gletscherderschweiz_west
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Christoph Käsermann, Andreas Wipf
Gletscher der Schweiz
52 faszinierende Bergwanderungen
zu Eisströmen in den Kantonen Bern,
Wallis und Waadt
Spezialwanderführer
Inhaltsverzeichnis
Vorwort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Übersichtskarte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Aufbau und Gebrauch des Wanderführers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Faszination Gletscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Wanderungen
1 Stein- und Steinlimigletscher mit Steinsee, Sustenpassgebiet, BE . . . . . . . . 37
2 Triftgletscher, Gadmertal, BE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
3 Rhonegletscher, Furkagebiet, VS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
4 Unteraar-, Oberaar- und Bächligletscher, Grimselgebiet, BE/VS . . . . . . . . . . 57
5 Gauligletscher, Oberhasli, BE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
6 Unterer und Oberer Grindelwaldgletscher, Jungfrauregion, BE . . . . . . . . . . . 73
7 Grosser Aletsch-, Mittelaletsch- und Fieschergletscher, Aletschgebiet, VS . . . 81
8 Oberaletsch-, Driest- und Zenbächengletscher, Aletschgebiet, VS . . . . . . . . . 91
9 Lang-, Jegi- und Dischliggletscher, Lötschental, VS . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
10 Tschingel-, Wetterlücken-, Breithorn- und Schmadrigletscher,
Jungfrauregion, BE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
11 Blüemlisalp- und Gamchigletscher, Kanderfirn, Kandertal, BE . . . . . . . . . . . 109
12 Wildstrubel-, Steghorn- und Tälligletscher, Wildstrubelgebiet, BE/VS . . . . . . 115
13 Glacier de la Plaine Morte, Wildstrubelgebiet, BE/VS . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
14
Glacier de Tsanfleuron, Gl. des Diablerets, Gl. du Sex Rouge,
Diableretsgebiet, VD/VS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
15 Glacier d’Orny, Glacier du Trient, Val Ferret/Trientgebiet, VS . . . . . . . . . . . . 133
16 Glacier de Valsorey, Gl. de Tseudet und Gl. du Sonadon,
Grand Combin-Gebiet, VS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
17 Glacier de Corbassière, Glacier du Giétro, Val de Bagnes, VS . . . . . . . . . . . . 145
18 Glacier du Brenay, Gl. d’Otemma und Gl. du Mont Durand,
Val de Bagnes, VS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
19 Glacier de Cheilon, Glacier de Tsijiore Nouve, Glacier de Pièce,
Val d’Hérens, VS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
20 Glacier de Moiry, Val d’Anniviers/Eifischtal, VS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
21 Glacier de Zinal, Val d’Anniviers/Eifischtal VS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
22 Glacier de Moming, Gl. du Weisshorn, Turtmanngletscher,
Val d’Anniviers/Turtmanntal, VS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
23 Turtmann- und Brunegggletscher, Turtmanntal, VS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
24 Zmutt-, Howäng-, Matterhorn-, Trift- und Gabelhorngletscher, Zermatt, VS . . 192
25 Gornergletscher, Zermatt, VS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
26 Findel-, Längflue-, Mellich- und Weingartengletscher, Zermatt, VS . . . . . . . . 207
27 Riedgletscher, Mattertal, VS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
28 Fee-, Hohlaub-, Allalin- und Schwarzberggletscher, Saastal, VS . . . . . . . . . . 220
29 Chaltwassergletscher, Ghiacciaio d’Aurona, Simplongebiet, VS/I . . . . . . . . . . 227
30 Gries- und Hohsandgletscher, Ghiacciaio del Sabbione,
Nufenengebiet, VS/TI/I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
Quellennachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Vorwort
Die Gletscher gelangten durch den ausgesprochen raschen Schwund innerhalb der letzten zwanzig Jahre in den
Fokus von Politik (Klimawandel, Naturgefahren), Wirtschaft (Wasserkraftnutzung) und Tourismus. Gleichzeitig
fas ziniert die eisige Bergwelt aufgrund ihrer Schönheit und ihrer Unnahbarkeit. Früher wurden die vergletscherten
Regionen hingegen als gefährlich wahrgenommen und als Wohnsitz von Geistern und Dämonen gefürchtet.
Werden die wie erstarrt wirkenden Eisströme innerhalb weniger Jahre mehrmals besucht, nimmt man die erstaunlich
grossen Veränderungen der Hochgebirgslandschaft hautnah wahr: Wo noch vor wenigen Jahren eine län gere
Gletschertraverse bestand, ist seither ein kilometerlanger See entstanden, über Gletscher führende Hüttenzustiege
mussten wegen des Eisrückgangs und instabiler Moränen durch neugebaute Höhenwege ersetzt werden
oder statt einer Eishöhle nahe der Gletscherzunge wie noch vor zwei Jahren spriessen nun an derselben Stelle
im Schutt erste Pionierpflanzen. Eisflanken apern aus, braun-graue Felswände verdrängen die gleissenden Firne
und Eisfelder, vermehrter Steinschlag ist die Folge.
Die enge Verbundenheit mit den Gletschern der Schweizer Alpen bewog uns, die lang gehegte Idee eines Gletscherführers
mit abwechslungsreichen, gletscherspezifischen Wanderungen für Bergbegeisterte, Erholungssuchende
und Naturliebhaberinnen und -liebhaber in die Tat umzusetzen.
Das vorliegende Buch möchte die Lesenden für solche rasch ablaufenden, gut sichtbaren Veränderungen sensibilisieren,
denn der fortschreitende Gletscherschwund macht den aktuellen Klimawandel für alle erleb- und
nachvollziehbar.
Trotz des Abschmelzens sind die Schweizer Gletscher und das umgebende Hochgebirge noch immer unvergleichlich
schön und faszinierend. Dieses Buch möchte deshalb mit zahlreichen gletscherspezifischen Informa tionen
und Wandervorschlägen ein breites Publikum dazu animieren, auf eine Entdeckungsreise in die atem beraubende
Gletscherwelt aufzubrechen. Total werden 52 Wanderungen in 30 Gletscherregionen in den Kantonen Bern,
Wallis und Waadt vorgestellt. Darunter finden sich sowohl einfache Familienwanderungen als auch anspruchsvollere
Gipfelbesteigungen, eisfreie Routen oder solche mit Gletscherquerungen, halb- bis zweitägige Wanderungen,
einsame oder beliebte Routen.
Nur wer die Einzigartigkeit und den Wert einer Landschaft erkennt, wird auch Sorge zu diesem kostbaren Gut
tragen. In diesem Sinn wünschen wir Ihnen, geschätzte Lesende, erlebnisreiche Abstecher zu den immer noch
spektakulären Eisströmen und dass es Ihnen beim Anblick der eiskalten Gestalten warm ums Herz wird.
Dank
Viele Personen haben zum Gelingen dieses Wanderführers beigetragen. Die beiden Autoren bedanken sich
herzlich bei:
• der Familie Käsermann, Anna Leonowicz und allen Personen im direkten Umfeld der Autoren, welche die oft
langen Abwesenheiten – sei es im Gelände oder am Computer – erduldet haben und durch ihr Verständnis und
ihre Unterstützung dieses Buch erst ermöglicht haben.
• Men Haupt und Geraldine Blatter sowie dem gesamten Team des ott/hep verlags für die sehr gute Zusammenarbeit
und das grosse Engagement bei der Unterstützung und Herausgabe dieses Buches.
• Prof. Dr. Max Maisch, Geografisches Institut Universität Zürich – GIUZ, für die kritische Durchsicht des Gletscherkapitels,
die wertvollen Anregungen sowie das Zur-Verfügung-Stellen von Abbildungsvorlagen.
• Dr. Frank Paul, GIUZ und Livia Hollenstein, Institut für Kartografie der ETH Zürich – IKA, für die Gletscherinventardaten
sowie Dr. Andreas Bauder, VAW ETH Zürich, für die Gletschervermessungsdaten.
• Dr. Hanspeter Holzhauser und Dr. Stefan Bader, MeteoSchweiz, für etliche Grafikvorlagen im Gletscherkapitel.
• Dr. René Sieber, IKA, für die Kartengrundlage zur Wander-Übersichtskarte.
• Prof. Dr. Heinz J. Zumbühl und Dr. Samuel Nussbaumer für die historischen Gletscheraufnahmen.
• Felix Hauser für die beiden digitalen Vorlagen aus dem Hydrologischen Atlas der Schweiz.
• Barbara Iseli, Anna Leonowicz, Bettina Villiger, Daniel Regenass, Erich Suter, Leonhard Blank, Markus Anken,
Albert Käsermann und Heinz Wäspi für die Begleitung auf verschiedenen Rekognoszierungstouren.
• den zahlreichen Bildautoren, welche Fotos zur Verfügung gestellt und die Abdruckrechte gewährt haben:
Marcel Baer, Isabelle Balleys, Leonhard Blank, Hansruedi Burgener, Franziska Feller, Andreas Gygax, Christian
Hadorn, dem Gletschergarten Luzern, Eric Kalt, Fabian Meyer, Etienne Michaud, Adi Möhl, Ueli Raz, Ronny
Rostock, Urs Schiebner und Marcy Stader.
• allen weiteren Personen und Institutionen, die dieses Buchprojekt in irgendeiner Form unterstützt haben.
Vorwort 7
30 ausgewählte Gletscherregionen in den Berner, Walliser und Waadtländer Alpen mit 52 Wanderungen zu Gletschern
21 Glacier de Zinal
22 Gl. de Moming, Gl. du Weisshorn
23 Turtmann- und Brunegggletscher
24 Zmutt-, Matterhorn-, Trift- und Gabelhorngletscher
25 Gornergletscher
26 Findel-, Längfluh- und Mellichgletscher
27 Riedgletscher
28 Fee-, Hohlaub-, Allalin- und Schwarzberggletscher
29 Chaltwassergletscher, Ghiacciaio del Aurona
30 Gries- und Hohsandgletscher/Ghiacciaio del Sabbione
11 Blüemlisalp- und Gamchigletscher, Kanderfirn
12 Wildstrubel-, Steghorn- und Tälligletscher
13 Glacier de la Plaine Morte
14 Gl. de Tsanfleuron, Gl. des Diablerets, Gl. du Sex Rouge
15 Gl. d‘Orny, Gl. du Trient und Gl. de Saleina
16 Gl. de Valsorey, Gl. de Tseudet, Gl. du Sonadon
17 Gl. de Corbassière, Gl. du Giétro
18 Gl. du Brenay, Gl. d‘Otemma, Gl. du Mont Durand
19 Gl. de Cheilon, Gl. de Tsijiore Nouve, Gl. de Pièce
20 Gl. de Moiry
1 Stein- und Steinlimigletscher
2 Triftgletscher
3 Rhonegletscher
4 Unteraar-, Oberaar- und Bächligletscher
5 Gauligletscher
6 Unterer und Oberer Grindelwaldgletscher
7 Grosser Aletsch-, Mittelaletsch- und Fieschergletscher
8 Oberaletsch-, Driest- und Zenbächengletscher
9 Lang-, Jegi- und Dischliggletscher
10 Tschingel-, Breithorn- und Schmadrigletscher
8 Vorwort
Glarus
Luzern
Chur
Davos
Scuol
1
Ilanz
Engelberg
2
Splügen
St. Moritz
Interlaken Andermatt
5
6
4 3 Airolo
10
9
30
8
7
11
12
Bern
Lausanne
Gstaad
13
14
Visp
Maggia
29
27
Bellinzona
28
26
25
23
20 22
19 21
18
24
Sion
Genève
Martigny
15 17
16
0 50 km
Aufbau und Gebrauch des Wanderführers
Der Gletscherwanderführer ist in 30 Gletschergruppen in den Kantonen Bern, Wallis und Waadt aufgeteilt. Die
Gletschergruppen bilden meist einen zusammenhängenden Komplex aus einem bis mehreren kleineren und
grösseren Gletschern. Darunter sind bekannte Gletscher wie Grosser Aletschgletscher oder Rhonegletscher, aber
auch unbekanntere wie Ried-, Chaltwassergletscher oder Glacier d’Orny. Jede Gletschergruppe wird auf einer
separaten Gletscherinformationsseite mit ihren Charakteristiken, einem Übersichtsfoto und Kenngrössen zur
Gletschergeschichte seit 1850 präsentiert.
Eine bis maximal drei Wanderungen führen zu den Highlights der jeweiligen Gletschergruppe. Die meisten
Wanderungen sind mit einer gewissen Grundkondition für alle Interessierten gut machbar. Nur wenige Touren
verlangen höhere Anforderungen und eine spezielle Ausrüstung, darunter auch leichte Hochtouren wie z. B. auf
die Pigne d’Arolla (W 19.2). Die Anforderungen werden jeweils auf einer Wanderinformationsseite angegeben.
Zudem werden dort alle Routen pro Gletschergruppe mit Profilen und Übersichtskarte kurz vor gestellt.
Die Wanderbeschreibungen zielen nicht nur auf eine kurze Übersicht zur Route ab, sondern bieten neben der
Landschafts- und Gletscherbeschreibung zahlreiche kleinere Exkurse zu Natur, Landschaft und Kultur, illustriert
mit fünf bis acht Bildern pro Gebiet. Eine kurze, prägnante Charakterisierung der entsprechenden Wanderung
wird der Beschreibung stets vorangestellt.
Alle Informationen wurden – Stand Sommer 2010 – sorgfältig zusammengetragen.
Gletscherinformationsseite
Als Besonderheit in diesem Wanderführer werden bei jeder Gletschergruppe ein bis vier Gletscher mit Text,
Panoramabild, Übersichtskarte mit eingezeichneten Gletscherumrissen von 1850, 1973 und 2000 sowie einer
Tabelle mit zahlreichen Detailangaben kurz vorgestellt. Diese Informationen erlauben einen vertieften Einblick
in die von den Wanderungen tangierten Gletscher und geben auch einen kurzen Überblick über ihre
Be sonderheiten und ihre Gletschergeschichte, die meist an den verschiedenen Moränenständen ablesbar ist.
Gletscherkärtchen Die Gletscherkärtchen im einheitlichen Massstab von 1:200 000 geben die Umrisse der
Gletscherausdehnung um 2000 in blau, diejenigen des Schwundes seit 1973 in rot sowie jene des Schwundes
zwischen 1850 und 1973 in gelb an. In grau sind die umliegenden Gletscherflächen angedeutet (Quelle:
Schweiz. Gletscherinventar). Insbesondere bei kleinen Gletscherflecken wurde jedoch z. T. keine Rekonstruktion
der 2000er-Ausdehnung durchgeführt. Auf diesen Kärtchen sieht man eindrücklich den Rückgang
der Gletscher seit dem letzten Hochstand um 1850, aber auch innerhalb der letzten Jahrzehnte. Durch die
Verwendung desselben Massstabs sind zudem alle Gletschergruppen unter einander vergleichbar.
Im Kärtchen sind oft mehrere Gletscher abgebildet, wobei die bekanntesten mit einer Nummer gekennzeichnet
sind und in einer zugehörigen Tabelle mit Kennzahlen aufgelistet werden. Zudem werden bekannte
Gipfel in der Umgebung (Dreiecke) mit ihrer Höhe sowie die höchsten und tiefsten Punkte der Gletscher
(Quadrate bzw. Kreise) ausgewiesen. Die Zungenhöhe hat sich seit dem Jahr 2000 bereits wieder und teils
massiv verändert. Bis auf Ausnahmen wie dem Trift-, Ried- oder Gauligletscher wurden aufgrund fehlender
systematischer Aufnahmen der Gletscherumrisse trotzdem die Werte von 2000 verwendet. Durch die rasche
Veränderung zeigen auch die neuesten Landeskarten oder die im Internet bereitgestellten Luftbilder (z. B.
von Google Earth, den Geoportalen des Bundes und von swisstopo oder das Inventar der historischen Verkehrswege
der Schweiz) meist nicht den aktuellsten Zustand.
Gletschertabellen Die Tabellen auf der Gletscherinformationsseite enthalten zahlreiche gletscherspezifische
Angaben, meist zu einem bis vier Gletschern im Bereich der Wanderungen. Die Nummern beziehen sich auf
die Lage im benachbarten Gletscherkärtchen. In der Tabelle werden unter anderem Gletschertyp (S. 17),
Angaben zur Länge 1850, 1973 und 2009 sowie jeweils der prozentuale Anteil an der Gletscherlänge von
1850 (letzter Hochstand) angegeben. Zudem ist der summierte Schwund bis 2009 in Kilometer aufgeführt.
Bei der Fläche sind es absolute Werte zu 1850, 1973 und 2000 in Quadratkilometer und in Prozent von 1850
sowie zur Schuttbedeckung um 2000.
Es kommt oft vor, dass sich der ursprüngliche Gletscher (Hochstand 1850, sogenannter Totalgletscher)
wegen des Gletscherschwundes in mehrere Teile aufgespaltet hat (sogenannte Teilgletscher), wie z. B. beim
9
Schnelle Wetterwechsel bergen grosse Gefahren
im Gebirge – Wegweiser unter der Cabane
de Valsorey CAS nach einem Kaltlufteinbruch mit
Nebel im Oktober (W 16).
Weg nicht verlassen! Da gesichert und gespurt,
wird das Trassee vom Jungfraujoch zur
Mönchsjochhütte trotz der hochalpinen
Gletscherquerung als T2 eingestuft (W 7.3).
Grossen Aletschgletscher: Um 1850 floss er noch mit dem Mittelaletschgletscher zusammen, heute sind
beide voneinander getrennt (S. 81).
In der Tabelle werden darum für den Flächenwert 2000 zwei Werte, einen für den Totalgletscher (das heisst
die Summe aller Teilgletscher; zur Vergleichbarkeit mit den anderen Zeitständen) und einen für die effek tive
Gletschergrösse des heutigen Teilgletschers aufgelistet. In der Literatur wird jeweils nur der Flächenwert
des aufsummierten Totalgletschers erwähnt. Die Angaben zum tiefsten Gletscherpunkt sind, soweit bekannt,
aktuell, sonst gemäss der neuesten Karte. Die Höhe der Gleichgewichtslinie 1973 (GWL; S. 18) rundet
die Informationen ab. Die Daten wurden aus dem Schweizer Gletscher inventar und dem Schweizerischen
Gletscherbeobachtungsnetz zusammengetragen und ergänzt.
Wanderinformationsseite
Route Die eine bis drei vorgestellten Wanderungen einer Gletschergruppe werden kurz mit Ausgangs-, Endpunkt
und wichtigen Zwischenpunkten, der Gesamtwanderzeit und der Schwierigkeitseinstufung charakterisiert
(T1–T4 respektive L–WS, s. Wander- und Hochtourenskala des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) weiter
unten).
Anforderungen Zur objektiven Einschätzung der Schwierigkeiten wurden alle Wanderungen und Varianten
nach der Schwierigkeitsskala für Wanderungen des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) respektive der Schweizer
Wanderwege eingestuft (Tab. S. 13). Dabei gilt für die gesamte Wanderung immer die Einstufung der
schwierigsten Stelle. Eine Route gilt also z. B. auch dann als T4, wenn auf mehreren Wanderstunden nur
10 Aufbau und Gebrauch des Wanderführers
zehn Minuten dieser Einstufung entsprechen. Die Einstufung gilt bei guten Verhältnissen. Bei Nässe, Nebel,
Schnee etc. können besonders hochgelegene oder ausgesetzte Wanderungen rasch wesentlich anspruchsvoller
werden. Gletschertraversen werden grundsätzlich mindestens als T4 respektive als Alpinwanderweg
eingestuft, auch wenn sie einfach zu begehen sind. Im vorliegenden Führer wurde in wenigen Fällen (z. B.
bezüglich der gespurten und abgesteckten Traversen zur Mönchsjochhütte und über den Glacier de Tsanfleuron
sowie der Begehung des schuttbedeckten und in diesem Bereich spaltenlosen Unteraargletschers)
eine tiefere Einstufung vorgenommen (T2 resp. T3). Schneebedeckte Gletscher dürfen hingegen wegen der
Spaltengefahr grundsätzlich nur angeseilt betreten werden. Nach Regenfällen kann die Gletscheroberfläche
sehr rutschig sein, dann sind auch auf den einfachen Routen in diesem Führer im Einzelfall möglicherweise
Steigeisen notwendig.
Es folgen kurze Erläuterungen zu einigen Besonderheiten der Wanderung, z. B. zu Gletschertraversen, gesicherten
Wegpassagen, Ausgesetztheit oder notwendigen Voraussetzungen wie Trittsicherheit oder Schwindelfreiheit.
Alle beschriebenen Wanderungen sind, falls im Text nicht anders vermerkt, markiert.
Im Gebirge können sich Schwierigkeiten rasch ändern, so sind der Wegzustand und insbesondere die Begehbarkeit
von Moränen und die Lage der Gletscherzungen Veränderungen unterworfen. Vielfach lohnt es sich
deshalb, vorgängig in der SAC-Hütte oder beim Tourismusbüro Erkundigungen über den Zustand der Bergund
Alpinwanderwege oder der Gletscherquerungen einzuholen.
Ausgangs-/Endpunkt Der Ausgangs- und Endpunkt der Wanderungen und manchmal der Varianten werden
genannt, ebenso die Art der Anfahrt mit dem öffentlichen Verkehr (ÖV). Haben mehrere Wanderungen einer
Gletschergruppe denselben Ausgangs- oder Endpunkt, werden sie zusammengefasst.
Restaurant/Unterkunft Alle Restaurants und/oder Unterkunftsmöglichkeiten entlang der Wanderrouten werden
meist als Stichwort in der Beschreibung zur Wanderung, seltener zusammenfassend, aufgelistet. Aus
Aktualitätsgründen wurde im Text auf weitere Angaben verzichtet, zusätzliche Informationen wie auch
Telefonnummern und Mailadressen finden sich jeweils beim zuständigen Fremdenverkehrs- oder Tourismusbüro,
im Internet meist unter dem Namen der Unterkunft/des Restaurants sowie bei SAC-Hütten unter
www.sac-cas.ch.
Karten Angabe der digitalen Swiss Map 25 sowie der gedruckten Landeskartenblätter mit Nummern und Namen,
welche von der Wanderroute oder den Varianten tangiert werden (Karte(n) 1:25 000 von swisstopo,
Bundesamt für Landestopografie).
Gipfelziele/Übergänge Damit neben den beschriebenen Wandermöglichkeiten auch Gipfelziele oder Passübergänge
nicht fehlen, wird eine Auswahl innerhalb der Gletschergruppe mit ihren zu erwartenden Schwierigkeiten
genannt. Dabei kommt für Berg- und Alpinwanderwege wieder die SAC-Wanderskala zum Zuge, für
Gletscherbegehungen wird hingegen die Hochtourenskala (L-EX) des SAC verwendet. Es wurden allerdings
nur einfache Touren bis maximal WS aufgenommen. Detailliertere Informationen zu diesen Touren finden
sich in den entsprechenden SAC-Führern.
Lebensräume Nennung der wichtigsten Lebensräume und Vegeta tionstypen (Verbände), die entlang der Wanderroute
anzutreffen sind. Die Liste ist nicht vollständig, ermöglicht jedoch eine Vorstellung der durchwanderten
Habitate. Umfassende Vegetationsbeschreibungen finden sich in Delarze R. & Y. Gonseth (2008):
Lebensräume der Schweiz oder in den Naturführern von Käsermann Pflanzenwelt der Jungfrauregion, Pflanzenwelt
von Zermatt, die sich auch auf die restlichen in diesem Gletscherwanderführer tangierten Gebiete
in den westlichen Nordalpen bzw. im Wallis übertragen lassen.
Hinweis Hier folgen weitere spezifische Angaben z. B. zu Lehrpfaden oder anderen interessanten Aspekten.
Übersichtskarte Als Grundlage dienen die aktuellsten digitalen Pixelkarten von swisstopo im Massstab
1:100 000. Die Übersichtskarte im Massstab 1:80 000 oder 1:100 000 zeigt in rot, gelb und lila und mit
Nummern versehen den beschriebenen Routenverlauf sowie in grün mögliche Varianten, welche am Schluss
der Wanderung unter der entsprechenden Nummer kurz charakterisiert werden. Auf der Karte sind zudem in
blau die Gletscherflächen und -umrisse des Jahres 2000 sowie, schwach braun hinterlegt, die Hochstandsausdehnung
von 1850 (Quelle: Schweizer Gletscherinventar) zu erkennen. Dadurch lassen sich die Angaben
aus der Gletscherinformation und der Routenbeschreibung besser lokalisieren und der Gletscherschwund
seit 1850 wird visualisiert.
Profil Das Höhenprofil zeigt die Routen in dreifacher Überhöhung, die Topografie wird so leichter erfassbar.
Das Profil enthält detaillierte, aufsummierte Angaben zu Wanderzeit, Distanz und Höhenmeter sowie die
Aufbau und Gebrauch des Wanderführers 11
Höhenlage der Wanderrouten. Zudem benennt das Profil wichtige Zwischenstationen und gibt mit einem
Häuschensymbol Restaurants und Unterkünfte an. Bei zweitägigen Wanderungen ist der Übernachtungsort
mit einer roten Linie markiert. Gletschertraversen sind im Profil blau dargestellt. Durch den identischen
Massstab und die stets selben Höhenabstände sind die Profile im Buch direkt miteinander vergleichbar. Alle
Zeiten sind als reine Wanderzeiten ohne Pausen zu verstehen. Die Angaben wurden alle mit der Wanderzeitberechnung
der Swiss Map 25 von swisstopo bestimmt. Manche der beschriebenen Routen sind sehr lang,
viele können jedoch problemlos nur auf Teilstrecken begangen, abgekürzt oder auf zwei Tage aufgeteilt
werden.
Angaben wie links oder rechts werden meist vermieden, treten sie trotzdem auf, sind sie bei Gewässern und
Gletschern stets in Fliessrichtung (orografisch) gemeint. Ansonsten gelten die Angaben in Richtung der Beschreibung
des Wegs, also in Fortbewegungsrichtung.
Die Auswahl der Wanderungen erfolgte subjektiv aufgrund der Erfahrungen und Präferenzen der Autoren. Sie
umfassen landschaftlich und naturkundlich interessante Routen im Bereich der beschriebenen Gletschergruppen.
Nach Möglichkeit wurden auch Routen etwas abseits des grossen Rummels von bekannten Ferienorten bzw.
ausgetretener Wandergebiete berücksichtigt. Aufstiegshilfen wie Seilbahnen werden jedoch in Anspruch genommen.
Bis auf wenige Ausnahmen (z. B. 12.2, 19.2, 27.2, 29.2 und 30.2) sind die Wanderungen für alle durchschnittlich
trittsicheren Bergwandernden problemlos begehbar. Einzelne Stellen können erhöhte Aufmerksamkeit
oder Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erfordern. Alle Touren sind als Ein- oder Zweitageswanderungen
beschrieben.
Eine vorherige Reservierung der Übernachtung in den Talorten oder beliebten Berghütten ist besonders in der
Hauptsaison unerlässlich.
Blaue Wegweiser kennzeichnen normalerweise Alpinwanderwege und -routen mit Schwierigkeiten ab T4, oft
auch markierte Gletschertraversen wie hier über den Gornergletscher zur Monte-Rosa-Hütte (W 25).
12 Aufbau und Gebrauch des Wanderführers
Schwierigkeitsskala Wandern des SAC (T1 bis T6)
Die nachfolgende, leicht angepasste Skala der Schwierigkeitsbewertung für Berg- und Alpinwanderwege stammt
vom Schweizer Alpenclub SAC. Quelle: http://www.sac-cas.ch/uploads/media/SAC_Wanderskala.pdf
Wanderweg-Kategorie Grad Weg/Gelände Anforderungen
Wanderweg T1 Wandern Weg gut gebahnt. Falls nach SWW-Normen
markiert: gelb. Gelände flach oder leicht
geneigt, keine Absturzgefahr.
Bergwanderweg T2 Bergwandern Weg mit durchgehendem Trassee. Falls
SWW-konform markiert: weiss-rot-weiss.
Gelände teilweise steil, Absturzgefahr nicht
ausgeschlossen.
Bergwanderweg
T3 anspruchsvolles
Bergwandern
Weg am Boden nicht unbedingt durchgehend
sichtbar. Ausgesetzte Stellen können mit
Seilen oder Ketten gesichert sein. Eventuell
braucht man die Hände fürs Gleichgewicht.
Falls markiert: weiss-rot-weiss. Zum Teil
exponierte Stellen mit Absturzgefahr,
Geröllflächen, weglose Schrofen.
Alpinwanderweg T4 Alpinwandern Wegspur nicht zwingend vorhanden. An
gewissen Stellen braucht es die Hände zum
Vorwärtskommen. Falls markiert:
weiss-blau-weiss (ältere Markierungen oft
noch weiss-rot-weiss). Gelände bereits recht
exponiert, heikle Grashalden, Schrofen,
einfache Firnfelder und schneefreie
Gletscherpassagen.
T5 anspruchsvolles
Alpinwandern
T6 schwieriges
Alpinwandern
Oft weglos. Einzelne einfache Kletterstellen.
Falls Route markiert: weiss-blau-weiss.
Exponiert, anspruchsvolles Gelände, steile
Schrofen. Gletscher und Firnfelder mit
Ausrutschgefahr.
Meist weglos. Kletterstellen bis II. Meist nicht
markiert. Häufig sehr exponiert. Heikles
Schrofengelände. Gletscher mit erhöhter
Ausrutschgefahr.
Keine, auch mit Turnschuhen geeignet.
Orientierung problemlos, in der Regel auch
ohne Karte möglich
Etwas Trittsicherheit. Trekkingschuhe sind
empfehlenswert. Elementares Orientierungsvermögen
und Kartenmaterial notwendig
(z. B. W 7.1 und W 18).
Gute Trittsicherheit. Gute Trekkingschuhe.
Durchschnittliches Orientierungsvermögen
notwendig. Elementare alpine Erfahrung
(z. B. W 4.1 und W 26.1).
Vertrautheit mit exponiertem Gelände.
Stabile Trekkingschuhe oder leichte
Bergschuhe. Gute Geländebeurteilung,
Orientierungsvermögen und alpine Erfahrung
notwendig. Bei Wettersturz kann ein
Rückzug schwierig werden (z. B. W 13.1,
W 20.2 und W 25).
Bergschuhe. Sichere Geländebeurteilung und
sehr gutes Orientierungsvermögen ebenso
notwendig wie Alpinerfahrung in
hochalpinen und exponiertem Gelände.
Elementare Kenntnisse im Umgang mit
Pickel und Seil (z. B. W 27.2).
Ausgezeichnetes Orientierungsvermögen und
ausgereifte Alpinerfahrung mit Vertrautheit
im Umgang mit alpintechnischen
Hilfs mitteln erforderlich. In diesem Führer
sind keine Touren dieser Kategorie
enthalten.
Interpretationshilfe SAC: Unter «bewanderbaren» Gletschern versteht die obige Wanderskala folgendes: Gletscher
und Firnfelder, die im Sommer bei normalen Verhältnissen soweit ausapern, dass allfällige Spalten gut
erkennbar sind und ohne Spaltensturzgefahr umgangen werden können. Dies entspricht im Hochsommer der
Realität auf verschiedenen Hüttenwegen, im Wanderführer z. B. Bordierhütte, Cab. du Trient oder Gletscherpassagen
wie Britanniahütte – Schwarzbergkopf. Es versteht sich von selbst, dass auf solchen Touren bei
ungünstigen Verhältnissen eine elementare Ausrüstung (Anseilmaterial, Steigeisen) und Kenntnisse über
deren Anwendung erforderlich sein können.
Ein ernstes und immer wieder zu heiklen Situationen führendes Missverständnis ist die Annahme, dass
Wandern dort aufhört, wo die Hochtourenskala einsetzt (L, WS, ZS etc.). In Wirklichkeit ist eine Alpinwanderung
im oberen Schwierigkeitsbereich (T5, T6) – im Buch nur Gross Bigerhorn (W 27.2) mit T5 – in aller
Regel bedeutend anspruchsvoller als beispielsweise eine Hochtour mit der Bewertung L. Ein wesentlicher
Unterschied zur leichten Hochtour liegt darin, dass auf einer T5- oder T6-Route (früher BG) selten bis nie
mit Seil oder sonstigen Hilfsmitteln gesichert werden kann und deshalb das entsprechende Gelände absolut
beherrscht werden muss, was ein hohes technisches wie auch psychisches Niveau erfordert. Typische
Beispiele dazu sind extrem steile Grashänge, wegloses Schrofengelände mit schlechtem Fels oder sehr
exponierte Gratpassagen. Aufgrund der unterschiedlichen Merkmale einer typischen Hochtour und einer
typischen «Extremwanderung» lässt sich ein Vergleich kaum anstellen, doch kann man davon ausgehen,
dass eine T6-Route vergleichbare Anforderungen stellt wie eine Hochtour im Bereich von WS bis ZS.
Aufbau und Gebrauch des Wanderführers 13
Schwierigkeitsskala Hochtouren des SAC (von L bis EX, im Buch nur bis WS)
Kombinierte Touren im Hochgebirge sind fast nie markiert, erfordern gute Kenntnisse in der Seil- und Sicherungstechnik
und sind in besonderem Masse von den Witterungs- und Sichtverhältnissen abhängig. Kletterstellen
werden in schweren Bergschuhen, manchmal mit Steigeisen, überwunden.
Grad Anforderung Beispieltouren
L = Leicht
WS = Wenig
schwierig
Niedrigste Bewertung für Gletscher; einfache Firnhänge, kaum Spalten; das Gehen am Seil
und mit Steigeisen muss beherrscht werden.
Die Routenwahl ist leicht und der erfahrene Amateur kann die Anforderungen an die
Führungstechnik meistern; in der Regel wenig steile Hänge, allerdings mit kurzen steileren
Passagen, wenig Spalten; bei einem Wettersturz ist ein Rückzug möglich. Die Festigkeit
von Schneebrücken über Spalten muss beurteilt werden können.
Blinnenhorn Normalroute
(W 30.2)
Hangendgletscherhorn
(W 5, V 4)
Zweitägige Touren mit Übernachtung in den SAC-Hütten bieten oft auch grandiose Abend- und
Morgenstimmungen wie hier von der Schönbielhütte (W 24).
14 Aufbau und Gebrauch des Wanderführers
Faszination Gletscher
Stellt man sich eine attraktive Berglandschaft vor, so dürfen Schnee und Eis keineswegs fehlen. Die Gletscher
spielen in der Wahrnehmung einer intakten Hochgebirgslandschaft eine bedeutende Rolle. Kaum jemand kann
sich dem Bann der gleissenden oder tiefblauen Eismassen entziehen. Insbesondere die grossen Talgletscher als
weit verzweigte und oft spaltenreiche Eisströme sind – wie Edelweiss oder Enzian – für viele Leute zentrale
Sym bole der Alpen.
Arktisches Ambiente am Grossen Aletschgletscher mit Mönch und Trugberg
Dies war aber nicht immer so: Noch bis ins 18. Jahrhundert wurden vergletscherte Regionen möglichst gemieden,
als furchtbare Gegenden bezeichnet und als Handels- und Transporthindernisse wahrgenommen. Allerdings
sind die Alpenpässe schon früh, etwa in der Bronze- und Römerzeit, gelegentlich als Verbindungswege für den
lokalen Handel und auch vereinzelt von Jägern begangen worden. Das negative Bild des Hochgebirges mit den
furchterregenden Gletschern änderte sich erst mit romantischen Beschreibungen, wie im Gedicht Die Alpen von
Albrecht von Haller (1729), mit dem Interesse der Wissenschaft und ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
dem Einfluss der Bilder verschiedener Alpenmaler. Letztere hoben die Schönheit der vergletscherten Regionen
heraus und weckten so die Neugier am Hochgebirge.
Neben der Faszination und Ästhetik haben die Gletscher eine wichtige Bedeutung für den natürlichen Wasserkreislauf,
indem sie in warmen und trockenen Perioden vermehrt Schmelzwasser liefern und umgekehrt
Niederschlag (Schnee) zurückhalten, ja sogar längere Zeit speichern können. Seit Jahrhunderten bildet das
Schmelzwasser der Gletscher besonders in den trockenen Regionen des Wallis die wichtigste Quelle, um die
Felder zu bewässern. Spektakuläre Wasserleitungen, sogenannte Suonen oder französisch «bisses», zeugen von
der Bedeutung des Gletscherwassers als Lebensspender (Glacier du Trient W 15.2, Grosser Aletschgletscher W 7.1,
Riedgletscher W 27.1). Daneben wurde noch bis ins 20. Jahrhundert hinein an gut zugänglichen Gletschern Eis
zu Kühlzwecken abgebaut und teils sogar ins Ausland exportiert (z. B. am Gl. de Saleina W 15.1, Gl. du Trient
W 15.2 oder an den Grindelwaldgletschern W 6).
15
Heute haben die Gletscher eine grosse wirtschaftliche Bedeutung für die Elektrizitätswirtschaft und den Tourismus.
Das kostbare Gletscherschmelzwasser wird oft zur Stromgewinnung und Energiespeicherung in Stauseen
gespeichert, vielfach sind dafür attraktive und ökologisch wertvolle alpine Landschaften stark beeinträchtigt
oder Gletschervorfelder gar zerstört worden.
Die Gletscher ziehen im Sommer viele Besucherinnen und Besucher an und Tourismusregionen mit erschlossenen
Gletschergebieten profitieren von einem früheren Saisonstart im Winter (Schneesicherheit) oder gar vom Angebot
des Sommerskifahrens (z. B. Zermatt, Saas Fee).
Die Gletscher dienen auch zu Forschungszwecken, u. a. für den Nachweis von Klimaveränderungen: Im Gletschereis
sind Informationen über Hunderttausende von Jahren eingeschlossen (z. B. in den Eisbohrkernen von Grönland
und der Antarktis). Analysen erlauben es, Aussagen über die einstige Luftzusammensetzung (z. B. Kohlendioxid-
und Methan-Gehalt) und damit über frühere Klimazustände zu machen. Zudem liefern sie wichtige
Grundlagen zum Verständnis künftiger Klimaentwicklungen. Durch die über 150-jährige Tradition der Gletscherforschung
in der Schweiz besteht heute ein grosses Wissen über diverse Gletscherprozesse.
Schmelzwasserwanne und sichtbare Firnschichtung auf dem Gornergletscher (links), herbstlicher Aletschwald
vor dem Grossen Aletschgletscher mit den beiden charakteristischen Mittelmoränen (rechts)
Was wären die Alpen ohne ihre Wahrzeichen Gletscher? Diese Frage erscheint nicht unbegründet, haben doch
die Gletscher der Schweiz in den letzten 160 Jahren über 40% ihrer Fläche und etwa 50% ihres Volumens verloren
und die Entwicklung hält an. Zwar bieten viele Gletscher noch immer einen imposanten Anblick, andere
hingegen sind stark mit Schutt bedeckt oder fristen nur noch ein kümmerliches Dasein. Viele kleinere Eisflächen
dürften in den nächsten Jahrzehnten ganz verschwinden.
Aus Schnee wird Eis – Gletscherentstehung
Damit sich überhaupt ein Gletscher bilden kann, muss in einer dafür geeigneten Muldenlage im Hochgebirge
über Jahre/Jahrzehnte hinweg mehr Schnee fallen als wegschmilzt.
Aus dem Neuschnee entsteht infolge tageszeitlicher Temperatur- und Feuchtigkeitswechsel (Schmelzvorgänge)
und durch die Last überlagernder Schichten zuerst Firn (wenn der Schnee mind. ein Jahr überdauert) und mit der
Zeit Gletschereis. Dabei nimmt das Porenvolumen (die Lufteinschlüsse) ständig ab, die Dichte hingegen gleichzeitig
zu: Während Neuschnee noch Dichten von 50 bis 100 kg/m 3 aufweist, sind es bei Gletschereis rund 900 kg/m 3
(Wasser: 1000 kg/m 3 ). Diese Umwandlung dauert bei Alpengletschern einige Jahre bis wenige Jahrzehnte.
Gletschereis findet man heute in den Schweizer Alpen in einem Höhenintervall zwischen 1220 m ü. M. (Unterer
Grindelwaldgletscher) und dem höchsten Gipfel, der Dufourspitze (4634 m ü. M.). Meist reichen die Zungen von
Gletschern mit grossen, hochgelegenen Einzugsgebieten auch am tiefsten hinunter. In schützender Schattenlage
und oftmals nur durch Lawinen genährt, existieren aber auch kleine Firnflecken bereits in einer Höhenlage
von knapp unter 2000 m ü. M.
16 Faszination Gletscher
Ordnung in der Vielfalt – Gletschertypen
Die Gletscher der Schweiz können – gemäss den Vorgaben des Schweizer Gletscherinventars – in vier Haupttypen
eingeteilt werden. Dabei spielen insbesondere die Gletschergrösse sowie die Ausprägung ihrer Form die entscheidende
Rolle.
Talgletscher 1
Zu dieser Kategorie werden die flächengrössten Gletscher
zusammengefasst. Sie werden meist aus mehreren
Einzugsgebieten genährt und bilden eine deutliche
Zungenform aus, welche das Tal ausfüllt.
Beispiele: Grosser Aletschgletscher, Unteraargletscher,
Glacier de Corbassière.
1
Gebirgsgletscher 2
Diese Gletschertypen liegen häufig in einem oder
mehreren grösseren Karen und können eine beliebige
Form aufweisen. Sie bildeten um 1850 meist noch
eine ausgeprägte Zunge. Die Gliederung in ein Nährund
Zehrgebiet ist deutlich zu erkennen. Diese Kategorie
umfasst die meisten mittelgrossen Gletscher
mit Namen auf der Landeskarte. Beispiele: Tschingel-,
Wildstrubel-, Driest- und Zenbächengletscher, Glacier
de la Plaine Morte, Gl. de Moming, Gl. de Tsanfleuron.
2
Gletscherfleck 3
Diese oft kleinen Eisflächen haben eine beliebige
Form und meist keine typisch ausgeprägte Zunge.
Eine Unterscheidung in Nähr- und Zehrgebiet ist häufig
nicht klar zu erkennen und sie weisen nur eine geringe
Höhenerstreckung auf. Beispiele: Tälli-, Pipjiund
Milibachgletscher; kleinere Gletscherflecken tragen
oft keinen Namen.
3
Firnfleck 4
Diese kleinsten Eisflächen sind oft kaum mehr als
eigentliche Gletscher zu bezeichnen. Meist existieren
sie nur in Schatten- und Hangfusslagen. In diese Kategorie
eingeschlossen sind alle lawinengenährten
Eisfelder und auch grössere Wächten. Die Firnflecken
tragen in der Regel keine Namen. Beispiel: Tschingelgrat-S.
1 Findelgletscher mit mächtigen Ufermoränen
2 Hohbärggletscher am Dom im Mattertal
3 Hängegletscher mit Abbruchfront am Bishorn
4 Lawinengenährter Firnfleck am Hangfuss des
Tschingelgrats
4
Faszination Gletscher 17
Von den heute rund 2000 Gletschern in den Schweizer Alpen machen die Firnflecken in der Anzahl etwa die
Hälfte aus, gefolgt von den Gletscherflecken mit etwa einem Viertel, den Gebirgsgletschern mit etwa einem
Sechstel sowie den bekannten, das Bild prägenden Talgletschern mit einem Anteil von nur etwa zwei Prozent.
Betrachtet man hingegen den Flächenanteil, so zeigt sich ein umgekehrtes Bild: Die Talgletscher umfassen über
die Hälfte der gesamtschweizerischen Vergletscherung, bei den Gebirgsgletschern liegt der Anteil bei einem
Drittel, bei den Gletscherflecken nur bei einem Zehntel. Die grosse Mehrheit der Firnflecken spielt flächenmässig
eine komplett untergeordnete Rolle.
«Buchhaltung» – Nähr- und Zehrgebiet, Gleichgewichtslinie, Massenbilanz
Während eines (Gletscher-)Haushaltsjahres – 1. Oktober bis 30. September des Folgejahres – überwiegt im
Nährgebiet (oder Akkumulationsgebiet) des Gletschers der Massenzuwachs, während im Zehrgebiet (Ablationsgebiet)
gesamthaft mehr Masse verloren geht als hinzu kommt (hauptsächlich durch Abschmelzung). Bei hoch
gelegenen Hängegletschern wird der im Nährgebiet angesammelte Massenüberschuss durch Eisabbrüche an
der Front abgebaut. Reicht die Gletscherzunge in einen See und bricht dort ab, so spricht man von Kalben, also
vom Abstossen von Eispaketen, die dann aufschwimmen. Dies ist zurzeit am Rhone- und am Gauligletscher zu
bestaunen (W 3 und W 5). Die Wärme des Seewassers beschleunigt dabei das Abschmelzen der Eis zungen (Thermoerosion).
Nähr- und Zehrgebiet werden am Ende des Haushaltsjahres durch die sogenannte Gleichgewichtslinie (GWL)
getrennt. Diese Linie, oft auch als «Gletscher-Schneegrenze» bezeichnet, repräsentiert diejenige Zone auf dem
Gletscher, wo sich Eiszuwachs und -abtrag die Waage halten, die Bilanz also gleich null ist. Im Spätsommer ist
die GWL aufgrund des Farbkontrastes zwischen dem meist helleren Schnee und dem ausgeaperten und meist
schuttführenden dunkleren Eis gut zu erkennen.
Die Höhenlage der Gleichgewichtslinie ist damit am Ende des Sommers stets ein Indiz für den aktuellen Ernährungszustand
des Gletschers. Bei einem Alpengletscher mit ausgeglichenem Massenhaushalt erscheint das Nährgebiet
in der Regel etwa doppelt so gross wie das Zehrgebiet. Je höher die Gleichgewichtslinie zu liegen kommt,
desto negativer fällt die Gesamtbilanz des Gletschers aus. Umgekehrt ist eine tiefgelegene GWL ein Zeichen für
ein positives Haushaltsjahr mit Massengewinn.
1) Ausgeglichener Massenhaushalt
2) Positiver Massenhaushalt
3) Negativer Massenhaushalt
Nährgebiet
Gleichgewichtslinie
Zehrgebiet
Eiszuwachs = Eisabtrag
--> Gletscher mittelfristig
stationär
Tief liegende Gleichgewichtslinie
--> deutlicher Massengewinn mit
mittelfristigem Vorstoss
Hoch liegende Gleichgewichtslinie
--> deutlicher Massenverlust mit
mittelfristigem Schwund
Drei verschiedene Ernährungszustände eines Modellgletschers (Maisch 1993, verändert)
Betrachtet man den Schweizer Alpenbogen in einer Übersicht, so stellt man fest, dass die regional über meh rere
Jahre gemittelte GWL in den niederschlagsreichen Regionen am Alpennord- und -südhang deutlich tiefer liegt
(auf 2500–2600 m ü. M.) als in den trockeneren inneralpinen Tälern (z. B. im Monte-Rosa-Gebiet auf über
3000 m ü. M.). Auch in der gletschergünstigen Nordexposition befindet sich die durchschnittliche GWL rund
300 m tiefer als in der strahlungszugewandten Südexposition.
Die Bestimmung der Massenbilanz kann mit verschiedenen Methoden oder Kombinationen davon erfolgen:
1. Auswertung von Schneeprofilen im Nährgebiet (zur Bestimmung des Massenzuwachses) und Messung der
Einsinkbeträge der Eisoberfläche an sogenannten Ablationspegeln (zur Bestimmung des Massenverlusts) im
Zehrgebiet
18 Faszination Gletscher
2. Vermessung der Gletscheroberfläche zu zwei verschiedenen Zeitpunkten, z. B. durch Befliegung mit anschliessender
Luftbildauswertung
3. Bestimmung der hydrologischen Bilanz aus Niederschlag, Abfluss und Verdunstung in einem definierten
Einzugsgebiet
Eis kommt in Fahrt – Gletscherbewegung
Hat sich genügend Eis aufgebaut, beginnt es unter dem Einfluss der Schwerkraft plastisch hangabwärts zu
fliessen. Die Bewegung setzt sich aus zwei Komponenten zusammen, der internen Verformung (Deformation) des
Eises und dem Gleiten am Gletscherbett. Während in kalten Regionen der Erde, in denen das Eis am Untergrund
fest angefroren ist, die interne Eisdeformation überwiegt, sind bei den temperierten Alpengletschern im Sommer
beide Komponenten etwa gleich gross.
Die Fliessgeschwindigkeit eines Gletschers ist nicht überall identisch: An der Gletscherbasis sowie an den Seitenhängen
ist sie infolge grösserer Reibung reduziert. Die höchsten Fliessgeschwindigkeiten, abhängig u. a.
auch von der Neigung des Gletscherbettes und von der Eistemperatur, werden im Querprofil in der Gletscher mitte
an der Oberfläche erreicht. Im Längsprofil nimmt
die Geschwindigkeit vom höchsten Gletscherpunkt
(Bergschrund) talwärts bis in den Bereich der
Gleichgewichtslinie zu, um gegen das Zungenende
hin wieder abzunehmen. Die Geschwindigkeit erreicht
z. B. beim Grossen Aletschgletscher unterhalb
des Konkordiaplatzes bis 200 m/Jahr.
Die Eismassen fliessen laminar, d. h. das Eis durchmischt
sich nicht, im Gegensatz zum turbulenten
Fliessen eines Baches. Sehr schön lässt sich dies
am ruhigen, ungestörten Verlauf der Mittelmoränen
erkennen, welche die Zuflüsse aus verschiedenen
Einzugsgebieten des Gletschers bis ans Zungenende
hinunter nachzeichnen. Paradebeispiele
hierfür sind der Grosse Aletschgletscher (W 7) oder
der Gornergletscher (W 25).
Eisdicke
Ausgangslinie
basales
Gleiten
interne
Defor–
mation
Gletscherbett (Fels oder Moräne)
Oberflächengeschwindigkeit
nach 2 Jahren
Komponenten der Gletscherbewegung:
Interne Deformation und Gleiten am Gletscherbett
(Jost & Maisch 2006, verändert)
Nähr-/Akkumulationsgebiet
Gleichgewichtslinie (GWL)
Zehr-/Ablationsgebiet
Nährgebiet
Gleichgewichtslinie
Zehrgebiet
Moränenwall
Fliessrichtung
Fliessgeschwindigkeit
Massenzuwachs
eintauchende Eisbewegung
Gletscher
Massenverlust
auftauchende Eisbewegung
Stein
Gletscherfliessen im Grundriss und im Querprofil eines Gletschers
Im Längsprofil lässt sich das Gletscherfliessen am besten mit der Wanderung eines Gesteinsblocks veranschaulichen,
der in den höchsten Partien auf den Gletscher gefallen ist: Im Nährgebiet wird der Stein alljährlich von
Neuschnee überdeckt, sodass er jedes Jahr tiefer in den Gletscher einsinkt. Folglich laufen hier die Fliesslinien
in den Gletscher hinein. Im Zehrgebiet hingegen, wo während eines Jahres mehr Masse wegschmilzt als hinzukommt,
zeigen die Fliesslinien zur Oberfläche hin und der Gesteinsblock taucht wieder auf. Dies ist auch der
Grund, weshalb insbesondere die Gletscherzungen gebietsweise sehr stark mit Schutt überdeckt sind (sogenannte
Faszination Gletscher 19
Obermoräne; typische Beispiele sind Unteraargletscher W 4.1, Glacier de Zinal W 21 und Zmuttgletscher W 24.1).
Die Verweildauer oder Transportzeit einzelner Eis- oder Gesteinspartikel kann in Alpengletschern je nachdem 100
bis mehrere 1000 Jahre betragen.
Beim Gornergletscher (W 25) kommt das für alpine Verhältnisse extrem kalte Eis vom Colle Gnifetti (4452 m
ü. M., bis etwa –14°C) mit seinen vielen Lufteinschlüssen als typisch weisses Gletschereis erst wieder an der
Zunge zum Vorschein. Hat das Eis hingegen nur wenig Lufteinschlüsse und ist es kaum verschmutzt, zeigt es mit
zunehmender Mächtigkeit eine bläuliche Farbe.
Der Spannung erlegen – Gletscherspalten
Gletscherspalten sind spektakulär, faszinierend und die augenfälligsten Oberflächenstrukturen eines Gletschers.
Ein Blick in ihre gähnende Tiefe ist atemberaubend und hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck, manchmal gar
ein Schaudern.
Gletscher reissen dann auf, wenn sich der Talquerschnitt abrupt verändert oder ein unregelmässiges Felsbett zu
Geschwindigkeitsunterschieden innerhalb des Eises und somit zu Spannungen an der Gletscheroberfläche führt.
Spalten bilden sich immer senkrecht zur maximalen Zugspannung.
Reibung am Gletscherrand
Randspalten
Querdehnung
Längspalten
Entstehung von Gletscherspalten
(Jost & Maisch 2006, verändert)
Zugspannung
Querspalten
Quer- und Zugspannung
Séracs
(Eistürme)
Grosse Spaltenzonen findet man insbesondere am
Übergang von flachen zu steilen Abschnitten, je
abrupter, desto zerrissener (z. B. Triftgletscher
W 2, Glacier du Trient W 15.2, Glacier de Moiry
W 20 und Riedgletscher W 27). Unterhalb dieser
Eisfälle schliessen sich die Spalten wieder, im anschliessenden
flacheren, spaltenarmen Abschnitt
bilden sich häufig sogenannte Ogiven aus (z. B. am
Glacier de Moiry W 20.1 und am Turtmanngletscher
W 23). Diese Ogiven widerspiegeln, ähnlich den
Jahrringen von Bäumen, den jahreszeitlichen Bildungsrhythmus:
Wellen-Ogiven entstehen dadurch,
dass im Sommer die Ablation (Schmelzung) in der
aufgerissenen Oberfläche erhöht ist (später ein
«Wellental»), während das Eis, das den Eisfall im
Winter passiert, vom Schnee geschützt wird (später
ein «Wellenberg»).
Als Folge der grösseren Fliessgeschwindigkeit in
der Mitte des Eisstroms weisen die Wellen konzentrische,
talwärts ausgebuchtete, konvexe Bogenformen auf. Band-Ogiven hingegen zeigen die Unterschiede in
der Firnschichtung auf: Bei den dunklen Bändern handelt es sich jeweils um die ursprünglich im Sommer abgelagerten,
mit Aerosolen angereicherten Schichten (Luftverschmutzung, Blütenstaub etc.), während die hellen
Bereiche den ehemaligen winterlichen Schneezuwachs dokumentieren.
Gletscherspalten können durchaus beachtliche Tiefen von gegen 30 m aufweisen. Da das Eis aber durch sein
Eigengewicht mit zunehmender Tiefe plastisch wird, reichen diese nicht bis ans Gletscherbett. Für Bergsteigende
besonders heimtückisch sind nur gering mit Schnee (Schneebrücken) überdeckte, versteckte Spalten. Darum
sind Gletscherquerungen nur mit Hochtourenausrüstung (Seil, Pickel etc.) zu unternehmen.
Die Spalten lassen sich je nach Lage und Richtung kategorisieren: Der Bergschrund bildet die oberste Spalte, als
Übergang zwischen den am Untergrund festgefrorenen Firnschichten und dem sich hangabwärts bewegenden
Eis. Querspalten, die senkrecht zur Fliessrichtung stehen, entstehen dort, wo sich der Gletscher über eine Felsstufe
wälzt. Längsspalten, in Fliessrichtung angeordnet, findet man an Stellen, an denen sich der Gletscher
ausweitet. Kreuzen sich Quer- und Längsspalten, können sich Eistürme, sogenannte Séracs, bilden. Randspalten
öffnen sich infolge von Geschwindigkeitsunterschieden durch Reibung am Gletscherrand. Radialspalten hingegen
entstehen häufig an der Gletscherzunge, wo sich das Eis nach allen Seiten frei ausbreiten kann.
20 Faszination Gletscher
1
2
3
4
1 Bergschrund und Wächten an der Mönch-Ostflanke
2 Séracs in einer Steilstufe am Unteren Grindelwaldgletscher
3 Querspalten mit Mittelmoräne am Glacier de Zinal
4 Quer- und Längsspalten mit beginnender Séracbildung auf dem Griesgletscher
Gletscher als Landschaftsmodellierer – Gletschererosion
Ein Gletscher besteht nicht nur aus Eis, sondern führt auch Gesteinsfragmente von unterschiedlicher Grösse mit
sich. Stellen sich ihm Hindernisse in den Weg, so bearbeitet er mit den im Eis eingefrorenen Gesteinsblöcken
und feineren Partikeln den Felsuntergrund. Die Felsoberfläche wird gekritzt, abgeschliffen und wie mit einem
Schleifpapier poliert. So wurden ursprünglich v-förmige, durch Flüsse ausgeräumte Kerbtäler mit der eiszeitlichen
Erosion in Jahrtausenden zu Trogtälern mit u-förmigen Talquerschnitten geformt, so z. B. das Lauterbrunnen-
oder das Urbachtal. Die Felsareale im Hochgebirge wurden während der Eiszeiten bis hinauf zur sogenannten
Schliffgrenze bearbeitet. Diese trennt die unterhalb liegenden glazial erodierten, weichen Formen von den
hauptsächlich unter dem Einfluss der Temperatur- und Frostverwitterung stehenden splittrigen Formen oberhalb,
was z. B. im Grimselgebiet (W 4) sehr schön zu sehen ist. Die Schliffgrenze liegt naturgemäss unterschiedlich
hoch, im Grimselgebiet bei etwa 2600 m ü. M. oder bei Bever im Oberengadin auf 2700 m ü. M. Weitere
Ero sionsformen stellen die Kare dar, steilwandig in die Bergflanken eingelassene, glazial ausgeschürfte Felswannen
wie beispielsweise das Rottal im Hinteren Lauterbrunnental (W 10).
Glaziale Hängetäler sind trogförmige, kleinere Seitentäler, welche wegen der geringeren Erosionskraft des Seitengletschers
weniger tief ausgeschürft wurden und deshalb mit einer Steilstufe ins tiefer erodierte Haupttal
münden. An den Steilstufen am Eingang dieser Hängetäler haben die Schmelzwasserbäche häufig beeindruckende
Schluchten eingefressen oder bilden spektakuläre Wasserfälle, z. B. im Urbachtal (W 5), Val Fex, Val Fedoz,
Sefinen- und Trümmelbachtal u. a.
Besonders schön ist die Wirkung der Gletschererosion auf Fels auch an den stromlinienförmigen Rundhöckern zu
sehen, wo die gletscherzugewandte Seite durch den massiven Eisdruck und den eingefrorenen Gesteinsschutt
sanft abgeschliffen und poliert wurde, während die gletscherabgewandte Seite durch das Losreissen angefrorener
Gesteinsfragmente sowie der Frostverwitterung in Hohlräumen deutlich steiler abfällt (z. B. Rundhöckerflur im
Gauli W 5, Steingletscher W 1, Tsanfleuron W 14 und viele mehr). Gestriemte Felsen zeigen selbst in heute unvergletscherten
Regionen noch an, in welche Richtung die eiszeitlichen Eisströme geflossen sind.
Faszination Gletscher 21
1 2
3 4
1 Eiszeitliche Schliffgrenze im Grimselgebiet; oben ohne, unten mit Gletschererosion
2 Vom eiszeitlichen Gletscher ausgeschürftes Trogtal von Lauterbrunnen
3 Gletschergeschliffener, fein polierter Fels beim Rhonegletscher
4 Riesiger Gletschertopf im Gletschergarten Luzern
Auch das Gletscherschmelzwasser gestaltet die Landschaft mit, indem es den Moränenschutt umlagert oder mit
seinem transportierten losen Gesteinsmaterial den Untergrund bearbeitet. Dringt Schmelzwasser durch Spalten
in den Gletscher ein und erreicht es unter hohem Druck das Felsbett, so kann es dieses mithilfe der mitgeführten
Gesteinsfragmente zu einem Strudelloch auskolken, ein sogenannter Gletschertopf (früher Gletschermühle)
entsteht. Riesige Gletschertöpfe von mehreren Metern Durchmesser und Tiefe kann man im Gletschergarten
Luzern, am Malojapass, bei Cavaglia im Bergell oder beim Gornergletscher (W 25) bestaunen.
Das Schmelzwasser fliesst auch oberirdisch, d. h. direkt auf der Eisoberfläche ab. In Extremfällen bilden sich so
tiefe, canyonartige Eisrinnen, die den Bergsteigenden die Überquerung des Gletschers nahezu verunmöglichen
(z. B. Grosser Aletschgletscher am Konkordiaplatz). Am Gornergletscher sind als alpine Besonderheit neben
mäandrierenden Rinnen grosse Gletscherwannen mit Seen herausgeschmolzen worden (sogenannte Entonnoirs).
Da das Eis aus einer Höhenlage von bis zu 4500 m ü. M. stammt, ist es entsprechend kalt. Es weist im Zungenbereich
immer noch eine Temperatur von nur minus vier Grad Celsius auf und verhindert so oft ein Abfliessen
des Schmelzwassers in die Tiefe.
Am Zungenende tritt das gesammelte Schmelzwasser beim Gletschertor aus. Einige Gletscher zeigen dort trotz
Gletscherschwund noch immer einen mächtigen «Höhleneingang» (z. B. Triftgletscher W 2, Zinalgletscher W 21).
Das Betreten des Gletschertors ist sehr gefährlich, da einerseits Gesteinsblöcke von der Eisoberfläche herunterfallen
können und andererseits das Gletschertor unvermittelt einstürzen kann.
Vor dem Gletscher kommt es in Verflachungen zur Ablagerung von Gesteinsmaterial durch die Schmelzwässer und
oft zur Bildung von grösseren Schwemmebenen (sogenannte Sander) mit weit verzweigten Bachläufen.
22 Faszination Gletscher
Gletscher als Schuttförderband, Zeugen früherer Gletscherausdehnungen – Moränen
Als wichtigste Ablagerungsformen der Eisströme sind die Moränen zu nennen. Der Gletscher transportiert den
aus den umliegenden Felswänden ausgebrochenen Gesteinsschutt und lagert diesen in seinem Zungenbereich,
am Grund oder am Rand als Moräne ab. Typische Wallformen entstehen, wenn der Gletscher über eine längere
Zeit stets etwa die gleiche Ausdehnung einnimmt oder er bei einem Vorstoss im Vorfeld Gesteinsmaterial aufpflügt.
Je nach Lage zum Gletscher und Bildungsort unterscheidet man mehrere Moränentypen:
• Grundmoräne – Gesteinsmaterial zwischen Felsuntergrund und Gletscher, mit meist grossem Anteil an
Feinmaterial
• Innenmoräne im Gletscherinnern
• Obermoräne an der Gletscheroberfläche
• Seitenmoräne – aktuell am Gletscherrand mittransportiertes Moränenmaterial
• Ufermoräne – vom Gletscher abgesetzter Moränenwall einer früheren Hochstandsphase, z. B. 1850er-Wall
• Mittelmoräne – unterhalb des Zusammenflusses zweier ursprünglicher Seitenmoränen
• Stirn- oder Endmoräne im Bereich des Zungenendes des Gletschers
Selbst wenn ein Gletscher übers Jahr gesehen schwindet, kann er im Winter gleichwohl (als Folge der verminderten
Ablation) geringfügig vorstossen. Geht im darauffolgenden Sommer die Eisschmelze an der Zunge weiter,
bleibt der im Winter aufgestossene, niedrige Wall im Vorfeld erhalten. Man spricht in diesem Zusammenhang von
Winter- oder Jahresmoränen. Dieser Zyklus kann sich wiederholen, sodass eine ganze Serie konzentrischer Wälle
entsteht. Meist bilden sich diese kleinen Moränenwälle in Zeiten mit relativem Gletscherstillstand, z. B. nach
dem 1920er- oder dem 1980er-Vorstoss.
Im Vorfeld heutiger Talgletscher fallen die oft mächtigen Moränenwälle auf, welche die Gletscher während der
Hochstandsphase um 1850 letztmals erreicht oder sogar erneut überschüttet haben (z. B. Chanriongebiet W 18,
Zmutt- und Findelgletscher W 24 und W 26, Riedgletscher W 27 u. a.). Der Kern dieser meist riesigen, hoch aufragenden
Wallkomplexe ist aber meist schon in früheren, vorneuzeitlichen Hochstandsausdehnungen angelegt
1 Die Schmadrihütte ist von markanten Ufermoränenwällen umgeben
2 Breithorngletscherzunge mit Obermoräne und 1987er-Endmoränenwall
3 Ausgeprägte Ufermoränenwälle mit Racheln am Findelgletscher
4 Lehrbuchhafte Entstehung einer Mittelmoräne am Unteraargletscher
1 2
3 4
worden. An den übersteilten Innenseiten bilden sich häufig Racheln genannte Erosionsformen, die Orgelpfeifen
ähneln und daher auch Orgelpfeifenmoränen genannt werden. Beispiele findet man am Mittel aletschgletscher
W 7.1, Zinalgletscher W 21 oder Findelgletscher W 26.
Moränenblöcke sind in der Regel kantig (Obermoräne) bis kantengerundet (Grundmoräne), im Gegensatz zu den
beim längeren Transport durch das Wasser bereits deutlich abgerundeten Geröllen der Bäche und Flüsse.
Die Zungen vieler Gletscher sind heute stark mit Schutt bedeckt (z. B. Oberaletsch- W 8.1, Unteraar- W 4.1, Zinal-
W 21 und Zmuttgletscher W 24.1). Ist die Obermoräne sehr dicht und flächig, isoliert sie grössere Areale des
Gletschers und schützt längere Zeit vor dem Abschmelzen. Umgekehrt verstärkt eine dünne, eher feinkörnige
Schuttbedeckung den Eisschwund, indem hier die Sonnenstrahlung stärker absorbiert und so die Wärme direkt
auf das Eis übertragen wird. Diese Phänomene sind an den Beispielen Gletschertisch und Kryokonitloch schön
zu zeigen: Bei der Ausbildung eines Gletschertisches schützt ein grosser Gesteinsblock wie ein Schirm das Eis
vor der Sonnenstrahlung, sodass das Eis im Schatten verzögert abschmilzt. Die Gletschertische sind gegen Ende
des Sommers wegen der verzögerten Wärmeleitung bis an den Eissockel häufig in Richtung der stärksten
Sonneneinstrahlung, also gegen Süden bis Südwest geneigt. Häufig stürzen die Moränenblöcke auch herunter,
sodass die Herausbildung dieser charakteristischen Formen im nächsten Frühjahr wieder von Neuem beginnen
kann.
Typischer Gletschertisch auf dem Gornergletscher mit dem Matterhorn (links), Kryokonitlöcher: Die sich
erwärmenden dunklen Partikel schmelzen kleine Löcher in die Eisoberfläche (rechts).
Kleine Gesteinspartikel oder dunkles organisches Material (wie Blütenstaub, Pflanzen- und Tierreste, vom Wind
transportiert), auch Kryokonit genannt, bringen durch ihre Wärmeabsorption das Eis zum Schmelzen. Die kleinen,
oft durch den Tagesgang der Sonne gegen Norden ausgebuchteten, zentimetertiefen sog. Kryokonit- oder
Mittagslöcher sind oft mit Schmelzwasser gefüllt. Das darin enthaltene Kryokonit dient als Nahrung für verschiedene
Tiere auf Gletschern wie z. B. den Gletscherflöhen (S. 216).
Eisige Archive – Gletscher als Klimainformanten
Die Gletscher werden durch Schneefälle genährt, umgekehrt führen warme Temperaturen zum Abschmelzen des
Eises. Die Gletscher stehen also in enger Beziehung zum Klima, indem sie über die Atmosphäre Masse und Energie
austauschen. Im Gegensatz zu den grossen Polvereisungen in der Antarktis und Arktis, die aktiv das Klima
beeinflussen, reagieren die Alpengletscher nur passiv auf sich verändernde Klimabedingungen (v. a. Temperaturund
Niederschlagsänderungen): Einerseits kann eine kühl-feuchte Witterung in den Sommermonaten über mehrere
Jahre hinweg bei den Gletschern mittelfristig einen Vorstoss bewirken. Ein typisches Merkmal vorstossender
Gletscher ist das steile, tatzenförmig aufgewölbte Zungenende. Andererseits führt trocken-warme Witterung
langfristig zu einem Gletscherschwund, was sich in einer flach auslaufenden, meist stark schuttbedeckten Zunge
zeigt. Die Anpassung der Gletscherausdehnung erfolgt aber nicht unmittelbar, denn es braucht Zeit, bis z. B. ein
Massenüberschuss an der Zunge ankommt. Bei kleinen Gletschern beträgt diese Reaktionszeit im Zungenbereich
wenige Jahre, bei grossen Gletschern (wie z. B. dem Grossen Aletschgletscher) hingegen einige Jahrzehnte.
Neben den kleineren reagieren meist schon mittelgrosse Gletscher auf geringfügige Klimaschwankungen, wie in
den 1980er-Jahren z. B. der Obere Grindelwaldgletscher mit einem etwa 25 Jahre andauernden, kräftigen Vorstoss
im Umfang von knapp 600 m. Grosse Gletscher reagieren träger und zeigen durch den beständigen Rück-
24 Faszination Gletscher
Gletschertor mit junger Schwemmebene (Sander) und See am Triftgletscher (links), Racheln an der
Ufermoräne des Mittelaletschgletschers (rechts)
gang seit dem letzten Hochstand den Haupttrend der Erwärmung an, ohne den kleineren Witterungs- und
Klimaschwankungen zu unterliegen. Aufgrund ihrer nahe beim Gefrier-/Schmelzpunkt liegenden Eistemperatur
reagieren die Gletscher besonders empfindlich auf sich verändernde Klimabedingungen; bereits geringe (Temperatur-)Änderungen
können beträchtliche Auswirkungen haben.
Das Abschmelzen der Gletscher ist somit ein eindeutiges und für jedermann leicht zu erkennendes Indiz, dass
sich das Klimasystem erwärmt hat.
Die Gletscher spielen bei der Rekonstruktion des früheren Klimas eine wichtige Rolle. Mit dem alljährlichen
Schneefall gelangen auch Stoffe aus der Atmosphäre auf den Gletscher und werden im Eis konserviert. So enthält
Eis neben den Lufteinschlüssen z. B. auch Pollen, Vulkanasche oder radioaktive Elemente. Die Untersuchung der
Lufteinschlüsse ermöglicht die Rekonstruktion der früheren Luftzusammensetzung und daraus Rückschlüsse auf
das vergangene Klima, hilft Vulkanausbrüche zu datieren und den Grad bzw. die Entwicklung der Luftverschmutzung
zu verfolgen.
Prädestiniert für solche Analysen sind trockene und kalte Gletscherregionen, da dort nur wenig bis kein Schmelzwasser
anfällt und so die Lufteinschlüsse nicht verunreinigt werden. In Grönland und in der Antarktis wurden
schon mehrere, bis drei Kilometer tiefe Eisbohrungen durchgeführt, die Eis mit einem Basisalter bis über 800 000
Jahre hervorbrachten. In der Schweiz werden solche Bohrungen in hochgelegenen Sattellagen mit wenig Eisbewegung
durchgeführt (z. B. Colle Gnifetti VS, 4452 m ü. M. oder am Fieschersattel, 3923 m ü. M.).
Spurensuche – Methoden zum Nachweis von Gletscherschwankungen
Gletschergeschichtliche Forschungen verfolgen das Ziel, vergangene Schwankungen nachzuweisen und daraus
das Ausmass und die Bandbreite von früheren, noch nicht durch den Menschen beeinflussten Klimaschwankungen,
abzuschätzen. Um historische Gletscherschwankungen nachzuweisen, stehen verschiedene Methoden mit
unterschiedlichem zeitlichem Anwendungsbereich zur Verfügung (S. 20). Bei der Geländearchäologie und der
Glazialmorphologie können die organischen Substanzen (z. B. vom Gletscher überschüttete und später wieder
freigelegte, sog. fossile Böden und Hölzer, s. u.) mit der Radiokarbon-Methode ( 14 C) datiert werden, bei Hölzern
zusätzlich noch mit der Dendrochronologie. Durch den Vergleich des Jahrringmusters mit einer bereits vorhandenen
absoluten Chronologie kann so ein Gletschervorstoss oft sogar aufs Jahr genau datiert werden (S. 26).
Pflanzen besiedeln
das Gletschervorfeld
Der Gletscher stösst vor und
überdeckt Boden
und Bäume
Bei der nachfolgenden Schwundphase
kommen fossile Böden
und Bäume zum Vorschein
Wurzelstock
Stamm
Entstehung
fossiler Böden
und Hölzer
(Furrer et al.
1982,
verändert)
Boden
Faszination Gletscher 25
Glaziologische
Methode
Historische
Methode
Geländearchäologie
Glazialmorphologische
Methode
Hydrologische und
direkte glaziologische
Methode
Geodätische Methode
Massenbilanzberechnung
Messung Abfluss – Verdunstung –
Gebietsniederschlag,
Akkumulation und Ablation
Messung von Längen-, Flächen- und
Volumenänderungen (Karten- und
Luftbildauswertung), Feldaufnahmen
Kartografische Zeugnisse Landkarten, Pläne, Reliefs
Bildquellen
Holzschnitte, Kupfer- u. Stahlstiche,
Radierungen, Fotos etc.
Schriftquellen Chroniken, Alprechtsverträge,
Reiseberichte, naturwissenschaftliche
Werke
Alte Alpwege, Pässe, Fundamente von zerstörten Behausungen,
Überreste von Wasserleitungen
Datierung mit Schriftquellen, 14 C-Methode, Dendrochronologie
Kartieren des Gletschervorfeldes
mit den
Moränenwällen
Fossile Böden
Datierung mit der 14 C-Methode
Fossile Hölzer
Datierung mit der 14 C-Methode
und der Dendrochronologie
Methoden zur Erfassung von Gletscherschwankungen und ihr zeitlicher Anwendungsbereich
(Zumbühl & Holzhauser 1988, verändert)
Zeitlicher Anwendungsbereich (Jahre)
10000 1000 500 0
Holz aus einem
Gletschervorfeld
Holz aus einem Stadel
Lebender Baum
Holz aus einem Moor
1785
breiter Jahrring letzter Jahrring
1875
(Waldkante)
1 mm
1822
1 mm
schmaler Jahrring
breiter Jahrring
1 mm
schmaler Jahrring
Überlappung Überlappung Überlappung
1790 1800 1810 1820 1830 1840 1850 1860 1870 1980 1990 2000 2010
Durch die Auswertung der Jahrringbreite von Hölzern aus verschiedenen Quellen kann eine absolute
Jahrringchronologie aufgebaut werden. Spätere Funde fossiler Hölzer können damit auf Gleichläufigkeit
verglichen und teils aufs Jahr genau datiert werden (Schweingruber 1983, verändert).
1851
26 Faszination Gletscher
1850/51 2005
Der Vergleich zwischen Messtischblatt von 1850/51 und der aktuellen Ausgabe der
Landeskarte 1:25 000 (Stand 2005 swisstopo) zeigt sehr anschaulich den massiven Gletscherschwund
im Hinteren Lauterbrunnental.
Kommen und Gehen der Eisströme – Gletschergeschichte seit der letzten Eiszeit
Gemessen an der gesamten, rund 4,6 Mrd. Jahre umfassenden Erdgeschichte, ist Europa nur kurze Zeit vergletschert
gewesen, viel längere Zeit herrschten warme, teils tropische Klimaverhältnisse vor. Die letzte Periode mit
Eiszeiten, das sogenannte Quartär (Eiszeitalter), begann vor etwa 2,6 Mio. Jahren. Während den Maximalausdehnungen
der Eiszeiten haben im Alpenraum nur die höchsten Gipfel aus dem riesigen, den Grossteil der
Schweiz überdeckenden Eispanzer herausgeschaut (Nunataker), ähnlich wie heute die Bergspitzen in Grönland
oder in der Antartkis. Die mittleren Temperaturen lagen damals etwa 12 bis 15°C tiefer als heute, wobei v. a. die
Winter wesentlich kälter waren (kontinentaler Klimacharakter).
Die letzte grosse Kaltzeit (meist als «Würm-Eiszeit» bezeichnet) dauerte etwa von 115 000 bis 11 500 Jahren
vor heute und war gekennzeichnet von mehreren Phasen mit Eisausbreitungen bis weit ins Mittelland hinaus
und zwischenzeitlichem Abschmelzen in die Alpentäler in wärmeren Phasen. Die letzte Maximalausdehnung der
Gletscher datiert auf etwa 25 000 Jahre vor heute, wobei diese nicht in allen Regionen gleichzeitig erreicht
wurde. Damals bedeckte der Rheingletscher den ganzen heutigen Bodenseeraum bis nach Schaffhausen und der
Rhonegletscher den Genferseeraum mit einer Zunge bis über Solothurn hinaus (S. 28). Auf der Alpensüdseite
lagen die Zungenenden südlich der grossen, glazial übertieften Alpenrandseen.
Im sogenannten Spätglazial (Zeitraum von etwa 20 000 bis 11 500 Jahren vor heute) schmolzen die Gletscher
als Folge der nun global einsetzenden Erwärmung sukzessive in die Alpentäler zurück. Spuren kleinerer Wiedervorstossphasen
(im Fachjargon trotzdem auch als «Rückzugsstadien» bezeichnet) findet man in den meisten
Alpentälern in Form von gut erhaltenen Moränenwällen (z. B. Strättligenmoräne bei Thun, am südlichen Zürichseeufer
oder Endmoränenwälle bei Pfäffikon SZ und Staffelbach AG). Zudem befinden sich viele der Alpenrandseen
(z. B. Lago Maggiore, Sempachersee) in ehemaligen Zungenbecken der Eiszeitgletscher.
Findlinge (oder Erratiker = «Verirrte»), also vom Gletscher transportierte ortsfremde Felsblöcke, liegen weit übers
Mittelland verstreut und fallen durch ihre Grösse und die unterschiedliche Gesteinsart auf (z. B. Steinhof beim
Burgäschisee, SO). Sie sind der Beweis dafür, dass die Alpengletscher einst bis ins Mittelland vorgestossen
waren. Ausgehend von den Fundstellen und der geologischen Zusammensetzung bzw. Herkunft der Blöcke lassen
sich sogar die Wanderungswege der Findlinge von den Einzugsgebieten der Eiszeitgletscher bis ins Vorland
rekonstruieren (z. B. Fundstelle des Gabbro aus dem Saastal im Oberaargau).
In der Nacheiszeit, also in den letzten rund 11 500 Jahren (auch Postglazial genannt), schwankten die Gletscher
nur noch in einer schmalen räumlichen Bandbreite, die etwa dem Bereich zwischen der heutigen Ausdehnung
und dem Hochstand 1850 entspricht (eine Ausdehnung wie um 1850 wird als Gletscherhochstand bezeichnet).
Die letzte kühle Klimaphase mit relativ grossen Gletscherausdehnungen, die sogenannte «Kleine Eiszeit», dauerte
von Mitte des 13. bis Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie gipfelte in drei Hochstandsphasen im 14. Jahrhundert,
um 1650/70 sowie um 1820/1850.
Heute ist bekannt, dass die Gletscher in der Nacheiszeit auch schon kürzer waren als heute. Datierte Holz- und
Bodenfunde aus dem Vorfeld des Grossen Aletschgletschers und gletschernah geborgene alte Torffunde beim
Gauligletscher bestätigen dies. Allerdings kann man die damaligen Ausdehnungen aus klimatologischer Sicht
nicht direkt mit den heutigen Gletscherumrissen vergleichen, weil viele Gletscher derzeit wegen ihrer verzögerten
Reaktion immer noch zu gross für den aktuellen Klimazustand sind.
Faszination Gletscher 27