterzogen worden“,<br />

sagte er im Interview. „Wir hielten es für edel, für Japan zu sterben. Deshalb bewarb<br />

ich mich mit 14 Jahren als Pilot. Einmal flogen so viele B-51-Bomber über<br />

uns hinweg, dass ich den Himmel nicht mehr sehen konnte. Da hatte ich dann<br />

doch Angst.“ Nach dem Krieg sei die Armut im Land groß gewesen. Nur die Starken<br />

hätten überlebt, und so schloss er sich der Yakuza (japanische Mafia) an. Später<br />

schwor er der Organisation ab und arbeitete für einen Regierungspolitiker. •<br />

29


30


Fotoreportage<br />

„Die ganzen<br />

Erzählungen<br />

waren immer<br />

überhöht.“<br />

Maslov macht es für die Betrachter*innen<br />

spannend: Sofort steht die<br />

Frage im Raum, aus welchem Land die<br />

Veteran*innen stammen. Wie ist ihr<br />

kultureller Hintergrund, wie ihre soziale<br />

Stellung? Und wie werden diese älteren<br />

Menschen, Täter oder Opfer, mit<br />

ihren oft traumatischen Kriegserfahrungen<br />

von der Gesellschaft, in der sie<br />

leben, behandelt? Nichts an den Bildern<br />

ist inszeniert. Maslov hat seine<br />

Protagonist*innen auch nie darum gebeten,<br />

ihre alte Uniform aus dem<br />

Schrank zu holen. „Die Leute sind<br />

selbst auf die Idee gekommen“, sagt er.<br />

Am Anfang seines Projektes plante<br />

Sasha Maslov, fünf oder sechs der am<br />

stärksten in den Zweiten Weltkrieg verwickelten<br />

Länder zu besuchen. Doch<br />

immer mehr Menschen wurden auf seine<br />

Arbeit aufmerksam und meldeten<br />

sich bei ihm, sogar Veteranenorganisationen<br />

empfahlen ihm Gesprächspartner*innen.<br />

Am Ende bereiste der Fotograf 23<br />

Länder. Immer auf eigene Kosten. Und<br />

trotz aller Empfehlungen musste er teilweise<br />

dicke Bretter bohren, auch weil in<br />

fernen Ländern manchmal ungewohn­<br />

UKRAINE: Dmytro Verholjak, Jahrgang 1928, schloss sich schon als Teenager der ukrainischen Aufstandsarmee<br />

an, um gegen die russischen „Befreier“ zu kämpfen. Im Wald wurde er von der sowjetischen Geheimpolizei aufgespürt und<br />

verwundet. Er konnte entkommen, aber um die Wunde kümmerte sich niemand. „Als eine Krankenschwester den Verband abnahm,<br />

wimmelte es darunter vor Insekten. Danach wurden wir darin ausgebildet, uns gegenseitig zu behandeln. Auch nach Kriegsende<br />

kämpften wir weiter gegen die Sowjets. Sie waren genauso schlimm wie die Deutschen, wenn nicht schlimmer.“ 1952 wurde Verholjak<br />

verraten und verhaftet. „Erst 1980 kam ich in die Ukraine zurück.“ Aber er blieb unter Arrest: Er durfte sein Dorf nicht verlassen und<br />

nach 22 Uhr nicht mal vor die Tür. Erst die Unabhängigkeit des Landes 1991 brachte ihm echte Freiheit – und eine kleine Rente. •<br />

31


32


Fotoreportage<br />

te Umgangs- und Höflichkeitsformen<br />

gelten, die ihm die Arbeit erschwerten.<br />

Vor allem in Japan sei es schwierig gewesen.<br />

„Wenn ich mich da an Leute gewandt<br />

habe, bekam ich Antwort von<br />

Verwandten: , Ja, wir würden Sie gerne<br />

kennenlernen, aber zuerst müssen Sie<br />

kommen, Sie müssen sich zu uns setzen,<br />

mit uns Tee trinken, und dann entscheiden<br />

wir, ob wir mit Ihnen sprechen wollen<br />

oder nicht‘“, erzählt er. „Dann habe<br />

ich versucht zu erklären, dass ich es mir<br />

nicht leisten kann, so oft hin- und herzufliegen,<br />

und dass ich eine feste Zusage<br />

brauche.“<br />

„Für manche<br />

war es die letzte<br />

Chance, etwas<br />

zu erzählen.“<br />

Immer wieder kam es zu Begegnungen,<br />

die den Fotografen zutiefst berührten.<br />

Wie die mit einem Ukrainer, der die<br />

Hälfte seines Lebens in Kriegsgefangenschaft<br />

verbracht hatte (siehe Seite 31). Er<br />

hatte an der Seite von Partisan*innen<br />

sowohl gegen die Wehrmacht als auch<br />

gegen die Rote Armee gekämpft, die für<br />

sie gleichermaßen Besatzungstruppen<br />

waren. Erst in den 1980er-Jahren entließen<br />

ihn die Sowjets aus einem Gulag.<br />

Oder einem Österreicher, der mit<br />

15 Jahren in die Hitlerjugend eintrat<br />

INDIEN: Surjan Singh, Jahrgang 1921, meldete sich mit 18 Jahren freiwillig bei<br />

der Armee, weil im gesamten Land Hunger herrschte. „Bei der Armee zahlten sie 15 Rupien pro<br />

Monat – für meine Familie ein lebenswichtiges Einkommen“, erzählte er. „Wir Inder waren die rangniedrigsten<br />

in den gesamten alliierten Streitkräften. Unser Regiment wurde nach Burma entsandt, war aber<br />

auf die japanische Taktik nicht vorbereitet. Die meiste Zeit verbrachten wir damit, uns in den Bergen<br />

und Wäldern vor Angriffen aus der Luft zu verstecken. Als wir 1945 die Nachricht von der Kapitulation<br />

Japans hörten, waren wir ekstatisch. Zurück in Indien konnte ich ohne Ausbildung keine anständige<br />

Arbeit finden. Ich ging zurück zu meiner Familie und lebte von meiner Rente der indischen Armee.“ •<br />

33


Fotoreportage<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>333</strong>/NOVEMBER <strong>2020</strong><br />

UDSSR: Anna Nho wurde 1927 in Wladiwostok geboren. „Meine Familie kommt aus Korea.<br />

Ich war der Partei immer treu ergeben, obwohl wir und andere Koreaner von Stalin und der Kommunistischen<br />

Partei einfach herumgeschleudert und ständig umgesiedelt wurden. Ich habe immer geglaubt, dass meine<br />

Arbeit dazu dient, Gutes für die Gesellschaft zu tun.“ 1941 hörte sie im Radio vom Ausbruch des Krieges. „Ich<br />

meldete mich als Freiwillige und als Tochter meines Mutterlandes und wurde Komsomol-Mitglied an der<br />

Nordkaukasus-Front. Damals mussten wir hauptsächlich Gräben ausheben. Abends belegte ich medizinische<br />

Kurse. Ich wurde Feldschwester und leistete erste Hilfe für unsere Soldaten. An der Front war ich, bis Stalin im<br />

<strong>November</strong> 1943 allen minderjährigen Freiwilligen befahl, zu ihren Studien zurückzukehren. Nach dem Krieg<br />

war ich glücklich verheiratet. Aber mein Mann wurde im Dienst für die Regierung getötet. Meine beiden Söhne<br />

sind ebenfalls tot. Das Leben war hart. Aber ich habe viele Erinnerungen, die mir Freude machen.“<br />

•<br />

und gestand, die Bilder von Konzentrationslagern<br />

noch lange nach Kriegsende<br />

für billige Propaganda der Amerikaner*innen<br />

gehalten zu haben.<br />

Ein Schlüsselerlebnis für sein Projekt<br />

hatte Maslov mit einer Krankenschwester,<br />

die kurz nach dem Krieg einen<br />

„hochrangigen Offizier der Roten<br />

Armee geheiratet hat, nachdem der ihr<br />

den Hof gemacht hatte“, erzählt er.<br />

Plötzlich begann die Frau zu weinen.<br />

Erzählte, dass sie damals eigentlich<br />

in einen anderen Mann verliebt gewesen<br />

war, aber in der Hoffnung auf eine<br />

34<br />

gute Zukunft an der Seite des Offiziers<br />

habe sie diesem das Jawort gegeben.<br />

„Ich hätte etwas anderes mit meinem<br />

Leben machen sollen“, gestand sie dem<br />

Fotografen. Und: „Ich habe niemals jemandem<br />

davon erzählt.“ Sasha Maslov<br />

verließ die Frau mit einem „Knoten im


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Fotoreportage<br />

ENGLAND: Sidney Owen Kendrick wurde 1917 geboren. Als der Krieg ausbrach, beschloss er,<br />

zu den Royal Marines zu gehen. Gleich zu Beginn war er an der Besetzung Islands beteiligt. „Wir konnten die<br />

Insel kontrollieren, und wenn wir das nicht getan hätten, dann hätten die Nordatlantikkonvois, die Lebensmittel<br />

und Munition aus Amerika und Kanada brachten, nicht funktionieren können. Die Menschen in England<br />

wären also wahrscheinlich verhungert.“ Ende 1940 lag sein Bataillon in Freetown vor Anker, bereit für einen<br />

möglichen Angriff auf die Kapverdischen Inseln. Sein Vater war in der Handelsmarine und „ich erkannte sein<br />

Schiff beim Einlaufen in den Hafen“. Welch Überraschung! „Beim Abschied stand er an Deck und winkte mir<br />

zu. Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Sein Schiff wurde kurz vor Irland von deutschen Flugzeugen<br />

bombardiert.“ Später wurde der Major Ausbilder, „wie man navigiert und wie man Truppen an Land bringt. Viele<br />

Leute, die ich ausgebildet habe, waren beim D-Day. Einige wurden getötet, andere kehrten zurück.“<br />

•<br />

Hals“. Denn: „Mir wurde klar, dass meine<br />

Interviews für manche eine Art letzte<br />

Chance waren, etwas zu erzählen. Was<br />

sie erst jetzt, in der letzten Phase ihres<br />

Lebens, teilen können oder wollen.“<br />

Es gab lustige, es gab traurige Gespräche<br />

und eine Menge dazwischen.<br />

Viele Geschichten ähnelten sich. „Und<br />

manche Leute habe ich irgendwie …<br />

verachtet für das, was sie getan haben“,<br />

sagt der Fotograf.<br />

Doch Sasha Maslov hebt nicht den<br />

Zeigefinger. Ihm ging es nicht um Täter*<br />

innen oder Opfer, um Schuld oder<br />

35<br />

Unschuld oder darum, Menschen für<br />

ihre Vergangenheit zu feiern oder zu<br />

verurteilen. Kamen Emotionen hoch,<br />

konnte er sich hinter seiner Kamera<br />

verstecken. •<br />

Kontakt: annette.woywode@hinzundkunzt.de


Fotoreportage<br />

FRANKREICH: Jean-Jacques Auduc, Jahrgang 1931, und seine Eltern<br />

waren im Widerstand. Eine seiner Missionen: Aufklärungsfotos zeigten in Le Mans<br />

stationierte Flugzeuge, die den Briten Sorgen machten. Also ging der Teenager dorthin<br />

und tat, als würde er spielen. „Mir wurde klar, dass die Flugzeuge aus Holz waren. Es waren<br />

Fälschungen. Die Briten warfen daraufhin aus Holz geschnitzte Bomben ab. Wie ein<br />

Witz, der aber auch eine Einschüchterungstaktik war. Die Deutschen sollten wissen, dass<br />

sie keine vollständige Kontrolle hatten.“ Auducs Eltern wurden Ende 1943 von der Gestapo<br />

verhaftet. Er floh nach Paris. „Meine Mutter wurde für Experimente an ein Labor verkauft.“<br />

Sie starb mit 41 Jahren an den Folgen. •<br />

DEUTSCHLAND: Uli John wurde 1922 im Schwarzwald geboren.<br />

1940 ging er als Freiwilliger zur Armee. Er kämpfte in Polen, Russland, Frankreich, Italien<br />

und 1944 in Belgien, wo er seinen linken Arm verlor. Im selben Jahr sei er aufgefordert<br />

worden, in die NSDAP einzutreten. Sein Bruder, Offizier wie er, habe ihm abgeraten.<br />

„Er schrieb mir: ,Werde nicht Mitglied, denn wir wissen nicht, wie der Krieg enden wird.‘“<br />

Nach 1945 knüpfte der Forstwirt viele Kontakte ins Ausland: „Ich habe aus ehemaligen<br />

Feinden Freunde gemacht.“ •<br />

36


USA: Richard Overton war mit 108<br />

Jahren der älteste noch lebende<br />

US-Veteran, als Sasha Maslov ihn traf.<br />

Freundlich war er trotzdem nicht : „Er war sehr<br />

mürrisch und meinte: ,Was zum Teufel geht hier<br />

vor? Warum tue ich das? Ich werde nicht mal<br />

dafür bezahlt!‘“, erzählt der Fotograf. Overton<br />

wurde in Texas geboren. „Ich wollte nicht in den<br />

Krieg ziehen“, sagte er im Interview. „Ich hatte<br />

Sasha Maslov<br />

keine andere Wahl. Viele kamen nicht heil zurück,<br />

viele kamen überhaupt nicht zurück. Ich<br />

Buch zusammengeführt:<br />

hat die Fotos und Interviews in einem<br />

habe viele Freunde verloren. Ich fuhr die Offiziere,<br />

wurde gut behandelt. Ich liebte das Schie-<br />

zu bestellen im Buchhandel unter<br />

„Veterans – Faces of the World War II“,<br />

ßen. Ich kann das immer noch. Man muss wissen,<br />

wie man seine Waffe hält. Zurück nach<br />

Hardcover, Englisch, ab 21,99 Euro<br />

ISBN-13: 978-1616895785, 144 Seiten,<br />

Hause zu kommen, ist die schönste Erinnerung,<br />

Mehr Infos über den Fotografen unter<br />

die ich an den Krieg habe.“ Richard Overton ist<br />

www.sashamaslov.com<br />

2018 im Alter von 112 Jahren gestorben. •<br />

37


Im Karoviertel soll Michi<br />

früher mit seiner Mutter<br />

gewohnt haben. Mehr<br />

als ein Jahr lang schlief<br />

er hier am Straßenrand.<br />

Nach seinem Tod haben<br />

Nachbar*innen eine<br />

Gedenkstätte errichtet.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

Kein Lebensplatz<br />

für Michi<br />

Zwei Jahre lang versuchen Profis und Ehrenamtliche,<br />

eine passende Bleibe für einen Obdachlosen mit Messie-Syndrom<br />

zu finden. Jetzt ist er gestorben – auf der Straße.<br />

TEXT: BENJAMIN LAUFER<br />

FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

M<br />

ichi ist nicht kalt! Darauf<br />

besteht der Obdachlose,<br />

der auf seinem<br />

Stuhl vor drei<br />

Weinflaschen am Straßenrand sitzt. Obwohl<br />

es an diesem Abend im Januar<br />

2019 Minus 5 Grad sind, friert er nicht.<br />

Das kommt aber auch nicht von ungefähr,<br />

denn unter seiner Jeans hat er noch<br />

eine Hose an und darunter eine weitere.<br />

Er schläft schon seit Monaten hier im<br />

Karoviertel zwischen einer Parkbucht<br />

und der U3, die hinter ihm aus dem<br />

Tunnel kommt. Aber jetzt, wo es kalt ist,<br />

machen die Leute sich Sorgen um ihn.<br />

Michael Siassi aus der Nachbarschaft ist<br />

da und Julien Thiele, Straßensozialarbeiter<br />

bei der Caritas. Sie wollen, dass<br />

Michi sich das Winternotprogramm wenigstens<br />

einmal anschaut, und haben ihre<br />

Mühe, ihn zu überzeugen.<br />

Siassi kennt Michi seit dem vorherigen<br />

Sommer, da tauchte er plötzlich<br />

auf und richtete es sich hinter der Parkbucht<br />

ein. Mit der Zeit wurde der Haufen<br />

der Dinge, die Michi um seinen<br />

Schlafplatz herum lagerte und die andere<br />

dazustellten, immer größer. Seine<br />

Bekanntschaften mit Nachbar*innen<br />

wurden immer zahlreicher.<br />

Von seinem Balkon blickt Michael<br />

Siassi auf Michi und seinen „Haufen“,<br />

wie die Nachbar*innen seine gesammelten<br />

Sachen nennen, herunter. Silvester<br />

saß Michi hier oben mit am<br />

Tisch. Er hatte sich extra ein neues<br />

Hemd gekauft, erzählt Siassi, neben der<br />

Couch habe er mit den Kindern getanzt.<br />

„Eigentlich war er ein ganz normaler<br />

Gast“, sagt er. „Nur halt einer<br />

mit ein paar mehr Hosen an.“ Und<br />

einer, der nach der Feier nicht nach<br />

Hause in seine Wohnung geht, sondern<br />

runter auf die Straße, um sich auf dem<br />

Boden schlafen zu legen.<br />

Im neuen Jahr ging dann der Ärger<br />

los. Die Polizei will, dass Michi seine<br />

Platte räumt, weil es kalt geworden ist<br />

und damit gefährlich für ihn. Und auch<br />

das Bezirksamt Mitte will räumen, weil<br />

es Beschwerden über den vielen Müll<br />

gegeben habe. Für den Obdachlosen<br />

zahlen sich jetzt die guten Kontakte in<br />

die Nachbarschaft aus, er kommt in einem<br />

Kellerraum unter. Acht Nachbar ­<br />

*innen gründen eine Whatsapp-Gruppe,<br />

„Eine Bleibe für Michael“ heißt sie<br />

und darum geht es auch: Irgendwas finden,<br />

wo er unterkommen kann. Eine<br />

Wohnung oder auch erst mal einen<br />

Platz für ein Zelt.<br />

„Michi sitzt im Taxi zum WNP!!“,<br />

schreibt Michael Siassi am 22. Januar<br />

2019 um 17.17 Uhr in die Gruppe und<br />

die Freude im Karoviertel ist groß.<br />

Aber sie währt nicht lang, schon um<br />

18.25 Uhr kommt die Nachricht, dass<br />

In der Rindermarkthalle<br />

hat<br />

Michi oft<br />

gesessen und<br />

Zeitung gelesen.<br />

39<br />

Michi nicht ins Winternotprogramm<br />

will und schon wieder auf dem Weg zurück<br />

zu seinem Haufen ist. Sozialarbeiter<br />

Thiele erzählt, dass es unter den<br />

Wartenden vor dem Winternotprogramm<br />

in der Friesenstraße Streit gegeben<br />

habe. „Da hat er dann ganz ehrlich<br />

gesagt: ‚Das schaffe ich nicht‘“, erinnert<br />

sich Thiele. Eine Unterkunft mit mehreren<br />

Hundert Menschen auf engem<br />

Raum – kein Modell für Michi. Also<br />

geht es für ihn zurück ins Karoviertel,<br />

dorthin, wo er bis zum Tod seiner Mutter<br />

noch in einer Wohnung gelebt haben<br />

soll. Da passt der Mann mit dem<br />

Rauschebart und der roten Wollmütze<br />

auch gut hin, mit seiner Vorliebe für<br />

Konzerte und guten Wein, den er stets<br />

aus Gläsern trank, gerne auch beim<br />

Zeitunglesen in der Rindermarkthalle.<br />

In den kommenden Monaten wird<br />

Michi immer wieder zum Fall für die<br />

Behörden. Einmal schickt eine Nachbarin<br />

ein Foto in die Whatsapp-Gruppe,<br />

auf dem man sieht, wie ein Polizist


Stadtgespräch<br />

Michi festhält, während die Müllwerker<br />

seine angehäuften Sachen entsorgen.<br />

Das Messie-Syndrom geht oft mit<br />

psychischen Erkrankungen wie Depressionen,<br />

Persönlichkeitsstörungen oder<br />

ADHS einher, auch deshalb zieht das<br />

Bezirksamt Mitte den sozialpsychiatrischen<br />

Dienst und den Sozialarbeiter<br />

Thiele hinzu, der auf Obdachlose mit<br />

psychischen Erkrankungen spezialisiert<br />

ist. „Er hat immer wieder die Erfahrung<br />

gemacht, dass er an seiner Krankheit<br />

scheitert“, sagt der über Michi.<br />

Monatelang versuchen die Nachbar*innen<br />

aus dem Karoviertel, Kontakt<br />

zu Bezirksamt, Polizei und dem Sozialarbeiter<br />

zu halten und eine Lösung<br />

Auf dem Großneumarkt<br />

traf er sich oft<br />

mit Anwohner*innen<br />

auf ein Glas Wein.<br />

Sein Zimmer im Pik<br />

As hatte er verloren.<br />

für Michi zu finden – erfolglos. Manchmal<br />

ist ihm das Aufheben um seine<br />

Person nicht ganz geheuer, fühlt er sich<br />

unter Druck gesetzt. Auch eine Bericht -<br />

erstattung über ihn in Hinz&Kunzt<br />

lehnt er damals deswegen ab. „Aber der<br />

Kontakt zu den Anwohnern hat auch<br />

dazu geführt, dass er es noch mal probiert“,<br />

sagt Julien Thiele.<br />

Und tatsächlich: Im regenreichen<br />

<strong>November</strong> 2019 steigen die beiden wieder<br />

zusammen in ein Taxi. Es geht in<br />

die Notunterkunft Pik As, wo Michi in<br />

ein Einzelzimmer ziehen kann. „Großartig!“,<br />

schreibt eine Nachbarin aus<br />

dem Karoviertel in die Gruppe. Doch<br />

Michi bleibt skeptisch: „Irgendwann<br />

schmeißen die mich eh wieder raus“,<br />

hat er gesagt, so erinnert es Thiele.<br />

Im Frühjahr dieses Jahres landet<br />

Michi dann tatsächlich wieder auf der<br />

Straße. Er siedelt sich auf dem Großneumarkt<br />

in der Neustadt an. Manche<br />

Anwohner*innen stören sich an seinem<br />

Haufen, der verlässlich wächst, und<br />

scheuchen ihn von einer Ecke in die andere.<br />

Mit anderen freundet Michi sich<br />

an, unterhält sich regelmäßig mit ihnen<br />

bei einem Glas guten Wein. Hier wird<br />

er auch wieder ein Fall für Ordnungsamt<br />

und Stadtreinigung. Seinem Sozialarbeiter<br />

erzählt Michi, dass er sein Einzelzimmer<br />

im Pik As wegen seines<br />

Messie-Syndroms verloren hätte. Das<br />

angebotene Mehrbettzimmer – keine<br />

Alternative für ihn.<br />

Eine Sprecherin von fördern und<br />

wohnen, dem Betreiber des Pik As, will<br />

sich zum konkreten Fall nicht äußern.<br />

Allgemein sagt Susanne Schwendtke<br />

aber, dass dort niemand wegen des Anhäufens<br />

von Unrat sein Zimmer verliere.<br />

„Es kommt allerdings vor, dass ein<br />

Zimmer aufgrund der Auswirkungen<br />

des Messie-Syndroms saniert werden<br />

muss, um Gefahr abzuwenden. Zu diesem<br />

Zweck muss der Bewohner oder<br />

die Bewohnerin das Zimmer dann vorübergehend<br />

verlassen.“<br />

Wieso Michi mit 69 Jahren erneut<br />

obdachlos wurde, ist also nicht ganz<br />

klar. Fest steht: Das städtische Hilfssystem<br />

und der Hilfsbedürftige fanden nie<br />

so recht zusammen. „Es darf nicht die<br />

Aufgabe des Obdachlosen sein, sich an<br />

die Regeln der Unterkunft anzupassen“,<br />

meint Julien Thiele. Vielmehr müsste<br />

das Hilfssystem alles versuchen, damit<br />

jeder obdachlose Mensch das Angebot<br />

auch annehmen könne. „Stattdessen<br />

werden immer die höchsten Anforderungen<br />

an die Menschen gestellt, denen<br />

es am schwersten fällt, sie zu erfüllen.“<br />

Thiele glaubt, für Michi wäre ein<br />

sogenannter Lebensplatz die ideale Lösung<br />

gewesen – eine Unterkunft, in der<br />

er so hätte sein dürfen, wie er eben war.<br />

Nur gibt es solche in Hamburg noch<br />

nicht. Die Idee ist aber nicht neu: Lebensplätze<br />

sind bereits im Konzept des<br />

Senats zur Wohnungslosenhilfe aus dem<br />

Jahr 2012 vorgesehen. Sie sind für Menschen<br />

gedacht, die aus psychischen oder<br />

physischen Gründen dauerhaft nicht<br />

40


mehr in normalen Wohnungen leben<br />

können. „Diese Menschen haben einen<br />

Anspruch auf eine menschenwürdige<br />

und ihren Bedürfnissen angepasste<br />

Form des Wohnens“, erkannte man bereits<br />

vor acht Jahren im Rathaus. Mit<br />

der richtigen Betreuung sollten sie hier<br />

dauerhaft zur Ruhe kommen können.<br />

Ursprünglich sollte 2019 eine Einrichtung<br />

mit 20 solcher Plätze im Bezirk Altona<br />

eröffnet werden.<br />

„Er ist immer<br />

wieder an seiner<br />

Krankheit<br />

gescheitert.“<br />

JULIEN THIELE<br />

Unterdessen versucht die Politik, kurzund<br />

mittelfristige Hilfen für Obdachlose<br />

mit psychischen Erkrankungen auszubauen.<br />

So heißt es in einem Be hördenpapier<br />

aus dem Jahr 2019, „gerade<br />

bei individuell stark belasteten Persönlichkeiten“<br />

würden „mehr Möglichkeiten<br />

zur Einzelzimmerbelegung<br />

benötigt“.<br />

Im Januar beschloss die Bürgerschaft<br />

auf Antrag von SPD und Grünen<br />

dann, „die Unterbringungssituation<br />

für Menschen mit psychischen Erkrankungen<br />

in der öffentlich-recht lichen<br />

Unterbringung stetig zu verbessern“,<br />

zum Beispiel mit Einzelzimmern. Und<br />

im Koalitionsvertrag vereinbarten die<br />

Trauriges Ende:<br />

Hier starb<br />

Michi in der<br />

Nacht zum<br />

29. September.<br />

Stadtgespräch<br />

Regierungsparteien daraufhin im Frühjahr,<br />

eine Unterkunft speziell auf die<br />

Bedürfnisse Wohnungsloser mit psychischen<br />

Erkrankungen auszurichten, da<br />

sie „in regulären Wohnunterkünften<br />

schwer adäquat zu versorgen“ seien.<br />

Klingt vielversprechend, aber haben<br />

diese Pläne inzwischen Gestalt angenommen?<br />

Die zuständige Sozialbehörde<br />

beantwortete diese Frage trotz einer<br />

ganzen Woche Vorlauf nicht.<br />

Sozialarbeiter Julien Thiele sprach<br />

noch im September mit Michi über einen<br />

erneuten Anlauf für eine dauerhafte<br />

Unterbringung. Am 15. September<br />

redeten sie zuletzt darüber, eine Einzelfalllösung<br />

für Michi bei der Sozialbehörde<br />

zu beantragen. Doch dazu kam<br />

es nicht mehr: Er starb am 29. September<br />

auf dem Großneumarkt, wohl an<br />

einer Herzerkrankung. Am Abend zuvor<br />

traf er sich noch mit einem Nachbarn<br />

– auf ein Glas Wein natürlich.<br />

Das Problem, dass das Hilfesystem<br />

für Menschen wie Michi keine Lösungen<br />

hat, besteht fort. Zwei Wochen nach<br />

seinem Tod rückt die Stadtreinigung zusammen<br />

mit der Polizei am Schlafplatz<br />

eines Obdachlosen an, dieses Mal in<br />

Wilhelmsburg. 2,2 Tonnen Unrat hatte<br />

er angehäuft, zwölf Einkaufswagen voll.<br />

„Das Problem ist nicht, dass er dort lebt,<br />

sondern sein Verhalten“, erklärt eine<br />

Polizeisprecherin. Der Obdachlose dürfe<br />

vorerst weiter dort wohnen, weil eine<br />

Lösung für ihn nicht in Sicht sei. Bis auf<br />

Weiteres übernachtet er in einem<br />

Wohnwagen. •<br />

Kontakt: benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />

Totensonntag<br />

Gedenken an<br />

Obdachlose<br />

Mitte Oktober starb erneut<br />

ein Mensch auf der Straße.<br />

Passanten entdeckten die<br />

63-jährige Obdachlose leblos<br />

auf einer Wiese im Alten<br />

Elbpark. Ein Fremdverschulden<br />

schließt die Polizei aus.<br />

Die Gerichtsmedizin soll die<br />

genaue Todesursache klären.<br />

Seit Mai wurden bereits<br />

acht Obdachlose tot auf der<br />

Straße oder in leer stehenden<br />

Häusern entdeckt. „Die Fälle<br />

häufen sich und das ist erschreckend“,<br />

warnt Sozialarbeiter<br />

Stephan Karrenbauer<br />

von Hinz&Kunzt. Bedingt<br />

durch die Coronapandemie<br />

sind die Aufenthaltsstätten<br />

nur eingeschränkt geöffnet.<br />

Auf der Straße würden die<br />

Menschen zunehmend verelenden,<br />

beklagt Karrenbauer.<br />

Es sei Aufgabe des Senats,<br />

die Hilfsangebote so auszubauen,<br />

dass sie angenommen<br />

werden.<br />

Damit wiederum die toten<br />

Obdachlosen nicht vergessen<br />

werden, wird ihnen<br />

traditionell am Totensonntag<br />

gedacht. Am 22. <strong>November</strong><br />

veranstaltet Hinz&Kunzt auf<br />

dem Öjendorfer Friedhof eine<br />

Gedenkfeier für verstorbene<br />

Verkäufer*innen und Obdachlose<br />

– unter Einhaltung<br />

der Abstandsregeln.<br />

Treffpunkt ist um 14 Uhr<br />

an der Bushaltestation „Feierraum<br />

Nord“. Von dort geht<br />

es zur Trauerfeier am Gedenkbaum<br />

von Hinz&Kunzt,<br />

wo den verstorbenen Verkäufer<br />

*innen gedacht wird.<br />

Nicht nur Hinz&Kunzt<br />

trauert um die Verstorbenen:<br />

Am Totensonntag findet um<br />

15 Uhr ein Gottesdienst in<br />

der Hauptkirche St. Petri<br />

statt. Und in der Kirche St.<br />

Bonifatius in Eimsbüttel gibt<br />

es um 18 Uhr einen ökumenischen<br />

Gottesdienst. JOF<br />

•<br />

41


Stadtgespräch<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>333</strong>/NOVEMBER <strong>2020</strong><br />

„Die Situation<br />

ist dramatisch“<br />

Immer wieder müssen psychisch kranke Obdachlose aus der Psychiatrie<br />

auf die Straße entlassen werden, weil es keine geeigneten Plätze für sie gibt.<br />

Das beklagt Professor Matthias Nagel im Interview mit Hinz&Kunzt.<br />

TEXT: LUKAS GILBERT<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Hinz&Kunzt: Herr Professor Nagel, wie<br />

gut sind psychisch kranke Obdachlose in<br />

Hamburg versorgt?<br />

MATTHIAS NAGEL: Die Situation in Hamburg<br />

ist dramatisch. Es fehlen geeignete Einrichtungen<br />

für psychisch kranke Menschen<br />

zur Verhinderung von Obdachlosigkeit.<br />

Wir brauchen geeignete<br />

Einrichtungen der Eingliederungshilfe,<br />

also Wohnplätze und betreutes Wohnen<br />

in WGs. Und wir brauchen geschlossene<br />

beziehungsweise hochstrukturierte<br />

Formen der Unterbringung, in denen<br />

die Patienten intensiv betreut werden<br />

können.<br />

Solche Einrichtungen gibt es bislang<br />

überhaupt nicht?<br />

Die einzige solche Einrichtung, die in<br />

Hamburg existiert, ist das Wohnprojekt<br />

„Lütt Huus“ auf dem Gelände der<br />

As klepios Klinik Nord-Ochsenzoll, dessen<br />

Kapazitäten aber bei Weitem nicht<br />

ausreichen. Wir sind deshalb momentan<br />

gezwungen, psychisch kranke Obdachlose,<br />

die zu uns kommen, wieder in<br />

die Obdachlosigkeit zu entlassen.<br />

Was heißt das, wie läuft das ab?<br />

Der Ablauf ist folgender: Richter und<br />

Betreuer weisen Obdachlose in geschlossene<br />

psychiatrische Einrichtungen<br />

ein. Diese Menschen kommen dann zu<br />

uns in die Klinik. Weil in Hamburg<br />

aber Unterbringungsmöglichkeiten feh-<br />

Matthias Nagel ist Chefarzt der<br />

Klinik für Psychiatrie und<br />

Psychotherapie an der Askle pios<br />

Klinik Nord in Wandsbek.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Stadtgespräch<br />

len, bleibt uns keine andere Möglichkeit,<br />

als die richterlichen Beschlüsse aufheben<br />

zu lassen und die Menschen<br />

zurück in die Obdachlosigkeit zu schicken.<br />

Die Patienten kommen dann zügig<br />

zurück, weil sich die soziale Situation<br />

nicht verbessert hat.<br />

Was habe ich mir unter einer solchen<br />

geschlossenen Einrichtung vorzustellen?<br />

Der Begriff „geschlossen“ bedeutet, dass<br />

die Menschen dort mit einem richterlichen<br />

Beschluss untergebracht werden,<br />

aber keineswegs „weggesperrt“ werden.<br />

Mit den Betroffenen wird die Eingliederung<br />

vorangebracht, sodass die Menschen<br />

nach dem Aufenthalt wieder ein<br />

selbstständiges, autonomes Leben führen<br />

können, zum Beispiel durch regelmäßige<br />

Einnahme von Medikamenten,<br />

Psychotherapie, Arbeit und Ähnliches.<br />

Die Einrichtungen werden „Einrichtungen<br />

der Eingliederungshilfe“ genannt.<br />

„Wir erleben<br />

eine Psychia trie<br />

der 50er-Jahre.“<br />

Wie ist die Situation in den<br />

Nachbarbundesländern?<br />

In Schleswig-Holstein und Niedersachsen<br />

gibt es geeignete Einrichtungen, die<br />

aber mittlerweile Hamburger Patienten<br />

verweigern. Es sind einfach zu viele Betroffene.<br />

Diese Situation ist schrecklich.<br />

Wir erleben in Hamburg eine Psychiatrie<br />

der 50er-Jahre. Das heißt, immer<br />

mehr Menschen kommen unter Zwang<br />

zu uns. Dabei wollen wir das nicht. Wir<br />

wollen eine offene Form der Psychiatrie<br />

anbieten, die auf Freiwilligkeit basiert<br />

und wo die therapeutische Allianz, trialogische<br />

Arbeit – also Ärzte, Angehörige<br />

und Betroffene zusammen – und Psychotherapie<br />

im Vordergrund stehen.<br />

Doch wegen mangelnder Kapazitäten<br />

ist das nicht möglich. Die Lage in Hamburg<br />

spitzt sich so immer weiter zu. Wir<br />

haben auch den Eindruck, dass die ambulante<br />

Sozialpsychiatrie sich weniger<br />

um die schwer erkrankten Menschen<br />

kümmert, dass Pflegeheime zu schnell<br />

einweisen, dann Heimplätze kündigen<br />

und wir dann nicht wissen, wie die Menschen<br />

versorgt werden sollen. Heimplätze<br />

für ältere Menschen stehen auch nur<br />

sehr begrenzt zur Verfügung. Die zwangsweise<br />

Unterbringung in der Psychiatrie<br />

wird meines Erachtens oft als Weg genutzt,<br />

um unliebsame Menschen loszuwerden.<br />

Fördern und wohnen betreibt immerhin<br />

mehrere sozial psychiatrische Einrichtungen.<br />

Aber die decken die Bedarfe der Patienten<br />

nicht ab. Wir bekommen jeden Tag<br />

ganz viele Schwerkranke, die eine Intensivbetreuung<br />

benötigen. Natürlich<br />

helfen wir ihnen so gut und so lange es<br />

geht. Aber als Gesellschaft müssen wir<br />

es doch schaffen, dass diese Menschen<br />

nicht gleich wieder auf der Straße landen.<br />

Leider hat sich die Beantragung<br />

von Leistungen für Patienten zuletzt<br />

durch neue Gesetze sogar noch verschlechtert.<br />

Die Verfahren sind sehr<br />

kompliziert und langwierig, wodurch<br />

Hilfe verzögert und verhindert wird.<br />

Welche Auswirkungen hat die Coronakrise?<br />

Mein Eindruck ist, dass sich die Situation<br />

durch Corona nochmals verschärft<br />

hat und noch mal mehr Obdachlose<br />

beziehungsweise Menschen, die von<br />

Obdachlosigkeit bedroht sind, auf unsere<br />

Akutstationen kommen. Momentan<br />

spielt bei etwa 50 Prozent der Menschen,<br />

die zu uns kommen, Corona eine<br />

Rolle. Viele psychisch Kranke mit<br />

Psychosen oder Schizophrenie leiden<br />

sehr unter fehlenden Sozialkontakten.<br />

Auch das Tragen von Masken ist für<br />

viele ein riesiges Problem. Sie sind<br />

durch solche eigentlich kleinen Änderungen<br />

im Alltag stärker betroffen. Dadurch,<br />

dass viele Tagesaufenthaltsstätten<br />

geschlossen haben, verschärft sich<br />

die Situation nochmals. Das ist schwer<br />

auszuhalten.<br />

43<br />

Rot-Grün hat zum Ende der vergangenen<br />

Legislatur immerhin ein Maßnahmenpaket<br />

auf den Weg gebracht, das auch mehr<br />

Einzelunterbringung für psychisch kranke<br />

Obdachlose und eine bessere medizinische<br />

Versorgung fordert. Wäre das also ein erster<br />

richtiger Schritt?<br />

Ja, denn wir brauchen dringend mehr<br />

außerklinische Unterstützung für<br />

„Die Kapazitäten<br />

reichen bei Weitem<br />

nicht aus.“<br />

schwer psychisch kranke Menschen, also<br />

Menschen mit Psychosen, Demenz,<br />

auch traumatisierte Flüchtlinge. Insbesondere<br />

aufsuchende Hilfen müssen<br />

verstärkt angeboten werden, damit die<br />

Menschen ihre Wohnungen nicht erst<br />

verlieren. Dadurch könnten wir eine<br />

Menge Plätze in allen möglichen „Einrichtungen“<br />

einsparen. Vor einigen<br />

Jahren gab es noch die sogenannten<br />

PPM-Maßnahmen. Durch diese wurden<br />

aufsuchende Angebote finanziert. Das<br />

hat sich aber leider verändert. •<br />

Kontakt: lukas.gilbert@hinzundkunzt.de<br />

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Beratung<br />

ist die halbe<br />

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Freunde<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>333</strong>/NOVEMBER <strong>2020</strong><br />

Kreatives Hilfsprojekt:<br />

Etwa eine Stunde<br />

braucht Renate Mayer,<br />

um eine der bunten<br />

Masken zu besticken.<br />

„Helfen kann jeder“<br />

Einfach nur still sitzen, wenn andere Hilfe brauchen? Das kommt für Renate Mayer<br />

nicht infrage. Deshalb näht sie seit dem Coronalockdown individuelle Alltagsmasken<br />

und gibt sie gegen eine Spende ab – auch zugunsten von Hinz&Kunzt.<br />

TEXT: MISHA LEUSCHEN<br />

FOTO: MIGUEL FERRAZ<br />

Renate Mayer hat wieder für<br />

Nachschub gesorgt. Auf<br />

dem Tisch ihrer Wohnung<br />

stapeln sich Alltagsmasken,<br />

alle individuell mit Handstickerei versehen.<br />

Die Renner sind Masken aus<br />

dunkler Baumwolle, verziert mit einem<br />

eleganten Rotweinglas oder dem Koffeinmolekül.<br />

„Daran sticke ich eine<br />

Stunde“, sagt die 49-Jährige.<br />

Den Motiven sind keine Grenzen<br />

gesetzt: Ob eine Kamera für einen<br />

Fotografen, ein Stück Käse für den<br />

Fachverkäufer im benachbarten Supermarkt,<br />

niedliche Katzen oder ein Sportmotiv<br />

mit einem aufgesetzten Mini-<br />

Fußball – „Ich mache fast alles“, sagt<br />

sie. Im Backofen werden die guten<br />

Stücke bei 80 °C für eine halbe Stunde<br />

sterilisiert. „Das kann man gut zu Hause<br />

machen, dann muss man sie nicht so<br />

heiß waschen und die Masken halten<br />

länger“, ist ihr Tipp.<br />

Ihre Kreativität ist ihr Kapital. Die<br />

Spezialistin für Arbeitssicherheit gibt<br />

Humorseminare und nutzt bei ihrer<br />

Tätigkeit als Moderatorin, Trainerin<br />

und Beraterin von Unternehmen gern<br />

Theatermethoden. Sie ist Kabarettistin,<br />

Schauspielerin, Autorin, zeichnet auch<br />

44<br />

Comics – und scheut sich nicht anzupacken,<br />

wenn Hilfe gebraucht wird. Als<br />

zu Beginn der Coronapandemie im<br />

Freundes- und Familienkreis Masken<br />

fehlten, holte sie ihre Nähmaschine heraus<br />

und legte los. Die individuellen<br />

Masken fallen auf und fanden rege<br />

Nachfrage. Deshalb näht und stickt sie<br />

bis heute immer dann, wenn sie die Zeit<br />

findet, und gibt die Alltagsmasken gegen<br />

eine Spende ab.<br />

Die gebürtige Ingolstädterin hat in<br />

München studiert und gearbeitet, lebte<br />

in Ulm und nun seit zwei Jahren in der<br />

Hansestadt. Mit der Anonymität und


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Härte der Großstadt Hamburg tut sie<br />

sich schwer. Vor allem die sichtbare Armut<br />

auf den Straßen berührt sie. „Die<br />

Menschen gehen an vielem einfach vorbei“,<br />

sagt sie kopfschüttelnd. „Wie kann<br />

man nur? Was hier normal ist, ist erschreckend.“<br />

Manchmal versucht sie<br />

selbst zu helfen, spricht mit Menschen<br />

auf der Straße und fragt, was sie tun<br />

kann. Manchmal ruft sie professionelle<br />

Hilfe – und fühlt sich doch hilflos.<br />

Warum sie das so anfasst? „Das<br />

liegt an meiner katholischen Grundausbildung“,<br />

sagt sie und lacht. Nächstenliebe,<br />

Barmherzigkeit, Interesse an anderen<br />

seien Selbstverständlichkeiten,<br />

findet sie. Doch sie weiß auch, dass sie<br />

nicht die Welt retten kann. „St. Martin<br />

hat seinen Mantel mit einem Bettler<br />

auch nur geteilt und nicht ganz hergegeben,<br />

um selbst warm zu bleiben. Man<br />

muss beim Helfen seine eigenen Grenzen<br />

kennen.“<br />

So macht sie, was für sie möglich<br />

ist. Eine Nachbarin, die im Restaurant<br />

Freunde<br />

„Heldenplatz“ arbeitet, brachte sie auf<br />

die Idee, Masken für die Mitarbeiter­<br />

*innen zu nähen. Renate Mayers Masken<br />

mit den Weingläsern kommen bei<br />

den Gästen so gut an, dass am Tresen<br />

mittlerweile eine Box mit verschiedenen<br />

Modellen steht, die Gäste gegen eine<br />

Spende mitnehmen können. 1600 Euro<br />

sind bisher zusammengekommen, die<br />

sie hälftig zwischen Hinz&Kunzt und<br />

der Hamburger Tafel teilt.<br />

Dass sie mit den Masken Geld für<br />

eine sinnvolle Sache einnehmen kann,<br />

freut Renate Mayer. Wenn sie neben ihrem<br />

Fulltime-Job die Zeit für die Produktion<br />

findet, füllt sich die Maskenbox,<br />

aber nicht immer kann sie die<br />

Nachfrage schnell erfüllen. Am meisten<br />

würde es sie freuen, wenn sie mit ihrem<br />

Engagement andere Menschen inspirieren<br />

könnte, selbst Ideen zu entwickeln<br />

und umzusetzen. „Helfen kann<br />

jeder“, findet sie. •<br />

Kontakt: redaktion@hinzundkunzt.de<br />

JA,<br />

ICH WERDE MITGLIED<br />

IM HINZ&KUNZT-<br />

FREUNDESKREIS.<br />

Damit unterstütze ich die<br />

Arbeit von Hinz&Kunzt.<br />

Meine Jahresspende beträgt:<br />

60 Euro (Mindestbeitrag für<br />

Schüler*innen/Student*innen/<br />

Senior*innen)<br />

100 Euro<br />

Euro<br />

Datum, Unterschrift<br />

Ich möchte eine Bestätigung<br />

für meine Jahresspende erhalten.<br />

(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />

Meine Adresse:<br />

Name, Vorname<br />

Straße, Nr.<br />

PLZ, Ort<br />

Telefon<br />

E-Mail<br />

Einzugsermächtigung:<br />

Dankeschön<br />

Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />

Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />

Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />

Wir danken allen, die uns im Oktober<br />

unterstützt haben, sowie allen Mitgliedern im<br />

Freundeskreis von Hinz&Kunzt!<br />

DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />

• IPHH • wk it services<br />

• Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />

• Hamburger Tafel • Axel Ruepp Rätselservice<br />

• Hamburger Kunsthalle<br />

• bildarchiv-hamburg.de<br />

• AutoNova GmbH Glinde<br />

• Anke Horbach und ihre Geburtstagsgäste<br />

• Brigitte von Hammerstein<br />

und ihre Geburtstagsgäste<br />

• die Gäste der Trauerfeier für<br />

Dr. Fritz G. Ries<br />

• Marita und Wulf Denecke,<br />

sie haben diamantene Hochzeit gefeiert und<br />

Spenden gesammelt für Hinz&Kunzt<br />

• Einwegmasken werden permanent<br />

für die Hinz&Künztler*innen benötigt.<br />

Geholfen haben die Firmen:<br />

About You GmbH, BdV Behrens GmbH<br />

• Desinfektionsspray haben wir von der Firma<br />

Aries Umweltproukte erhalten.<br />

NEUE FREUNDE:<br />

• Svea Blechert • Jan-Niklas Decker<br />

• Christiane Hoyer • Milena Kaute-Heß<br />

• Nina Knauerhase • Sven Krüger<br />

• Sabine Laffrenzen<br />

• Florian Moldenhauer<br />

• Marianne Olbrich • Brigitte Rosemann<br />

• Veronika Schopka • Hanna Skowron<br />

• Thomas Thiel • Laura Sophie Weise<br />

• Christina Wenzel<br />

IBAN<br />

BIC<br />

Bankinstitut<br />

Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />

der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />

Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />

Ja<br />

Nein<br />

Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />

Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />

Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />

Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />

genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />

jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />

mehr von uns bekommen möchten, können<br />

Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />

personenbezogenen Daten widersprechen.<br />

Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />

einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />

Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />

Hinz&Kunzt-Freundeskreis<br />

Altstädter Twiete 1-5, 20095 Hamburg<br />

Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />

45<br />

HK <strong>333</strong>


Buh&Beifall<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>333</strong>/NOVEMBER <strong>2020</strong><br />

Was unsere Leser*innen meinen<br />

„Es ist entsetzlich. Wann hört das auf?“<br />

Entsetzlicher Fund<br />

H&K online und S. 41, Passanten entdecken<br />

tote Obdachlose<br />

Es ist entsetzlich. Wann hört das auf?<br />

Wieso schafft es eine Stadt wie<br />

Hamburg nicht, allen Obdachlosen<br />

Wohnmöglichkeiten anzubieten?<br />

GITTE DUBBICK VIA FACEBOOK<br />

Kleiner Nachtrag<br />

H&K 332, 125 Jahre Bahnhofsmission<br />

Wir bleiben in Bahnhofsnähe, ziehen<br />

aber in einen Neubau parallel zum<br />

Glockengießerwall. Außerdem ist<br />

hoffnungsorte hamburg / Verein<br />

Stadtmission der geschäftsführende<br />

Träger der Bahnhofsmission. Seit 1906<br />

besteht eine ökumenische Kooperation<br />

mit der Caritas und seit einigen Jahren<br />

mit dem Evangelisch-Lutherischen<br />

Kirchenkreisverband.<br />

DR. EVA LINDEMANN / HOFFNUNGSORTE HAMBURG<br />

Herrliche Kanzler-Kunst<br />

H&K 332, Kanzlers Kunst<br />

Mit dem Artikel „Kanzlers Kunst“ ist<br />

Ihnen ein sehr lesenswerter Artikel gelungen!<br />

Ebenso mit den verschiedenen<br />

Bildern und Fotos. Andächtig stehen<br />

Helmut und Erich vor dem schwebenden<br />

Engel im Güstrower Dom. Einfach<br />

herrlich!<br />

PETER HARTMANN VIA MAIL<br />

Danke für die Offenheit<br />

H&K 331, Meine neue Heimat<br />

Sagt bitte Zahra und Maroof herzlichen<br />

Dank für ihre Offenheit, es ist ein<br />

Geschenk, dass unbekannte Leser an<br />

ihren Schicksalswegen Anteil nehmen<br />

dürfen, solche Menschen braucht unsere<br />

Welt.<br />

ANGELIKA SIEGBURG VIA MAIL<br />

Reichskanzler schöngefärbt?<br />

H&K 330 und Leserbrief in Ausgabe 332<br />

Der Streit um die zukünftige (Um-)<br />

Gestaltung des Bismarck-Denkmals<br />

wird noch einige Zeit die Stadt beschäftigen.<br />

Tatsache ist, dass Bismarck 1884<br />

die Berliner Kongo-Konferenz einberufen<br />

hat, um den afrikanischen Kontinent<br />

unter den Kolonialmächten aufzuteilen.<br />

Dass Bismarck für Deutschland<br />

das spätere Namibia „reservierte“ und<br />

damit die Rahmenbedingungen für den<br />

späteren Völkermord an den Herero<br />

und Nama schuf. Dass Bismarck und<br />

sein Kaiser mit den Kriegen gegen<br />

Dänemark, Österreich und dann vor<br />

allem Frankreich das zweite deutsche<br />

Reich begründeten. Dass das Sozialversicherungssystem<br />

von Bismarck ein<br />

Zugeständnis an die starke Arbeiterbewegung<br />

war. ULRICH HENTSCHEL VIA MAIL<br />

Leser*innenbriefe geben die Meinung der<br />

Verfasser*innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />

Wir behalten uns vor, Briefe zu kürzen.<br />

HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />

DER ETWAS<br />

ANDERE<br />

STADTRUNDGANG<br />

100Jahre<br />

Wenn die Welt<br />

auf einmal<br />

stillsteht.<br />

Zuverlässige und<br />

persönliche Hilfe im<br />

Trauerfall – jederzeit.<br />

Wollen Sie Hamburgs City einmal mit anderen Augen sehen?<br />

Abseits der teuren Fassaden zeigt Hinz&Kunzt Orte, die in<br />

keinem Reiseführer stehen: Bahnhofs mission statt Rathausmarkt,<br />

Drogenberatungsstelle statt Alsterpavillon, Tages aufent halts stätte<br />

statt Einkaufspassage.<br />

Anmeldung: bequem online buchen unter<br />

www.hinzundkunzt.de oder Telefon 040/32 10 83 11<br />

Kostenbeitrag: 10/5 Euro<br />

Nächster Termin: 20.12.<strong>2020</strong>, 15 Uhr<br />

Immer für Sie da.<br />

040 - 24 84 00<br />

www.gbi-hamburg.de


Kunzt&Kult<br />

Punkerin: Martina Weith kehrt nach 40 Jahren mit ihrer Band Östro 430 auf die Bühne zurück (S. 48).<br />

Straftäter*innen: Bei den Aktionstagen Gefängnis geht es in Film und Ausstellung ums Knastleben (S. 52).<br />

Kämpferin: Obwohl Hinz&Künztlerin Angie krank ist und im Zelt schläft, will sie kein Geld vom Amt (S. 58).<br />

Die Geschichte Südafrikas,<br />

Kolonialismus, Flucht und Vertreibung<br />

sind Themen, die William Kentridge in<br />

seiner Kunst bearbeitet. In der<br />

Ausstellung „Why Should I Hesitate:<br />

Putting Drawings to Work“ zeigen die<br />

Deichtorhallen bis zum 18. April 2021<br />

einen umfassenden Überblick über das<br />

Werk des südafrikanischen Künstlers.<br />

Deichtorstraße 1–2, Di–So, 11–18 Uhr,<br />

15/6 Euro, unter 18 Jahren Eintritt frei<br />

FOTO: STUDIO HANS WILSCHUT


Die Punkerinnen von<br />

Östro 430 knöpften sich in<br />

ihren rotzig-provokanten<br />

Texten ab Ende der<br />

1970er-Jahre immer<br />

wieder Tabuthemen vor.<br />

Sängerin damals wie<br />

heute: Martina Weith.


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Kunzt&Kult<br />

„Die Hosen waren<br />

unser Vorprogramm“<br />

Einst rockte sie zusammen mit den Toten Hosen und Fehlfarben durch das Rheinland.<br />

Anschließend ließ sich Martina Weith auf St. Pauli nieder. 40 Jahre später zieht es<br />

die Musikerin mit ihrer Frauen-Punkband Östro 430 zurück auf die Bühnen der Republik.<br />

TEXT: JONAS FÜLLNER<br />

FOTOS: ANDREAS HORNOFF, PRIVAT/TAPETE RECORDS<br />

A<br />

ls Ende der 1970er-Jahre<br />

die Punkwelle aus Großbritannien<br />

und Amerika<br />

rüberschwappte, war<br />

Martina Weith mittendrin.<br />

Östro 430 hieß ihre Band – die<br />

vermutlich erste reine Frauen-Punkband<br />

Deutschlands. „Die Hosen waren<br />

unser Vorprogramm“, erinnert sich die<br />

60-Jährige an ihren ersten Auftritt und<br />

schmunzelt. Das war im Mai 1980. Die<br />

Toten Hosen hießen noch ZK, Campino<br />

und Kuddel waren nicht einmal<br />

volljährig und deswegen auf Mitfahrgelegenheiten<br />

bei älteren Punkern<br />

an ge wiesen.<br />

An deren Auftritt erinnert sich<br />

Campino noch gut: „Vier junge Frauen<br />

standen auf der Bühne und ballerten<br />

einfach los“, schreibt er auf der Homepage<br />

des Hamburger Plattenlabels<br />

Tapete Records. Das hat im Frühjahr<br />

alte Östro-430-Songs neu auf Vinyl gepresst.<br />

Ein Re-Release, zu dem die Idee<br />

vor ein paar Jahren backstage bei<br />

den Fehlfarben aufkam. Dass aus der<br />

Schnapsidee mal Ernst werden würde,<br />

hätte sie damals nicht geglaubt, sagt<br />

Weith.<br />

Seit ein paar Monaten hängt sich<br />

Weith nun also wieder das Saxofon um<br />

den Hals, greift nach dem Mikrofon<br />

und singt wie früher von „Randale und<br />

Bier“ und dem „quietschenden Bett“.<br />

Bislang allerdings im Proberaum.<br />

Ihr Bühnen-Comeback<br />

wurde durch Corona ausgebremst,<br />

ansonsten hätten sie<br />

Pfingsten ein großes Wiedersehen<br />

im Düsseldorfer Haus der<br />

Jugend mit Male, den Toten<br />

Hosen und Fehlfarben gefeiert.<br />

Sie alle stammen wie Östro<br />

430 aus Düsseldorf. Hausbesetzungen,<br />

Punk und ein<br />

bisschen Anarchie, das verbinden<br />

die meisten wohl eher mit<br />

der Hafenstraße und Berlin-<br />

Kreuzberg. Aber das musikalische<br />

Zentrum der Bewegung<br />

lag damals tatsächlich<br />

in Düsseldorf – im Ratinger<br />

Hof zwischen Altstadt und<br />

Kunstakademie, beliebter<br />

Treffpunkt auch für Künstler<br />

wie Jörg Immendorff, Christof<br />

Kohlhöfer oder auch Joseph<br />

Beuys. „In dieser Kneipe<br />

hatte praktisch jeder<br />

Gast eine Band. Das gehörte<br />

einfach zum guten Ton“,<br />

erinnert sich Martina Weith an<br />

ihre damalige Stammkneipe. „Wir haben<br />

da abgehangen und Bands, die wir<br />

gut fanden, spielen sehen.“<br />

Selbstverständlich griffen auch die<br />

Frauen zum Instrument. „Ich konnte<br />

nur Blockflöte und Akkordeon spielen,<br />

49<br />

Die vermutlich erste reine Frauen-<br />

Punkband Deutschlands: oben<br />

Martina Weith, unten Bettina<br />

Flörchinger und rechts die erste<br />

Schlagzeugerin Marita Welling.


habe mir dann aber ein Saxofon geholt“,<br />

sagt Weith. Dazu kamen zwei<br />

Frauen an Bass und Schlagzeug sowie<br />

Keyboarderin Bettina Flörchinger, die<br />

jetzt auch in der neuformierten Reunion<br />

mitwirkt. Wie es zu der noch heute<br />

ungewöhnlichen Besetzung kam? „Wir<br />

haben einfach keine Gitarristin gefunden“,<br />

erinnert sich Weith lachend und<br />

führt im besten rheinischen Singsang<br />

aus: „Entweder waren die aus der Wanderklampfen-Fraktion<br />

und hatten die<br />

Joan-Baez-Platten zu Hause, was als<br />

Punker gar nicht ging. Oder aber die<br />

sahen nach Brett aus, wussten aber<br />

nicht, wie rum man das Ding hält.“<br />

Gespielt wurde gegen Eintritt, gerne<br />

auch gegen Freibier. „Eine tolle<br />

Zeit“, erinnert sich Weith. Niemand<br />

war sich zu schade, Plakate zu kleben,<br />

die Bühne aufzubauen und den Ton zu<br />

mischen. „Du wolltest damals einfach<br />

nicht mehr diese Musikvirtuosen sehen.<br />

Genesis, Deep Purple und wie sie alle<br />

heißen. Unser Motto war: Das kannst<br />

auch du.“<br />

Gepaart wurde die Musik mit einer<br />

ordentlichen Prise sozialem Engagement.<br />

„Ein Punk steht auf, wenn jemand<br />

anderes scheiße behandelt wird“,<br />

sagt Weith. Es habe sie selber überrascht,<br />

wie aktuell die alten Songtexte<br />

noch sind. Bei „S-Bahn“ ging es beispielsweise<br />

um einen ausgegrenzten<br />

Punker. „Ersetze doch mal Punk mit<br />

„Wir hatten<br />

Hausverbot im<br />

Frauencafé.”<br />

MARTINA WEITH<br />

Flüchtling. Da hat sich überhaupt nix<br />

getan“, sagt Weith kopfschüttelnd.<br />

Während den Toten Hosen, Fehlfarben<br />

und Jürgen Engler von Male<br />

schon bald der kommerzielle Durchbruch<br />

gelang, ging es bei Östro 430<br />

nicht weiter voran. „Ende der 1980er<br />

war ich von der Musikszene gefrustet<br />

und dachte mir, in Düsseldorf werde<br />

ich nur noch alt“, sagt die gebürtige<br />

Gladbacherin rückblickend.<br />

Kurzerhand zog sie nach Hamburg,<br />

wo sie in vielen anderen Bands<br />

mitwirkte – unter anderem bei der<br />

Hardrock-Band Prollhead. „In Hamburg<br />

kann ich mich auch noch im<br />

Greisenalter auf die Bühne stellen und<br />

50<br />

Anfang der 1980er-<br />

Jahre (oben, von links):<br />

Bettina Flörchinger<br />

(Keyboard), Marita<br />

Welling (Drums) –<br />

und Martina Weith<br />

(Gesang/Sax), die<br />

anfangs nur Block flöte<br />

spielen konnte. Im<br />

Bild unten steht<br />

rechts am Bass<br />

Gisela Hottenroth.<br />

,Anarchy in the UK‘ brüllen“, sagt<br />

Weith und lacht. „Hier sagt keiner:<br />

,Die hat sie doch nicht mehr alle.‘“<br />

Während einige ihrer alten Weggefährt*innen<br />

noch heute von der Musik<br />

leben, arbeitete Weith als Journalistin,<br />

später als Erzieherin. Dass sie jetzt<br />

plötzlich mit ihrem ersten Musikprojekt<br />

noch einmal solch eine große Resonanz<br />

erfährt, überrascht sie selbst. „Wir haben<br />

gedacht, dass unsere Musik vielleicht<br />

noch ein paar alte Fans von früher<br />

interessiert, deren Schallplatten in<br />

einem ähnlich zerkratzten Zustand wie<br />

unsere waren“, erzählt Weith. „Aber<br />

das Ding läuft. Die erste Pressung ist<br />

schon ausverkauft.“<br />

Woran das liegt? Da ist auf der einen<br />

Seite die reduzierte und zugleich<br />

ungewöhnlich instrumentierte Punkmusik<br />

mit starken Neue-Deutsche-Welle-Einflüssen,<br />

die bis heute ihresgleichen<br />

sucht. Auf der anderen Seite die<br />

rotzig-provokanten Texte: „Mit den Typen<br />

ist heute nichts mehr los. Jedes Mal<br />

die gleiche Pein. Sie ficken wie Kaninchen<br />

bloß. Und pennen nach’m Orgas-


Kunzt&Kult<br />

mus ein“, heißt es beispielsweise in dem Stück „Sexueller<br />

Notstand“.<br />

Was damals noch einem Tabubruch gleichkam,<br />

wurde tatsächlich erst Mitte der 1990er-Jahre massenkompatibel,<br />

als Tic Tac Toe an die Männerwelt<br />

gerichtet ihr „Ich find dich scheisse“ schleuderten.<br />

Östro 430 also als feministische Vorreiterinnen?<br />

Martina Weith sagt: „Als in Düsseldorf das erste<br />

Frauencafé eröffnete, hatten wir gleich am ersten<br />

Abend Hausverbot. Ich wollte ein Bier bestellen,<br />

aber die hatten nur Tee und Kuchen.“ Nach einer<br />

kurzen Pause fügt sie an: „Und dann waren wir denen<br />

offenbar zu laut.“<br />

Laut und ordentlich nach vorne geht es jetzt für<br />

Östro 430 auch in neuer Konstellation. Zwei Songs<br />

hat die Band frisch eingespielt. „Keine Krise kann<br />

mich schocken“, heißt einer davon. Darin macht die<br />

Band die Coronapandemie in diesem Jahr zum<br />

Thema. Ob der Schock wirklich ausbleibt, hängt<br />

allerdings von den Infektionszahlen ab. Denn nur<br />

wenn die wieder sinken, besteht echte Hoffnung auf<br />

den ersten Bühnenauftritt von Östro 430 seit fast<br />

40 Jahren, am 4. Dezember im Hafenklang.<br />

Bis dahin heißt es abwarten. Wer auf solch eine<br />

lange Musikkarriere zurückblickt, den kann eh nicht<br />

mehr viel überraschen. „Neulich saß ich mit meinem<br />

Mann in der Tortuga Bar und da lief im Hintergrund<br />

,Zonenzombie‘ von Abwärts“, sagt Martina<br />

Weith. „Und ich höre plötzlich meine Stimme.<br />

Denkste, ich hätte noch gewusst, dass ich da im Background<br />

für die gesungen habe?“ •<br />

RITA WILL<br />

DAT WETEN<br />

KOMÖDIE VON WILLIAM RUSSELL<br />

1.11. – 1.12.<strong>2020</strong><br />

Foto: Sinje Hasheider<br />

Kontakt: jonas.fuellner@hinzundkunzt.de<br />

Punk auf Tonträger, live und im Buch:<br />

Die Doppel-LP/CD „Östro 430: Keine Krise kann mich<br />

schocken“ kann man online unter www.tapeterecords.de<br />

für 18,99 Euro kaufen.<br />

Ob das Östro-430-Konzert im Hafenklang am<br />

4. Dezember tatsächlich stattfindet, hängt vom<br />

Verlauf des Infektionsgeschehens in Hamburg ab.<br />

Weitere Infos unter www.hafenklang.com<br />

Der Hamburger Punkszene Ende der 1970er-Jahre<br />

wiederum widmet sich das gerade erst veröffentlichte<br />

Buch „Hamburg Calling“ mit Bildern der Grafikerin<br />

Sabine Schwabroh, damals bei allen wichtigen<br />

Konzerten dabei, der Fotografin Ilse Ruppert sowie<br />

zahlreichen Amateurfotografien „von den spannendsten<br />

Jahren im musikalischen Untergrund der Stadt“. Die<br />

Düsseldorfer Band Östro 430 kommt darin nicht vor.<br />

„Hamburg Calling. Punk, Underground & Avantgarde<br />

1977–1985“, von Alf Burchardt und Bernd Jonkmanns,<br />

Junius Verlag, 29,90 Euro<br />

51<br />

Unwiderstehlich –<br />

unser Adventskalender<br />

Paco tut alles für sein Herrchen Nils – auch geduldig Modell<br />

sitzen. Seit zwei Jahren sind die beiden unzertrennlich.<br />

Hier bewacht er 24 Türchen mit leckerer Bio-Fair-Trade-<br />

Schokolade von Gepa, Inlay aus Ökokarton, recycelbar.<br />

Preis: 11,90 Euro<br />

Schnell bestellen unter www.hinzundkunzt.de/shop<br />

Fotograf: Mauricio Bustamante, Gestaltung: amelie.krahl@amelico.de


Kult<br />

Tipps für den<br />

<strong>November</strong>, subjektiv<br />

und einladend, aber<br />

ohne Gewähr<br />

Aktionstage<br />

Blick hinter die Gefängnismauern<br />

„Weißt du wie schlimm das ist, wenn<br />

die ganze Zeit jemand zu dir kommt<br />

und dich einsperrt?“ Intensivstraftäterin<br />

Kübra weiß es. In der Doku „Meine<br />

Freiheit, deine Freiheit“ berichtet sie<br />

vom Alltag im Gefängnis, was sie hinter<br />

Gitter brachte, worauf sie hofft. Auch<br />

Salema erzählt darin ihre Geschichte:<br />

vom Leben und Überleben auf der<br />

Straße, von Gewalt und den Drogen,<br />

die sie nimmt, um die Wut in ihrem<br />

Innern nicht mehr spüren zu müssen.<br />

Filmemacherin Diana Näcke sendet<br />

Botschaften aus dem Knast in eine<br />

Gesellschaft, in der viel über härtere<br />

Strafen gesprochen wird und wenig<br />

über die Bestraften. Dabei gehören<br />

auch sie dazu – spätestens dann, wenn<br />

52<br />

Von der Straße in den Knast: „Ich will nicht mehr!“, ruft die<br />

41-jährige Salema im Film „Meine Freiheit, deine Freiheit“.<br />

sie freikommen. Die „Aktionstage<br />

Gefängnis“ machen das deutlich mit<br />

der Ausstellung „Knastleben“ und<br />

einem Vortrag in der Zentralbibliothek,<br />

dem Filmscreening im Schanzenkino 73<br />

und einem Poetry-Slam. •<br />

Aktionstage Gefängnis, Hühnerposten 1<br />

und Schulterblatt 73, 2.–7.11., Eintritt frei,<br />

Infos: www.aktionstage-gefaengnis.de


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Kunzt&Kult<br />

Bilder wie<br />

„Schlachtfeld<br />

Deutschland“<br />

wirken<br />

heute so<br />

aktuell<br />

wie in den<br />

1970er-<br />

Jahren.<br />

Festival<br />

Bühnenkunst für Kinder<br />

Der Mann, der auf der Bühne<br />

schläft, hat kein Zuhause. Wieso,<br />

fragt sich das Publikum. Da steht der<br />

Mann auf und erzählt. So beginnt<br />

das Theaterstück „Nebensache“, das<br />

neben weiteren erstklassigen Stücken<br />

und Konzerten beim Festival<br />

„KinderKinder“ zu sehen ist. •<br />

KinderKinder, diverse Spielorte,<br />

bis 22.11., Eintritt 11/7 Euro,<br />

Programm unter: www.kinderkinder.de<br />

FOTOS: MARLENE FULDE (S. 52), KLAUS METTIG (OBEN), NATALYA REZNIK<br />

Ausstellung<br />

Statements zur Lage der Nation<br />

Mit plakativer Fotokunst kommentiert die Künstlerin Katharina Sieverding<br />

seit mehr als 50 Jahren die großen Debatten der deutschen Gesellschaft – von<br />

der Jagd auf die RAF-Terrorist*innen über den aufkeimenden Rassismus<br />

der Nachwendezeit bis zu Genderfragen und Coronakrise heute. „Es geht<br />

mir immer auch um die Verantwortung des Einzelnen, wie er sich im Ganzen<br />

der Gesellschaft verhält“, erklärt die Fotografin. Ihre Werke werden weltweit<br />

aus gestellt, nun ist die bisher größte Einzelausstellung von Katharina Sieverding<br />

in Harburg zu sehen: Auf vier Stockwerken zeigt die Sammlung Falckenberg<br />

„Fotografien, Projektionen, Installationen <strong>2020</strong>–1966“. •<br />

Sammlung Falckenberg, Wilstorfer Straße 71, ab 7.11., jeweils So, 12–17 Uhr,<br />

Eintritt 5/3 Euro, www.deichtorhallen.de<br />

Ausstellung<br />

Ostkreuz-Meisterklasse stellt aus<br />

Wie werden wir im Jahr 2050 leben?<br />

Wie verändert sich die Welt und wie<br />

verändern wir uns in ihr? In ihrer Ausstellung<br />

„True Stories“ erforschen zwölf<br />

Absolvent*innen der vierten Meisterklasse<br />

der Ostkreuzschule für Fotografie<br />

ihre persönlichen Fragen an die Zukunft.<br />

Ihre Bilder rekonstruieren Lebensgeschichten,<br />

dekonstruieren Rollenbilder<br />

und dokumentieren den Wandel<br />

von Heimat. Trotz aller Vielfalt an Themen<br />

und Darstellungsformen verbindet<br />

die Werke etwas: ihr philosophischer<br />

Blick auf die Frage nach Sinn, die<br />

Menschen auf der ganzen Welt auf die<br />

eine oder andere Art zu beantworten<br />

versuchen. Zur Vernissage kommen die<br />

Künst ler*innen nach Hamburg.<br />

•<br />

Frappant Galerie, Zeiseweg 9,<br />

14.–22.11., Fr–So, 14–19 Uhr,<br />

Eintritt frei, www.frappant.org<br />

„The Old World“ von Natalya Reznik zeigt,<br />

wie sich Frauenbilder verändern könnten.<br />

Theater<br />

Kiezmärchen mit Soulsänger<br />

Tag für Tag hat Illustratorin Jutta<br />

Bauer die Pandemie in Bildern festgehalten<br />

– mal rührend, mal witzig,<br />

immer alltagsnah und doch tiefsinnig.<br />

Die Ausstellung ihrer „Corona<br />

Diaries“ lässt die Momente, als alles<br />

anders wurde, Revue passieren. •<br />

Kunstklinik, Martinistraße 44a,<br />

bis 27.11., Mo–Fr, 11–18 Uhr,<br />

Eintritt frei, www.kunstklinik.hamburg<br />

Konzert<br />

Die Hymne als „Lovesong“<br />

Die deutsche Nationalhymne – ein<br />

schwieriges Thema. Die einen singen<br />

inbrünstig mit, die anderen hören lieber<br />

weg. Aber lässt sich daraus nicht<br />

noch was machen? Komponist Daniel<br />

Dominguez Teruel experimentiert<br />

mit der Melodie, mischt sie mit Elektrogesang,<br />

Barockposaunen und Pop<br />

und lässt dazu Fahnen schwingen. •<br />

Kraftwerk Bille, Kesselhalle, Anton-Ree-<br />

Weg 50, Mi–So, 4.–8.11., 20 Uhr, Eintritt<br />

15/9 Euro, www.love-song.eu<br />

Theater<br />

Ost-West-Perspektiven<br />

Ein Jahr nach den „interkulturellen<br />

Trainings“ von Bürger*innen aus<br />

Hamburg und Halle wird aus der<br />

Begegnung Theater: „Rübermachen“<br />

spielt mit Wendezeit und Erinnerungskultur.<br />

•<br />

Lichthof Theater, Mendelssohnstraße 15,<br />

6. –15.11., Eintritt 8–24 Euro,<br />

www.lichthof-theater.de<br />

53


Kinder<br />

Konzert mit Überraschungen<br />

Wer sagt, dass beim Klassikkonzert das<br />

Publikum schweigend lauschen muss?<br />

Dass niemand auf der Bühne herumlaufen<br />

darf und dass man das Cello mit<br />

dem Hals nach oben zu spielen hat?<br />

Das „Funkelkonzert“ des Ensemble<br />

Resonanz räumt auf mit diesen<br />

Irrtümern und zeigt, was Klassik alles<br />

kann. Da werden Streichinstrumente<br />

zu summenden Plagegeistern, die im<br />

54<br />

Musikalische Expeditionen in fremde Welten: Die „Funkelkonzerte“<br />

des Ensemble Resonanz bieten tolle Klangerlebnisse.<br />

Sommer um den Liegestuhl herumschwirren,<br />

oder es wird auf einmal<br />

ganz kalt im Konzertsaal. Dabei zeigt<br />

sich dann: Auch mit Regenjacken und<br />

Reißverschlüssen lässt sich ein guter<br />

Groove erzeugen! Das „Funkelkonzert<br />

L / Sonne, Mond und Streicher“ ist<br />

konzipiert für ein junges Publikum<br />

ab 6 Jahren, lohnt sich aber auch<br />

für Ältere, die Freude an guter experimenteller<br />

Musik und Action auf der<br />

Konzertbühne haben. Die Freude der<br />

Musiker*innen am Effekt der Klänge<br />

wirkt ansteckend im besten Sinne –<br />

denn auch in den Rängen muss<br />

niemand still sitzen bleiben. Applaus<br />

gibt es am Ende für alle. •<br />

Elbphilharmonie, Platz der Deutschen<br />

Einheit 4, Sa, 21.11., mehrere Termine,<br />

Eintritt 5 Euro, www.elbphilharmonie.de


Kunzt&Kult<br />

Kinotipp des Monats<br />

Schule vor der<br />

Leinwand<br />

FOTOS: CLAUDIA HÖHNE (S. 54), MAJESTIC FILM (OBEN), PRIVAT<br />

Film<br />

Kämpferin mit Herz<br />

Ausstellung<br />

Neonazis sind keine Einzelfälle<br />

Anschläge gegen Menschen anderer<br />

Herkunft mehren sich, rechte Gewalttaten<br />

bleiben ungeklärt und gleichzeitig<br />

muss die Zahl der in Behörden<br />

aufgedeckten Rechtsextremist*innen<br />

immer wieder nach oben korrigiert<br />

werden. Kann da noch von Einzeltäter*innen<br />

die Rede sein? Die Ausstellung<br />

„Kein ‚Einzelfall‘. Rechtsradikale<br />

Realitäten in Deutschland“ zeigt<br />

auf, wie unterschwellige Strukturen<br />

wirken und wie eine Kultur des Wegschauens<br />

dazu führt, dass die Gefahr<br />

von rechts unterschätzt wird. Zu sehen<br />

sind Raum- und Videoinstallationen,<br />

die das Problem aus alltäglicher<br />

Perspektive zeigen und deutlich machen:<br />

Wer etwas gegen Neonazis hat,<br />

muss auch etwas unternehmen – hier<br />

und jetzt. •<br />

Kampnagel, Foyer, Jarrestraße 20,<br />

ab Mi, 18.11., 18 Uhr, Eintritt frei,<br />

www.kampnagel.de<br />

Als Romni, Frau und alleinstehende<br />

Mutter hat Ali gelernt,<br />

sich durchzuboxen.<br />

Mit einem Herz voller Hoffnung kommt Ali aus Rumänien nach Hamburg.<br />

Deutschland wird ihr und ihren Kindern eine Chance geben, davon ist sie überzeugt,<br />

auch wenn sie sich durchschlagen muss. Als sie bei einem Putzjob in der<br />

„Ritze“ den Boxring entdeckt, zeigt sich ihr wahres Talent. Das „Spelunkenkino“<br />

zeigt „Gipsy Queen“ als Hommage an alle, die um Anerkennung kämpfen. •<br />

Hafenklang, Große Elbstraße 84, Mi, 18.11., 20 Uhr, Eintritt frei, Anmeldung:<br />

www.hafenklang.de<br />

Ausstellung<br />

Kommunenleben neu gedacht<br />

Wohnraum wird knapp und teuer,<br />

doch es gibt Ideen dagegen: Auf der<br />

ganzen Welt entwickeln Architekt-<br />

* innen Lösungen für gemeinschaftliches<br />

Wohnen. Wie die aussehen und<br />

wie sie sich anfühlen, lässt sich im<br />

Museum für Kunst und Gewerbe<br />

ausprobieren. Modelle, Filmbeiträge<br />

und eine nachgebaute Cluster-<br />

Wohnung zeigen, wie das Zusammenleben<br />

funktioniert. Die Gastausstellung<br />

„Together“ des Vitra Design<br />

Museums wird ergänzt durch<br />

Beiträge zum genossenschaftlichen<br />

Wohnen in Hamburg. •<br />

MK&G, Steintorplatz, ab Fr, 20.11., Di–So,<br />

10–18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Eintritt 12/8<br />

Euro, www.mkg-hamburg.de<br />

Über Tipps für Dezember freut sich<br />

Annabel Trautwein. Bitte bis zum<br />

10.11. an redaktion@hinzundkunzt.de<br />

Wenn Lehrer früher ihre Ruhe<br />

haben wollten, schaute die<br />

Klasse einen Film. Glaubten<br />

wir. Schließlich mussten sie<br />

da nicht mehr machen, als<br />

den Videorekorder anzustellen.<br />

Und so schauten wir allerlei<br />

Streifen, für die wir uns<br />

meist viel zu alt fühlten:<br />

„Krieg der Knöpfe“ und andere<br />

pädagogische Kost, die<br />

wir danach im Unterricht<br />

durchsprachen. Was hätte<br />

ich mir damals gewünscht,<br />

nach einem Internetcheck<br />

sauber die Analogien und tieferen<br />

Botschaften dieser Filme<br />

zitieren zu können!<br />

Dass Kino eben doch ein<br />

wenig mehr ist als der runtergespulte<br />

Film, propagiert das<br />

3001 Kino mit einem entsprechenden<br />

Angebot. Gegen<br />

eine Kostenpauschale<br />

pro Schüler, für die man<br />

in einem der Main streamkinos<br />

nicht mal eine Portion<br />

Popcorn erhält, zeigen die<br />

Schanzencineasten Wunschfilme<br />

am Vormittag und<br />

vermitteln damit nicht nur<br />

Filminhalte, sondern auch<br />

eine Kinowelt, wie es sie vielleicht<br />

bald nicht mehr gibt.<br />

Jetzt macht das Ganze<br />

Schule: In der Hamburger<br />

Schulkinowoche vom 16. bis<br />

zum 20. <strong>November</strong> zeigen<br />

das 3001 Kino und 15 weitere<br />

Lichtspielhäuser kindgerechte<br />

Filme zu Politik, Umwelt,<br />

Gesinnung, Freiheit<br />

und Freundschaft. Dazu gibt<br />

es Unterrichtsmaterialien, es<br />

wird diskutiert und manchmal<br />

auch einfach nur großartige<br />

Kinokost genossen. •<br />

André Schmidt<br />

geht seit<br />

Jahren für uns<br />

ins Kino.<br />

Er arbeitet in der<br />

PR-Branche.<br />

55


Hamburger<br />

Geschichte(n)<br />

Kunzt&Kult<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>333</strong>/NOVEMBER <strong>2020</strong><br />

#8 Derzeit wird die Lombardsbrücke aufwendig restauriert.<br />

Auch die Kandelaber, die auf dem historischen Foto aus<br />

dem Jahr 1895 zu sehen sind, werden wieder leuchten.<br />

Die Lombardsbrücke<br />

Sie gehört zu Hamburgs beliebtesten Fotomotiven und zeigt die<br />

Stadt von ihrer besten Seite. Doch die Geschichte der Lombardsbrücke<br />

erzählt auch von der Kehrseite des Wohlstands.<br />

Verzierte Kandelaber, ehrwürdiges<br />

Mauerwerk und von der Brüstung aus<br />

der Blick auf Hamburgs schönste Stadtsilhouette<br />

– so hat Jürgen Jobsen die<br />

Lombardsbrücke verinnerlicht. Doch<br />

nun ist von der ganzen Pracht kaum etwas<br />

zu sehen: Baugerüste und rot-weiße<br />

Straßensperren säumen die Brücke, von<br />

den Kandelabern keine Spur. „Wie<br />

schade“, meint Jürgen. „Ich stand schon<br />

oft davor und hab sie mir angeguckt.“<br />

Die Engelsfiguren, die Reliefe …, „da<br />

sind auch Geschichten mit verbunden.“<br />

Besonders spannend findet Spurensucher<br />

Jürgen allerdings, was sich<br />

gerade nicht im Prunk widerspiegelt,<br />

sondern im Namen der Brücke: „Lombard“<br />

wurde früher das benachbarte<br />

Pfandhaus genannt. Fast 200 Jahre<br />

lang, von 1651 bis 1827, stand es auf<br />

dem Wall am Westufer zwischen Binnen-<br />

und Außenalster. „Da sind die<br />

Hamburger hingegangen, wenn sie sich<br />

Geld leihen mussten“, erklärt Jürgen.<br />

Er sieht sie regelrecht vor sich, wie sie<br />

TEXT: ANNABEL TRAUTWEIN<br />

FOTOS: ANDREAS HORNOFF (2), HAMBURG BILDARCHIV<br />

über die Brücke Richtung Dammtor<br />

laufen, um ihre Habe zu verpfänden.<br />

Glanz und Laternenschein kommen in<br />

diesen Szenen nicht vor. „Die Leute haben<br />

es vorgezogen, erst bei Dämmerung<br />

über die Brücke zu gehen, damit<br />

sie nicht erkannt werden“, sagt Jürgen.<br />

So hat er es gelesen, er versteht das<br />

auch. „Zum Pfandleiher zu gehen, war<br />

ja auch damals eine unangenehme Sache.“<br />

Was ihn vor allem umtreibt: Ging<br />

es fair zu in diesem Pfandhaus? Gab der<br />

„Lombard“ den Leuten eine Chance?<br />

„Der war bestimmt nicht arm“, vermutet<br />

der Hinz&Kunzt-Mitarbeiter.<br />

Ein Blick in die Quellen bestätigt<br />

das. Allerdings bereicherte sich im<br />

„Lombard“ kein Privatmann. Das<br />

Pfandhaus war städtisch. Zinsen, die<br />

die Schuldner abzudrücken hatten, flossen<br />

weiter in den Stadtsäckel. Kassiert<br />

wurden sie von zwei Staatsdienern: Verwalter<br />

und Schreiber lebten im Pfandhaus<br />

und hatten „gemäß ihrem geleisteten<br />

Eide“ die Leihhaus-Ordnung des<br />

Senats „aufs Genaueste und Gewissenhafteste<br />

zu befolgen“. In einer Novelle<br />

vom 26. Juli 1833 ist nachzulesen, was<br />

die Ratsherren da runter auch verstanden:<br />

„Sie haben das mit ihnen verkehrende<br />

Publicum mit Anstand und Bescheidenheit<br />

zu behandeln, und dabei<br />

nicht aus den Augen zu verlieren, daß<br />

es in der Regel Mitleid verdienende<br />

Unglückliche sind, welche die Hülfe des<br />

Leihhauses nachsuchen.“ Wucher?<br />

„Auf das Ernstlichste und bei nachdrücklicher<br />

Strafe untersagt.“ Gute<br />

Nachrichten für Jürgen – ebenso wie<br />

die Auskunft, dass die Brücke denkmalgerecht<br />

restauriert wird. Auch die schönen<br />

Kandelaber sollen zurückkommen.<br />

Laut Verkehrsbehörde ist ein<br />

Lichtkonzept geplant, das nicht nur die<br />

sanierten Laternen umfasst, sondern<br />

auch Nachbauten ihrer früheren Gegenstücke<br />

auf der Außenalsterseite.<br />

Von den Armen, die im Dunkeln zum<br />

Pfandhaus schlichen, werden dann nur<br />

noch die wissen, die genauer nachlesen –<br />

so wie Jürgen Jobsen. •<br />

Kontakt: annabel.trautwein@hinzundkunzt.de<br />

Jürgen Jobsen (64)<br />

war früher<br />

Hinz&Künztler und<br />

arbeitet seit Jahren<br />

im Vertrieb.<br />

Rätselfrage: Wie hieß das Bollwerk<br />

im Stadtwall, an dessen Fuß sich das<br />

frühere Hamburger Leihhaus befand?<br />

Schreiben Sie uns! (Siehe rechts)<br />

56


WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />

Rätsel<br />

ILLUSTRATION (BLEISTIFT IM IMPRESSUM): BERND MÖLCK-TASSEL<br />

organ.<br />

Stickstoffverb.<br />

Großvater<br />

(Koseform)<br />

Gebäck<br />

weidmänn.:<br />

schieße<br />

hoch!<br />

kleinste<br />

Stadt<br />

Deutschlands<br />

Mischsprache<br />

in eh.<br />

Kolonien<br />

Departement<br />

in Frankreich<br />

Wallberge<br />

(Geologie)<br />

Stadt<br />

östlich<br />

von<br />

Berlin<br />

Stadt<br />

im<br />

Sauerland<br />

veraltet:<br />

Lappen,<br />

Lumpen<br />

Stadt<br />

auf<br />

Honshu<br />

(Japan)<br />

1<br />

7<br />

8<br />

4<br />

1<br />

9<br />

3<br />

7<br />

Freund<br />

des<br />

Achill<br />

Essigbaum<br />

2<br />

5<br />

4<br />

2<br />

ugs.:<br />

altes,<br />

schlechtes<br />

Auto<br />

2<br />

9<br />

5<br />

3<br />

4<br />

Gesichtsfeldmesser<br />

Figur in<br />

der Oper<br />

„Turandot“<br />

Fulda-<br />

Zufluss<br />

3<br />

6<br />

4<br />

7<br />

7<br />

5<br />

4<br />

Moldau-<br />

Zufluss<br />

geziert,<br />

widerspenstig<br />

10<br />

Währung<br />

in<br />

Deutschland<br />

Köpergewebe<br />

hypnotisierter<br />

Mensch<br />

5<br />

4<br />

8<br />

Kykla-<br />

den-<br />

Insel<br />

landsch.:<br />

Fett;<br />

weiches<br />

Holz<br />

Abk.:<br />

Bankleitzahl<br />

madagass.<br />

Halbaffe<br />

Elektronenröhre<br />

niedersächs.<br />

Dichter<br />

† 1910<br />

Sänger<br />

bei<br />

„Wickie“<br />

3<br />

2<br />

9<br />

AR0909-1219_9sudoku<br />

Hafenstadt<br />

am<br />

Limfjord<br />

(Dänem.)<br />

lat.:<br />

Recht<br />

Sohn<br />

von<br />

Obed<br />

(A. T.)<br />

engl.:<br />

Pfanne<br />

franz.:<br />

Felsen<br />

eine<br />

Apfelsorte<br />

lat.:<br />

Indien<br />

österr.<br />

mundartl.:<br />

Gletscher<br />

Polyen<br />

mit drei<br />

Doppelbindungen<br />

Warthe-<br />

Zufluss<br />

in Polen<br />

amerik.<br />

Presseagentur<br />

(Abk.)<br />

Stadt<br />

in<br />

Indien<br />

Musical<br />

von F.<br />

Loewe<br />

† 1988<br />

venezianischer<br />

Admiral<br />

† 1792<br />

Lösungen an: Hinz&Kunzt, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />

per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />

Einsendeschluss: 27. <strong>November</strong> <strong>2020</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />

Wer die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel oder die Antwort<br />

auf die Preisfrage auf Seite 56 einsendet, kann zwei Karten für die<br />

Hamburger Kunsthalle oder eine von drei DVDs mit dem Dokumentarfilm<br />

„Für Sama“ (Verleih: Filmperlen) gewinnen. Die Antwort auf die Oktober-<br />

Preisfrage war: Hamburger Electricitäts-Werke. Das Lösungswort beim<br />

Kreuzwort rätsel war: Journalist. Die Sudoku-Zahlenreihe: 382 917 546.<br />

6<br />

1<br />

7<br />

6<br />

1<br />

4<br />

7<br />

9<br />

8<br />

8<br />

9<br />

2<br />

6<br />

10<br />

3<br />

12199 – raetselservice.de<br />

Füllen Sie das Gitter so<br />

aus, dass die Zahlen von<br />

1 bis 9 nur je einmal in<br />

jeder Reihe, in jeder<br />

Spalte und in jedem<br />

Neun-Kästchen-Block<br />

vorkommen.<br />

Als Lösung schicken<br />

Sie uns bitte die farbig<br />

gerahmte, unterste<br />

Zahlenreihe.<br />

Impressum<br />

Redaktion und Verlag<br />

Hinz&Kunzt<br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />

Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg<br />

Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />

Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />

E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />

Herausgeber<br />

Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />

Externer Beirat<br />

Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />

Mathias Bach (Kaufmann), Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />

Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />

Thomas Magold (BMW-Niederlassungsleiter i.R.),<br />

Karin Schmalriede (Lawaetz-Stiftung),<br />

Dr. Bernd-Georg Spies (Russell Reynolds),<br />

Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />

Geschäftsführung Jörn Sturm<br />

Redaktion Birgit Müller (bim; Chefredakteurin, V.i.S.d.P.),<br />

Annette Woywode (abi; Stellv., CvD), Jonas Füllner (jof),<br />

Lukas Gilbert (lg), Jochen Harberg (joc), Ulrich Jonas (ujo),<br />

Benjamin Laufer (bela), Misha Leuschen (leu), Annabel Trautwein (atw)<br />

Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />

Korrektorat Kerstin Weber, Kristine Buchholz<br />

Redaktionsassistenz Cedric Horbach,<br />

Marina Schünemann, Anja Steinfurth<br />

Artdirektion grafikdeerns.de<br />

Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />

Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />

Anzeigenvertretung Gerald Müller,<br />

Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, g.mueller@wahring.de<br />

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 24 vom 1. Januar 2019<br />

Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Sigi Pachan,<br />

Jürgen Jobsen, Meike Lehmann, Sergej Machov,<br />

Frank Nawatzki, Elena Pacuraru, Reiner Rümke, Marcel Stein,<br />

Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn<br />

Spendenmarketing Gabriele Koch<br />

Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />

Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel<br />

Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />

Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Chris Schlapp, Harald Buchinger<br />

Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />

Stefan Calin, Gheorghe-R zvan Marior, Pawel Marek Nowak<br />

Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />

Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger,<br />

Klaus Peterstorfer, Herbert Kosecki<br />

Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />

Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />

Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />

Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />

Umschlag-Druck Neef+Stumme premium printing GmbH & Co. KG<br />

QR Code ist ein eingetragenes Warenzeichen von Denso Wave Incorporated<br />

Spendenkonto Hinz&Kunzt<br />

IBAN: DE56 2005 0550 1280 1678 73<br />

BIC: HASPDEHHXXX<br />

Die Hinz&Kunzt gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />

Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />

des Finanzamts Hamburg-Nord, Steuernummer 17/414/00797, vom<br />

21.1.2019, für den letzten Veranlagungszeitraum 2017 nach § 5 Abs.1 Nr. 9<br />

des Körperschaftssteuergesetzes von der Körperschaftssteuer und nach<br />

§ 3 Nr. 6 des Gewerbesteuergesetzes von der Gewerbesteuer befreit.<br />

Geldspenden sind steuerlich nach §10 EStG abzugsfähig. Hinz&Kunzt ist als<br />

gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH im Handelsregister beim<br />

Amtsgericht Hamburg HRB 59669 eingetragen.<br />

Wir bestätigen, dass wir Spenden nur für die Arbeit von Hinz&Kunzt<br />

einsetzen. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte<br />

weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />

www.hinzundkunzt.de. Hinz&Kunzt ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />

obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />

Das Magazin wird von Journalist*innen geschrieben, Wohnungslose und<br />

ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter*innen<br />

unterstützen die Verkäufer*innen.<br />

Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />

Gesellschafter<br />

Durchschnittliche monatliche<br />

Druckauflage 3. Quartal <strong>2020</strong>:<br />

59.000 Exemplare<br />

57


Momentaufnahme<br />

HINZ&KUNZT N°<strong>333</strong>/NOVEMBER <strong>2020</strong><br />

Angie ist eine echte<br />

Kämpfernatur.<br />

Sie wird auch ihre<br />

Krebserkrankung<br />

besiegen. Da ist sie<br />

sich sicher.<br />

„Ich bin noch<br />

lange nicht fertig“<br />

Angie, 59, verkauft Hinz&Kunzt auf der Reeperbahn.<br />

TEXT: LUKAS GILBERT<br />

FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />

Angie ist tough. Eine Kämpferin. „Ganz<br />

egal wie oft ich auf die Fresse falle. Ich<br />

stehe wieder auf“, sagt sie. Nachdem<br />

vor zehn Jahren ein erster Tumor bei<br />

der heute 59-Jährigen entdeckt wurde,<br />

hat sie viel Zeit im Krankenhaus verbracht.<br />

Wegen mehrerer Schlaganfälle<br />

saß sie zwischenzeitlich im Rollstuhl.<br />

Aus dem hat sie sich wieder „rausgekämpft“,<br />

kann wieder laufen – wenn<br />

auch mit Gehhilfe. „Und auch den<br />

Krebs werde ich noch besiegen“, ist sich<br />

die „Ruhrpottschnauze“ sicher.<br />

Ihre Dortmunder Kindheit bei der<br />

Mutter, dem liebevollen Ersatzpapa<br />

und ihren zwei Geschwistern war gut,<br />

erzählt Angie. Nach dem Hauptschulabschluss<br />

machte sie eine Lehre zur Bürokauffrau.<br />

Weil sie sich im Büro „tödlich<br />

gelangweilt“ hat, holte Angie ihr<br />

Abi nach und begann anschließend eine<br />

zweite Lehre als Hotelkauffrau: „Ich<br />

wollte was mit Menschen machen.“<br />

Mit 19 Jahren lernte sie in einer Bar<br />

Richard kennen. Ein Ingenieur. „Er<br />

war die Liebe meines Lebens“, sagt sie.<br />

Die beiden bekamen vier Kinder, lebten<br />

ein glückliches Leben. Bis Richard<br />

eines Tages beim Mittagessen umkippte<br />

und starb. Ein unentdecktes Hirnaneurysma<br />

war geplatzt. Plötzlich war Angie<br />

alleinerziehende Mutter: „Zum Trauern<br />

hatte ich keine Zeit. Ich musste für<br />

meine Kinder da sein: funktionieren.“<br />

Noch eineinhalb Jahre lebte sie in<br />

der gemeinsamen Wohnung, dann hielt<br />

sie all die Erinnerungen an ihre Liebe<br />

nicht mehr aus. Angie fuhr Hals über<br />

Kopf mit ihren vier Kindern nach<br />

Hamburg. Die Stadt kannte sie von gemeinsamen<br />

Reisen mit Richard. Die<br />

ersten Monate lebte die junge Familie<br />

in einer Pension, später in einer Wohnung<br />

in Farmsen. Angie schuftete in<br />

Kneipen in St. Georg, ihre Kinder wurden<br />

älter, zogen schließlich aus: „Heute<br />

wohnen alle wieder in NRW. Haben<br />

Jobs, sind verheiratet – und ich habe<br />

acht Enkel“, sagt sie nicht ohne Stolz.<br />

Angie arbeitete weiter im Hamburger<br />

Nachtleben, auf der Reeperbahn.<br />

Im Camelot und in der Ritze etwa.<br />

Rückblickend sei das eine wunderbare<br />

Zeit gewesen. „Ich liebe den Kiez. Die<br />

Offenheit, auch das Milieu. Ich habe<br />

die Zeit genossen“, erinnert sie sich.<br />

„Aber dann hab ich mich leider in<br />

einen Alki verliebt.“ Irgendwann hielt<br />

sie seine ständigen Wutausbrüche und<br />

das Chaos, das er mit seinen Freunden<br />

in der gemeinsamen Wohnung hinterließ,<br />

nicht mehr aus und wählte „den<br />

Hardcore-Weg“ – sie zog aus. 2013 war<br />

das, arbeiten konnte sie da wegen ihrer<br />

Krebserkrankung schon nicht mehr.<br />

Seitdem lebt Angie in einem großen<br />

Zelt auf dem Grundstück eines ehemaligen<br />

Stammgastes. Richtig gemütlich<br />

eingerichtet sei sie da – inklusive Bett.<br />

„Auf dem Boden schlafen? Das könnte<br />

ich nicht.“ Und Hilfe vom Amt? Kommt<br />

für Angie nicht infrage. Sie will sich aus<br />

eigener Kraft wieder hochkämpfen. Dabei<br />

hilft ihr auch der Magazinverkauf.<br />

Nicht nur, weil sie sich so einigermaßen<br />

über Wasser halten kann – vor allem,<br />

weil sie so eine Beschäftigung und das<br />

Gefühl von Unabhängigkeit hat. Von<br />

einer Genossenschaft hat sie nun die<br />

Zusage für eine eigene Wohnung bekommen<br />

und hofft, noch in diesem Jahr<br />

einziehen zu können, Kräfte zu sammeln<br />

und wieder gesund zu werden:<br />

„Ich bin noch lange nicht fertig.“ •<br />

Kontakt: lukas.gilbert@hinzundkunzt.de<br />

Angie und die anderen Hinz&Künztler*innen<br />

erkennt man am Verkaufsausweis.<br />

5109<br />

58


KUNZT-<br />

KOLLEKTION<br />

BESTELLEN SIE DIESE UND WEITERE PRODUKTE BEI: Hinz&Kunzt gGmbH,<br />

www.hinzundkunzt.de/shop, shop@hinzundkunzt.de, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />

Tel. 32 10 83 11. Preise zzgl. Versandkostenpauschale 4 Euro, Ausland auf Anfrage.<br />

Schürze „KunztKüche“<br />

Lange, robuste und pflegeleichte Latzschürze,<br />

Baumwolle-Polyester-Mischgewebe<br />

(35 % Biobaumwolle, 65 % recyceltes<br />

Polyester aus Plastikmüll aus dem Meer).<br />

Farbe: Norddeutsch-Grau.<br />

Maschinenwäsche bis 90 Grad.<br />

Von Kaya & Kato GmbH,<br />

www.kaya-kato.de, Preis: 25 Euro<br />

Puzzle „Kontorhausschnecke“<br />

Fotograf: Vertriebsmitarbeiter Jürgen Jobsen.<br />

1000 Teile, hergestellt in Deutschland.<br />

Preis: 26,90 Euro<br />

Erfrischender Sommertee „Chillax"<br />

Bio-Kräutertee aus Griechenland: Bergtee vom<br />

Olymp* (40 %), Zitronenverbene* (40 %),<br />

Johanniskraut* (20 %), von Aroma Olymp,<br />

www.aroma-olymp.com. Von Hand geerntet<br />

in Griechenland, von den Elbe-Werkstätten<br />

in Hamburg verpackt, 25 g,<br />

Preis: 4,90 Euro<br />

*aus kontrolliert biologischer Landwirtschaft<br />

Niemand kennt<br />

Hamburgs<br />

Straßen besser<br />

Tasse „Ankerchen“<br />

Sondereditionen für Hinz&Kunzt von<br />

der Hamburger Firma AHOI MARIE.<br />

Mikrowellen- und spülmaschinentauglich.<br />

www.ahoi-marie.com<br />

Preis: 14,90 Euro<br />

Deutsche Winterreise<br />

Musikalisches Hörbuch<br />

Der Liederzyklus von Franz Schubert mit<br />

Originaltextfragmenten von Wilhelm Müller<br />

und Geschichten von Menschen im Abseits,<br />

bearbeitet von Stefan Weiller.<br />

Sprecher*innen: Brigitta Assheuer, Jens Harzer,<br />

Wolfram Koch, Helmut Krauss, Eva Mattes.<br />

Klavier: Hedayet Djeddikar.<br />

Spielzeit: 82 Minuten.<br />

Hörbuchverlag Speak Low, Berlin 2019.<br />

Preis: 14,90 Euro<br />

„Macht auch wach!“<br />

Hinz&Kunzt-Bio-Kaffeemischung,<br />

100 % Arabica gemahlen, 250-g-Beutel,<br />

oder Hinz&Kunzt-Bio-Espresso, italienische<br />

Mischung, kräftiger Geschmack,<br />

ungemahlen, 250-g-Beutel, exklusiv von<br />

der Kaffeerösterei Burg aus Hamburg.<br />

Preis: jeweils 5,95 Euro<br />

Mütze „Kopf hoch!“<br />

Mütze aus 100% Merinowolle.<br />

Farbe: Marineblau<br />

Hergestellt in Norddeutschland.<br />

Handwäsche empfohlen.<br />

Preis: 24,90 Euro


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