15.06.2021 Aufrufe

BOKU Magazin 2/2021

Inhalt 3 Rektor Hasenauer zu Forschung für sichere und nachhaltige Lebensmittel 4 Gastkommentar Food Trend-Forscherin Hanni Rützler 6 Lebensmittelsicherheit in globalen Lieferketten 12 Umdenken in der Produktion 14 Interview Klaus Dürrschmid 17 Herausforderung Food Fraud 20 Vermeidung von Lebensmittelabfällen 23 „Unverschwendet“: Interview mit Cornelia und Andreas Diesenreiter 26 Biosensoren für Qualitätssicherung 28 Resistenz gegen Krankheiten bei Nutzpflanzen 30 Sojabohnen als Rohstoff für Lebensmittel 32 Krank durch Weizen 34 Allergene in Lebensmitteln 36 „Superfruits“ aus Österreich 38 Wien: Future of Urban Food 40 Die BOKU-Weine 2021 41 Porträt Professorin Stefanie Lemke 44 Faszinierende Pflanzen 45 Firmenporträt „Wiener Würze“ 46 Wo der Pfeffer wächst 48 Studium LBT: Wie die Antigene in den Impfstoff kommen 50 Das neue ERASMUS+ Programm 51 Splitter 52 Core Facilities: BioIndustrial Pilot Plant 54 Strategische Kooperation BOKU – Umweltbundesamt 55 BOKU:Base 56 Neue Koordinationsstelle für Gleichstellung, Diversität und Behinderung 58 Forschung FAQ

Inhalt

3 Rektor Hasenauer zu Forschung für sichere und nachhaltige Lebensmittel

4 Gastkommentar Food Trend-Forscherin Hanni Rützler

6 Lebensmittelsicherheit in globalen Lieferketten

12 Umdenken in der Produktion

14 Interview Klaus Dürrschmid

17 Herausforderung Food Fraud

20 Vermeidung von Lebensmittelabfällen

23 „Unverschwendet“: Interview mit Cornelia und Andreas Diesenreiter

26 Biosensoren für Qualitätssicherung

28 Resistenz gegen Krankheiten bei Nutzpflanzen

30 Sojabohnen als Rohstoff für Lebensmittel

32 Krank durch Weizen

34 Allergene in Lebensmitteln

36 „Superfruits“ aus Österreich

38 Wien: Future of Urban Food

40 Die BOKU-Weine 2021

41 Porträt Professorin Stefanie Lemke

44 Faszinierende Pflanzen

45 Firmenporträt „Wiener Würze“

46 Wo der Pfeffer wächst

48 Studium LBT: Wie die Antigene in den Impfstoff kommen

50 Das neue ERASMUS+ Programm

51 Splitter

52 Core Facilities: BioIndustrial Pilot Plant

54 Strategische Kooperation BOKU – Umweltbundesamt

55 BOKU:Base

56 Neue Koordinationsstelle für Gleichstellung, Diversität und Behinderung

58 Forschung FAQ

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>BOKU</strong><br />

DAS MAGAZIN DER UNIVERSITÄT DES LEBENS<br />

Nr. 2 | Juni <strong>2021</strong><br />

ISSN: 2224-7416<br />

LEBENSMITTEL<br />

Ein Blick über den Tellerrand<br />

SICHERE LEBENSMITTEL<br />

IM LICHT GLOBALER<br />

LIEFERKETTEN<br />

GOOD FOOD, GOOD MOOD<br />

GASTKOMMENTAR<br />

HANNI RÜTZLER<br />

KLAUS DÜRRSCHMID ÜBER<br />

KONSUMENT*INNEN UND<br />

GESCHMACKSVORLIEBEN


INHALT<br />

Adobe Stock<br />

3 Rektor Hasenauer zu Forschung für<br />

sichere und nachhaltige Lebensmittel<br />

4 Gastkommentar Food-Trend-Forscherin<br />

Hanni Rützler<br />

6 Lebensmittelsicherheit in globalen<br />

Lieferketten<br />

12 Umdenken in der Produktion<br />

14 Interview Klaus Dürrschmid<br />

17 Herausforderung Food Fraud<br />

6<br />

20 Vermeidung von Lebensmittelabfällen<br />

23 „Unverschwendet“: Interview mit<br />

Cornelia und Andreas Diesenreiter<br />

26 Biosensoren für Qualitätssicherung<br />

28 Resistenz gegen Krankheiten<br />

bei Nutzpflanzen<br />

30 Sojabohnen als Rohstoff<br />

für Lebensmittel<br />

32 Krank durch Weizen<br />

34 Allergene in Lebensmitteln<br />

36 „Superfruits“ aus Österreich<br />

38 Wien: Future of Urban Food<br />

40 Die <strong>BOKU</strong>-Weine <strong>2021</strong><br />

41 Porträt Professorin Stefanie Lemke<br />

44 Faszinierende Pflanzen<br />

45 Firmenporträt „Wiener Würze“<br />

46 Wo der Pfeffer wächst<br />

48 Studium LBT: Wie die Antigene in<br />

den Impfstoff kommen<br />

50 Das neue ERASMUS+ Programm<br />

51 Splitter<br />

52 Core Facilities: BioIndustrial Pilot Plant<br />

<strong>BOKU</strong> Institut für Pflanzenzüchtung<br />

17<br />

28<br />

23<br />

32<br />

unplash Sebastian Kreuzberger<br />

54 Strategische Kooperation <strong>BOKU</strong> –<br />

Umweltbundesamt<br />

55 <strong>BOKU</strong>:Base<br />

56 Neue Koordinationsstelle für<br />

Gleichstellung, Diversität und<br />

Behinderung<br />

58 Forschung: FAQ<br />

48


EDITORIAL<br />

Georg Wilke<br />

O <strong>BOKU</strong>-FORSCHUNG FÜR SICHERE<br />

UND NACHHALTIGE LEBENSMITTEL<br />

HUBERT HASENAUER<br />

Rektor<br />

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!<br />

Liebe Studierende!<br />

Wie komplex die Lebensmittelproduktion und die weltumspannenden<br />

Lieferketten sind, wird uns meist<br />

bewusst, wenn einzelne Produkte oder Chargen aus<br />

dem Handel zurückgerufen werden. Denn kleinste Verunreinigungen<br />

und Erreger reisen häufig unbemerkt um den Globus.<br />

Umso wichtiger ist es, die damit verbundenen Prozesse sicher,<br />

transparent, nachvollziehbar zu gestalten und gesamtheitlich<br />

zu betrachten, um damit die Lebensmittelversorgung zu gewährleisten.<br />

Genau das will die EU mit dem Prinzip „Farm to<br />

Fork“ garantieren.<br />

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auch „Food Fraud“,<br />

also die Verfälschung von Lebensmitteln, zu verhindern. Daher<br />

werden künftig die Lebensmittelchemiker*innen weiterhin<br />

neue Analyseverfahren entwickeln müssen, damit die Authentizität<br />

unserer Nahrungsmittel sicher überprüft werden kann.<br />

Wir brauchen aber ebenso neue Strategien, um unsere herkömmlichen<br />

Nahrungspflanzen an die veränderten Klimabedingungen<br />

anzupassen und den Anbau neuer Pflanzenarten wie<br />

Sorghum, Hirse oder Amaranth zu ermöglichen.<br />

denn in Österreich sind alleine die Haushalte für die Hälfte aller<br />

vermeidbaren Lebensmittelabfälle verantwortlich.<br />

Als Universität, die sich seit 1872 der Nachhaltigkeit widmet,<br />

arbeitet die <strong>BOKU</strong> beim Thema Lebensmittel institutsübergreifend<br />

an wissenschaftlichen Lösungen, um die Sicherheit<br />

unserer Nahrungsmittel für die Konsument*innen zu gewährleisten,<br />

neue Technologien zur nachhaltigeren Produktion zu<br />

entwickeln sowie an Lösungen, die zu einer Verringerung der<br />

Lebensmittelabfälle beitragen.<br />

In dieser Ausgabe des <strong>BOKU</strong>-<strong>Magazin</strong>s widmen wir uns dem<br />

Thema Lebensmittel und freuen uns, die Leistungen unserer<br />

<strong>BOKU</strong>-Mitarbeiter*innen zum Wohle der Versorgung Österreichs<br />

präsentieren zu dürfen. Weiters freuen wir uns über<br />

einen Gastbeitrag der Food Trend-Forscherin Hanni Rützler.<br />

Ich danke allen Autor*innen für ihre Beiträge, wünsche Ihnen<br />

eine spannende Lesezeit und freue mich, Ihnen „Food for<br />

Thought“ zukommen lassen zu dürfen.<br />

Mit freundlichen Grüßen, Ihr<br />

Wo jede*r von uns einen unmittelbaren Beitrag leisten kann,<br />

ist der sorgsame Umgang mit unseren Lebensmitteln. Noch<br />

immer landen viel zu viele Lebensmittel im Abfall. Das muss in<br />

allen Bereichen der Wertschöpfungskette vermieden werden,<br />

IMPRESSUM: Medieninhaberin und Herausgeberin: Universität für Bodenkultur Wien (<strong>BOKU</strong>), Gregor-Mendel-Straße 33, 1180 Wien Chefredaktion: Bettina Fernsebner-<br />

Kokert Redaktion: Hermine Roth Autor*innen: Jose Esteban Moreno Amores, Michael Ambros, Michaela Amstötter-Visotschnig, Florian Borgwardt, Hermann Bürstmayr,<br />

Maria Bürstmayr, Johanna Burtscher, Margarita Calderón-Peter, Lisa-Maria Call, Konrad Domig, Magdalena Ehn, Bernhard Freyer, Heinrich Grausgruber, Rizky Pasthika Kirana,<br />

Margit Laimer, Kathrin Lauter, Markus Luchner, Roland Ludwig, Helmut Mayer, Sebastian Michel, Laura Morales, Gudrun Obersteiner, Ela Posch, Hanni Rützler, Georg Sachs,<br />

Ruth Scheiber-Herzog, Stefan Scheiblbrandner, Doris Schmidt, Regine Schönlechner, Hanni Schopfhauser, Ingeborg Sperl, Barbara Steiner, Helene Steiner, Sabrina Van den<br />

Oever, Johann Vollmann, Simone Zimmerl Grafik: Patricio Handl Cover: Photocase Druck: Druckerei Berger Auflage: 7.000 Erscheinungsweise: 4-mal jährlich Blattlinie:<br />

Das <strong>BOKU</strong>-<strong>Magazin</strong> versteht sich als Informationsmedium für Angehörige, Absolvent*innen, Freund*innen der Universität für<br />

Bodenkultur Wien und soll die interne und externe Kommunikation fördern. Namentlich gekennzeichnete Artikel geben die<br />

Meinung der Autorin oder des Autors wieder und müssen mit der Auffassung der Redaktion nicht übereinstimmen. Redaktionelle<br />

Bearbeitung und Kürzung von Beiträgen aus Platzgründen vorbehalten. Beiträge senden Sie bitte an: public.relations@boku.ac.at<br />

Bei Adressänderung wenden Sie sich bitte an: alumni@boku.ac.at<br />

UZ24<br />

„Schadstoffarme<br />

Druckerzeugnisse“<br />

UW 734<br />

PEFC/06-39-12<br />

Dieses Produkt<br />

stammt aus nachhaltig<br />

bewirtschafteten<br />

Wäldern und<br />

kontrollierten Quellen<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

3


Good Food, Good Mood<br />

Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis<br />

von Lebensmittelqualität<br />

GASTKOMMENTAR VON HANNI RÜTZLER<br />

Food-Trend-Forscherin und Ernährungswissenschaftlerin<br />

Pflanzliche Nahrungsmittel werden auch bei Fleischesser*innen mehr Platz auf dem täglichen Speiseplan<br />

einnehmen – und Fleisch könnte „Cultured Meat“ sein, das nicht mehr aus Massentierhaltung stammt. Denn<br />

Nachhaltigkeit ist zunehmend ein neues Kriterium für unsere Lebensmittel.<br />

Die Anfang <strong>2021</strong> gestarteten Impfungen<br />

wecken die Hoffnung,<br />

dass die Covid-19-Krise Schritt für<br />

Schritt bewältigt werden kann. Gleichzeitig<br />

wird immer klarer, dass die Lockdowns<br />

tiefgreifende Auswirkungen auf<br />

unser Leben hatten und auch weiterhin<br />

haben werden. Verhaltensweisen, die<br />

über Monate zwangsweise erprobt wurden,<br />

werden auch nach der Krise unser<br />

Konsumverhalten und unsere Lebensstile<br />

leiten. Die Einschränkungen haben zu<br />

einem „Neu-Kennenlernen“ der eigenen<br />

Umgebung, der eigenen Bedürfnisse und<br />

zu einem Überdenken der eigenen Werte<br />

geführt, die eine vollständige Rückkehr<br />

zur „alten Normalität“ unwahrscheinlich<br />

machen. Und das ist nicht nur zu<br />

bedauern.<br />

Thomas Wunderlich<br />

Der Fokus vieler Menschen liegt nun<br />

noch mehr auf Gesundheit und Nachhaltigkeit,<br />

zudem bekommt Regionalität<br />

einen noch wichtigeren Stellenwert. Die<br />

Krise ist zum Katalysator des Wandels<br />

geworden und hat Entwicklungen angestoßen<br />

beziehungsweise zum Durchbruch<br />

verholfen, die schon lange unter<br />

der Oberfläche gärten. Auch bei der Beurteilung<br />

von Lebensmitteln.<br />

GANZHEITLICHES VERSTÄNDNIS<br />

VON LEBENSMITTELQUALITÄT<br />

ETABLIERT SICH<br />

Die Qualität von Lebensmitteln wird<br />

zunehmend ganzheitlicher definiert. Es<br />

geht neben sensorischen und hygienischen<br />

auch um ökologische, tierethische<br />

und soziale Aspekte. Und auch wenn der<br />

»<br />

„Künftig wird es bei der<br />

bewussten Wahl der Lebensmittel<br />

noch mehr in die<br />

Richtung „pflanzliche<br />

Lebensmittel“ gehen, ohne<br />

sich strikt vegetarisch oder<br />

vegan zu ernähren.“<br />

Preis für die Mehrheit der Konsument*innen<br />

nach wie vor ein wichtiges Kriterium<br />

ist, stellen sie nun immer öfter eine differenziertere<br />

Kosten-/Nutzen-Rechnung<br />

an, bei der „fair“ und „angemessen“ gegenüber<br />

„billig“ an Gewicht gewinnen.<br />

Laut einer Ende 2020 durchgeführten<br />

europaweiten Studie (vgl. Covid-19-Study:<br />

European food behaviours. In: eit.europa.<br />

eu, 1.12.2020) berichteten Konsument*innen<br />

über eine Reihe von Verhaltensänderungen,<br />

die sich auch in Zukunft positiv<br />

auf die Beurteilung, die Auswahl und den<br />

4 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


Umgang mit Lebensmitteln auswirken<br />

könnten: Von den 35 Prozent, die angaben,<br />

dass der Kauf von lokal produzierten<br />

Lebensmitteln seit der Covid-19-Pandemie<br />

für sie wichtiger geworden ist, sagen<br />

87 Prozent, dass dies sehr wahrscheinlich<br />

auch in Zukunft der Fall sein wird. Von<br />

den 28 Prozent, für die der Kauf von<br />

unverpackten Produkten oder solchen<br />

mit biologisch abbaubarer oder recycelbarer<br />

Verpackung wichtiger geworden<br />

ist, sagen 82 Prozent, dass dies sehr<br />

wahrscheinlich auch künftig so bleiben<br />

wird. Von den 44 Prozent, die weniger<br />

Lebensmittel wegwerfen, sagen 37 Prozent,<br />

dass sie dies höchstwahrscheinlich<br />

beibehalten werden. Und das trifft besonders<br />

auf die jüngeren Generationen<br />

zu, deren Einstellungen und Verhalten<br />

für zukünftige Marktentwicklungen<br />

letztlich entscheidender sind als jene<br />

der älteren Generationen.<br />

In den Augen vieler junger Menschen<br />

ist „gesunde“ und „gute“ Ernährung nur<br />

dann gut, wenn sie umfassend gut ist:<br />

nicht nur mit Blick auf Nähr- und Inhaltsstoffe,<br />

Frische und Geschmack, Vitamine,<br />

Mineral- und Ballaststoffe, sondern<br />

auch mit Blick auf den ökologischen<br />

Fußabdruck sowie tierethisch und sozial<br />

verträgliche Produktionsbedingungen.<br />

NACHHALTIGKEIT WIRD ZU EINEM<br />

SYNONYM FÜR QUALITÄT<br />

Auf Basis dieses neuen Verständnisses<br />

von guter und gesunder Ernährung ändert<br />

sich naturgemäß auch der Blick auf<br />

die Lebensmittelqualität. So gewinnen<br />

Begriffe wie Transparenz, Integrität,<br />

Authentizität und Nachhaltigkeit mehr<br />

und mehr an Bedeutung. Besonders Konsument*innen<br />

der Generationen Y und Z,<br />

die sich über Lebensmittel und Ernährung<br />

vor allem im Internet informieren<br />

und sich via Social Media austauschen,<br />

redefinieren die Begriffe Gesundheit und<br />

gesunde Ernährung: Sie schließen nicht<br />

mehr nur das physische Wohlbefinden<br />

ein, sondern auch das psychische. Dabei<br />

gehen sie über die individuelle Perspektive<br />

hinaus und denken in großen<br />

Adobe Stock<br />

ökologischen Kontexten: Sie wollen im<br />

Hinblick auf ihre Ernährung nicht nur mit<br />

sich, sondern auch mit der Welt – so gut<br />

es geht – im Reinen sein.<br />

Davon profitieren vor allem regionale<br />

und Bio-Produkte, deren Konsum in der<br />

Krise weiter deutlich gestiegen ist. Und<br />

auch einen anderen Effekt könnten die<br />

Erfahrungen aus der Krise haben: Dass<br />

wir uns bei der Wahl der Lebensmittel in<br />

Zukunft mehr auf jene Themen fokussieren<br />

werden, die wirklich zählen und dass<br />

Kriterien wie Laktose- und Glutenfreiheit<br />

oder „Essen, das nur fünf Zutaten<br />

enthält“ für gesunde, also nicht an Unverträglichkeiten<br />

leidende Menschen als<br />

temporäre Modeerscheinung wieder an<br />

Bedeutung verlieren werden.<br />

Was wirklich zählt, für die eigene Gesundheit<br />

und für die des Planeten und das<br />

ohne Abstriche beim Genuss zu machen,<br />

ist einer Mehrheit der Konsument*innen<br />

mittlerweile klar: Künftig wird es bei<br />

der bewussten Wahl der Lebensmittel<br />

noch mehr in die Richtung „pflanzliche<br />

Lebensmittel“ gehen, ohne sich strikt<br />

vegetarisch oder vegan zu ernähren. Der<br />

„Flexitarier“ ist längst zum kulinarischen<br />

Role Model geworden, auch wenn die<br />

individuell angelegten Maßstäbe sehr<br />

variabel sind. Die Systemgastronomie<br />

und der Handel reagieren darauf mit<br />

einem wachsenden Angebot an Plant<br />

Based-Fleischersatzprodukten, in der<br />

Hauben- und Sternegastronomie steigt<br />

nicht nur das Angebot an vegetarischen<br />

Menüs, auch die Zahl der ausschließlich<br />

vegetarischen oder veganen Spitzenrestaurants<br />

wächst rasant. Und unter den<br />

aktuellen Kochbuchbestsellern finden<br />

sich überwiegend Bücher mit Rezepten<br />

auf pflanzlicher Basis.<br />

REAL OMNIVORES –<br />

DIE ESSER*INNEN DER ZUKUNFT<br />

Werfen wir einen etwas weiteren Blick in<br />

die Zukunft, dann eröffnen sich auf der<br />

Lebensmittelebene noch viele weitere<br />

Möglichkeiten für eine ausgewogene,<br />

vielfältige und nachhaltige Ernährungsweise,<br />

die sich nicht nur durch das Weglassen<br />

als problematisch wahrgenommener<br />

Lebensmittel auszeichnet und<br />

Genuss souverän mit Verantwortung<br />

verbindet. Davon Gebrauch machen wird<br />

der „echte Allesesser“, der Real Omnivore,<br />

der technikaffine und gegenüber<br />

neuen Entwicklungen im Food-Bereich<br />

wesentlich aufgeschlossenere Esstyp,<br />

der kultiviertes Fleisch (Cultured Meat)<br />

den Produkten aus industrieller Massentierhaltung<br />

vorzieht, der durch Fermentation<br />

aus Mikroorganismen gewonnene<br />

Nahrungsmittel (Farmfree Food) ebenso<br />

auf seinen alltäglichen Speiseplan setzt<br />

wie Plant Based Substitutes, sich aber<br />

überwiegend von frischem Gemüse,<br />

Obst, Getreide, Hülsenfrüchten, Pilzen,<br />

Nüssen und Samen ernährt. Und an Festtagen<br />

ein liebevoll zubereitetes Gericht<br />

aus „traditionellem“ Fleisch aus extensiver<br />

Viehwirtschaft im kleinen ökologischen<br />

Maßstab genießt. Innereien<br />

vielleicht inbegriffen.<br />

•<br />

www.futurefoodstudio.at<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

5


Adobe Stock<br />

Ein Blick über den Tellerrand:<br />

Lebensmittelqualität und -sicherheit<br />

im Licht globaler Lieferketten<br />

6 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


Unsere Lebensmittel sind so sicher wie noch nie, ein engmaschiges<br />

Kontrollnetz durchzieht die gesamte Produktions- und Lieferkette.<br />

Neue Gefahren durch die Verbreitung von Antibiotikaresistenzen und<br />

Zoonosen sind Forschungsschwerpunkte der Lebensmittelwissenschaften,<br />

bei denen dem „One Health“-Ansatz Rechnung getragen wird.<br />

Von Johanna Burtscher und Konrad J. Domig<br />

LEBENS<br />

MITTEL<br />

Käse aus Österreich, Tomaten aus<br />

Italien, Oregano aus Mexiko,<br />

Knoblauch aus China: Auf einer<br />

einzigen Tiefkühlpizza landen mitunter<br />

Zutaten aus der ganzen Welt. Die meisten<br />

Zutaten haben bereits einige Produktionsschritte<br />

und Stationen hinter sich<br />

und auch die fertige Pizza wird auf den<br />

Tellern zahlreicher Verbraucher*innen<br />

in verschiedensten Ländern landen. Dieselben<br />

Überlegungen können Sie für alle<br />

Lebensmittel anstellen – beginnen Sie<br />

zum Beispiel mit der Rückverfolgung der<br />

Zutatenherkunft Ihres heutigen Frühstücks.<br />

Die moderne Lebensmittelproduktion<br />

erfolgt in großen Chargen, die in weit<br />

verzweigten Netzwerken um den ganzen<br />

Globus wandern. Dass sich in diesem<br />

Zusammenhang Qualitätsherausforderungen<br />

nicht nur für die Logistik, sondern<br />

auch für die Rückverfolgbarkeit und die<br />

Lebensmittelsicherheit ergeben, liegt<br />

auf der Hand. Denn gerade mikrobielle<br />

und chemische Kontaminationen sind<br />

nicht sichtbar und könnten in großen<br />

Chargen womöglich unbemerkt mehrere<br />

Ländergrenzen passieren. Dass wir die<br />

Lebensmittel dennoch ohne Sicherheitsbedenken<br />

verzehren können, verdanken<br />

wir dem Umstand, dass auch Regelungsund<br />

Überwachungsnetzwerke effizient<br />

und international ausgerichtet sind.<br />

PRÄVENTION HAT<br />

HÖCHSTEN STELLENWERT<br />

Innerhalb der EU wurde<br />

um die Jahrtausendwende<br />

ein engmaschiges Sicherheitsnetz<br />

etabliert, das die<br />

Lebensmittelsicherheit<br />

gemeinschaftlich regelt.<br />

Das Fundament bildet dabei die sogenannte<br />

Lebensmittelbasisverordnung<br />

(EG) Nr. 178/2002. Einer der wichtigsten<br />

Grundsätze dieser Verordnung ist das<br />

„Farm to Fork“-Prinzip. Nach diesem<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

7


Prinzip „müssen alle Aspekte der Lebensmittelherstellungskette<br />

als Kontinuum<br />

betrachtet werden“, also von der Primärund<br />

Futtermittelproduktion bis zum Verkauf<br />

oder der Abgabe von Lebensmitteln<br />

an Verbraucher*innen.<br />

Adobe Stock<br />

Darüber hinaus definiert die Verordnung<br />

eine klare Verantwortlichkeit aller Glieder<br />

der Lebensmittelkette – also aller<br />

Lebensmittelunternehmer*innen – für<br />

die Lebensmittelsicherheit. Als Lebensmittelunternehmen<br />

gelten dabei alle<br />

Unternehmen, die eine „mit der Produktion,<br />

Verarbeitung oder dem Vertrieb<br />

von Lebensmitteln zusammenhängende<br />

Tätigkeit ausüben“, unabhängig davon,<br />

ob eine Gewinnorientierung vorliegt! Alle<br />

Lebensmittelunternehmer*innen sind<br />

folglich dafür verantwortlich, dass die<br />

Anforderungen des Lebensmittelrechts in<br />

dem ihrer Kontrolle unterstehenden Lebensmittelunternehmen<br />

erfüllt werden.<br />

Um dieser Verantwortung nachzukommen,<br />

findet ein präventives Konzept,<br />

das sogenannte HACCP-Konzept, Anwendung<br />

(HACCP steht für Hazard<br />

Analysis and Critical Control Points).<br />

Dieses risikobasierte Konzept setzt auf<br />

dem Fundament der Guten agrarischen<br />

Praxis (GAP) sowie den Konzepten der<br />

Guten Hygienepraxis (GHP) und der<br />

Guten Herstellungspraxis (GMP) auf,<br />

welche man salopp auch als „umfassenden<br />

sachlichen und fachlichen Hausverstand“<br />

bezeichnen könnte. Im Rahmen<br />

des HACCP-Konzepts werden potenzielle<br />

Gesundheitsgefahren (Hazards)<br />

identifiziert und eine Risikobewertung<br />

durchgeführt, um letztendlich kritische<br />

Kontroll- und Lenkungspunkte zur aktiven<br />

Vermeidung der relevanten Gefahren<br />

und aktiven Steuerung von Prozessen<br />

festlegen zu können. Die Entwicklung<br />

dieses Konzepts wurde ursprünglich in<br />

den 1950er-Jahren von der Raumfahrtbehörde<br />

NASA beauftragt, um absolut<br />

sichere Astronautennahrung herstellen<br />

zu können und lebensmittelbedingte Erkrankungen<br />

bei heiklen Weltraummissionen<br />

auszuschließen.<br />

Seit 1993 empfiehlt die FAO (Food and<br />

Agriculture Organization) dieses Konzept<br />

für die gesamte Lebensmittelindustrie.<br />

In der EU ist die verpflichtende<br />

Anwendung des HACCP-Prinzips in der<br />

Verordnung über Lebensmittelhygiene<br />

(EG) Nr. 852/2004 verankert. Weiters<br />

ist die Anwendung des HACCP-Prinzips<br />

auch integraler Bestandteil der drei<br />

derzeit global relevanten Lebensmittelqualitätsmanagementstandards<br />

ISO<br />

22.000:2018, IFS Food 7 (10/2020) und<br />

BRC Global Standard for Food Safety 8<br />

(2018). Lebensmittel und Produkte werden<br />

auf Basis einer dieser Standards vermarktet<br />

und Lebensmittelunternehmen<br />

sind aufgrund der Kund*innenforderungen<br />

auf Basis mehrerer beziehungsweise<br />

aller drei Standards zertifiziert. Inhaltlich<br />

haben sich ISO:22.000 (2018), IFS Food<br />

7 und BRC 8 stark angenähert und Themen<br />

wie Food Fraud, Food Defense und<br />

die Lebensmittelsicherheitskultur sind in<br />

allen vertreten. Verantwortlich für diese<br />

Harmonisierungsbestrebungen ist vor<br />

allem die Global Food Safety Initiative<br />

(GFSI), welche im Mai 2000 vom Internationalen<br />

Handelsverband gegründet<br />

wurde.<br />

8 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


DREI HAUPTZIELE<br />

Zusammengefasst haben alle Lebensmittelqualitätsmanagementsysteme<br />

dieselben<br />

drei Hauptziele: Sicherheit der<br />

Lebensmittel/Schutz der Verbraucher*innengesundheit,<br />

Sicherstellung der Lebensmittelqualität<br />

und Einhaltung aller<br />

gesetzlich festgelegten Anforderungen.<br />

Die Umsetzung dieser Prinzipien wird in<br />

regelmäßigen Audits/Assessments geprüft<br />

und unterliegt auch einer permanenten<br />

inhaltlichen Weiterentwicklung.<br />

Ein Beispiel dafür stellt die Lebensmittelsicherheitskultur<br />

dar, welche vom<br />

GFSI als „geteilte Werte, Normen und<br />

Überzeugungen, die die Haltung und das<br />

Verhalten in Bezug auf Lebensmittelsicherheit<br />

innerhalb der Organisation,<br />

bereichsübergreifend beeinflussen“ definiert<br />

wurde. Gemeint ist letztendlich, ob<br />

Lebensmittelsicherheit im Unternehmen<br />

vollinhaltlich von allen Mitarbeiter*innen<br />

„gelebt“ wird und damit der Faktor<br />

„Mensch“ mit Werten, Haltungen, Verhalten<br />

im Lebensmittelbetrieb.<br />

Zeitgleich mit der Etablierung des europäischen<br />

Lebensmittelrechts wurde auch<br />

die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit<br />

EFSA (European Food Safety<br />

Authority) gegründet. Diese Agentur<br />

bietet politischen Entscheidungsträger*innen<br />

und nationalen Behörden<br />

unabhängige wissenschaftliche Beratung<br />

zur Risikoeinschätzung.<br />

»<br />

Alle Lebensmittelqualitätsmanagementsysteme<br />

haben<br />

dieselben drei Hauptziele:<br />

Sicherheit der Lebensmittel/<br />

Schutz der Verbraucher*-<br />

innengesundheit, Sicherstellung<br />

der Lebensmittelqualität<br />

und Einhaltung aller<br />

gesetzlich festgelegten<br />

Anforderungen.<br />

KEINE ABSOLUTE SICHERHEIT<br />

Es gibt keine absolute Sicherheit – deshalb<br />

kann auch eine weitgehende Risikominimierung<br />

Kontaminationen und<br />

Rückstände nicht vollständig verhindern<br />

oder ausschließen. Gerade wegen der<br />

schnellen Verteilung großer Chargen ist<br />

eine schnelle Reaktion im Ernstfall entscheidend.<br />

Wird in einer Lieferkette eine<br />

Gesundheitsgefahr detektiert oder eine<br />

Abweichung von gesetzlichen Vorgaben<br />

festgestellt, so sind die Behörden vom<br />

Unternehmen in Kenntnis zu setzen. Diese<br />

sind über Schnellwarnsysteme international<br />

vernetzt. Dazu zählt in der EU<br />

und assoziierten Ländern das Rapid Alert<br />

System for Food and Feed (RASFF). Das<br />

INFOSAN Netzwerk (International Food<br />

Safety Authorities Network) ist das weltweite<br />

Pendant dazu. Über diese Netzwerke<br />

können rund um die Uhr Informationen<br />

zwischen nationalen Behörden<br />

ausgetauscht, Warnungen übermittelt<br />

und somit auch gesundheitsgefährdende<br />

Lebensmittel schnell zurückgerufen und<br />

Verbraucher*innen rechtzeitig über Risiken<br />

informiert werden. Die Kommunikation<br />

über mögliche Gesundheitsgefahren<br />

und die Koordination von Maßnahmen<br />

erfolgt in Österreich über die AGES (Österreichische<br />

Agentur für Gesundheit<br />

und Ernährungssicherheit GmbH).<br />

Selbstverständlich müssen grenzüberschreitend<br />

gehandelte Lebensmittel den<br />

Vorgaben des jeweiligen Empfangslandes<br />

entsprechen. Globale Lieferketten<br />

bedürfen dabei harmonisierter internationaler<br />

Rahmenbedingungen und<br />

Standards. Eine solche internationale<br />

Sammlung an wissenschaftsbasierten<br />

Standards und Empfehlungen für Lebensmittelsicherheit<br />

und -qualität stellt<br />

der Codex Alimentarius der UN dar. 188<br />

Mitgliedsländer sind in der Codex Alimentarius<br />

Kommission vertreten. Die<br />

im Codex Alimentarius enthaltenen<br />

Regelungen (wie beispielsweise auch<br />

das HACCP-Konzept) sind zwar nicht<br />

unmittelbar rechtlich bindend, bilden<br />

jedoch die Grundlage für internationale<br />

Handelsabkommen und dienen als Entscheidungshilfe<br />

für die WTO (World Trade<br />

Organisation) bei Handelsverträgen.<br />

LEBENSMITTELHYGIENE –<br />

STATUS QUO<br />

„Wir haben qualitativ die besten Lebensmittel<br />

aller Zeiten“, erklärte der österreichische<br />

EFSA-Direktor Bernhard Url<br />

2018. Tatsächlich ist die Implementierung<br />

des europäischen Lebensmittelrechts<br />

eine Erfolgsgeschichte für die<br />

Lebensmittelsicherheit. Lebensmittel<br />

sind sicherer denn je und auch die Rückverfolgbarkeit<br />

in Lebensmittel- und<br />

Futtermittelproduktionsketten wurde<br />

wesentlich verbessert. Im jährlichen<br />

österreichischen Lebensmittelsicherheitsbericht<br />

des BMSGPK und der AGES<br />

liegt die Quote von als potenziell gesundheitsschädlich<br />

eingestuften Lebensmittelproben<br />

sogar konstant unter 0,5 Prozent.<br />

Die tatsächliche Quote, bezogen<br />

auf alle am Markt verfügbaren Lebensmittel,<br />

dürfte noch deutlich niedriger<br />

sein, denn die Probenahme erfolgt risikobasiert<br />

und beinhaltet sowohl Planproben<br />

als auch „Verdachtsproben“, die bei<br />

Verdacht auf erhöhte Risiken basierend<br />

auf Wahrnehmungen von Aufsichtsbehörden<br />

oder etwa wegen Beschwerden<br />

von Verbraucher*innen gezogen wurden.<br />

Dennoch dürfen Restrisiken nicht ignoriert<br />

werden. Während in der öffentlichen<br />

Wahrnehmung Chemikalien wie<br />

etwa Pestizidrückstände oft als größte<br />

Gefahr empfunden werden, ist objektiv<br />

betrachtet die Bedrohung der Lebensmittelsicherheit<br />

durch Mikroorganismen<br />

wie Bakterien, Viren, Pilze oder Parasiten<br />

weitaus höher. Symptome reichen dabei<br />

von Diarrhö über akute Vergiftungen<br />

bis hin zu langfristigen Auswirkungen<br />

wie Krebserkrankungen, ausgelöst durch<br />

Mycotoxine.<br />

In der EU sind Magen-Darm-Erkrankungen<br />

durch das Bakterium Campylobacter<br />

jejuni am häufigsten (ca. 250.000<br />

dokumentierte Erkrankungen pro Jahr),<br />

gefolgt von Salmonellosen (rund 92.000<br />

dokumentierte Erkrankungen pro Jahr),<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

9


verursacht durch Bakterienarten der<br />

Gattung Salmonella. Die weltweit am<br />

häufigsten auftretenden lebensmittelbedingten<br />

Infektionserreger sind Noroviren<br />

und Campylobacter. Die erfassten<br />

Daten zeigen jedoch nur die Spitze des<br />

Eisbergs, denn häufig wird bei lebensmittelbedingten<br />

Erkrankungen keine<br />

ärztliche Hilfe in Anspruch genommen,<br />

da die klinischen Symptome meist nach<br />

kurzer Zeit abklingen. So sind selbst meldepflichtige<br />

Erkrankungen „under-reported“.<br />

Zudem variieren die nationalen<br />

Gesundheitssysteme und damit verknüpfte<br />

Aufzeichnungen erheblich.<br />

Adobe Stock<br />

ERREGER REISEN UM DIE ERDE<br />

Über 200 verschiedene mit Lebensmitteln<br />

assoziierte Krankheiten wurden von<br />

der WHO definiert. Ob und in welchem<br />

Ausmaß diese Erreger und assoziierte<br />

Erkrankungen in bestimmten Regionen<br />

präsent sind, wird von vielfältigen<br />

Faktoren wie etwa klimatischen Einflüssen,<br />

Produktionsbedingungen, aber<br />

auch demografischen Aspekten sowie<br />

Ernährungsgewohnheiten und der Infrastruktur<br />

(Energieversorgung, Trinkwasserversorgung,<br />

Abwasser- und Abfallentsorgung)<br />

beeinflusst. Beispielsweise war<br />

Vibrio parahaemolyticus, ein Bakterium,<br />

das in rohem Fisch zu finden ist, in Europa<br />

lange nahezu inexistent, während in asiatischen<br />

Ländern traditionell viele Durchfallerkrankungen<br />

auf diesen Erreger zurückzuführen<br />

sind. Mit dem weltweiten<br />

Trend zum Verzehr von Sushi reiste dann<br />

auch Vibrio parahaemolyticus um den<br />

Globus. Auch die Statistiken für Infektionen<br />

mit dem Bakterium Campylobacter<br />

jejuni, das vor allem mit Hühnerfleisch<br />

assoziiert wird, zeigen den Einfluss von<br />

Ernährungsgewohnheiten eindrücklich.<br />

So steigen alljährlich die Infektionszahlen<br />

im Sommer während der Grillsaison in<br />

Europa und rund um Neujahr, der traditionellen<br />

Zeit für Fleischfondue, in der<br />

Schweiz.<br />

Die Gewohnheiten der Verbraucher*innen<br />

spielen somit für die Lebensmittelhygiene<br />

eine entscheidende Rolle, denn<br />

ein großer Teil der lebensmittelbedingten<br />

Infektionen findet in privaten Haushalten<br />

statt. Ein hygienischer Umgang<br />

mit Lebensmitteln schützt allerdings<br />

Campylobacter jejuni<br />

Aspergillus, schwarzer Schimmelpilz,<br />

der Aflatoxine produziert<br />

weitgehend vor Infektionen. Laut WHO<br />

sind etwa wenige Fehler für die meisten<br />

lebensmittelbedingten Infektionen verantwortlich<br />

und durch Einhaltung der<br />

wichtigsten Regeln „5 keys for safer<br />

food“ könnten viele Infektionen verhindert<br />

werden (siehe Infobox). Tatsächlich<br />

werden beispielsweise Noroviren,<br />

Campylobacter und Salmonellen bei<br />

gründlicher Erhitzung zuverlässig abgetötet.<br />

Die Vermittlung dieses Wissens<br />

an Verbraucher*innen ist ein wichtiger<br />

Bestandteil der weltweiten Strategie zur<br />

Erhöhung der Lebensmittelsicherheit.<br />

ERNÄHRUNGSSICHERUNG –<br />

FOOD SECURITY<br />

Bislang wurde der Begriff Lebensmittelsicherheit<br />

mit „Lebensmittelhygiene“<br />

gleichgesetzt. Lebensmittelhygiene<br />

(„Food Safety“) inkludiert alle Maßnahmen<br />

und Konzepte, die sicherstellen<br />

sollen, dass von Lebensmitteln keine<br />

gesundheitlichen Beeinträchtigungen<br />

ausgehen können. Der deutsche Begriff<br />

„Lebensmittelsicherheit“ kann aber auch<br />

Salmonella<br />

als Ernährungssicherung („Food Security“)<br />

verstanden werden. „Food Security“<br />

(oder auch Versorgungssicherheit) soll<br />

sicherstellen, dass alle Menschen jederzeit<br />

physischen, sozialen und wirtschaftlichen<br />

Zugang zu ausreichend, sicheren<br />

und nahrhaften Lebensmitteln haben.<br />

In der EU und in Österreich ist die Lebensmittelsicherheit<br />

im internationalen<br />

Vergleich ausgesprochen hoch und<br />

Nahrungsmittelknappheit ist lediglich<br />

in lokal und zeitlich eng begrenzten Krisen-<br />

oder Ausnahmefällen zu erwarten.<br />

Wie sich Krisenszenarien (beispielsweise<br />

Tierseuchen oder eine Pandemie) auf die<br />

Resilienz der österreichischen Lebensmittelversorgungsketten<br />

auswirken, wird<br />

derzeit im KIRAS-Projekt Nutrisafe am<br />

Institut für Lebensmittelwissenschaften<br />

und dem K1-Zentrum FFoQSI unter der<br />

Leitung des Instituts für Produktionswirtschaft<br />

untersucht. Auch im Rahmen<br />

dieses Projekts zeigte sich, dass die Versorgungssicherheit<br />

der österreichischen<br />

Bevölkerung mit Lebensmitteln im welt-<br />

Shutterstock<br />

10 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


weiten Vergleich augenscheinlich hoch<br />

und eine sehr gute Resilienz gegeben ist.<br />

Die ausreichende Versorgung der gesamten<br />

Weltbevölkerung mit sicheren<br />

Lebensmitteln zählt hingegen zu den<br />

schwierigsten Herausforderungen unserer<br />

Zeit. Im Rahmen der Sustainable<br />

Development Goals der Vereinten Nationen<br />

haben wir es uns zum Ziel gesetzt,<br />

die Weltbevölkerung zu ernähren und<br />

Hunger bis zum Jahr 2030 zu eliminieren<br />

(SDG 2, „Zero Hunger“).<br />

Von „Zero Hunger“ sind wir leider weit<br />

entfernt und durch die Covid-19-Pandemie<br />

wurde die Situation wieder verschärft.<br />

Lebensmittelbedingte Erkrankungen<br />

durch mangelnde Lebensmittelhygiene<br />

und dadurch beeinträchtigte<br />

Nährstoffaufnahme verstärken gerade<br />

in Gebieten mit unzureichender Lebensmittelversorgung<br />

die Mangelernährung,<br />

insbesondere bei besonders vulnerablen<br />

Gruppen wie etwa Kleinkindern. Nach<br />

einer von der WHO im Jahr 2015 durchgeführten<br />

Erhebung erkranken jährlich<br />

schätzungsweise ca. 600 Millionen<br />

Menschen (1 von 10 Personen) weltweit<br />

nach dem Verzehr von gesundheitsschädlichen<br />

Lebensmitteln, ca. 420.000<br />

sterben daran. Es gibt somit keine Ernährungssicherung<br />

ohne entsprechende<br />

Lebensmittelhygiene. Globale Lebensmittelsicherheit<br />

kann nur erreicht werden,<br />

wenn beide Konzepte miteinander<br />

in Einklang gebracht werden.<br />

LEBENSMITTELSICHERHEIT –<br />

EIN AUSBLICK<br />

Neben der Verbindung von Lebensmittelhygiene<br />

und Ernährungssicherung ist<br />

auch eine Vernetzung mit anderen hoch<br />

akuten Herausforderungen unserer Zeit<br />

von herausragender Bedeutung.<br />

Gerade antibiotikaresistente Keime erfordern<br />

einen Blick über den Tellerrand.<br />

Der Einsatz von Antibiotika in der Humanund<br />

auch in der Tiermedizin rettet Leben,<br />

ein exzessiver und nicht-gerechtfertigter<br />

Einsatz (non-prudent use) von Antibiotika<br />

verstärkt jedoch den Selektionsdruck<br />

und erhöht die Verbreitung resistenter<br />

Keime. Sogenannte Zoonoseerreger, also<br />

Erreger, die zwischen Tier und Mensch<br />

INFOBOX<br />

TAKE HOME MESSAGE - 5 KEYS FOR SAFER FOOD<br />

1. Sauber halten Hände waschen, Flächen und Geräte<br />

waschen, Küchenbereiche vor Tieren<br />

(z. B. Insekten) schützen<br />

2. Rohes und Gekochtes Rohes Fleisch von anderen Lebensmitteln<br />

trennen<br />

trennen; getrennte Messer und Schneidbretter<br />

verwenden; bei der Lagerung Kontakt vermeiden<br />

3. Gründlich erhitzen Insbesondere Fleisch, Fisch, Eier gründlich<br />

erhitzen; bereits gekochte Lebensmittel<br />

gründlich aufwärmen<br />

4. Bei sicheren Zubereitete Speisen nicht länger als 2 Stunden<br />

Temperaturen lagern bei Raumtemperatur lagern; Lebensmittel<br />

umgehend kühlen oder bis zum Servieren bei<br />

über 60 °C heiß halten<br />

5. Sicheres Wasser und Frische und gesunde Lebensmittel verwenden;<br />

sichere Zutaten verwenden Früchte und Gemüse waschen<br />

übertragen werden können, bergen ein<br />

hohes Gefährdungspotenzial. Einer der<br />

Forschungsschwerpunkte des Instituts<br />

für Lebensmittelwissenschaften liegt daher<br />

auch im Bereich der Antibiotikaresistenzentwicklung.<br />

Neben der Sicherheit<br />

von beneficial microbes für Mensch und<br />

Tier (Starterkulturen, Schutzkulturen,<br />

Probiotika) sind vor allem die Dynamik<br />

der Entwicklung und Verbreitung von<br />

Antibiotikaresistenzen und die Suche<br />

nach Alternativen in der Nutztierfütterung<br />

(z. B. Resistome Projekt im Rahmen<br />

des K1-Zentrums FFoQSI) Forschungsgegenstände,<br />

um eine mengenmäßige<br />

Reduktion und einen zielgerichteteren<br />

Einsatz von antibiotischen Wirkstoffen<br />

zu erreichen.<br />

Dieser Forschungsansatz des Instituts<br />

trägt dabei dem „One Health“-Konzept<br />

Rechnung, das die Gesundheit von<br />

Mensch, Tier und Umwelt als Einheit<br />

versteht. Unter der Maxime von „One<br />

Health“ soll das Wissen von Forscher*innen<br />

aus verschiedensten Gebieten für<br />

gemeinsame Lösungsansätze vereint<br />

werden. Diese interdisziplinäre Sichtweise<br />

und eine Transformation zu einer<br />

nachhaltigen und ressourcenschonenden<br />

Lebensmittelproduktion sind unerlässlich,<br />

um die Weltbevölkerung zukünftig<br />

sicher zu ernähren. Lebensmittelqualität<br />

und -sicherheit im Sinne von Ernährungssicherung<br />

und Lebensmittelhygiene sind<br />

somit ein integraler Bestandteil einer<br />

nachhaltigen Entwicklung. •<br />

DI in Dr. in Johanna Burtscher forscht als Senior<br />

Scientist am Institut für Lebensmittelwissenschaften,<br />

das von Univ.Prof. DI Dr. Konrad J. Domig<br />

geleitet wird.<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

11


Hirse<br />

Amaranth<br />

Buchweizen<br />

Sorghum<br />

LEBENS<br />

MITTEL<br />

Klimawandel erfordert Umdenken<br />

in der Lebensmittelproduktion<br />

Neue Strategien wie die Anpassung der Nahrungspflanzen an die geänderten Klimabedingungen sind<br />

ebenso gefragt wie der Anbau von bislang in Österreich wenig angebauten Pflanzenarten wie Sorghum,<br />

Hirse, Amaranth und Buchweizen.<br />

Von Regine Schönlechner<br />

K<br />

limawandel steht in einem engen<br />

Spannungsfeld mit landwirtschaftlicher<br />

Produktion, Ernährungssystemen<br />

und damit verbunden<br />

der Lebensmittelproduktion. Spielt<br />

einerseits die Landwirtschaft eine signifikante<br />

Rolle als Mitverursacherin des<br />

Klimawandels, so ist sie andererseits<br />

auch stark vom Klimawandel betroffen.<br />

In diesem Wechselspiel Landwirtschaft<br />

– Klimawandel sind in weiterer Folge<br />

auch die Ernährung beziehungsweise das<br />

Ernährungsverhalten und die Lebensmittelauswahl<br />

beteiligt und damit die<br />

Lebensmittelproduktion sowie die lebensmittelverarbeitenden<br />

Betriebe/Industrie.<br />

Die Ursachen und Folgen sind für<br />

all diese Bereiche in beide Richtungen<br />

zu denken (siehe Abbildung 1). Natürlich<br />

spielen weitere Faktoren in diesem Zusammenhang<br />

mit hinein, aber an dieser<br />

Stelle soll der Fokus nur auf diese Genannten<br />

gelegt werden.<br />

Die Landwirtschaft inklusive Viehhaltung,<br />

Grünlandbewirtschaftung, Ackerbau,<br />

Düngung und Landmaschinennutzung<br />

trägt bekanntermaßen maßgeblich<br />

zum Klimawandel bei, für Österreich wird<br />

der Anteil an den ausgestoßenen Treibhausgasen<br />

beispielsweise mit rund zehn<br />

Prozent beziffert (www.landschafftleben.<br />

at). Auf der anderen Seite ziehen die Auswirkungen<br />

des Klimawandels spürbare<br />

Veränderungen in der landwirtschaftlichen<br />

Produktion von Nahrungspflanzen<br />

nach sich. Diese zeigen sich einerseits in<br />

veränderten, zumeist niedrigeren, Ertragsmengen<br />

der „traditionell“ angebauten<br />

Nahrungspflanzen, aber auch in<br />

Qualitätsänderungen derselben. Schäden<br />

aufgrund von zunehmenden Wetterextremen<br />

wie Hitze, Trockenheit, zu<br />

wenig Niederschläge oder veränderte<br />

Verteilung, daraus resultierend auch vermehrter<br />

Schädlingsbefall, waren in den<br />

letzten Jahren (besonders im Jahr 2018)<br />

deutlich festzustellen. Im Bereich des<br />

landwirtschaftlichen Anbaus wird daher<br />

von den unterschiedlichsten Akteur*innen<br />

(Forscher*innen, Züchter*innen,<br />

Saatzuchtfirmen, Landwirt*innen u. a.)<br />

verstärkt darauf reagiert. Strategien sind<br />

etwa Anpassung der Nahrungspflanzen<br />

an die geänderten Klimabedingungen<br />

(Pflanzenzucht, Sortenauswahl) oder der<br />

Anbau von „neuen“, bislang in Österreich<br />

wenig angebauten Pflanzenarten.<br />

Die Ernährung beziehungsweise das<br />

Ernährungsmuster der mitteleuropäischen/österreichischen<br />

Bevölkerung<br />

ist aufgrund verschiedener Faktoren<br />

nicht unbedingt als klimafreundlich zu<br />

bezeichnen. Vor allem der sehr hohe<br />

Verzehr von Fleisch und allgemein tierischen<br />

Produkten, aber auch die immense<br />

Lebensmittelverschwendung tragen<br />

diesem Umstand Rechnung. Ebenfalls<br />

zu berücksichtigen sind lange Transport-<br />

12 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


wege oder unökologische sowie gewinnmaximierte<br />

Anbaubedingungen vieler<br />

Lebensmittel (Monokulturen, tropische<br />

Plantagenwirtschaft).<br />

Eine Reduktion des Fleischverzehrs und<br />

Umstellung auf eine pflanzenbetonte,<br />

nach Möglichkeit vermehrt regionale<br />

Kost werden nicht nur seit Jahren von<br />

vielen Ernährungsorganisationen für<br />

eine gesunde Ernährung gefordert, sondern<br />

können einen signifikanten Beitrag<br />

zur Reduktion der Treibhausgasemissionen<br />

leisten. Auch wenn hier noch viele<br />

Bemühungen zum weitergehenden Umdenken<br />

der Bevölkerung unternommen<br />

werden müssen, so ist dennoch zu erkennen,<br />

dass das Interesse an vegetarischen<br />

Gerichten und damit einhergehend die<br />

Nachfrage nach pflanzlichen (Fleisch-)<br />

Alternativen stetig zunehmen.<br />

Die Lebensmittelproduktion ist gefordert,<br />

einerseits auf Änderungen der Ernährungsmuster<br />

mit einem entsprechenden<br />

Lebensmittelangebot zu reagieren,<br />

andererseits ziehen Qualitätsänderungen<br />

von regional angebauten Nahrungspflanzen<br />

Produkt- und Prozessadaptierungen<br />

in unterschiedlichstem Ausmaß<br />

nach sich. Viele Unternehmer*innen<br />

haben die Entwicklung und Produktion<br />

von pflanzenbasierten Lebensmitteln<br />

und pflanzlichen Fleischalternativen in<br />

ihr Programm aufgenommen, Auswahl,<br />

Be- und Verarbeitung von „neuen“ regionalen<br />

Rohstoffen und pflanzlichen Proteinquellen<br />

spielen dabei eine bedeutende<br />

Rolle. Auch hier kann der Blickwinkel<br />

wiederum in die umgekehrte Richtung<br />

gesehen werden: Das Angebot von ernährungsphysiologisch<br />

hochwertigen,<br />

aber vor allem schmackhaften pflanzenbasierten<br />

Produkten könnte ein Anreiz<br />

für die Bevölkerung sein, weniger Fleisch<br />

zu konsumieren.<br />

Ernährung<br />

Klimawandel<br />

Landwirtschaft<br />

Lebensmittelproduktion<br />

Abb. 1: Vereinfachte Darstellung der Aus- und<br />

Wechselwirkungen: Klimawandel – Ernährung –<br />

Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion<br />

BEISPIEL GETREIDE,<br />

BROT UND GEBÄCK<br />

Im Bereich des Getreideanbaus hat der<br />

Klimawandel gravierende Effekte auf die<br />

Menge und Qualität der geernteten Erträge<br />

in Österreich, allen voran auf den<br />

Weizen, der mengenmäßig das wichtigste<br />

Getreide für die heimischen Bäckereien<br />

(86 Prozent) darstellt. Im Jahr 2018 wurde<br />

in Österreich beispielsweise nur ein<br />

durchschnittlicher Ertrag von 4,9 Tonnen<br />

je Hektar verzeichnet, was einem Rückgang<br />

von 20 bis 25 Prozent je Vergleichsbasis<br />

entspricht. Weitere Ernteverluste<br />

waren der Zunahme des Insektenbefalls<br />

(vor allem mit der Getreidewanze) geschuldet,<br />

wodurch ein Großteil dieser<br />

Erntemenge für Lebensmittel nicht mehr<br />

einsetzbar war. Zusätzlich hatten 2018<br />

etwa drei Viertel der Weizenerntemengen<br />

überdurchschnittlich hohe Proteingehalte,<br />

vor allem Glutenmengen, die<br />

auf die extreme Hitze und Trockenheit<br />

zurückzuführen waren (14 Tage frühere<br />

Ernte des Weizens, in dieser Zeit findet<br />

vorrangig die Stärkebildung in der<br />

Getreidepflanze statt). Durch die (zu)<br />

hohen Proteingehalte sind die Mehle zu<br />

kleberstark, was zu „bockigen“ Teigen<br />

mit zu hohem Dehnwiderstand führt und<br />

die Backeignung stark vermindert. Besonders<br />

betroffen ist hier das Feinbackwarensegment<br />

(Kuchen, Kekse, Waffeln),<br />

das von Haus aus eher kleberschwache<br />

Mehle benötigt. In den folgenden Jahren<br />

2019 und 2020 war die Situation ähnlich,<br />

obwohl in diesen beiden Jahren zumindest<br />

kein Wanzenstich auftrat. Es ist aber<br />

anzunehmen, dass sich diese Situation<br />

mit fortschreitendem Klimawandel noch<br />

verschärfen wird.<br />

PROJEKT KLIMATECH<br />

Am Department für Lebensmittelwissenschaften<br />

und -technologie beschäftigt<br />

sich das Projekt „Klimatech“ genau mit<br />

dieser Thematik. Als Alternative zum Import<br />

von Weizen (mit niedrigeren Protein-<br />

und Glutengehalten) soll das Beimischen<br />

von Sorghum, Hirse, Amaranth<br />

und Buchweizen im Backwarenbereich<br />

geprüft werden, um die Weizenqualitäten<br />

(zu kleberstark, „bockig“) auszugleichen.<br />

Alle genannten Rohstoffe sind glutenfrei<br />

(Haros and Schönlechner, 2017), d. h.<br />

sie bilden kein Klebernetzwerk aus und<br />

zeichnen sich darüber hinaus durch Hitzeund<br />

Trockenheitsverträglichkeit aus (Taylor<br />

und Duodu, 2019). Auch in Europa und<br />

Österreich werden Sorghum- und Hirsearten<br />

angebaut, allerdings werden sie bislang<br />

nur im Non-Food-Bereich (Bioethanolverwertung,<br />

Tierfutter) eingesetzt.<br />

Das Projekt Klimatech befasst sich in Kooperation<br />

mit Müllereien und Bäckereien<br />

mit der gesamtheitlichen Nutzung dieser<br />

Körnerarten für die Humanernährung. Im<br />

Speziellen werden Rezeptur- und Prozessadaptierungen<br />

untersucht, reichend<br />

von der Vermahlung bis zum fertigen<br />

Brot und Gebäck. Berücksichtigt werden<br />

dabei sowohl Sortenauswahl als auch<br />

sensorische Eigenschaften der Produkte,<br />

um eine größtmögliche Akzeptanz der<br />

Bevölkerung an diese neuen oder veränderten<br />

Lebensmittel zu erzielen.<br />

Langfristig wird an einer Ernährungsumstellung<br />

und damit Anpassung des<br />

Lebensmittelangebots an die vom Klimawandel<br />

hervorgerufenen Änderungen<br />

kein Weg vorbeiführen. Dies kann aber<br />

durchaus auch positiv gesehen werden,<br />

so ist eine pflanzenbetonte Ernährung<br />

nicht nur klimafreundlicher, sondern<br />

auch gesünder.<br />

•<br />

Referenzen:<br />

Haros CM, Regine Schoenlechner (Eds) (2017):<br />

Pseudocereals – Chemistry and Technology.<br />

Wiley Blackwell, West Sussex, UK; ISBN: ISBN<br />

9781118938287<br />

Fuchs Peter, Landwirtschaft und Klima https://<br />

www.landschafftleben.at/hintergruende/landwirtschaftundklima,<br />

abgerufen am 5.5.<strong>2021</strong><br />

Taylor JRN and Duodu KW (eds.) Sorghum and<br />

Millets. Chemistry, Technology, and Nutritional<br />

Attributes. Woodhead Publishing – Elsevier in<br />

cooperation with AACCI, Duxford, UK.<br />

Dr. in Regine Schönlechner ist Assoziierte Professorin<br />

am Institut für Lebensmitteltechnologie.<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

13


LEBENS<br />

MITTEL<br />

„Wenn einem etwas nicht schmeckt,<br />

sind die Reaktionen in der Regel klar<br />

und eindeutig“<br />

Lebensmitteltechnologe Klaus Dürrschmid über die Methoden, mit denen er im Sensoriklabor die Präferenzen<br />

unterschiedlicher Konsument*innengruppen erforscht und die Geschmacksrichtung, mit der wir – nahezu –<br />

weltweit unsere Kindheit assoziieren.<br />

Interview: Bettina Fernsebner-Kokert<br />

Carolina Frank<br />

Wie muss eine Semmel beschaffen sein,<br />

damit sie die Konsument*innen als<br />

richtig gut und resch empfinden?<br />

Klaus Dürrschmid: Die Konsument*innen<br />

gibt es nicht, sondern es gibt nur Gruppen<br />

innerhalb der Konsument*innen. Man<br />

kann also nicht davon ausgehen, dass<br />

alle dieselbe Idealvorstellung von einer<br />

Semmel haben. Um herauszufinden, wer<br />

welche Semmelart bevorzugt, braucht es<br />

eine detaillierte Untersuchung der Semmelkonsument*innen.<br />

Dazu schaut man<br />

sich zunächst die gesamte Gruppe aller<br />

Semmelkonsument*innen an und ermittelt<br />

mit spezifischen Methoden, welche<br />

Merkmalsprofile bevorzugt werden und<br />

ob es innerhalb der Grundgesamtheit<br />

Gruppen ähnlicher Vorlieben gibt.<br />

Aus welchen Personen setzen sich<br />

die Testgruppen zusammen?<br />

Einerseits aus geschulten Testpersonen,<br />

die Produkte auf eine objektivierte Art<br />

und Weise in ihren sensorischen Merkmalen<br />

beschreiben. Und andererseits<br />

verwenden wir ungeschulte Konsument*innen,<br />

die ohne analytischen Zugang,<br />

ganz aus dem Bauch heraus, beurteilen,<br />

wie sehr ihnen das Produkt zusagt.<br />

Bei den meisten Untersuchungen sind<br />

beide Gruppen beteiligt, aber wenn es<br />

nur um die Analyse von Präferenzen oder<br />

um emotionale Aspekte von Produkten<br />

geht, sind nur ungeschulte Testpersonen<br />

involviert.<br />

Konsument*innenwünsche und -verhalten<br />

ändern sich rasch. Wie schlägt sich<br />

das in Ihrer Forschungsarbeit nieder?<br />

Es wird beispielsweise immer häufiger die<br />

Frage gestellt, wie ältere Menschen auf<br />

Produkte reagieren – das heißt, hier lässt<br />

14 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


Adobe Stock<br />

sich die demografische Verschiebung in<br />

der Bevölkerung erkennen. Der Anteil<br />

älterer Menschen wird in den europäischen<br />

Gesellschaften immer höher. Diese<br />

Personen haben aber ein hohes Konsumgewicht<br />

und daher möchten viele<br />

Hersteller wissen, wo deren Präferenzen<br />

und Bedürfnisse liegen, durchaus auch in<br />

Hinsicht auf körperliche Gebrechen, die<br />

beispielsweise eine andere Konsistenz<br />

oder auch andere Inhaltsstoffe von Lebensmitteln<br />

erfordern.<br />

Auch Veränderungen in der ethnischen<br />

Zusammensetzung der Bevölkerung zeigen<br />

sich, man kann keinen homogenen<br />

kulturellen Hintergrund mehr voraussetzen<br />

und muss das auch im Forschungsdesign<br />

berücksichtigen.<br />

Wie sehr prägt uns die sensorische<br />

Kultur, in der wir groß geworden sind?<br />

Wir werden, was unsere Vorlieben für<br />

Gerüche betrifft, als nahezu unbeschriebenes<br />

Blatt geboren – beim Geschmack<br />

kommen wir mit einer Präferenz für Süß<br />

und einer Aversion gegenüber Bitter<br />

zur Welt. Alle Gerüche aber werden von<br />

Neugeborenen zunächst als sehr neutral<br />

empfunden, in den folgenden Monaten<br />

und Jahren werden dann die Präfenzen<br />

und Abneigungen durch Lernprozesse<br />

entwickelt. „Liking by tasting“ ist dabei<br />

ein wirkmächtiger Lernmechanismus –<br />

alleine die mehrmalige Konfrontation<br />

mit einem bestimmten Geschmack oder<br />

Aromaprofil führt dazu, dass man es zu<br />

schätzen lernt – vorausgesetzt es tritt<br />

dabei kein negativer gesundheitlicher<br />

Effekt ein. Das heißt, wir wachsen in eine<br />

bestimmte Ernährungskultur hinein und<br />

»<br />

„Schwierig ist es bereits, die<br />

oft nicht bewusst geäußerten<br />

oder äußerbaren Wünsche<br />

der Konsument*innen<br />

zu identifizieren. Da sind<br />

sehr subtile Methoden<br />

der Consumer Insights<br />

notwendig, um herauszufinden,<br />

was man<br />

als Produzent probieren<br />

könnte.“<br />

halten diese erlernten Geschmäcker für<br />

richtig und gut. Und das führt vor allem<br />

bei besonders neophoben Personen zu<br />

einer Unwilligkeit, Neues oder Fremdes<br />

zu kosten oder gar längerfristig in sein<br />

Ernährungsschema einzuführen.<br />

Trotzdem gibt es Menschen, die immer<br />

offen für neue Geschmackserlebnisse<br />

sind und solche, die auch am anderen<br />

Ende der Welt ihr Schnitzel haben wollen.<br />

Menschen sind eben auch in dieser Hinsicht<br />

unterschiedlich – die einen sind an<br />

neuen Geschmäckern und Aromen interessiert,<br />

empfinden sie als kulinarische<br />

Abenteuer, und andere sind da zurückhaltend<br />

und vorsichtig, vielleicht auch<br />

weil sie leichter Ekelgefühle empfinden.<br />

Gibt es etwas, das Sie selbst<br />

nie kosten würden?<br />

Wahrscheinlich wenig, ich bin relativ<br />

neophil. Es gibt allerdings ein paar Dinge,<br />

die ich gekostet habe und die wirklich<br />

grauslich waren. Deshalb würde ich<br />

von einem weiteren Versuch Abstand<br />

nehmen – gebratener Schweinsdarm<br />

gehört dazu.<br />

Wie rasch reagieren Lebensmittelhersteller<br />

auf Testergebnisse und<br />

Wünsche von Konsument*innengruppen?<br />

Schwierig ist es bereits, die oft nicht<br />

bewusst geäußerten oder äußerbaren<br />

Wünsche der Konsument*innen zu identifizieren.<br />

Da sind sehr subtile Methoden<br />

der Consumer Insights notwendig, um<br />

herauszufinden, was man als Produzent<br />

probieren könnte. Wenn man ein Ziel<br />

definiert hat, kann es dann relativ rasch<br />

gehen. Ein gutes Beispiel sind Burger und<br />

andere Fleischimitate auf der Basis von<br />

pflanzlichen Proteinen. Nachdem durch<br />

den Erfolg von Pionieren klar wurde, dass<br />

es dafür einen Markt gibt, wurden viele<br />

unterschiedliche Produkte entwickelt<br />

und auf den Markt gebracht, die teilweise<br />

wirklich verblüffend gut sind.<br />

Nach welchen Kriterien wählen<br />

Sie die Testpersonen aus?<br />

Das hängt ganz von den Zielsetzungen<br />

ab – ob das Produkt für Jugendliche bis<br />

20 sein soll, als Produkt für alle oder für<br />

die Gruppe ab 65 gedacht ist. Dementsprechend<br />

setzen sich die repräsentativen<br />

Stichproben zusammen, die wir in<br />

manchen Fällen von Marktforschungsinstituten<br />

oder der Statistik Austria ziehen<br />

lassen. Wir suchen und finden aber<br />

auch über Social Media entsprechende<br />

Personen für unsere Tests oder in Vorversuchen<br />

rekrutieren wir Testpersonen<br />

aus den Studierenden.<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

15


123RF<br />

Wenden Sie außer Befragungen auch<br />

noch andere Methoden an?<br />

Wir wollen häufig wissen, wie es zur Akzeptanz<br />

von Produkten kommt und ob<br />

man diese auch jenseits von einer Befragung<br />

vorhersagen kann. Dabei bedienen<br />

wir uns observationaler Techniken: Wir<br />

beobachten unsere Testpersonen beim<br />

Essen, Trinken und Riechen der Lebensmittel<br />

– wie viel sie zu sich nehmen, wie<br />

rasch und wie sie darauf reagieren. Wir<br />

messen dabei verschiedene Parameter,<br />

die willentlich nicht oder nur wenig beeinflussbar<br />

sind, zum Beispiel den mimischen<br />

Ausdruck, die Pupillendilatation<br />

oder das Blickverhalten, aber auch physiologische<br />

Reaktionen wie Hautleitfähigkeit,<br />

Pulsrate oder Körpertemperatur.<br />

Wie sehen diese unbewussten Reaktionen<br />

aus, wenn etwas gut beziehungsweise<br />

überhaupt nicht schmeckt?<br />

Wenn einem etwas nicht schmeckt oder<br />

gar Ekelreaktionen hervorruft, sind die<br />

Reaktionen in der Regel viel klarer und<br />

eindeutiger als bei angenehmen Eindrücken:<br />

Man beginnt zu schwitzen oder<br />

die Pupillen weiten sich. Und das Gute<br />

daran ist, man kann diese Reaktionen<br />

nicht willentlich beeinflussen. Bei Befragungen<br />

kann nämlich ein Problem sein,<br />

dass die Testpersonen sozial erwünschte<br />

Antworten geben oder irgendeine, weil<br />

sie momentan keine gute Antwort parat<br />

haben. Bei den beschriebenen Beobachtungstechniken<br />

fällt dieses Problem völlig<br />

weg. Wir versuchen auch, sogenannte<br />

implizite Testsituationen herzustellen,<br />

»<br />

„Dieses Wissen über die<br />

assoziativen Bedeutungen<br />

von Gerüchen und<br />

Geschmäckern ist für<br />

Lebensmittelproduzenten,<br />

aber auch für den Non-<br />

Food-Bereich wie Kosmetikoder<br />

Parfum-Produzenten,<br />

natürlich von großer<br />

Bedeutung.“<br />

bei denen die Teilnehmenden gar nicht<br />

wissen, worauf der Test abzielt und sie<br />

sich ganz natürlich verhalten.<br />

Gerüche und Geschmäcker rufen bei<br />

uns allen Erinnerungen hervor, spielt<br />

das in Ihrer Arbeit ebenfalls eine Rolle?<br />

Ja, die sogenannte Konzeptualisierung<br />

von Gerüchen und Geschmäckern ist<br />

ein weiterer Forschungsschwerpunkt.<br />

Man versteht darunter die assoziative<br />

Zuweisung von Bedeutungen zu einem<br />

Geruch oder Geschmack. Und diese<br />

Assoziationen beruhen auf vergangenen<br />

Erfahrungen und den Erinnerungen<br />

daran. Auf der Geruchsebene gibt es<br />

beispielsweise ganz klar altersbezogene<br />

Assoziationen. Das heißt, bestimmte<br />

Gerüche werden mit der Kindheit und<br />

Jugend verknüpft und andere mit dem<br />

Erwachsensein oder dem Alter. Vanille<br />

etwa ist der klassische Geruch der Kindheit,<br />

Nuss-Aromen sind dagegen die Gerüche<br />

der Senioren. Diese Studie haben<br />

wir weltweit durchgeführt und neben<br />

Österreich auch in Vietnam, Thailand,<br />

den USA, Australien, der Schweiz und<br />

Deutschland Daten erhoben. Die Ergebnisse<br />

sind über die Länder hin sehr ähnlich,<br />

mit einigen deutlichen Ausnahmen.<br />

Vanille wird wirklich weltweit mit Kindheit<br />

assoziiert, aber beim Geruch von<br />

Minze gibt es Assoziationsunterschiede<br />

zwischen den Ländern. Üblicherweise<br />

wird Minze primär mit Erwachsensein<br />

assoziiert, nur in Australien wird eindeutig<br />

Kindheit damit verknüpft. Dieses<br />

Wissen über die assoziativen Bedeutungen<br />

von Gerüchen und Geschmäckern<br />

ist für Lebensmittelproduzenten, aber<br />

auch für den Non-Food-Bereich wie<br />

Kosmetik- oder Parfum-Produzenten,<br />

natürlich von großer Bedeutung. •<br />

Ass.Prof. Dr. Klaus Dürrschmid leitet das Labor<br />

für Sensorik und Konsumentenwissenschaften des<br />

Instituts für Lebensmittelwissenschaften.<br />

16 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


LEBENS<br />

MITTEL<br />

Food Fraud – für Lebensmittelchemiker<br />

eine neue alte Herausforderung<br />

Die Prüfung der Authentizität von Lebensmitteln ist komplex und erfordert<br />

die laufende Entwicklung neuer Analyseverfahren.<br />

Von Helmut K. Mayer und Sabrina P. Van den Oever<br />

Adobe Stock<br />

Lebensmittel gehören zu den ältesten<br />

Handelsgütern des Menschen<br />

und waren daher wahrscheinlich<br />

seit jeher von Verfälschungen<br />

betroffen, aber auch in der modernen<br />

Lebensmittelanalytik stellt die Verfälschungskontrolle<br />

von Lebensmitteln immer<br />

noch eine große Herausforderung<br />

dar. Die Authentizität von Lebensmitteln<br />

(LM) umfasst eine Reihe von zum<br />

Teil synonymen Begriffen wie Echtheit,<br />

Unverfälschtheit, Identität, Herkunft/<br />

Ursprung, Deklaration, Zusammensetzung,<br />

(Sorten-)Reinheit und Qualität. Die<br />

Verfälschung eines höherwertigen beziehungsweise<br />

teureren Lebensmittels kann<br />

entweder durch Zumischung von minderwertigen<br />

oder billigeren Produkten – wie<br />

beispielsweise Zucker zu Honig – erfolgen,<br />

oder es wird einfach nur ein höherwertiges/teureres<br />

Lebensmittel durch<br />

Falschdeklaration von minderwertigen/<br />

billigeren Lebensmitteln vorgetäuscht<br />

(z. B. billiger Tankwein deklariert als<br />

AOC-Wein).<br />

SELTEN GESUNDHEITS-<br />

GEFÄHRDEND<br />

In den meisten Fällen sind (auch) im<br />

Bereich der Lebens- und Genussmittel<br />

ökonomische Gründe für Verfälschungen<br />

ausschlaggebend. Glücklicherweise<br />

stellt die überwiegende Mehrzahl dieser<br />

Verfälschungen kein gesundheitliches<br />

Risiko für die Konsument*innen dar (z. B.<br />

Verwässerung, falsche Angaben bezüglich<br />

Zusammensetzung, Spezies, Herkunft,<br />

Sorte). Lediglich in einigen Fällen kann<br />

es auch zur gesundheitlichen Gefährdung<br />

von Menschen kommen (toxische<br />

Farbstoffe wie Anilin in Speiseöl; Sudan<br />

I-IV zur Verbesserung des Aussehens von<br />

Kurkuma oder Chilipulver; Auftreten von<br />

Allergenen in „allergenfreien“ Lebensmitteln;<br />

Melamin in Kindernährmitteln;<br />

Methanol in Wein oder Spirituosen). Aus<br />

diesem Grund beschäftigt sich eine Vielzahl<br />

von Regelwerken, Bestimmungen<br />

und Verordnungen auch mit Fragen der<br />

Authentizität und Rückverfolgbarkeit von<br />

Lebensmitteln, um die Versorgung mit „sicheren“<br />

Lebensmitteln zu gewährleisten.<br />

Dabei erfordert die Vielzahl verschiedener<br />

Möglichkeiten der Verfälschung eine<br />

Reihe von immer aufwendigeren analytischen<br />

Verfahren aus verschiedensten<br />

Fachgebieten (Physik, Chemie, Chemometrie,<br />

Immunologie, Mikrobiologie und<br />

Molekularbiologie). Die Authentizitätsprüfung<br />

von Lebensmitteln kann somit<br />

verschiedenste Aspekte umfassen, wie:<br />

O Kontrolle der Zusammensetzung und<br />

Deklaration (z. B. Gehalt an Fett, Protein,<br />

Zucker)<br />

O Herkunft von Lebensmitteln (Regio-<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

17


Helmut K. Mayer<br />

Sabrina P. Van den Oever<br />

Helmut K. Mayer<br />

Sabrina P. Van den Oever<br />

nalität; AMA-Gütesiegel; BIO; BOS +<br />

SUS; „A“,“A+A“) sowie Schutz spezifischer<br />

Merkmale von Lebensmitteln<br />

(z. B. Basmati-Reis)<br />

O Geografische Herkunft von LM (z. B.<br />

Wein, Milch, Honig) mittels Isotopenanalyse<br />

(z. B. SNIF-NMR, IRMS)<br />

O Rückverfolgbarkeit (Traceability) von<br />

LM (z. B. Wein, Fruchtsäfte, Milch,<br />

Aromen, Honig)<br />

O Schutz von Herkunftsbezeichnungen<br />

(z. B. Steirisches Kürbiskernöl; Marchfelder<br />

Spargel; Wachauer Marille)<br />

O Speziesdifferenzierung bei tierischen<br />

Lebensmitteln (z. B. Milch, Fleisch,<br />

Fisch, Ei)<br />

O Identifizierung/Differenzierung von<br />

Arten, Sorten, Varietäten, Typen, Cultivaren<br />

bei pflanzlichen Lebensmitteln<br />

(z. B. Getreide, Leguminosen, Kartoffeln,<br />

Obst, Gemüse, Wein, Kaffee, Tee)<br />

O Nachweis von Fremdeiweiß in tierischen<br />

und pflanzlichen LM (z. B. Sojaprotein,<br />

Caseinat)<br />

O Nachweis von Fremdfetten und -ölen<br />

in Speisefetten/-ölen (z. B. bei Butter,<br />

Talg, Schmalz, Olivenöl, Kakaobutter,<br />

Palmöl, Palmkernfett, Rizinusöl)<br />

O Authentizität von zuckerhaltigen LM<br />

(z. B. Honig, Ahornsirup, Marmelade,<br />

Fruchtsäfte)<br />

O Nachweis von Buttermilch und/oder<br />

Molke(pulver) in Milchpulver bzw. in<br />

anderen LM<br />

O Nachweis der Erhitzung von LM (z. B.<br />

Erhitzungsindikatoren für Milch, Ei,<br />

Honig)<br />

O Bestimmung des relativen Anteils verschiedener<br />

Proteinfraktionen in zusammengesetzten<br />

LM (z. B. Fleischersatzprodukte<br />

aus Soja, Erbsen, Lupinen,<br />

Weizen)<br />

O Nachweis genetischer Proteinvarianten<br />

(z. B. β-Lactoglobulin B, β-Casein<br />

A 2 oder β-Casein B)<br />

O Differenzierung von Enzymen verschiedener<br />

Herkunft (z. B. mikrobiell<br />

oder rekombinant hergestellte Enzyme<br />

für die LM-Technologie)<br />

O Kontrolle des Reifegrades/Alters von<br />

LM (z. B. Bergkäse, Parmesan; Salami,<br />

Schinken; Essig; Bier, Wein, Whisky;<br />

Sojasauce)<br />

O Identitätsprüfung probiotischer Bakterien<br />

(z. B. Lactobacillus acidophilus)<br />

in LM<br />

O Nachweis der Abwesenheit von Allergenen<br />

(z. B. Gluten, Schalenfrüchte,<br />

Erdnuss, Soja)<br />

O Nachweis einer Bestrahlung von<br />

LM (z. B. Gewürze, Meeresfrüchte,<br />

Fleisch)<br />

O Nachweis der Gentechnikfreiheit von<br />

LM (z. B. Soja, Mais, Raps, Tomaten)<br />

O Authentizität von potenziellen Novel<br />

Foods (z. B. Insekten, Algen, exotische<br />

Nüsse).<br />

NEUE LEBENSMITTEL, NEUE<br />

HERAUSFORDERUNGEN<br />

Interessanterweise stehen die Analytiker*innen<br />

bei jeder Lebensmittel-Gruppe<br />

jedes Mal vor vollkommen neuen thematischen<br />

und analytischen Herausforderungen,<br />

da sich die Art der Verfälschungen<br />

erst durch die spezielle Zusammensetzung<br />

des betreffenden Lebensmittels<br />

beziehungsweise die produkttypischen<br />

Möglichkeiten für Verfälschungen ergibt.<br />

Als ein prominentes Beispiel sollen<br />

einige Aspekte der Authentizitätsprüfung<br />

von Milch und Milchprodukten<br />

kurz umrissen werden: die Kontrolle der<br />

Zusammensetzung und Deklaration (z. B.<br />

Fettgehalt in Vollmilch), die Herkunft<br />

18 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


zw. Rückverfolgbarkeit („Traceability“)<br />

von Milch (z. B. Alpenmilchpulver; Käse<br />

mit geschützter Ursprungsbezeichnung),<br />

die Differenzierung von Milch verschiedener<br />

Tierarten (Kuh, Schaf, Ziege, Büffel),<br />

der Nachweis von Fremdfetten und<br />

-ölen in reiner Butter, der Nachweis von<br />

Buttermilch und/oder Molke in Milchpulver,<br />

der Nachweis der Erhitzung bei<br />

Milch (z. B. Erhitzungsindikatoren für<br />

ESL-Milch), die Bestimmung des Casein/<br />

Molkenprotein-Anteiles (etwa bei Topfen),<br />

der Nachweis von Fremdeiweiß<br />

(z. B. Sojaprotein), der Nachweis genetischer<br />

Milchproteinvarianten (z. B.<br />

β-Casein A 2 in sogenannter „A2-Milch“),<br />

die Differenzierung von Lab verschiedener<br />

Herkunft (echtes Kälberlab, Labersatzenzyme<br />

aus Tieren/Pflanzen/<br />

Mikroorganismen oder gentechnisch<br />

hergestelltes Chymosin), die Kontrolle<br />

des Reifegrades, Alters oder Herkunft<br />

von Käse, die Identitätsprüfung probiotischer<br />

Bakterienstämme in probiotischen<br />

Joghurts (z. B. Bifidobacterium animalis<br />

ssp). lactis BB-12 ® ) oder die Authentizitätsprüfung<br />

von sogenannter „Heumilch“,<br />

welche seit 2016 sogar in der EU<br />

als „geschützte traditionelle Spezialität“<br />

[g.t.S.] anerkannt ist.<br />

Das Department für Lebensmittelwissenschaften<br />

und -technologie (Departmentleiter<br />

Dietmar Haltrich) hat mit dem<br />

Institut für Lebensmittelwissenschaften<br />

(Institutsleiter Konrad Domig) und dem<br />

Institut für Lebensmitteltechnologie<br />

(Institutsleiter Henry Jäger) in den vergangenen<br />

Jahren eine Vielzahl solcher<br />

Forschungsfragen zur Authentizität von<br />

Lebensmitteln im Rahmen von nationalen<br />

und internationalen Forschungskooperationen<br />

und -projekten bearbeitet. Insbesondere<br />

die Arbeitsgruppe Lebensmittelchemie<br />

und -authentizität (Helmut<br />

Mayer, Matthias Schreiner, Sabrina Van<br />

den Oever) des Instituts für Lebensmittelwissenschaften<br />

vertritt die Thematik<br />

„Authentizität von Lebensmitteln“ seit<br />

Jahren engagiert in Forschung und Lehre<br />

(z. B. Vorlesungen und Laborübungen auf<br />

Deutsch und Englisch in den Masterprogrammen<br />

„Lebensmittelwissenschaften<br />

und -technologie“ [417] und „Safety in<br />

the Food Chain“ [451] der <strong>BOKU</strong>.<br />

„UNECHTEN“ VITAMINEN<br />

AUF DER SPUR<br />

Ein aktuelles Forschungsprojekt der<br />

Arbeitsgruppe (unter der Leitung von<br />

Sabrina Van den Oever und Helmut<br />

Mayer) beschäftigt sich mit der Entwicklung<br />

einer zuverlässigen analyti schen<br />

Methode (mittels UHPLC-PDA-MS) zur<br />

Unterscheidung verschiedener Formen<br />

von Vitaminen, welche unterschiedliche<br />

biologische Aktivität aufweisen (sogenannte<br />

Vitamere). Dabei soll das biologisch<br />

wirksame „echte“ Vitamin B12 von<br />

nicht-aktivem „Pseudocobalamin“ zweifelsfrei<br />

differenziert werden, welches von<br />

einigen Mikroorganismen (z. B. Milchsäurebakterien)<br />

sowie von Cyanobakterien<br />

(z. B. Spirulina) gebildet werden kann<br />

und die unter anderem zur Herstellung<br />

von Nahrungsergänzungsmitteln mit Vitamin<br />

B12-Präparaten verwendet werden.<br />

Interessanterweise konnte festgestellt<br />

werden, dass eine Reihe von kommerziellen<br />

Präparaten auch teils beträchtliche<br />

Anteile von biologisch unwirksamen<br />

Pseudocobalamin beinhalten. Das kann<br />

mit den bisher meistverwendeten mikrobiologischen<br />

Verfahren sowie auch<br />

mit üblichen HPLC-Methoden nicht<br />

nachgewiesen werden – und eröffnet<br />

eine unerwartete neue Fragestellung der<br />

Authentizität von Lebensmitteln.<br />

Die Entwicklung neuer Analyseverfahren<br />

zur verbesserten Kontrolle der Unverfälschtheit<br />

von Lebensmitteln stellt<br />

somit gerade wegen des verstärkten<br />

Einsatzes neuer Herstellungsverfahren<br />

und Technologien auch in Zukunft eine<br />

große Herausforderung für die Lebensmittelanalytik<br />

dar und das Department<br />

für Lebensmittelwissenschaften und<br />

-technologie wird sich auch weiterhin<br />

in Forschung und Lehre intensiv mit der<br />

Authentizität von Lebensmitteln beschäftigen.<br />

•<br />

A.o. Univ.Prof. Dr. Helmut Mayer und DI in Sabrina<br />

Van den Oever, BSc, forschen am Institut für<br />

Lebensmittelwissenschaften in der Arbeitsgruppe<br />

Lebensmittelchemie und -authentizität.<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

19


Gudrun Obersteiner<br />

LEBENS<br />

MITTEL<br />

Lebensmittelabfälle müssen in allen<br />

Bereichen der Wertschöpfungskette<br />

vermieden werden<br />

In der EU werden jährlich etwa 88 Millionen Tonnen an Lebensmittelabfällen verursacht, dies entspricht<br />

einem monetären Wert von rund 143 Milliarden Euro. In Österreich sind alleine die Haushalte für rund die<br />

Hälfte aller vermeidbaren Lebensmittelabfälle verantwortlich.<br />

Von Gudrun Obersteiner<br />

Entlang der gesamten Wertschöpfungskette<br />

– bei jedem Verarbeitungsschritt<br />

und auf jeder Ebene<br />

– entstehen vermeidbare Lebensmittelabfälle.<br />

Aufgrund der Erntetechnik bleiben<br />

Lebensmittel bereits bei der Ernte<br />

am Feld zurück oder werden im Laufe der<br />

Produktion aussortiert oder beschädigt.<br />

Ebenso entstehen Lebensmittelabfälle<br />

im Einzelhandel und in der Gastronomie<br />

sowie auf Ebene der Konsument*innen,<br />

wo Lebensmittel gekauft, jedoch nicht<br />

konsumiert werden. Die Entstehung<br />

von Lebensmittelabfällen ist daher kein<br />

Problem eines einzelnen Sektors – vielmehr<br />

zeigt sich eine kumulative Wirkung<br />

basierend auf miteinander verbundenen<br />

Bedingungen.<br />

Der Begriff „vermeidbare Lebensmittelabfälle“<br />

umfasst dabei jene Lebensmittelabfälle,<br />

die zum Zeitpunkt ihrer Entsorgung<br />

noch uneingeschränkt genießbar<br />

sind oder die bei rechtzeitiger Verwendung<br />

genießbar gewesen wären, welche<br />

jedoch aus verschiedenen Gründen nicht<br />

marktgängig sind (landwirtschaftliche<br />

Produktion, (Weiter-)Verarbeitung, Distribution,<br />

Groß- und Einzelhandel) beziehungsweise<br />

aus unterschiedlichen Gründen<br />

nicht gegessen (Großküchen- und<br />

Gastronomiebetriebe, Konsument*innen)<br />

und daher entsorgt werden. Insgesamt<br />

zeigen die Zahlen für Österreich,<br />

Deutschland und die Europäische Union,<br />

dass Haushalte für rund 50 Prozent aller<br />

Lebensmittelabfälle verantwortlich sind.<br />

Die Gründe für die Verschwendung von<br />

Lebensmitteln sind vielfältig und können<br />

nicht auf einzelne Verhaltensweisen<br />

beziehungsweise Einflussfaktoren<br />

reduziert werden. In der Landwirtschaft<br />

sind es ungenießbare Lebensmittel und<br />

Ernteüberschüsse. Vor allem aber sind<br />

die hohen Qualitätsansprüche des Marktes<br />

das entscheidende Kriterium für die<br />

meisten Verluste. Der Zeitmangel beim<br />

Auspacken und Aussortieren von einzelnen<br />

beschädigten Früchten aus Mehrfachpackungen<br />

in Supermärkten kann<br />

ebenso als Beispiel für den Handel dienen<br />

und auch bei den Konsumenten gaben<br />

55 Prozent der Befragten an, dass der<br />

Zeitmangel das Haupthindernis zur Vermeidung<br />

von Lebensmittelabfällen ist.<br />

Falsche Lagerung und fehlende Kochideen<br />

sind weitere wichtige Gründe. Für<br />

alle Beispiele entlang der Lieferkette gilt,<br />

dass ein großer Teil der weggeworfenen<br />

Lebensmittel sogar zum Zeitpunkt<br />

des Wegwerfens noch essbar ist, was<br />

die Grundvoraussetzung für zukünftige<br />

Abfallvermeidung darstellt.<br />

WIE KOMMT MAN ZU DEN ZAHLEN?<br />

Am Institut für Abfallwirtschaft beschäftigen<br />

wir uns seit nunmehr 20 Jahren mit<br />

dem Thema Lebensmittelabfall. Schwerpunkte<br />

der Analysen sind hier die Entwicklung<br />

und Anwendung von Methoden<br />

zur Abschätzung des Lebensmittelabfallaufkommens,<br />

die Entwicklung und<br />

Evaluierung von Vermeidungsmaßnahmen<br />

sowie die Analyse der mit Lebensmittelabfällen<br />

und deren Vermeidung<br />

einhergehenden Umweltauswirkungen.<br />

So wurden für die Erhebung des Lebensmittelabfallaufkommens<br />

in der Landwirtschaft<br />

österreichweit Angaben von<br />

insgesamt 776 Produzenten und 189<br />

20 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


dass der „Selbstversuch“ automatisch zu<br />

Verhaltensänderungen führt.<br />

Aufbereitern von 24 verschiedenen konventionellen<br />

Obst- und Gemüsesorten<br />

ausgewertet. Um mehr über den Zustand<br />

der auf den Feldern verbliebenen Lebensmittel<br />

und ihre mögliche Verwertbarkeit<br />

zu erfahren, wurden empirische<br />

Felduntersuchungen durchgeführt. Die<br />

Felder wurden nach der Ernte untersucht<br />

und verwertbares Gemüse wurde mit der<br />

Hand aufgelesen. Die Untersuchungszonen<br />

waren gleichmäßig über die gesamte<br />

Feldlänge verteilt, um sowohl Fehler bei<br />

der Erntetechnik als auch Randzonen,<br />

Wendebereiche der Erntemaschine und<br />

verschiedene Boden- und Wachstumszonen<br />

zu erfassen. Nach dem Einsammeln<br />

wurde das Gemüse gewogen und<br />

klassifiziert.<br />

Im Handel konnte durch Kooperation mit<br />

österreichischen Lebensmitteleinzelhandelsunternehmen<br />

und die Auswertung<br />

derer Abschreibungsdaten ein guter<br />

Überblick über die anfallenden Mengen<br />

geschaffen werden.<br />

Das Lebensmittelabfallaufkommen von<br />

75 Gastronomiebetrieben wurde mittels<br />

Sortieranalysen erhoben, um Rückschlüsse<br />

auf das Lebensmittelabfallaufkommen<br />

in der Außer-Haus-Verpflegung<br />

zu ziehen. Neben einer Kategorisierung<br />

in fünf Küchenbereiche (vom Lager bis<br />

zum Tellerrest) ermöglichte eine Einteilung<br />

in zehn Produktgruppen detaillierte<br />

Aussagen zu den Hotspots in<br />

unterschiedlichen Gastronomietypen.<br />

Es konnte festgestellt werden, dass vom<br />

Restaurant über Hotels bis zur Gemeinschaftsverpflegung<br />

jeweils unterschiedliche<br />

Ursachen zum Lebensmittelabfallaufkommen<br />

führen und dadurch konnten<br />

auch unterschiedliche Vermeidungsmaßnahmen<br />

identifiziert werden.<br />

Besonders die Erhebung des abfallrelevanten<br />

Verhaltens der Verbraucher*innen<br />

ist schwierig. Bei sogenannten reaktiven<br />

Messverfahren wissen die Betroffenen,<br />

dass sie an einer Befragung<br />

teilnehmen; das bedeutet, dass das<br />

Messverfahren einen Einfluss auf die zu<br />

messende Variable hat. Zu den nicht-reaktiven<br />

Verfahren zählen unter anderem<br />

Sortieranalysen. Beide Methoden wurden<br />

am Institut für Abfallwirtschaft in<br />

den vergangenen Jahren immer wieder<br />

angewendet. So wurden eigene Sortieranalysen<br />

mit dem Fokus auf Lebensmittelabfall<br />

durchgeführt, aber auch Sortierergebnisse<br />

von anderen statistisch<br />

ausgewertet und zusammengeführt.<br />

Abfälle, die in der Toilette landen, können<br />

wir mit dieser Methode aber nicht<br />

erfassen. Deshalb wurden zusätzlich<br />

immer wieder Befragungen bei Haushalten<br />

durchgeführt. In einer der letzten<br />

Umfragen konnten 2159 vollständig ausgefüllte<br />

Fragebögen für die Analysen<br />

herangezogen werden. Das Führen von<br />

sogenannten Lebensmitteltagebüchern,<br />

in denen alle weggeworfenen Lebensmittel<br />

ausgewählter Haushalte akribisch<br />

nach Art und Masse erfasst werden, ist<br />

eine weitere gängige Methode. Eine der<br />

Hauptschwierigkeiten liegt hier darin,<br />

zuverlässige Teilnehmer*innen für solche<br />

Studien zu gewinnen, aber auch darin,<br />

Als Ergebnis der jahrelangen Analysen<br />

stellt sich die Zusammensetzung der<br />

Lebensmittelabfälle in Österreich wie<br />

in Abbildung 2 ersichtlich dar. Geht man<br />

von den bisherigen Ergebnissen der Sortieranalysen<br />

aus und versucht, über die<br />

Erkenntnisse zu den jeweiligen Entsorgungswegen<br />

das tatsächliche Aufkommen<br />

an Lebensmittelabfällen hochzurechnen,<br />

so kommt man auf einen Wert<br />

von rund 521.000 Tonnen an vermeidbaren<br />

Lebensmittelabfällen, die alleine<br />

von Haushalten in Österreich verursacht<br />

werden. Das entspricht fast der Hälfte<br />

aller entlang der Wertschöpfungskette<br />

anfallenden Abfälle. Ergebnisse für die<br />

Europäische Union und Deutschland weisen<br />

in eine ähnliche Richtung.<br />

DIE UMWELTAUSWIRKUNGEN<br />

Laut einer aktuellen Metastudie von<br />

Quantis (2020) stehen global 28–34 Prozent<br />

der gesamten Treibhausgasemissionen<br />

mit der Ernährung in Zusammenhang.<br />

24 Prozent entstehen durch die Landwirtschaft<br />

inklusive Effekte der Landnutzung<br />

(z. B. Regenwald-Abholzung),<br />

weitere 5–10 Prozent durch die übrige<br />

Wertschöpfungskette inklusive Zubereitung<br />

und Abfallbehandlung. Innerhalb<br />

der Landwirtschaft ist die Tierhaltung für<br />

60 Prozent der Klimawirkungen verantwortlich.<br />

Die Umweltauswirkungen der<br />

Lebensmittelproduktion und des Lebensmittelkonsums<br />

werden noch verstärkt,<br />

wenn Lebensmittel verschwendet und<br />

nicht konsumiert werden. Da weltweit<br />

etwa ein Drittel der produzierten Lebensmittel<br />

verloren geht (FAO, 2011), kann<br />

deren Vermeidung unsere negativen Auswirkungen<br />

auf das Klima um 5–10 Prozent<br />

senken (Obersteiner & Pilz, 2020).<br />

186 Mio. Tonnen CO 2<br />

-Äquivalente (CO 2<br />

e)<br />

können auf die Lebensmittelverschwendung<br />

in der EU zurückgeführt werden,<br />

was 4 Prozent des gesamten europäischen<br />

Treibhauseffekts ausmacht. Das sind<br />

2,1 kg CO 2<br />

e pro kg Lebensmittelabfälle.<br />

Im Vergleich zu den Treibhausgas (THG)-<br />

Emissionen von Lebensmitteln machen<br />

die Emissionen von Lebensmittelabfällen<br />

15,7 Prozent aus. Vor dem Hintergrund<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

21


Abbildung 2: Aufkommen vermeidbarer Lebensmittelabfälle in Österreich<br />

dieser relativ hohen Auswirkungen sind<br />

die Einsparungen, die durch eine entsprechende<br />

Vermeidung, Verwertung oder<br />

Verwertung von Lebensmittelabfällen<br />

erzielt werden können, besonders interessant.<br />

Bei der Vermeidung von Lebensmittelabfällen,<br />

etwa durch die Vermeidung<br />

von Fleisch- und Milchabfällen durch<br />

Spenden, können sogar Einsparungen von<br />

über 1.000 kg CO 2<br />

e/t eingesparter Lebensmittel<br />

erzielt werden. Auch bei der<br />

Valorisierung, bei der die Lebensmittelreste<br />

als Nebenprodukt genutzt werden,<br />

bevor sie in das Abfallregime eingebracht<br />

werden, konnten erhebliche THG-Einsparungen<br />

von bis zu 500 kg CO 2<br />

e nachgewiesen<br />

werden. Die Entsorgung ist die<br />

am wenigsten zu bevorzugende Behandlung<br />

von Lebensmittelabfällen, da hohe<br />

Umweltbelastungen auftreten können<br />

und keine wertvollen Ressourcen zurückgewonnen<br />

werden.<br />

Die Umsetzung von Vermeidungsmaßnahmen<br />

erfolgt in Österreich bereits in<br />

vielfältiger Art und Weise. Die Erhebung<br />

konkreter Daten zu vermiedenen Abfällen<br />

und somit der Nachweis der Zielerreichung<br />

ist jedoch schwierig, da es zu<br />

Überlagerungen wie zum Beispiel gute<br />

oder schlechte wirtschaftliche Entwicklung<br />

oder witterungsbedingte Beeinflussung<br />

der Ernte kommen kann. Konkrete<br />

Daten können aber zum Beispiel vom<br />

Handel über die Menge an gespendeten<br />

Produkten oder in der Gastronomie<br />

durch direkte Vorher-Nachher-Vergleiche<br />

nach Umsetzung von Maßnahmen<br />

erhoben werden.<br />

BEWUSSTER EINKAUF<br />

Wesentlich scheint, dass zu einer effizienten<br />

Lebensmittelabfallvermeidung<br />

immer die gesamte Versorgungskette<br />

zu betrachten ist. Es geht nicht nur um<br />

die Vermeidung im eigenen Bereich,<br />

sondern auch um die Berücksichtigung<br />

von Optionen zur Lebensmittelabfallvermeidung<br />

in anderen Bereichen der<br />

Wertschöpfungskette. So kann der Konsument<br />

nicht nur im eigenen Haushalt<br />

Lebensmittelabfälle vermeiden, sondern<br />

durch den bewussten Einkauf, etwa von<br />

aus der Norm geratenen Produkten die<br />

Landwirtschaft, durch Bestellen kleiner<br />

Portionen die Gastronomie oder durch<br />

den bewussten Griff zu Produkten mit<br />

knappem Mindesthaltbarkeitsdatum den<br />

Handel bei der Lebensmittelabfallvermeidung<br />

unterstützen. Das kann aber<br />

nur funktionieren, wenn entsprechende<br />

Rahmenbedingungen (u. a. über den<br />

Preis oder das Marketing, aber vor allem<br />

durch ein entsprechendes Angebot) geschaffen<br />

werden. Eine Einschränkung der<br />

Marketingmaßnahmen zu mengengebundenen<br />

Sonderangeboten bei Lebensmitteln<br />

(z. B. Kauf 3 – zahl 2 oder günstigere<br />

Großpackungen) wird von einzelnen<br />

Supermarktketten in Österreich bereits<br />

umgesetzt und kann verhindern, dass zu<br />

viele Lebensmittel eingekauft werden.•<br />

DI in Gudrun Obersteiner ist Senior Scientist am<br />

Institut für Abfallwirtschaft (ABF).<br />

22 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


slkphoto.at/ Sebastian Kreuzberger<br />

LEBENS<br />

MITTEL<br />

„Wir wollten eine Lösung, die in das<br />

bestehende System integrierbar ist“<br />

Die Geschwister Cornelia und Andreas Diesenreiter retten mit ihrem Feinkost-Start-up „Unverschwendet“<br />

überschüssiges Obst und Gemüse und erhalten es dadurch in der Wertschöpfungskette. Warum Nachhaltigkeit<br />

und Wirtschaftlichkeit keine Gegensätze sein müssen, erzählen die UBRM-Absolventin und der<br />

Multimedia-Experte im Gespräch mit Bettina Fernsebner-Kokert.<br />

Was war der Auslöser, dass ihr gegen das<br />

Wegwerfen von unverkäuflichem und überschüssigem<br />

Obst und Gemüse aktiv geworden<br />

seid?<br />

Cornelia: Ich bin gelernte Köchin und<br />

hatte schon immer eine Liebe zu Lebensmitteln.<br />

Unsere Oma hat einen<br />

kleinen Bauernhof, wo wir schon als<br />

Kinder Kartoffeln ausgegraben haben.<br />

Ich habe Recht und Wirtschaft studiert<br />

und im Anschluss Umwelt- und<br />

Bioressourcenmanagement an der<br />

<strong>BOKU</strong>. Bei meinem weiteren Studium<br />

in England habe ich dann das Konzept<br />

„Zero Waste“ kennengelernt, das 2012<br />

in Österreich noch nicht bekannt war.<br />

Bei einer Restmüllanalyse im Rahmen<br />

eines Praktikums ist mir bewusst geworden,<br />

dass das ein riesiges Problem ist:<br />

Da waren Milchpackerl dabei, die noch<br />

nicht einmal das Ablaufdatum erreicht<br />

hatten oder ein ganzes Netz Orangen,<br />

die noch gut waren. Nachdem ich auch<br />

meine Masterarbeit zu diesem Thema<br />

geschrieben hatte, habe ich begonnen,<br />

in Wien in Schrebergärten zu fahren,<br />

deren Pächter keine Zeit oder Lust hatten,<br />

ihr Obst oder Gemüse zu ernten.<br />

Darüber hat „Der Standard“ dann einen<br />

kleinen Bericht gebracht, woraufhin sich<br />

eine Bäuerin aus dem Burgenland gemeldet<br />

und gefragt hat, ob wir nicht ein<br />

paar Tonnen Wassermelonen brauchen<br />

könnten.<br />

Damit war „Unverschwendet“ geboren?<br />

Cornelia: Da hat sich bei mir erst der<br />

Blick geöffnet für Lebensmittelabfälle<br />

in der Landwirtschaft – es gibt dazu ja<br />

bis heute keine Zahlen. Und da haben<br />

Andreas und ich beschlossen, uns mit<br />

„Unverschwendet“ selbstständig zu<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

23


Unverschwendet<br />

machen und uns auf die Landwirtschaft<br />

zu fokussieren.<br />

Andreas: Bei mir war es am Anfang eher<br />

ein brüderlicher Dienst – meine Schwester<br />

macht etwas Cooles und braucht dabei<br />

Hilfe in den Bereichen wie Marketing,<br />

Produktfotografie oder der Webseite,<br />

in denen ich mich auskenne. Ich habe<br />

aber auch gesehen, dass das Ganze großes<br />

Potenzial hat und es war uns beiden<br />

schnell klar, dass wir das hauptberuflich<br />

machen wollen.<br />

Warum betrachten wir Lebensmittel als<br />

Wegwerfprodukte? Ist ausschließlich der<br />

Überfluss der Grund dafür?<br />

Cornelia: Dass wir keine Knappheit mehr<br />

erleben müssen, ist ja gut. Aber dadurch<br />

ist auch der Wert gesunken und die Preise<br />

für Lebensmittel sind extrem niedrig,<br />

es gibt hohe Subventionen, damit billig<br />

verkauft werden kann.<br />

Andreas: Dazu kommt, dass die Supermärkte<br />

einen Preiskampf führen und die<br />

Produktion so effizient geworden ist,<br />

dass es mittlerweile billiger ist, zu viel zu<br />

produzieren und im Anschluss den Überschuss<br />

wegzuwerfen als industriellen<br />

Leerlauf zu haben. Auch für die Bauern<br />

und Bäuerinnen ist es wirtschaftlicher<br />

geworden, mehr zu produzieren, damit<br />

sie am Ende auf jeden Fall genug für ihre<br />

Abnehmer*innen in der restlichen Lebensmittelkette<br />

haben.<br />

»<br />

„Dass wir keine Knappheit<br />

mehr erleben müssen, ist gut.<br />

Aber dadurch ist auch der<br />

Wert gesunken und die<br />

Preise für Lebensmittel sind<br />

extrem niedrig, es gibt hohe<br />

Subventionen, damit billig<br />

verkauft werden kann.“<br />

Cornelia: Die Technologisierung der<br />

Landwirtschaft steigt und die kleinststrukturierten<br />

landwirtschaftlichen Betriebe,<br />

die ja für die Biodiversität wichtig<br />

sind, haben fast keine Chance mehr<br />

gegen die Großen.<br />

Mit euren Feinkostprodukten wie Marmeladen,<br />

Chutneys, Sirup oder Saucen<br />

erhaltet ihr die Ursprungsprodukte in der<br />

Wertschöpfungskette. Wo müsste man bei<br />

der Produktion von Lebensmitteln ansetzen,<br />

damit nicht so viel in der Mülltonne<br />

landet?<br />

Cornelia: Bewusstseinsbildung ist sicher<br />

die größte Herausforderung. Das jetzige<br />

System ist ja auch aus pragmatischen<br />

Gründen so gewachsen. Wir wollten<br />

schauen, welche Lösung es geben kann,<br />

die in das bestehende System integrierbar<br />

ist. Das heißt, wir schauen, wie man<br />

übrig gebliebenes Obst und Gemüse für<br />

die restliche kommerzielle Wertschöpfungskette<br />

verfügbar machen kann. Die<br />

Nachfrage nach regionalen Produkten<br />

steigt, aber die Selbstversorgungsrate<br />

liegt in Österreich bei unter 50 Prozent.<br />

Es gibt viele bäuerliche Betriebe, die<br />

Überschüsse, aber nicht die Möglichkeit<br />

haben, diese über andere Vertriebskanäle<br />

abzusetzen. Sie brauchen einfach<br />

eine zentrale Anlaufstelle, bei der sie<br />

ihren Überschuss melden können – und<br />

wir versuchen diesen im System zu erhalten.<br />

Wie viel Obst und Gemüse wurde euch<br />

bereits angeboten?<br />

Cornelia: Alleine aus dem Großraum Wien<br />

waren es über zehn Millionen Kilogramm.<br />

Es hat sich gezeigt, dass die Feinkost das<br />

Problem alleine nicht wird lösen können.<br />

Wir müssen also andere Wege finden, wie<br />

wir das verwerten können. Grundsätzlich<br />

kann sich jeder gerne bei uns melden, wir<br />

nehmen sowohl biologisches als auch<br />

konventionelles Obst und Gemüse. Wir<br />

haben sogar schon aus Norddeutschland<br />

Angebote bekommen. Unsere Kapazitäten<br />

erlauben derzeit aber nur einen regionalen<br />

Fokus, wir hoffen aber, künftig<br />

in ganz Österreich und darüber hinaus<br />

Überschüsse retten zu können.<br />

Andreas: Es kann sich aber jetzt bereits<br />

jede*r bei uns melden.<br />

Welche Mängel führen dazu, dass Obst<br />

und Gemüse aussortiert werden, weil sie<br />

unverkäuflich sind?<br />

Cornelia: Zu klein, zu groß, zu krumm<br />

ist gar nicht der Hauptgrund, sondern<br />

Überschuss. Viele Betriebe bauen bis 160<br />

Prozent an, um Hagel oder Dürre ausgleichen<br />

zu können. Wenn das aber nicht<br />

eintritt, dann haben alle Bauern in einer<br />

Region sehr gute Ernten – was manchmal<br />

zu einem kurzfristigen Marktversagen<br />

führt, weil eben keine anderen Vertriebskanäle<br />

vorhanden sind. Wir haben aber<br />

auch schon einmal eine ganze Lkw-Ladung<br />

Bio-Beeren bekommen, weil der<br />

Lkw aufgrund von Verkehrsproblemen<br />

einen Tag zu spät angeliefert hätte. Wegen<br />

des EU-Embargos gegen Russland<br />

haben wir einen Preisverfall bei Äpfeln.<br />

Andreas: Auch das Wetter spielt eine<br />

24 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


Rolle. Wenn es im Sommer viel regnet,<br />

werden weniger Wassermelonen gekauft,<br />

weil die ein typisches Essen fürs<br />

Freibad sind. Das scheint auch für Tomaten<br />

zu gelten, weil die gerne für Grillfeiern<br />

gekauft werden.<br />

„Unverschwendet“ muss sehr flexibel sein,<br />

weil ihr ja nur verarbeiten könnt, was zufällig<br />

gerade vorhanden ist. Wie geht ihr<br />

mit diesem unternehmerischen Risiko um?<br />

Andreas: Das ist je nach Obst- oder Gemüsesorte<br />

unterschiedlich. So hat uns<br />

vergangene Woche unser Marillenbauer<br />

angerufen und gesagt, dass viele seiner<br />

Früchte heuer einen optischen Schaden,<br />

einen braunen Fleck, haben werden. Das<br />

ändert nichts an der Qualität der Früchte,<br />

aber sie sind für den Verkauf im Supermarkt<br />

nicht mehr geeignet – wir können<br />

dadurch jetzt schon die Verarbeitung des<br />

riesigen Marillenüberschusses planen.<br />

Tomaten aus der Glashausproduktion<br />

wiederum haben jede Woche 1–3 Prozent<br />

Ausfall, da haben wir einen kleinen<br />

Produzenten gesucht, der den wöchentlichen<br />

Überschuss in kleinen Chargen<br />

verarbeiten kann. Wir arbeiten daher an<br />

einem Überschussmanagement-System,<br />

einem Warenmanagementsystem, das<br />

auch die Wahrscheinlichkeit von Überschüssen<br />

vorhersagen kann.<br />

Cornelia: Wir hoffen, dass wir irgendwann<br />

beispielsweise so viele Tomatenbauern<br />

in unserem System haben, dass<br />

wir aus unserer Erfahrung sagen können,<br />

in welchem Zeitraum es die meisten<br />

Überschüsse geben wird. Und wir<br />

können dann im Zeitraum Y die Menge<br />

X im Markt weiterverkaufen.<br />

Durch die Pandemie sind die Lebensmittelabfälle<br />

sogar noch mehr geworden. Wie habt<br />

ihr das bei „Unverschwendet“ gemerkt?<br />

Cornelia: Durch den Wegfall der Gastronomie<br />

kam es zu sehr vielen Überschüssen,<br />

weil viele Landwirt*innen auf<br />

bestimmte Produkte spezialisiert sind,<br />

wie ganz große Kartoffeln für die Pommes-Produktion<br />

oder Babyspinat für die<br />

Gastronomie. Dieses Obst und Gemüse<br />

in den Lebensmitteleinzelhandel umzuleiten<br />

war sehr schwierig, weil es dort<br />

einfach nicht nachgefragt wird.<br />

Du thematisierst in deinem Buch, dass<br />

auch du selbst immer wieder beim Versuch,<br />

möglichst nachhaltig zu leben, Rückschläge<br />

erlebst. In welchem Bereich des Lebens<br />

passiert dir das?<br />

Cornelia: Alles, was wir tun oder konsumieren,<br />

hat nachhaltige Konsequenzen,<br />

sogar unsere Marillenmarmelade.<br />

Ich weiß, dass ich jeden Tag mehrfach<br />

scheitere. So wäre ich seit Jahren gerne<br />

vegan, scheitere aber kläglich an der<br />

Käse-Pizza.<br />

Andreas: Bis vor zehn Jahren habe ich<br />

überhaupt nicht nachhaltig gelebt. In<br />

meiner Schwester habe ich eine sehr<br />

gute Meisterin in der Nachhaltigkeit<br />

gefunden und nach und nach begon -<br />

nen, meine<br />

»<br />

Konsumentscheidungen zu<br />

hinterfragen. Es macht auch Freude,<br />

nicht verschwenderisch mit den Dingen<br />

umzugehen und so das Leben zu<br />

genießen.<br />

„Grundsätzlich kann sich<br />

jede*r gerne bei uns melden,<br />

wir nehmen sowohl<br />

biologisches als auch<br />

konventionelles Obst<br />

und Gemüse.“<br />

Cornelia, du hast an der <strong>BOKU</strong> Umweltund<br />

Bioressourcenmanagement studiert.<br />

Welche Fähigkeiten, die du im Studium<br />

erworben hast, begleiten dich bis heute?<br />

Cornelia: Bei meinem Recht- und Wirtschaftsstudium<br />

in Salzburg war die<br />

oberste Prämisse Gewinnmaximierung<br />

und Effizienzsteigerung. Es ging nie darum,<br />

was das mit der Umwelt oder den<br />

Menschen macht. An die <strong>BOKU</strong> zu kommen,<br />

war dann eine richtige Wohltat, weil<br />

man hier von idealistischen Menschen<br />

umgeben ist, die auch möchten, dass<br />

Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit<br />

kein Gegensatz mehr sein müssen. Umwelt-<br />

und Bioressourcenmanagement<br />

war die perfekte Wahl für mich, weil man<br />

da in alle Bereiche der Nachhaltigkeit<br />

eintauchen kann und ein breites Wissen<br />

erwirbt. Ich habe an der <strong>BOKU</strong> unter<br />

anderem kritisches Denken gelernt: Wie<br />

lese ich eine Studie richtig, wer ist der/<br />

Evi Huber/Unverschwendet<br />

ZU DEN PERSONEN<br />

Cornelia und Andreas Diesenreiter<br />

sind in Steyr aufgewachsen.<br />

Cornelia hat in Salzburg Wirtschaft<br />

und Recht studiert und hat danach<br />

Abschlüsse in Umwelt- und Bioressourcenmanagement<br />

an der <strong>BOKU</strong><br />

sowie in Design and Innovation for<br />

Sustainability in England gemacht.<br />

Andreas hat an der FH Salzburg<br />

MultiMediaArt studiert.<br />

Seit 2015 verarbeiten sie in ihrem<br />

Unternehmen „Unverschwendet“,<br />

das auf dem Wiener Schwendermarkt<br />

seinen Sitz hat, überschüssiges<br />

Obst und Gemüse zu Feinkostprodukten.<br />

Derzeit arbeiten sie<br />

an der Entwicklung eines Smarten<br />

Überschussmanagementsystems.<br />

Anfang <strong>2021</strong> ist Cornelias Buch<br />

„Nachhaltig gibt’s nicht“ erschienen.<br />

www.unverschwendet.at<br />

die Auftraggeber*in? Das ist in Zeiten<br />

von Fake News gar nicht hoch genug zu<br />

schätzen.<br />

„Zu kaufen gibt es die Produkte von „Unverschwendet“<br />

am Schwendermarkt in<br />

Wien, im „Unverschwendet“-Online<br />

Shop und in vielen weiteren Läden und<br />

Greißlereien.<br />

•<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

25


LEBENS<br />

MITTEL<br />

Wie Biosensoren bei der Herstellung<br />

von Lebensmitteln und in der Qualitätssicherung<br />

eingesetzt werden können<br />

Von Roland Ludwig und Stefan Scheiblbrandner<br />

<strong>BOKU</strong>-Spin-off entwickelte mit „LaktoSens“ einen Biosensor zur Bestimmung niedrigster Laktosekonzentrationen<br />

in Milch und Milchprodukten, der breite Anwendung findet.<br />

Adobe Stock<br />

Die Analyse von Lebensmitteln und<br />

ihrer Inhaltsstoffe während der<br />

Verarbeitung und Lagerung ist eine<br />

der wichtigsten Methoden, um Rohstoffe<br />

zu sparen und Verderb zu vermindern.<br />

Eine umfangreiche Inhaltsstoffanalyse in<br />

Entwicklung und Produktion ist aber teuer<br />

und kleine wie große Betriebe spüren<br />

diesen Kostenfaktor. Am Department für<br />

Lebensmittelwissenschaften und -technologie<br />

haben wir uns daher die Aufgabe<br />

gestellt, einfach anwendbare, kostengünstige<br />

und dennoch sehr genaue Biosensoren<br />

für die Lebensmittelanalytik zu<br />

erforschen und entwickeln. Da elektrochemische<br />

Messungen mit kostengünstigen<br />

Apparaten durchgeführt werden<br />

können, haben wir uns auf Biosensoren<br />

mit Enzymen als hochspezifische Erkennungselemente<br />

fokussiert.<br />

GRUNDLAGENFORSCHUNG ZU<br />

ENZYMEN FÜR BIOSENSOREN<br />

Biosensoren werden um ihr Kernelement,<br />

ein biologisches Makromolekül<br />

mit möglichst hoher Substratspezifität,<br />

herum aufgebaut. Im Fall von amperometrischen<br />

Biosensoren wird die Analytkonzentration<br />

durch Stoffumwandlung<br />

und die Abgabe von Elektronen<br />

bestimmt. Geeignete Elektrokatalysatoren<br />

hierfür sind Enzyme, welche die<br />

chemische Reaktion mit einem Elektronentransportvorgang<br />

koppeln. Holzabbauende<br />

Pilze produzieren solche<br />

Enzyme, um komplexe Makromoleküle<br />

wie Zellulose, Hemizellulose oder Lignin<br />

abzubauen. Der Vorteil dieser Oxidoreduktasen<br />

liegt in ihrer hohen Stabilität,<br />

wenn sie an Elektrodenoberflächen<br />

immobilisiert werden. Die Suche nach<br />

geeigneten Enzymen, ihrer Herstellung<br />

und biochemischen und elektrochemischen<br />

Charakterisierung beschäftigt uns<br />

26 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


in der Arbeitsgruppe Biokatalyse und<br />

Biosensorik seit 2009. Zur Entwicklung<br />

von Biosensoren für den industriellen<br />

Einsatz wurde die DirectSens GmbH als<br />

<strong>BOKU</strong>-Spin-off gegründet.<br />

ENTWICKLUNG EINER<br />

NEUEN SENSORTECHNOLOGIE<br />

Die Entwicklung von Biosensoren vom<br />

Prototyp bis zur Serienreife ist ein Projekt,<br />

das andere Strukturen und Fördermittel<br />

als die akademische Forschung<br />

bedarf. Mit Unterstützung des <strong>BOKU</strong><br />

Forschungsservice, später dem Gründerzentrum<br />

und der <strong>BOKU</strong>:BASE sowie den<br />

Fördergebern tecnet und aws begann die<br />

DirectSens GmbH 2013 mit der Entwicklung<br />

einer neuen Generation von Biosensoren<br />

auf der Basis von Enzymen, die<br />

Elektronen direkt auf Elektrodenoberflächen<br />

übertragen können. Dadurch<br />

werden Redoxmediatoren, die zum Teil<br />

toxisch sind und in älteren Biosensoren<br />

eingesetzt werden, überflüssig. Das erste<br />

kommerziell vertriebene Produkt dieser<br />

neuen Sensortechnologie war der LaktoSens<br />

Biosensor zur Bestimmung niedrigster<br />

Laktosekonzentrationen in Milch<br />

und Milchprodukten, der heute weltweit<br />

an Molkereien und milchverarbeitende<br />

Betriebe verkauft wird. Wegen seiner<br />

hohen Messgenauigkeit und -präzision<br />

wird der Sensor in der Herstellung laktosefreier<br />

Milch und Milchprodukte sowie<br />

zur Qualitätskontrolle eingesetzt. Weitere<br />

Biosensoren für den Einsatz in den<br />

Life Sciences und dem Agri-Food-Sektor<br />

sind in Entwicklung.<br />

LaktoSens Biosensor<br />

WARUM WERDEN LAKTOSE-<br />

REDUZIERTE MILCHPRODUKTE<br />

HERGESTELLT?<br />

Weltweit sind ca. 70 Prozent der erwachsenen<br />

Bevölkerung laktoseintolerant mit<br />

großen regionalen, epigenetisch bedingten<br />

Unterschieden. Am häufigsten, und<br />

zwar fast bei der gesamten Bevölkerung,<br />

ist die Laktoseintoleranz in Korea und China,<br />

am seltensten in Nordeuropa (


LEBENS<br />

MITTEL<br />

Resistenz gegen Krankheiten –<br />

ein Forschungsschwerpunkt der <strong>BOKU</strong>-Pflanzenzüchtung<br />

und ein wichtiger Beitrag zur Produktion<br />

gesunder Nahrungsmittel<br />

Von Hermann Bürstmayr und Mitarbeiter*innen<br />

Pflanzenzüchtung ist die Wissenschaft, Kunst und wirtschaftliche Unternehmung, die genetische Ausstattung<br />

unserer Kulturpflanzen so zu verändern, dass diese an die Anforderungen des Menschen besser angepasst sind.<br />

Fotos © <strong>BOKU</strong> Institut für Pflanzenzüchtung<br />

Weizenblüte kreuzen<br />

Die ambitionierten Ziele des European<br />

Green Deal fordern bis 2030<br />

eine Reduktion des Einsatzes und<br />

eine Senkung des Risikos durch Pflanzenschutzmittel<br />

um 50 Prozent, eine<br />

Verminderung von Nährstoffverlusten<br />

um 50 Prozent und des Düngereinsatzes<br />

um 25 Prozent sowie eine Ausweitung<br />

der biologisch bewirtschafteten Fläche<br />

auf 25 Prozent der landwirtschaftlichen<br />

Nutzfläche. Gleichzeitig ist in den kommenden<br />

Jahren mit einem global steigenden<br />

Bedarf an qualitativ hochwertigen<br />

Lebensmitteln zu rechnen und von<br />

der Landwirtschaft wird ein signifikanter<br />

Beitrag zur Dekarbonisierung und zur<br />

Bioökonomie erwartet. Es offenbart sich<br />

ein Spannungsfeld, das so einfach nicht<br />

lösbar scheint. Klarerweise erfordern die<br />

großen Herausforderungen, dass viele<br />

Stellschrauben im gesamten sozioökonomischen<br />

System adjustiert und optimiert<br />

werden. Als eine dieser Schrauben<br />

sehen wir die Pflanzenzüchtung. Während<br />

beispielsweise die realisierten Erträge<br />

bei wichtigen Kulturpflanzen wie Weizen<br />

und Mais seit mehr als einem Jahrzehnt<br />

stagnieren, steigen die Sortenleistungen<br />

nach wie vor linear an. Pflanzenzüchtung<br />

leistet daher einen essentiellen Beitrag zu<br />

verbesserter Ressourceneffizienz.<br />

RESISTENZ GEGEN SCHADFAKTOREN<br />

Das Zuchtziel Resistenz gegen Krankheiten<br />

und Schädlinge ist seit Langem ein<br />

Thema in der Züchtungsforschung und<br />

in der praktischen Sortenentwicklung.<br />

In unserer Forschungsarbeit steht insbesondere<br />

die Resistenz bei Getreidearten<br />

im Vordergrund. Für die meisten<br />

Schadpilze in Getreide sind integrierte<br />

Bekämpfungsstrategien auf Basis von<br />

Prognosemodellen und – falls erforderlich<br />

– wirksame Pflanzenschutzmittel<br />

verfügbar. Der Einsatz von Fungiziden<br />

in Getreide in Österreich ist als moderat<br />

einzustufen – im konventionellen<br />

Weizenanbau werden in etwa 0,5 kg/ha/<br />

Jahr an Fungizid ausgebracht. Im Rahmen<br />

des integrierten Pflanzenschutzes<br />

wird der Krankheitsresistenz der Sorte<br />

immer eine hohe Bedeutung zukommen<br />

und daher auch im Rahmen der „Farm to<br />

Fork“-Strategie der Europäischen Union<br />

28 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


an Bedeutung weiter zunehmen. Der<br />

Anbau einer Sorte, die keine oder eine<br />

reduzierte Fungizidbehandlung benötigt,<br />

hat sowohl ökologische als auch wirtschaftliche<br />

Vorteile und verringert das<br />

Risiko von Pflanzenschutzmittel-Rückständen<br />

in Lebensmitteln.<br />

Resistenzzüchtung hat allerdings den<br />

Nachteil, dass man nie „fertig“ wird. Das<br />

hat eine Reihe von Gründen. Getreidepflanzen<br />

können von einer ganzen Reihe<br />

von unterschiedlichen Pilzkrankheiten<br />

befallen werden, und breit wirksame Resistenzgene<br />

gegen mehrere Pilzarten<br />

sind die Ausnahme. Resistenzmerkmale<br />

gegen mehrere Schaderreger müssen<br />

daher in jeder neuen Sorte neu kombiniert<br />

werden. Zudem reagieren Pathogene<br />

sehr dynamisch, das heißt, Pilze<br />

können sich durch Mutation, Rekombination,<br />

Selektion und Migration an vormals<br />

resistente Wirtspflanzen adaptieren<br />

und die Resistenz einer Sorte unwirksam<br />

werden lassen. Beispielsweise können<br />

sich Rostpilze überraschend rasch an<br />

resistente Sorten anpassen und dadurch<br />

die Züchtungsarbeit von vielen Jahren in<br />

kurzer Zeit auf Null zurücksetzen.<br />

AUSGEWÄHLTE AKTUELLE<br />

FORSCHUNGSPROJEKTE<br />

Wheat Sustain (gefördert vom BMLRT)<br />

in diesem ERA-Net-Projekt mit europäischen<br />

und internationalen Partner*innen<br />

arbeiten wir an neuen Ansätzen der Selektion<br />

auf Krankheitsresistenz gegen zwei<br />

bedeutende Krankheiten: Ährenfusariose<br />

und Gelbrost. Resistenz gegen Fusariumpilze,<br />

welche durch die Kontamination mit<br />

Pilzgiften schwere Schäden anrichten<br />

können, ist eine Kernkompetenz unserer<br />

Gruppe und wir werden zu den weltweit<br />

besten Forscher*innengruppen auf diesem<br />

Gebiet gezählt – nicht zuletzt durch<br />

die Ergebnisse des vom FWF geförderten<br />

und über zehn Jahre laufenden Spezialforschungsbereichs<br />

Fusarium (Koordinator<br />

Gerhard Adam, DAGZ).<br />

In Wheat Sustain werden verbesserte<br />

Selektionsstrategien zur Züchtung fusariumresistenter<br />

Sorten entwickelt. Fusariumresistenz<br />

wird von vielen Genen kontrolliert<br />

und pflanzenmorphologische Eigenschaften<br />

(Halmlänge, Blühverhalten)<br />

sind eng mit der Resistenz eigenschaft<br />

Ährenfusarium-Befall<br />

einer Sorte assoziiert, welche in Vorhersagemodelle<br />

integriert werden.<br />

Resistenz gegen Gelbrost kann sowohl<br />

durch Immunität bewirkende, aber leider<br />

oft kurzlebige Resistenzgene, als auch<br />

durch die Kombination mehrerer quantitativ<br />

wirksamer Resistenzgene bedingt<br />

sein, welche in der Regel zu dauerhafter<br />

Resistenz führen. In der praktischen Selektionsarbeit<br />

ist die Dauerhaftigkeit der<br />

Resistenz kaum zu erfassen, diese wird<br />

erst sichtbar, nachdem eine Sorte mehrere<br />

Jahre auf großer Fläche angebaut<br />

wurde. Im Projekt Wheat Sustain arbeiten<br />

wir an der Entwicklung von genomunterstützten<br />

Vorhersagemethoden,<br />

welche die Selektion dauerhaft gegen<br />

Gelbrost resistenter Sorten zum Ziel hat.<br />

Dafür werden langjährige Daten aus der<br />

praktischen Züchtung und genetische<br />

Fingerabdrücke verwendet.<br />

Gelbrost<br />

Digibreed (gefördert von der OeAW)<br />

und Ecobreed (gefördert von der EU<br />

– H2020) sind zwei spannende Projekte,<br />

die insbesondere für den Biolandbau<br />

relevant sind. Während früher „fischig“<br />

riechender Weizen, verursacht durch<br />

Steinbrand-Befall, häufig anzutreffen<br />

war, geriet dieser Pilz seit der Einführung<br />

der Saatgutbeizung in den 1950er-Jahren<br />

beinahe in Vergessenheit. Durch die Zunahme<br />

der biologischen Landwirtschaft,<br />

welche eine Saatgutbehandlung mit<br />

synthetischen Fungiziden ausschließt,<br />

ist Steinbrand wieder ein häufiger, ungebetener<br />

Gast auf den Weizenfeldern.<br />

Wir befassen uns mit der Nutzung von<br />

genetischen Ressourcen, in diesem Fall<br />

steinbrandresistenter Landsorten aus<br />

Vorderasien, für die Entwicklung von<br />

neuen Weizensorten mit guter regionaler<br />

Anpassung und dem „neuen“ Merkmal<br />

Resistenz gegen Steinbrand. Dafür nutzen<br />

wir die klassischen Werkzeuge der<br />

Kreuzung und Selektion, aber mit Unterstützung<br />

von DNA-Fingerabdrücken. Sogenannte<br />

DNA-Marker erlauben uns mit<br />

hoher Zuverlässigkeit das Vorhandensein<br />

von erwünschten Resistenz-Eigenschaften<br />

und eine optimale Gesamtanpassung<br />

einer Zuchtlinie vorherzusagen und so<br />

die Linienentwicklung und den Zuchtfortschritt<br />

zu optimieren. •<br />

LINKS<br />

Projekte<br />

https://forschung.boku.<br />

ac.at/fis/suchen.orgeinheit_projekte?sprache_in=de&menue_id_<br />

in=204&id_in=H971<br />

Publikationen<br />

https://forschung.boku.<br />

ac.at/fis/suchen.orgeinheit_publikationen?sprache_in=de&menue_id_<br />

in=205&id_in=H971<br />

Univ.Prof. DI Dr. Hermann Bürstmayr leitet die Institute<br />

für Pflanzenzüchtung und für Biotechnologie<br />

in der Pflanzenproduktion.<br />

* Barbara Steiner, Maria Bürstmayr, Sebastian<br />

Michel, Laura Morales, Jose Esteban Moreno<br />

Amores, Rizky Pasthika Kirana, Magdalena Ehn,<br />

Simone Zimmerl<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

29


Fotos: Institut für Pflanzenzüchtung<br />

Hyperspektrale Reflexionsmessung im Tullner Soja-Zuchtgarten<br />

LEBENS<br />

MITTEL<br />

Sojabohnen-Züchtung: Von der<br />

Gesundheit zur Lebensmittelsicherheit<br />

Die Forschung zu Soja hat an der <strong>BOKU</strong> eine lange Tradition, die sich heute in weltweiten<br />

Forschungskooperationen zeigt. Im Gegensatz zum globalen Trend wird in Österreich nahezu die<br />

Hälfte der Sojaernte zu Lebensmitteln verarbeitet.<br />

Von Johann Vollmann<br />

Reife Sojabohnen enthalten 40<br />

Prozent hochwertiges Protein<br />

und dazu noch 20 Prozent Öl. Mit<br />

dieser einzigartigen Zusammensetzung<br />

heben sie sich nicht nur von Getreide,<br />

sondern auch von allen anderen Leguminosen<br />

wie Erbsen oder Linsen ab, die<br />

zumeist viel mehr Stärke bilden als Protein.<br />

Dies erklärt auch die weltweite Gier<br />

nach Sojabohnen, die als Eiweißfutter für<br />

landwirtschaftliche Nutztiere Verwendung<br />

finden, zuletzt aber auch verstärkt<br />

in der Aquakultur eingesetzt werden.<br />

Regenwaldzerstörung ist die traurige<br />

Konsequenz dieser industrialisierten und<br />

einseitig sojabasierten Fleischproduktion<br />

und hat drastische ökologische, soziale,<br />

wirtschaftliche und auch klimatische Folgen,<br />

die gegenwärtig immer deutlicher<br />

sichtbar werden. Es geht aber auch anders:<br />

Während etwa 95 Prozent der weltweiten<br />

Sojaernte in die Futtermittelproduktion<br />

gehen, wird in Österreich fast<br />

die Hälfte der geernteten Sojabohnen<br />

zu Lebensmitteln verarbeitet.<br />

SOJABOHNEN ALS<br />

LEBENSMITTELROHSTOFF<br />

Neben bereits etablierten kleinen und<br />

mittleren Unternehmen versuchen sich<br />

hierzulande verschiedenste Start-ups<br />

in diesem Bereich. Dabei geht es lange<br />

schon nicht mehr nur um Tofu, Sojadrinks<br />

oder billige Lebensmittelsurrogate, die<br />

Kreativität kennt kaum Grenzen, neben<br />

fermentierten Produkten boomen gerade<br />

die grün geernteten Gemüsesojabohnen<br />

(Edamame) und mehr als 30.000<br />

Lebensmittelrezepturen enthalten Sojabohnen<br />

oder einzelne Komponenten<br />

davon. Diese Entwicklung geht Hand in<br />

Hand mit modernen Ernährungstrends<br />

und klimapolitischen Zielsetzungen wie<br />

der Verringerung des Fleischkonsums zur<br />

Reduktion von Treibhausgas-Emissionen,<br />

Sojaprotein kann nämlich tierisches Protein<br />

bestens ersetzen. Spezielle Lebensmittel<br />

erfordern aber spezielle Rohstoffe:<br />

Die Pflanzenzüchtung hat dazu aus genetischen<br />

Ressourcen Sorten entwickelt,<br />

die sich nicht nur in Größe oder Farbe<br />

augenscheinlich unterscheiden, sondern<br />

vor allem in Inhaltsstoffen: Der Proteingehalt<br />

variiert in einem weiten Bereich,<br />

ebenso wie der Ölgehalt oder der Gehalt<br />

an Zuckern, die für Geschmack und Fermentierbarkeit<br />

wichtig sind.<br />

30 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


Daneben enthält die Sojabohne auch<br />

gesundheitsrelevante Inhaltsstoffe,<br />

bestens bekannt sind Lezithin und<br />

die Isoflavone. Durch Kooperation<br />

der <strong>BOKU</strong>-Institute Lebensmittelwissenschaften<br />

(Sabrina Van den Oever,<br />

Helmut Mayer) und Pflanzenzüchtung<br />

konnte unlängst auch gezeigt werden,<br />

dass die Sojabohne eine hervorragende<br />

Quelle für das Polyamin Spermidin ist.<br />

Spermidin gilt als Anti-Aging-Substanz,<br />

welche zelluläre Autophagie initiiert,<br />

wodurch in verschiedenen Modellen<br />

spektakuläre Effekte wie Verminderung<br />

von Demenz oder Immunseneszenz in<br />

alternden Organismen erzielt werden<br />

konnten. Und mit Sojanahrungsmitteln<br />

bekommt man Spermidin „frei Haus“<br />

geliefert. Aber nicht mit allen, in verschiedenen<br />

Zubereitungen ist der Spermidingehalt<br />

stark unterschiedlich, einmal<br />

hoch, einmal niedrig. Dieses Rätsel<br />

konnte in einer Kooperation mit der Justus-Liebig-Universität<br />

Gießen (Dhaka<br />

R. Bhandari, Bernhard Spengler) gelöst<br />

werden: Mit Hilfe einer hochleistungsfähigen<br />

Massenspektrometrie-Imaging-<br />

Methode (AP-SMALDI) wurde gezeigt,<br />

dass Spermidin besonders im Sojakeim<br />

konzentriert ist. Lebensmittel, die aus<br />

der ganzen Bohne hergestellt werden<br />

und auch den Keim enthalten, bringen<br />

deshalb mehr Spermidin mit sich.<br />

Damit kann Spermidin sogar angereichert<br />

werden, ein Wiener Start-up hat diese<br />

Erkenntnisse gerade aufgegriffen und<br />

ein vielversprechendes Nahrungsergänzungsmittel<br />

aus Sojabohnen entwickelt.<br />

SOJA-FORSCHUNG MIT TRADITION<br />

Seit ihren Kindertagen forscht die <strong>BOKU</strong><br />

an Sojabohnen: Kurz nach der Gründung<br />

der Hochschule begegnete der erste<br />

Pflanzenbauprofessor Friedrich Haberlandt<br />

(1826-1878) der Sojabohne auf der<br />

Wiener Weltausstellung und machte sie<br />

für einige Jahre in den Kronländern der<br />

Monarchie populär. In Anknüpfung an<br />

diese Tradition wird seit 2019 das von<br />

der <strong>BOKU</strong> und dem Verein Donau-Soja<br />

(Leopold Rittler) koordinierte „Haberlandt“-Projekt<br />

durchgeführt. Mit Unterstützung<br />

des Ministeriums für Ländlichen<br />

Raum und Verbraucherschutz des Landes<br />

Baden-Württemberg (Deutschland),<br />

Phänotypische Diversität in einem Sojabohnen-Set<br />

Längsschnitt durch eine Sojabohne mit Keim- und Kotyledonengewebe. Links: optisches Bild;<br />

rechts: MS-Image, die Intensität der Rotfärbung zeigt den Spermidingehalt an (DOI: 10.1002/<br />

fsn3.1356) ]<br />

Agroscope (Schweiz), dem Bayerischen<br />

Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft<br />

und Forsten (Deutschland)<br />

sowie von Saatgut Austria (Österreich)<br />

werden gemeinsam mit der Chinese Academy<br />

of Agricultural Sciences in Peking<br />

(Lijuan Qiu) 156 moderne europäische<br />

und chinesische Sojasorten an 15 Standorten<br />

in Europa und acht Orten in China<br />

verglichen, um Unterschiede in genetischer<br />

und phänotypischer Diversität bestimmen<br />

zu können. Mit neuesten „Phenomics“-Techniken<br />

wie Hyperspektraler<br />

Reflexion oder Drohneneinsatz (Pablo<br />

Rischbeck) kann dabei bereits auf dem<br />

Feld vorhergesagt werden, wie gut eine<br />

Sorte Stickstoff fixiert oder ob sie viel<br />

oder wenig Wasser bei der Assimilation<br />

abgibt, womit man auf Trockenheitstoleranz<br />

selektieren könnte.<br />

FOOD SAFETY<br />

Mit zunehmender Lebensmittelnutzung<br />

der Sojabohne wird die Forderung nach<br />

größtmöglicher Lebensmittelsicherheit<br />

laut. Die Pflanzenzüchtung kann dabei<br />

„Food Safety“ durch gezielte Selektion<br />

bereits in den Rohstoffen sicherstellen.<br />

So werden auch an Sojabohnen allergenarme<br />

Formen gesucht (siehe Beitrag<br />

von Lisa Call, Danube Allergy Research<br />

Cluster) und entsprechende Genotypen<br />

eingekreuzt. Eine große Bedeutung hat<br />

auch das in manchen Böden vorkommende<br />

toxische Schwermetall Cadmium,<br />

das im menschlichen Körper stark akkumuliert.<br />

Mit genetischen Markern und<br />

in Kooperation mit der Mendel-Universität<br />

in Brünn (Tomáš Lošák) wurde ein<br />

System etabliert, mit dem Sojasorten<br />

identifizierbar sind, die kaum Cadmium<br />

über die Wurzel aufnehmen – ein äußerst<br />

wichtiges Merkmal für einen Lebensmittelrohstoff.<br />

•<br />

Ao. Univ.Prof. Dr. Johann Vollmann ist Dozent am<br />

Institut für Pflanzenzüchtung.<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

31


Adobe Stock<br />

LEBENS<br />

MITTEL<br />

Krank durch Weizen –<br />

die kleinen Geschwister der Zöliakie<br />

Von Lisa Call und Heinrich Grausgruber<br />

Getreide stellt einen wesentlichen Grundpfeiler der menschlichen Ernährung dar. Doch in den vergangenen<br />

Jahren ist das Korn, das über Jahrtausende unser Grundnahrungsmittel darstellte, immer mehr in Verruf<br />

geraten. Grund dafür ist der vermeintliche Anstieg von Getreideunverträglichkeiten in unserer Bevölkerung.<br />

Getreide – wie Weizen, Roggen, Hafer<br />

und Gerste – gilt als Auslöser<br />

von Zöliakie, Weizenallergie und<br />

Weizensensitivität. Krankheiten, von denen<br />

geschätzt mehr als fünf Prozent der<br />

Bevölkerung betroffen sind (siehe Infobox).<br />

Genaue Zahlen für die jeweilige Prävalenz<br />

sind oftmals schwer zu ermitteln,<br />

da besonders im Fall von Weizensensitivität<br />

standardisierte Diagnoseprotokolle<br />

fehlen. Dadurch sind auch die Gründe für<br />

den scheinbaren Anstieg von getreidebedingten<br />

Erkrankungen (siehe Infobox)<br />

wissenschaftlich schwer zu beurteilen.<br />

Fakt ist also, dass Getreide krank machen<br />

kann – aber für mehr als 90 Prozent der<br />

Menschheit stellt Getreide keine Bedrohung<br />

der Gesundheit dar, im Gegenteil:<br />

Getreide, insbesondere Vollkorngetreide,<br />

gilt dank seiner Makronährstoffe<br />

(Stärke, Eiweiß, Fett), Mineralstoffe (z. B.<br />

Calcium, Phosphor, Eisen und Zink), Vitamine,<br />

Antioxidantien und Ballaststoffe<br />

als essentielles Grundnahrungsmittel. Für<br />

jene 5–10 Prozent allerdings, die unter<br />

einer der weizenbedingten Erkrankungen<br />

leiden, kann der Verzehr von Weizen<br />

unangenehme bis schwerwiegende<br />

Folgen haben. Die Nahrungsmittelkette<br />

MÖGLICHE GRÜNDE FÜR DEN<br />

ANSTIEG DER GETREIDE-<br />

UNVERTRÄGLICHKEITEN<br />

O Verbesserte Diagnose<br />

O Erhöhtes Bewusstsein<br />

O Erhöhter Getreidekonsum/<br />

verändertes Ernährungsverhalten<br />

O Veränderung des Getreides durch<br />

Züchtung oder Verarbeitung<br />

O Hygienehypothese<br />

(einschließlich Getreidezüchter*innen<br />

und -verarbeiter*innen) ist also daran<br />

interessiert, Produkte anzubieten, die<br />

für weizensensitive Patient*innen eine<br />

Linderung der Symptome bewirken.<br />

AUSLÖSER –<br />

WAS GENAU MACHT KRANK?<br />

Als Hauptauslöser von Getreideunverträglichkeiten<br />

gilt Gluten. Dieses Proteingemisch<br />

ist verantwortlich für die<br />

hervorragenden Backeigenschaften des<br />

Weizens, enthält allerdings auch eine<br />

Reihe an immunogenen Proteinen (z. B.<br />

α- und γ-Gliadine), die Zöliakie und Weizenallergie<br />

auslösen können. Zusätzlich<br />

wurden auch Nicht-Gluten-Proteinen<br />

(z. B. Amylase-Trypsin-Inhibitoren und<br />

Lipid-Transfer-Proteine) als potenzielle<br />

Auslöser von Getreideunverträglichkeiten<br />

identifiziert. Neben diesen Proteingruppen<br />

scheinen auch Fruktane, die zur<br />

32 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


Gruppe der FODMAPs (fermentierbare<br />

Oligo-, Di-, Monosaccharide und Polyole)<br />

gehören, eine Rolle zu spielen.<br />

SIND MODERNE GETREIDESORTEN<br />

GESUNDHEITSSCHÄDLICHER?<br />

Nach Meinung von Weizenkritiker*innen<br />

unterscheiden sich moderne Getreidesorten<br />

von den früher angebauten<br />

Sorten durch ihren erhöhten Gehalt an<br />

gesundheitsschädlichen Inhaltsstoffen.<br />

Für die Behauptung, dass die Züchtung<br />

und die damit verbundene Etablierung<br />

des modernen Hochleistungsweizens für<br />

einen Anstieg an Getreideunverträglichkeiten<br />

verantwortlich wären, gibt es<br />

allerdings keine Beweise – im Gegenteil!<br />

Studien des Instituts für Pflanzenzüchtung<br />

haben gezeigt, dass durch die<br />

Züchtung im vergangenen Jahrhundert<br />

hauptsächlich eine Anreicherung von<br />

Proteinen, die für die Backqualität beziehungsweise<br />

die Verarbeitbarkeit des<br />

Getreides essentiell sind, erzielt wurde.<br />

Ein durch diese Veränderung der Proteinzusammensetzung<br />

bewirkter Anstieg<br />

an immunogenen Proteinen und Fruktanen<br />

konnte nicht festgestellt werden.<br />

Züchtung kann hingegen dazu genutzt<br />

werden, Sorten mit erhöhter Verträglichkeit<br />

zu etablieren und anzubauen.<br />

GETREIDEUNVERTRÄGLICHKEITEN<br />

ZÖLIAKIE<br />

Die Zöliakie ist eine Autoimmunerkrankung,<br />

die durch den Verzehr<br />

von Gluten ausgelöst wird und eine<br />

entzündliche Veränderung der Dünndarmschleimhaut<br />

bewirkt. Dadurch<br />

kann es zum Abbau der Darmzotten<br />

kommen, welcher gravierende Folgeerkrankungen,<br />

wie die Unterversorgung<br />

des Körpers mit lebenswichtigen<br />

Nährstoffen, mit sich bringen kann.<br />

Die einzige gesicherte Behandlung von<br />

Zöliakie ist der konsequente lebenslange<br />

Ausschluss von Gluten aus der<br />

Ernährung. Prävalenz etwa ein Prozent<br />

WEIZENALLERGIE<br />

Die Weizenallergie ist eine Überempfindlichkeitsreaktion<br />

des Immunsystems<br />

und wird durch die Bildung<br />

von Antikörpern gegen bestimmte<br />

Proteine des Weizens verursacht. Sie<br />

kann durch den Verzehr von Weizen<br />

und in einigen Fällen auch durch das<br />

Einatmen von Weizenmehl hervorgerufen<br />

werden. Die Symptome, die<br />

oft innerhalb von wenigen Minuten<br />

auftreten, können sowohl den Magen-Darm-Trakt<br />

(Krämpfe, Übelkeit,<br />

Erbrechen, Durchfall) als auch Mundund<br />

Rachenschleimhaut (Schwellung,<br />

Juckreiz, Reizung) betreffen. Bei manchen<br />

Menschen kann eine Weizenallergie<br />

eine lebensbedrohliche Reaktion<br />

hervorrufen, die Anaphylaxie<br />

genannt wird. Weizenallergie wird –<br />

ebenso wie die Zöliakie – primär durch<br />

die Vermeidung von Weizen behandelt.<br />

Prävalenz etwa 0,5 Prozent<br />

WEIZENSENSITIVITÄT<br />

Die Nicht-Zöliakie-Weizensensitivität<br />

(NZWS) bezeichnet ein Krankheitsbild,<br />

das mit dem Verzehr von glutenhaltigen<br />

Lebensmitteln in Verbindung gebracht<br />

wird, bei dem eine Zöliakie allerdings<br />

ausgeschlossen wird. Ähnlich wie<br />

bei Zöliakie und Weizenallergie leiden<br />

Patienten, die von der NZWS betroffen<br />

sind, sowohl unter intestinalen als auch<br />

unter extra-intestinalen Symptomen.<br />

Prävalenz bis zu sechs Prozent<br />

„TOWARDS CURE OF<br />

WHEAT ALLERGY“<br />

Um neue Strategien zur Allergiediagnose<br />

und -früherkennung sowie zur Behandlung<br />

und Prävention von Allergien zu<br />

entwickeln, haben sich die Forschungseinrichtungen<br />

Austrian Institute of Technology<br />

(AIT), Department für Agrarbiotechnologie,<br />

IFA-Tulln und Department<br />

für Nutzpflanzenwissenschaften (DNW)<br />

am Campus Tulln, die Karl-Landsteiner-<br />

Universität für Gesundheitswissenschaften<br />

sowie die Medizinische Universität<br />

Wien zum „Danube Allergy Research<br />

Cluster“ zusammengeschlossen. Im Rahmen<br />

des Projektes beschäftigt sich das<br />

DNW mit der Identifizierung von hypoallergenen<br />

Weizensorten – also Sorten,<br />

die keine oder nur geringe Mengen an<br />

Allergenen enthalten, deren Nährwert<br />

jedoch erhalten bleibt. Dadurch soll die<br />

Häufigkeit der allergischen Sensibilisierung<br />

reduziert werden, wodurch ein<br />

entscheidender Beitrag zur Allergieprävention<br />

geleistet werden kann.<br />

WEITERE ANSÄTZE ZUR<br />

REDUKTION VON GETREIDE-<br />

UNVERTRÄGLICHKEITEN<br />

Neben der Sortenauswahl beziehungsweise<br />

Züchtung von Sorten mit höherer<br />

Verträglichkeit kann auch die Getreideverarbeitung<br />

einen erheblichen Beitrag<br />

leisten. Lebensmitteltechnologische<br />

Verfahren wie Mälzen und Fermentieren<br />

(Hefegärung, Sauerteigfermentation)<br />

haben sich als effiziente Prozesse erwiesen,<br />

mit deren Hilfe immunoreaktive<br />

Getreideproteine und -fruktane zu einem<br />

großen Teil abgebaut werden können.<br />

Inwieweit das auch die Symptomatik<br />

weizensensitiver Patienten beeinflusst,<br />

muss allerdings noch in Humanstudien<br />

evaluiert werden. <br />

•<br />

Ao. Univ.Prof. Dr. Heinrich Grausgruber ist Dozent<br />

am Institut für Pflanzenzüchtung,<br />

DI in Dr. in Lisa Call ist wissenschaftliche Mitarbeiterin.<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

33


LEBENS<br />

MITTEL<br />

Inst. f. Bioanalytik und Agro-Metabolomics<br />

Kathrin Lauter am Massenspektrometer<br />

Allergene in Lebensmitteln –<br />

Fehlalarm des menschlichen Immunsystems<br />

Von Kathrin Lauter<br />

Bereits kleinste Mengen von Allergenen können bei allergischen Personen unangenehme bis dramatische<br />

Konsequenzen bedeuten. Vermeidung dieser Allergene ist die einzige Lösung. Vermieden werden kann aber<br />

nur, von dem man weiß, dass es da ist oder da sein könnte.<br />

Die Nahrungsaufnahme ist für jede<br />

Person eine Notwendigkeit – für<br />

viele von uns auch purer Genuss.<br />

Allerdings stellt für 1–2 Prozent aller<br />

Erwachsenen und Kinder in Europa die<br />

Essensauswahl eine große Herausforderung<br />

dar. Sie müssen penibel darauf<br />

achten, was sie zu sich nehmen beziehungsweise<br />

nicht zu sich nehmen. Aufgrund<br />

einer Lebensmittelallergie müssen<br />

diese Menschen nämlich jene Nahrungsmittel<br />

meiden, die bei ihnen allergische<br />

Reaktionen verursachen können. Es handelt<br />

sich hier hauptsächlich um Proteine<br />

im Essen, die das Immunsystem fälschlicherweise<br />

als bedrohlich erkennt und<br />

deshalb überreagiert.<br />

DIE ALLERGISCHE REAKTION<br />

Sogenannte B-Zellen reagieren auf das<br />

Eindringen der Allergene mit der Bildung<br />

von Antikörpern. Im Fall der Nahrungsmittelallergie<br />

sind das Immunglobuline<br />

vom Typ E, kurz IgE genannt. Eine tragende<br />

Rolle spielen auch die Mastzellen,<br />

eine Art weißer Blutkörperchen, welche<br />

durch die IgE-Antikörper massenhaft besetzt<br />

werden. Diese setzen nun auf IgE-<br />

Kommando das Hormon Histamin frei.<br />

Das führt zu entzündlichen Prozessen<br />

und geht einher mit Beschwerden wie<br />

Verdauungsproblemen, Hautausschlag<br />

oder Erbrechen. In selteneren Fällen<br />

kann es aber sogar zur lebensbedrohlichen<br />

Anaphylaxie, dem allergischen<br />

Schock, führen.<br />

Die ständige Wachsamkeit, die zur Vermeidung<br />

bestimmter Nahrungsmittel<br />

bei den Betroffenen unerlässlich ist, verursacht<br />

Stress und frustriert. Einkaufen<br />

wird zur Herausforderung und nicht<br />

selten stellen Feiern und andere soziale<br />

Ereignisse schwer zu bewältigende Situationen<br />

dar. Dies ist die Realität, mit<br />

der Allergiker*innen tagtäglich zurechtkommen<br />

müssen.<br />

KENNZEICHNUNGEN SIND<br />

GESETZLICH GEREGELT<br />

Für Allergiker können Informationen lebenswichtig<br />

sein. Daher müssen in der<br />

EU verpflichtend seit Dezember 2014 die<br />

14 Hauptallergene in verpackten Lebensmitteln,<br />

in loser Ware und auch in Speisen<br />

der Gastronomie als Zutat angegeben<br />

werden. Dies umfasst neben dem jeweiligen<br />

Lebensmittel/Allergen auch die daraus<br />

gewonnenen Erzeugnisse wie technologische<br />

Hilfsstoffe, Trägerstoffe oder<br />

Aromen. Zusätzlich zu den vorgeschriebenen<br />

Allergenkennzeichnungen gibt es<br />

auch freiwillige Hinweise für Allergiker<br />

wie „Kann Spuren enthalten von …“. Dieser<br />

Hinweis besagt: Es kann nicht völlig<br />

ausgeschlossen werden, dass geringe<br />

34 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


Liste der Allergene / Buchstaben-Codes:<br />

Glutenhaltiges<br />

Getreide (A)<br />

Erdnüsse (E)<br />

Sellerie (L)<br />

Lupine (P)<br />

Spuren von Allergenen enthalten sind.<br />

Sie stammen nicht aus einer Zutat, also<br />

der bewussten Beifügung zum Lebensmittel,<br />

sondern können im Zuge des Herstellungsprozesses<br />

– von der Ernte über<br />

den Transport bis zur Verpackung – trotz<br />

geeigneter Vorkehrungen technisch unvermeidbar<br />

in Spuren im Produkt enthalten<br />

sein. Die Spurenkennzeichnung kann<br />

besonders für jene Betroffenen hilfreich<br />

sein, die schon auf die kleinsten Mengen<br />

allergener Stoffe reagieren.<br />

SPURENANALYTIK – NACHWEIS<br />

VON ALLERGENEN<br />

Am Institut für Bioanalytik und Agro-<br />

Metabolomics, am Department für<br />

Agrarbiotechnologie, IFA-Tulln, werden<br />

seit Jahren immunoanalytische und<br />

massenspektrometrische Testsysteme<br />

entwickelt, mit deren Hilfe Allergene in<br />

Lebensmitteln in Spuren nachgewiesen<br />

und quantifiziert werden können.<br />

Enzyme Linked Immuno Sorbant Assays,<br />

sogenannte ELISA-Tests, sind antikörperbasierte<br />

Nachweisverfahren. Die Antikörper,<br />

die spezifisch den nachzuweisenden<br />

Stoff (das Allergen) binden, sind auf<br />

der Oberfläche einer Mikrotiterplatte<br />

fixiert (immobilisiert). Bei Zugabe von<br />

Krebstiere (B) Eier (C) Fisch (D)<br />

Soja (F)<br />

Weichtiere (R)<br />

Milch und<br />

Laktose (G)<br />

Schalenfrüchte<br />

(Baumnüsse (H)<br />

Senf (M) Sesamsamen (N) Schwefeldioxid<br />

und Sulfite (O)<br />

Standard oder Probe bindet vorhandenes<br />

Allergen an die spezifischen Antikörper<br />

und es bildet sich ein Antigen-Antikörper-Komplex.<br />

Durch eine Farbreaktion<br />

wird der Antigen-Antikörper-Komplex<br />

sichtbar und somit messbar gemacht.<br />

Neben dem ELISA-Test gibt es auch den<br />

Lateral Flow Assay (LFD), dessen Funktionsweise<br />

dieselbe ist, nur das Format<br />

sieht etwas anders aus. Seit der Testmöglichkeiten<br />

im Rahmen der Covid-19<br />

Pandemie sind diese LFDs mittlerweile<br />

gute Bekannte. In Kooperationen mit<br />

Partner*innen aus der Industrie wurde<br />

schon eine Vielzahl an Antikörpern entwickelt<br />

und in ELISA-Tests eingesetzt,<br />

um zum Beispiel Allergene aus Milch, Ei,<br />

Soja oder auch Haselnuss zu detektieren.<br />

Diese „Schnelltests“ sind aufgrund ihrer<br />

Robustheit, Routinefähigkeit und kurzen<br />

Testdauer die am häufigsten eingesetzte<br />

Allergennachweismethode, vor allem<br />

in der Lebensmittelindustrie. Verarbeitungsschritte<br />

wie etwa Hitzebehandlung<br />

beim Backen, Hydrolyse oder Fermentation<br />

können die nachzuweisenden Proteine<br />

allerdings stark verändern und so die<br />

Antikörper-Antigen-Erkennung stören.<br />

Unter Umständen kann dies zur Beeinflussung<br />

der Wiederfindung führen, bis<br />

hin zu falsch-negativen Ergebnissen. Darauf<br />

kann aber schon bei der Entwicklung<br />

der Testsysteme Rücksicht genommen<br />

werden.<br />

Eine weitere analytische Methode zum<br />

Nachweis von Allergenen in Lebensmitteln<br />

am Department für Agrarbiotechnologie,<br />

IFA-Tulln, ist die Massenspektrometrie.<br />

Ein großer Vorteil hier<br />

ist der Nachweis auf Peptid-Level, also<br />

unabhängig von der 3-D-Struktur des<br />

Allergens. Es wird nicht zwingend direkt<br />

das allergieauslösende Protein erkannt,<br />

sondern vielmehr indirekt ein Vertreter,<br />

der darauf hindeutet. Die Proteine<br />

werden zuerst mittels eines proteolytischen<br />

Enzyms, meist Trypsin, in kleine<br />

Aminosäureketten geschnitten. Durch<br />

die Auswahl passender Peptid-Marker<br />

können Allergene somit auch nach der<br />

Prozessierung der Lebensmittel detektiert<br />

werden. Der wohl größte Nutzen<br />

ist die simultane Detektion unterschiedlicher<br />

Allergene während nur einer Messung.<br />

Im Vergleich kann ein ELISA immer<br />

nur ein spezifisches Allergen erkennen.<br />

DAS DILEMMA MIT<br />

DEN SCHWELLENWERTEN<br />

Die biologische Schwankungsbreite der<br />

Immunreaktionen ist groß und vorhandene<br />

Studien sind oft unzureichend, sodass<br />

es noch keine vielfach geforderte und<br />

von der EU beabsichtigte Festlegung von<br />

Schwellenwerten gibt. Australien bietet<br />

hier bereits eine mögliche Abhilfe. Im<br />

Rahmen von VITAL (Voluntary Incidental<br />

Trace Allergen Labelling) wurden Grenzwerte<br />

definiert, die gewährleisten sollen,<br />

dass bei 99 Prozent der betroffenen Verbraucher*innen<br />

der jeweiligen Allergie<br />

keine objektiv messbaren allergischen<br />

Reaktionen auftreten. Da eine Immunreaktion<br />

aber etwas ganz Persönliches<br />

und vom medizinischen Standpunkt eine<br />

hundertprozentige Sicherheit gefragt ist,<br />

ist es im Moment schwer vorstellbar, dass<br />

es in nächster Zeit gesetzlich festgelegte<br />

Schwellen- oder Grenzwerte geben<br />

wird. Deshalb wird die Analytik weiter<br />

gefordert sein, ganz nach dem Motto<br />

„Schneller, mehr und empfindlicher“. •<br />

Kathrin Lauter, Msc, ist Senior Scientist am Institut<br />

für Bioanalytik und Agro-Metabolomics.<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

35


Dittenberger<br />

LEBENS<br />

MITTEL<br />

Aufgrund der vielen sekundären Inhaltsstoffe sind reife Aroniabeeren (z. B. als Saft verarbeitet) ein wahrer Gesundbrunnen für den Menschen.<br />

„Superfruits“ aus heimischem Anbau<br />

Ihre sekundären Inhaltsstoffe verleihen Aronia, Weißdorn und Äpfeln von Streuobstwiesen ihre gesundheitsfördernde,<br />

antioxidative Wirkung.<br />

Von Andreas Spornberger*<br />

An apple a day keeps the doctor<br />

away“ – Obst ist bekanntlich gesund<br />

für den Menschen, vor allem<br />

wegen seines hohen Gehalts an Vitaminen<br />

und Mineralstoffen. In letzter Zeit ist<br />

die Bedeutung der sekundären Inhaltsstoffe<br />

für die menschliche Gesundheit<br />

deutlicher in den Fokus gerückt, vor allem<br />

von phenolische Verbindungen, die<br />

in vielen Obstarten enthalten sind. Sie<br />

werden zum Schutz der Pflanze gegen<br />

Schädlinge und Krankheiten, als Wachstumsregulatoren<br />

und Farbstoffe gebildet<br />

und sind an der Geschmacksbildung<br />

beteiligt. Im menschlichen Organismus<br />

wirken sie antioxidativ, schützen vor<br />

freien Radikalen und speziell vor Herzerkrankungen<br />

(z. B. Arteriosklerose) und<br />

Krebs. Ein wahrer Gesundbrunnen also,<br />

und diese Inhaltsstoffe sind auch in so<br />

mancher heimischen „Superfruit“-Obstart<br />

enthalten. Am Institut für Wein- und<br />

Obstbau wird zu diesem Thema aktuell<br />

im Rahmen mehrerer Projekte geforscht.<br />

RUND UND GESUND:<br />

ARONIA UND WEISSDORN<br />

Die Apfelbeere (Aronia) gilt wegen ihrer<br />

Inhaltsstoffe (vor allem Anthocyane) als<br />

besonders gesundheitsförderndes Superfood.<br />

Der Anbau – insgesamt über<br />

500 Hektar in Österreich – erfolgt auf<br />

großen Flächen, meist ohne Schnitt und<br />

Pflanzenschutz, geerntet wird maschinell.<br />

Mit fortschreitendem Alter haben<br />

die Sträucher immer weniger Zuwachs,<br />

was sich auf Ertrag und Inhaltstoffe<br />

negativ auswirkt. Auf einem Bio-Aronia-Betrieb<br />

in Oberösterreich wurde im<br />

Rahmen von zwei Masterarbeiten der<br />

Einfluss verschiedener Schnittsysteme<br />

auf Wuchs, Ertrag und Fruchtqualität<br />

über einen Zeitraum von zwei Jahren<br />

beobachtet. Die beiden intensiveren<br />

Schnittvarianten wiesen ab dem zweiten<br />

Jahr bei etwas geringerer Erntemenge<br />

deutlich größere und homogenere<br />

Früchte auf. Ein stärkerer Kurztriebzuwachs<br />

verspricht für die kommenden<br />

Jahre höhere Erträge im Vergleich zur<br />

Kontrolle. Die Auswirkungen auf die Inhaltsstoffe<br />

waren dagegen bisher gering.<br />

Weißdorn (Crataegus ssp.) wird aufgrund<br />

verschiedener phenolischer Verbindungen,<br />

Proanthocyanide und Flavonoide als<br />

Heilkraut bei chronischen Herzkrankheiten<br />

und hohem Blutdruck eingesetzt. 80<br />

Prozent des verwendeten Rohmaterials<br />

der bei uns vorwiegend in Apotheken<br />

36 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


<strong>BOKU</strong><br />

Streuobstwiese<br />

erhältlichen Produkte stammt aus Wildsammlung<br />

in Osteuropa. In einer Masterarbeit<br />

wurde in Niederösterreich ein<br />

Schnittsystem zur Blatt- und Blütenernte<br />

im Frühjahr untersucht. In den dabei geernteten<br />

Blüten und Blättern konnte ein<br />

deutlich höherer Gehalt an Phenolen und<br />

antioxidativer Kapazität als in den Früchten<br />

im Herbst festgestellt werden. Auf<br />

die Inhaltsstoffe der Früchte hatte der<br />

starke Schnitt kaum Auswirkungen. Für<br />

eine Umsetzung des Konzeptes für eine<br />

regionale Nischenproduktion werden<br />

weitere Untersuchungen zur Wirtschaftlichkeit<br />

von Weißdorn benötigt.<br />

HOHE POLYPHENOLGEHALTE IN<br />

APFELSÄFTEN AUS STREUOBST<br />

Der Apfel ist mit einem durchschnittlichen<br />

Pro-Kopf-Verbrauch von 21 Kilogramm<br />

im Jahr das am meisten verzehrte<br />

Obst in Österreich, der Saft zählt zu den<br />

beliebtesten Fruchtgetränken. In unseren<br />

Laboruntersuchungen zeigten Säfte,<br />

hergestellt aus Äpfeln von Streuobstwiesen,<br />

höhere Gesamtpolyphenolgehalte<br />

als solche aus Tafelobst. Auch die Sorte<br />

hatte dabei einen maßgeblichen Einfluss:<br />

Säfte aus alten Sorten, die vorwiegend<br />

im Streuobstbau vorkommen, wiesen<br />

die höchsten Werte auf. In naturtrüben<br />

Säften lagen die Gehalte erwartungsgemäß<br />

etwas höher als in klaren, während<br />

bei aus Konzentrat hergestellten Apfelsäften<br />

der Polyphenolgehalt deutlich<br />

niedriger war.<br />

OBSTSORTEN FÜR HÖHERE LAGEN<br />

Im Projekt „Hochlagenobst“ haben wir<br />

bäuerliche Obstgärten der fünf Naturpark-Gemeinden<br />

rund um den Ötscher<br />

im südlichen Mostviertel kartiert. Wir<br />

fanden vorwiegend ältere Apfelsorten,<br />

die bekanntlich höhere Polyphenolgehalte<br />

aufweisen. Besonders robuste<br />

und für die Hochlagenregion angepasste<br />

und empfehlenswerte Sorten wurden<br />

als Mutterbäume für den Reiserschnitt<br />

markiert. Sie werden nun durch weitere<br />

Aktivitäten des Projektpartners Naturpark<br />

Ötscher Tormäuer ausgepflanzt und<br />

erhalten – mit dem Ziel, hier einen Beitrag<br />

für die regionale Versorgung mit<br />

gesundheitlich hochwertigem Obst zu<br />

ermöglichen. <br />

•<br />

Ass.Prof. DI Dr. Andreas Spornberger Iehrt und<br />

forscht am Institut für Wein- und Obstbau.<br />

* Projektmitarbeit: Daniela Noll, Philipp Bodner,<br />

Gerlinde Grall, Carlos Herrera, Michaela<br />

Griesser, Astrid Forneck; Masterarbeiten: Eva<br />

Voglsperger, Tina Dittenberger, Susanne Riedl<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

37


LEBENS<br />

MITTEL<br />

Das Wiener Ernährungssystem –<br />

biologisch, regional, Fleisch reduziert?<br />

Interdisziplinäres Forschungsteam der <strong>BOKU</strong> untersuchte „The Future of Urban Food.“<br />

Von Bernd Freyer<br />

Alles Bio, regional und dann noch<br />

weniger Fleisch oder gar vegetarisch<br />

– welche der Optionen<br />

beziehungsweise in welchen Kombinationen<br />

sollen diese in Zukunft leitend<br />

sein für eine nachhaltige Ernährung der<br />

Wiener Bevölkerung? Dieser Frage sind<br />

ein interdisziplinäres Forscher*innenteam<br />

an der <strong>BOKU</strong> unter der Leitung von<br />

Bernd Freyer in dem mehrjährigen vom<br />

WWTF finanzierten Forschungsprojekt<br />

„The Future of Urban Food“ am Beispiel<br />

der Stadt Wien und dem regionalen Umfeld<br />

nachgegangen (Abb.). Beteiligt waren<br />

die <strong>BOKU</strong>-Institute für Ökologischen<br />

Landbau, für Agrar- und Forstökonomie,<br />

für Soziale Ökologie sowie für Nachhaltige<br />

Wirtschaftsentwicklung.<br />

Bewertet wurden die Auswirkungen<br />

einer biologischen, regionalen und<br />

fleischreduzierten Ernährung mit Hilfe<br />

von ökologischen und ökonomischen<br />

qualitativen und quantitativen Analysen.<br />

Darauf aufbauend werden Zukunftsszenarien<br />

formuliert und daraus abgeleitete<br />

Transformationspfade formuliert. Das<br />

Projekt wird durch ein Advisory Board<br />

mit wichtigen Vertreter*innen aus Verwaltung,<br />

Wirtschaft und privaten Initiativen<br />

des Wiener Ernährungssystems<br />

beraten und kritisch begleitet.<br />

Ernährung ist Teil eines komplexen, aus<br />

vielen Teilsystemen zusammengesetzten<br />

Ernährungssystems. Dieses umfasst<br />

den vorgelagerten Bereich, die landwirtschaftliche<br />

Produktion, die Verarbeitung,<br />

den Transport, den Verkauf,<br />

Einkaufs- und Ernährungsgewohnheiten<br />

der Konsument*innen und anderes mehr.<br />

Jedes Ernährungssystem hat besondere<br />

Schlüsselfaktoren, die das System beeinflussen<br />

– etwa lokale Politik, Innovationsklima<br />

oder Ernährungsweisen. Die<br />

Identifizierung solcher Einflussfaktoren,<br />

kann genutzt werden, um Hebel im Ernährungssystem<br />

zu erkennen, welche für<br />

Änderungen genutzt werden können. In<br />

einem ersten Untersuchungsschritt wurde<br />

die Komplexität des Wiener Systems<br />

in seinen Strukturen und Funktionen und<br />

damit verbundenen Herausforderungen<br />

mit Hilfe derer Schlüsselakteur*innen<br />

ermittelt.<br />

Eine Detailanalyse einer Auswahl von<br />

Wiener Food Networks informiert über<br />

deren Potenziale und Herausforderungen<br />

als Alternative zum dominierenden<br />

Ernährungssystem über Großverteiler.<br />

Deutlich wurde, dass ein erhebliches<br />

Potenzial besteht, diese für nachhaltige<br />

Ernährungsweisen bedeutsamen Initiativen<br />

weiter zu stärken. Unterstützende<br />

Maßnahmen umfassen unter anderen<br />

eine stärkere Sichtbarmachung und<br />

Vernetzung der Initiativen, administrative<br />

Unterstützung und Flexibilität zur<br />

Unterstützung von Innovationen, die<br />

rechtlich noch nicht geregelt sind, Zugang<br />

zu Flächen und Infrastrukturen für<br />

Produktion, Verarbeitung und Vermarktung<br />

von Lebensmitteln und die Stärkung<br />

der Lebensmittelkompetenzen und des<br />

Nachhaltigkeitsbewusstseins über Bildungs-<br />

und Gesundheitseinrichtungen,<br />

Veranstaltungen und Medienarbeit.<br />

Um die ökologische Bedeutung unterschiedlicher<br />

Ernährungsstile bewerten<br />

zu können, wurden unterschiedliche Anteile<br />

an Bio, regional (100-km-Radius<br />

um Wien) und an tierischen Produkten<br />

MA 49<br />

nach Gesichtspunkten verschiedener<br />

Ernährungsstile in ihren Auswirkungen<br />

auf Treibhausgasemissionen sowie<br />

des Lebensmittelbedarfs vergleichend<br />

analysiert. Ausgewertet wurden Ernährungsstile<br />

gemäß der aktuellen Ernährungsweise,<br />

eine eher fleischarme<br />

Ernährungsempfehlung der Österreichischen<br />

Gesellschaft für Ernährung, eine<br />

ähnliche Empfehlung der griechischen<br />

Behörden (mediterrane Ernährung mit<br />

einem größeren Anteil an Gemüse und<br />

Pflanzenölen), eine nachhaltige und gesunde<br />

Ernährung gemäß der EAT-Lancet<br />

Commission on Food, Planet, Health,<br />

eine vegetarische und eine vegane Ernährung.<br />

Die Modellergebnisse zeigen, dass eine<br />

Ernährungsumstellung der Wiener*innen<br />

von den untersuchten Maßnahmen<br />

das größte Potenzial hat, Treibhausgasemissionen<br />

und Flächenfußabdruck der<br />

Wiener Ernährung zu reduzieren. Eine<br />

Regionalisierung der Lebensmittelversorgung<br />

kann zwar die Transporte erheblich<br />

reduzieren und zur regionalen<br />

Wertschöpfung beitragen, trägt jedoch<br />

wegen des relativ geringen Gewichts der<br />

Transportemissionen im Lebensmittelsystem<br />

nur in moderatem Ausmaß zum<br />

Rückgang der Emissionen bei. Das Potenzial<br />

des Biolandbaus zur Emissionsreduktion<br />

kann vor allem dann ausgeschöpft<br />

werden, wenn es mit einer Änderung der<br />

Ernährungsmuster hin zu weniger Fleisch<br />

und Milchprodukten einhergeht.<br />

Eine Online-Befragung zu möglichen<br />

Veränderungen der Ernährungsstile der<br />

Wiener Konsument*innen kommt zu dem<br />

Ergebnis, dass eine hohe Akzeptanz für<br />

mehr Lebensmittel aus der Region und<br />

eine mittlere Akzeptanz für Bio besteht,<br />

während der Vorschlag einer Reduktion<br />

des Fleischverzehrs geringe Zustimmung<br />

erfährt beziehungsweise kontrovers diskutiert<br />

wird.<br />

38 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


EU<br />

Global<br />

Österreich<br />

Vorgelagerte Bereiche<br />

Chemische Industrie<br />

Landmaschinen-<br />

Hersteller<br />

Energieversorgungsunternehmer<br />

Wasserversorgungsunternehmer<br />

Bauwirtschaft<br />

Tourismus<br />

Elektrogerätehersteller<br />

Banken und<br />

Versicherungen<br />

Außenhandel<br />

Hinterland<br />

Landwirtschaft<br />

Konventionelle Produktion<br />

Bio-Produktion<br />

PRODUKTION<br />

Stadt Landwirtschaft<br />

Konventionelle Produktion<br />

Bio-Produktion<br />

Urban Gardening<br />

Distribution<br />

Transport<br />

Logistikzentrum<br />

Wertschöpfungskette<br />

Immateriell<br />

Politik &<br />

Verwaltung<br />

Magistrat der<br />

Stadt Wien<br />

Wiener<br />

Gemeinderat<br />

EU gesetzliche<br />

Regelungen &<br />

Verwaltung<br />

Marketing<br />

Interessenvertretung<br />

Sozialpartnerschaft<br />

Private Initiativen<br />

Interessenverbände<br />

Außer-Haus-<br />

Verpflegung<br />

Gemeinschaftsverpflegung<br />

Gastronomie<br />

Hotellerie<br />

Soziale Einrichtungen<br />

Lebensmittelhersteller<br />

Wasser & nicht<br />

alkoholische Getränke<br />

Brauerei<br />

Fleisch / Gemüse & Obst<br />

Süßwaren / Backstube<br />

Andere<br />

Medien<br />

Werbung & Vermarktung<br />

Sendungen/ Artikel<br />

Social Media & Blogs<br />

Vermarktung<br />

Direktvermarktung<br />

Einzelhandel (LEH)<br />

Großhandel / Fachhandel<br />

Versandhandel / Tankstellen<br />

Soziale Märkte / Food Coops<br />

Greißler / Märkte<br />

Verarbeitung<br />

Österreichische<br />

gesetzliche Regelungen<br />

& Verwaltung<br />

Verpackungshersteller<br />

Abfall<br />

Bildung & Forschung<br />

Universitäten<br />

Bewusstseinsbildung<br />

Erwachsenen- &<br />

Weiterbildung<br />

Forschungseinrichtungen<br />

Schule & Kindergarten<br />

Ändern sich Wertehaltungen, ändern<br />

sich auch Ernährungsstile und damit auch<br />

die Wünsche an die Landwirtschaft in<br />

der Region. Ein online survey mit 1798<br />

Landwirt*innen in der Region um Wien<br />

informiert über deren Bereitschaft, ihren<br />

Betrieb an veränderte Nachfragen an<br />

Lebensmitteln anzupassen. Ein höherer<br />

regionaler Lebensmittelkonsum der Wiener<br />

Bevölkerung erfährt bei den Landwirt*innen<br />

in der Region die höchste<br />

Bereitschaft, ihre Produktion dahingehend<br />

auszurichten, gefolgt von höherem<br />

Biokonsum und verringertem Fleischverzehr.<br />

Eine Änderung von konventioneller<br />

auf biologische Produktion kann,<br />

abhängig von der Preisentwicklung, für<br />

Landwirt*innen ökonomisch vorteilhaft<br />

sein, ist jedoch teils mit beträchtlich höherem<br />

Arbeitszeitbedarf verbunden.<br />

Die Erkenntnisse aus diesen Teilprojekten<br />

sowie weitere Untersuchungen zu unterschiedlichsten<br />

Lebensmittelsystemen in<br />

anderen Ländern dienten als Grundlage<br />

für die Projektteammitglieder, drei Zukunftspfade<br />

für ein Wiener Ernährungssystem<br />

auszuloten. Als Datengrundlagen<br />

für den Szenarioprozess dienten ex-post<br />

und ex-ante Analysen der Schlüsselfaktoren<br />

und -akteur*innen des Wiener Ernährungssystems.<br />

Die biophysikalischen<br />

und agrarökonomischen Berechnungen<br />

ermöglichten, potenzielle soziale, ökonomische<br />

und ökologische Auswirkungen<br />

von unterschiedlichen Ernährungspraktiken<br />

(Anteil an Fleisch, Bio- und regionalen<br />

Lebensmitteln in der Nahrung)<br />

zu verstehen. Zusätzlich wurden über den<br />

räumlichen Fokus Wien hinausgehend<br />

länderübergreifende vergleichende<br />

Analysen mit Mitgliedern unterschiedlicher<br />

Lebensmittelnischen (Solidarische<br />

Landwirtschaft, Gemeinschaftsgärten,<br />

Ernährungsräte) durchgeführt, um ein<br />

besseres Verständnis für die Dynamiken,<br />

die deren Entwicklung in verschiedenen<br />

Städten beeinflussen können, zu erlangen.<br />

Zu den Zukunftspfaden wurden in<br />

einem weiteren Arbeitsschritt der Teammitglieder<br />

konkrete Maßnahmen entwickelt,<br />

wie diese zu realisieren sind. Diese<br />

sollen in mehreren Workshops im Herbst<br />

<strong>2021</strong> gemeinsam mit Stakeholdern des<br />

Wiener Ernährungssystems hinsichtlich<br />

ihrer Wirkung und Folgen bewertet werden.<br />

Abschließend sollen die Ergebnisse<br />

in die Ernährungsstrategie des Wiener<br />

Ernährungsrates eingebunden werden.<br />

Ob Forschende, private Unternehmen,<br />

die Landwirtschaft, die Stadt Wien oder<br />

der Wiener Ernährungsrat – einmal mehr<br />

wurde deutlich, dass Sichtweisen, Interessen<br />

und Bewertungen über die Ernährung<br />

und Produktion von Lebensmitteln<br />

variieren, und, dass Veränderungen innerhalb<br />

der Gesellschaft – besteht der<br />

Anspruch an einen breit abgestützten<br />

Konsens –, nur mit einem umfassenden<br />

Lernprozess und vielen Diskussionen<br />

möglich ist.<br />

•<br />

https://urbanfood.boku.ac.at<br />

Univ.Prof. DI Dr. Bernd Freyer leitete das Institut<br />

für Ökologischen Landbau.<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

39


LEBENS<br />

MITTEL<br />

We proudly present:<br />

Die <strong>BOKU</strong>-Weine <strong>2021</strong>!<br />

W<br />

eiße und rote Weine<br />

standen am 19. Mai wieder<br />

im Mittelpunkt des<br />

begehrten studentischen Wettbewerbs<br />

rund um die Prämierung<br />

der offiziellen <strong>BOKU</strong>-Weine <strong>2021</strong>.<br />

Seit nunmehr zwölf Jahren schreiben<br />

die <strong>BOKU</strong> und die ÖH-<strong>BOKU</strong><br />

diesen Wettbewerb für Weine aus,<br />

die aus einem familiären Weinbaubetrieb<br />

inskribierter Studierender<br />

stammen. Eine ideale Gelegenheit,<br />

das an der <strong>BOKU</strong> Gelernte in<br />

die Praxis umzusetzen und sich als<br />

Nachwuchswinzer*in erste Sporen<br />

zu verdienen.<br />

Fotos: Astrid Kleber / Öffentlichkeitsarbeit <strong>BOKU</strong><br />

Die Gewinner*innen der <strong>BOKU</strong>-<br />

Prämierung <strong>2021</strong> sind:<br />

Manuel Groiss, Weingut Herzog,<br />

Bad Vöslau (NÖ), Neuburger<br />

2020<br />

Thomas Honsig, Weingut Honsig,<br />

Platt (NÖ), Blauer Zweigelt x<br />

Blauer Portugieser 2018 „Cuvée<br />

Mariage“<br />

Alexander Weinberger, Weingut<br />

Joseph Mayer, Perchtoldsdorf<br />

(NÖ), Traubensaft weiß „Pure<br />

Natur“<br />

Im Rahmen der <strong>BOKU</strong>-Weinprämierung<br />

wird auch der „Josef<br />

Pleil-Forschungspreis der Österreichischen<br />

Hagelversicherung“<br />

übergeben. Dieser ging in diesem<br />

Jahr an den <strong>BOKU</strong>- und Master-<br />

WÖW-Studenten Daniel Vogelwaid<br />

für seine Masterarbeit, in<br />

der er die Relevanz weinbaulicher<br />

Maßnahmen für das Risikomanagement<br />

nach Hagelschaden im<br />

österreichischen Weinbau untersucht.<br />

40 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


Fotos: Stefanie Lemke<br />

LEBENS<br />

MITTEL<br />

Stefanie Lemke mit Teilnehmerinnen einer Fokusgruppe zum Zugang zu Land und Teilhabe<br />

für Frauen im Projekt in der Ostkap-Provinz, Südafrika<br />

Wer mitentscheidet, ernährt sich besser<br />

Stefanie Lemke hat Anfang April ihre Professur am Institut für Entwicklungsforschung der <strong>BOKU</strong> angetreten.<br />

Anhand von gender-transformativen, intersektionalen und menschenrechtsbasierten Ansätzen untersucht<br />

sie die strukturellen Ursachen von Mangel- und Fehlernährung und begleitet Transformationsprozesse hin zu<br />

nachhaltiger Ernährung – vor allem in Afrika.<br />

Von Georg Sachs<br />

I<br />

n vielen Bevölkerungsgruppen Afrikas<br />

herrscht Mangel- und Fehlernährung.<br />

Die Gründe dafür verlieren sich<br />

mitunter in einem komplexen Geflecht<br />

von Zusammenhängen und Wechselbeziehungen.<br />

Anbau, Ernte, Verarbeitung<br />

von Lebensmitteln, Ernährungsverhalten,<br />

Eigentumsverhältnisse, Produktionsbedingungen,<br />

Einkommen, gesellschaftliche<br />

Dynamiken, politische und<br />

wirtschaftliche Rahmenbedingungen,<br />

bestehende natürliche Ressourcen,<br />

Umwelteinflüsse und vieles mehr – all<br />

das bildet zusammen ein „Nahrungssystem“,<br />

wie es unter anderem vom High<br />

Level Panel of Experts on Food Security<br />

and Nutrition des UN-Ausschusses für<br />

Welternährung definiert wird. Von einem<br />

solchen System zu sprechen, geht weit<br />

über die ernährungswissenschaftliche<br />

Beschreibung dessen hinaus, was eine<br />

Gruppe von Menschen zu sich nimmt. Ein<br />

wesentlicher Faktor für die Ernährungssicherung<br />

ist die Art und Weise, wie der<br />

Zugang zu natürlichen Ressourcen, zum<br />

Beispiel zu Land, organisiert ist. „Frauen<br />

sind nach wie vor stark benachteiligt –<br />

trotz nationaler Gesetzgebungen, die<br />

ihnen mehr Rechte einräumen“, sagt<br />

dazu Stefanie Lemke.<br />

Lemke ist seit Anfang April Professorin<br />

am Institut für Entwicklungsforschung<br />

(IDR) der <strong>BOKU</strong>, dessen Leitung sie auch<br />

übernommen hat. Afrika ist schon seit<br />

Langem eine bevorzugte Region ihrer<br />

Untersuchungen. In einem aktuellen Projekt,<br />

das sie gemeinsam mit ihrer Kollegin<br />

Priscilla Claeys von der Universität<br />

Coventry in England leitet, beschäftigt<br />

sie sich mit der Governance natürlicher<br />

Ressourcen in mehreren Ländern Westund<br />

Ostafrikas. Ein leitendes Motiv ist<br />

dabei die Teilhabe marginalisierter Gruppen<br />

an Entscheidungsprozessen. „Auch<br />

Frau ist nicht gleich Frau“, differenziert<br />

Lemke, „es ist wichtig, besonders benachteiligte<br />

Gruppierungen wie Witwen<br />

oder alleinstehende Frauen in den Blick<br />

zu nehmen“. Zudem seien in den untersuchten<br />

Gesellschaftsstrukturen auch<br />

viele Männer, gerade solche der jüngeren<br />

Generation, vom Recht auf Land<br />

ausgeschlossen. Partizipation ist aber<br />

nicht nur Forschungsgegenstand, sondern<br />

auch Teil der Forschungsmethode.<br />

„Wir arbeiten mit lokalen Organisationen<br />

der Zivilgesellschaft bis hinunter auf Gemeindeebene<br />

zusammen und definieren<br />

gemeinsam mit ihnen die Forschungsfragen,<br />

um die es gehen soll“, sagt Lemke.<br />

Allein, dass Fragen der Teilhabe thematisiert<br />

werden, setzt bereits Transformationsprozesse<br />

in Gang: „Frauen dürfen<br />

erstmals in einer Gemeindeversammlung<br />

sprechen und ihre Sichtweise darstellen,<br />

das ist etwas Neues.“ Die Erfahrung zeige,<br />

dass sich durch die Einbindung der<br />

oft wenig an Entscheidungsprozessen<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

41


eteiligten Frauen die Ernährungssituation<br />

für die ganze Familie verbessert.<br />

Lemkes Forschung ist an der Schnittstelle<br />

zwischen Natur- und Sozialwissenschaften<br />

angesiedelt – eine Position in<br />

der Wissenschaftslandschaft, an der sie<br />

sich seit Langem bewegt. Schon in ihrem<br />

Studium der Haushalts- und Ernährungswissenschaften<br />

am Campus Weihenstephan<br />

der TU München waren beide Zugänge<br />

gleichermaßen vertreten. „Ich bin<br />

in meiner eigenen Arbeit dann stark in<br />

die sozialwissenschaftliche Richtung gegangen,<br />

der Hintergrund aus den Ernährungswissenschaften<br />

war mir aber immer<br />

sehr wichtig.“ Zunächst stand dieser Hintergrund<br />

sogar im Vordergrund: Lemke<br />

arbeitete sechs Jahre lang in der Ernährungsberatung,<br />

zunächst in den damals<br />

neuen deutschen Bundesländern, später<br />

im heimatlichen Bad Tölz. „Hier habe ich<br />

gelernt, wissenschaftliche Erkenntnisse<br />

in Beratungsarbeit umzusetzen und an<br />

die Basis zu bringen. Diese Praxiserfahrung<br />

und die Arbeit mit Menschen hat<br />

mir in meiner späteren Forschungsarbeit<br />

sehr geholfen.“ Dass es sie danach wieder<br />

zurück in die Wissenschaft verschlug,<br />

wurde durch private Umstände begünstigt:<br />

„Mein damaliger Partner und heutiger<br />

Ehemann ist Geologe und musste<br />

beruflich nach Südafrika, ich wollte ihn<br />

begleiten.“ Ein Forschungsprojekt ermöglichte<br />

es ihr, dies mit der Arbeit an<br />

einer Dissertation zu verbinden. Südafrika<br />

hatte damals das Apartheid-Regime<br />

erst seit Kurzem überwunden. Damit<br />

gingen starke Umbrüche in der Gesellschaft<br />

einher. „Ich beschäftigte mich<br />

damals vor allem damit, dass die schwarzafrikanische<br />

Bevölkerung aufgrund der<br />

historisch bedingten Benachteiligung<br />

oft mit sehr wenig Geld zurechtkommen<br />

musste und welche Auswirkungen das<br />

auf die Ernährungssituation hatte. Die<br />

Haushaltsstrukturen und der Zusammenhalt<br />

innerhalb der Familien, vor allem<br />

die Teilhabe von Frauen, spielten dabei<br />

eine entscheidende Rolle.“ Viele Männer<br />

arbeiteten in Minen, getrennt von ihren<br />

Familien, die aufgrund der Apartheid-<br />

Gesetze auf dem Land bleiben mussten.<br />

Nach dem Ende des Regimes setzten<br />

neue Migrationsströme ein, viele mussten<br />

Arbeit suchen.<br />

Fishbowl-Diskussion während eines partizipativen Workshops in Uganda, im aktuellen Forschungsprojekt<br />

Governance von natürlichen Ressourcen in West- und Ostafrika<br />

Ermittlung der natürlichen Ressourcen und Gemeindegrenzen im aktuellen Forschungsprojekt zu<br />

Interessenskonflikten rund um die Weidewirtschaft, Ostkap-Provinz, Südafrika<br />

BEIDEN SEITEN ZUHÖREN<br />

Dass ihre Doktorarbeit mit einem wissenschaftlichen<br />

Preis ausgezeichnet wurde,<br />

machte eine Professorin an der Universität<br />

Gießen auf Lemkes Arbeit in Afrika<br />

aufmerksam, die genau zu dieser Thematik<br />

eine Postdoc-Position besetzen wollte.<br />

Im Rahmen dieser Stelle warb Lemke ein<br />

von der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />

(DFG) finanziertes Projekt ein, das<br />

es ihr ermöglichte, ihre Forschung in Afrika<br />

wieder aufzunehmen und eine kleine<br />

Forschungsgruppe aufzubauen.<br />

Ihr Fokus verlagerte sich nun auf die Umbrüche<br />

in der Landwirtschaft Südafrikas,<br />

die bis zum Ende der Apartheid von weißem<br />

Grundbesitz dominiert war. „Die<br />

schwarze Bevölkerung durfte kein Land<br />

besitzen, viele arbeiteten als Landarbeiter*innen<br />

auf den weißen Farmen“, zeigt<br />

Lemke auf. Die nun einsetzende Landrückgabe<br />

brachte für beide Seiten starke<br />

Veränderungen. „Wir haben einen vertieften<br />

Blick in diesen Mikrokosmos geworfen.<br />

Es war uns wichtig, beide Gruppen zu<br />

betrachten, auch die Situation der weißen<br />

Farmbesitzer*innen war nicht einfach,<br />

die nun das Land an die ursprünglichen<br />

Besitzer*innen zurückgeben mussten.“<br />

Auch für diese bisher nach eigenem Maßstab<br />

erfolgreichen Farmer war sehr viel<br />

in Bewegung geraten. Sie kauften neues<br />

Land oder begleiteten den Prozess der<br />

Landrückgabe. Subventionen fielen weg,<br />

mit einem Mal stand die südafrikanische<br />

Landwirtschaft dem globalisierten Handel<br />

gegenüber. „Wir haben uns die Arbeit aufgeteilt.<br />

Meine Masterstudent*innen und<br />

Doktorand*innen haben Interviews mit<br />

42 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


Stefanie Lemke<br />

den Farmarbeiterfamilien geführt und<br />

viel Zeit dort verbracht, um die Lebensbedingungen<br />

besser zu verstehen, während<br />

ich selbst mit den Farmbesitzer*innen<br />

sprach. Es ist wichtig, Vertrauen zu den<br />

Menschen aufzubauen, die man über<br />

mehrere Jahre begleitet.“<br />

Als das Projekt 2008 abgeschlossen war,<br />

ermöglichte eine Stellenausschreibung<br />

der Universität Hohenheim den nächsten<br />

Karriereschritt. „An dieser Uni gab es ein<br />

Department, das einen Schwerpunkt zum<br />

Thema Gender und Ernährung hatte“,<br />

erzählt Lemke – eine Kombination, die<br />

in ihrer Forschungsarbeit von Anfang an<br />

im Vordergrund stand: „Die Situation von<br />

Frauen in den Nahrungssystemen zu analysieren,<br />

ist stets ein wichtiger Teil meiner<br />

Untersuchungen gewesen: Wie ist Arbeit<br />

verteilt, wer hat Zugang zu Ressourcen,<br />

wer trifft Entscheidungen?“, nennt Lemke<br />

wichtige Fragen, die stets zu berücksichtigen<br />

sind. Frauen hätten beispielsweise oft<br />

einen anderen Zugang zu sozialen Netzwerken<br />

als Männer. Dieser helfe ihnen in<br />

schwierigen Situationen, doch über die<br />

Runden zu kommen. Neben dem Unterscheidungsmerkmal<br />

Geschlecht bestimmen<br />

aber auch Alter, gesellschaftlicher<br />

Status, Bildung, Region (z. B. Stadtbevölkerung<br />

– Landbevölkerung) und andere<br />

soziale Kategorien, welche Möglichkeiten<br />

einer Person offenstehen. „Diese<br />

intersek tionale Perspektive ist wesentlich,<br />

um strukturelle Ursachen von Armut<br />

und Ernährungsunsicherheit in den Blick<br />

zu bekommen“, betont Lemke.<br />

BESCHREIBUNG ERMÖGLICHT<br />

VERÄNDERUNG, VERÄNDERUNG<br />

ERFORDERT BESCHREIBUNG<br />

Damit hängt auch ein weiterer Aspekt<br />

zusammen, den die Forscherin nun in<br />

Hohenheim und ausgestattet mit einem<br />

Habilitationsstipendium in ihre Arbeit<br />

einbezog: das Menschenrecht auf angemessene<br />

Nahrung. „Ein solches Recht<br />

stellt einen normativen Rahmen sowie<br />

konkrete Handlungsanleitungen und<br />

Methoden zur Verfügung, um die strukturellen<br />

Ursachen einer Mangel- oder<br />

Fehlernährung zu thematisieren und Lösungsansätze<br />

zu entwickeln“, betont die<br />

Forscherin. Während der Arbeit an ihrer<br />

Habilitation übernahm sie in Hohenheim<br />

eine Vertretungsprofessur, 2015 erfolgte<br />

der Wechsel an die Universität Coventry.<br />

Die ausgeschriebene Position war mit<br />

dem Themenkreis „Gender, Nutrition and<br />

Right to Food Policies“ definiert, sprach<br />

also genau die Kernthemen von Lemkes<br />

Forschung an, die sich in Hohenheim<br />

herausgebildet hatten. Am Centre for<br />

Agroecology, Water and Resilience der<br />

englischen Uni führte sie mehrere Forschungsprojekte<br />

durch und hatte ab 2019<br />

die unbefristete Position eines „Associate<br />

Professor“ inne. Dennoch hat sie die Ausschreibung<br />

der <strong>BOKU</strong> sofort angesprochen:<br />

„Die Kombination von Forschungsthemen<br />

am Institut – Ernährungssicherheit<br />

und Entwicklungsthemen einerseits,<br />

Lernmethoden und Lernprozesse in der<br />

Entwicklungsarbeit andererseits – passt<br />

gut zu meinem transdisziplinären und partizipativen<br />

Forschungsansatz.“ Ergänzen<br />

will sie dies um die Gender-Forschung,<br />

die intersektionale Perspektive und den<br />

Menschenrechtsansatz. Im ersten Schritt<br />

hat sie nun einen interaktiven Prozess<br />

gestartet, um sich mit ihrem Team einen<br />

Überblick zu verschaffen, was in der Vergangenheit<br />

am Institut alles gemacht<br />

wurde, welche Expertise vorhanden ist<br />

und wie sich Synergien herstellen lassen,<br />

aber auch, wo sich die Forschungsgruppen<br />

gesellschaftlich engagiert haben.<br />

„Am IDR wurde viel aufgebaut – ich freue<br />

mich darauf, zukünftige Forschungsschwerpunkte<br />

gemeinsam zu entwickeln.“<br />

Sie selbst bringt eine Reihe an<br />

Forschungsprojekten aus ihrer Zeit in Coventry<br />

mit. Eines davon beschäftigt sich<br />

mit einem Ausgleich unterschiedlicher<br />

Interessen rund um intensivierte Formen<br />

der Weidewirtschaft in Südafrika. Ziel ist,<br />

eine Bewirtschaftungsweise zu finden,<br />

die Vorteile für die lokale Bevölkerung<br />

mit ökologischem Nutzen verbindet. Vor<br />

kurzem konnten Forschungsvorhaben zu<br />

Formen der Landwirtschaft im urbanen<br />

Raum sowie zu Auswirkungen der Covid-<br />

19-Pandemie auf lokale Nahrungssysteme<br />

im südlichen Afrika und Indonesien<br />

abgeschlossen werden.<br />

Dem IDR obliegt auch die Koordination<br />

des „Cluster for Development Research“<br />

(CDR), an dem auch andere Institute der<br />

<strong>BOKU</strong> beteiligt sind. Das CDR bündelt<br />

Expertise zur Nachhaltigkeitstransition<br />

im Sinne der Agenda 2030 der Vereinten<br />

Nationen und fördert den Austausch innerhalb<br />

der <strong>BOKU</strong>, unter anderem durch<br />

gemeinsame Aktivitäten in Forschung,<br />

Lehre und im Aufbau von Kapazitäten.<br />

Besonders wichtig ist Lemke in diesem<br />

Zusammenhang auch die Förderung des<br />

wissenschaftlichen Nachwuchses: „Um die<br />

Studierenden an Forschungsaktivitäten<br />

heranzuführen, ist es wichtig, die Lehre<br />

eng mit der Wissenschaft zu vernetzen<br />

und immer wieder aktuelle Forschungsergebnisse<br />

in die Vorlesungen einzubauen.“<br />

In den Sozialwissenschaften, glaubt Lemke,<br />

muss immer beides zusammenwirken,<br />

ein normativer und ein deskriptiver Aspekt:<br />

„Wir brauchen empirische Daten,<br />

müssen aber auch Prozesse beschreiben<br />

können“, ist das wissenschaftliche Bekenntnis<br />

der vor kurzem erst nach Österreich<br />

übersiedelten Wissenschaftlerin.<br />

Doch gerade das, was in wissenschaftlichen<br />

Projekten erarbeitet wird, trägt<br />

zur Weiterentwicklung des bestehenden<br />

normativen Rahmens bei: „Hier ist ja<br />

nichts in Stein gemeißelt, auch die Menschenrechte<br />

entwickeln sich weiter. Das<br />

ist ein fortwährender Prozess, der unter<br />

anderem durch Fallbeispiele vorangetrieben<br />

wird.“ Zu diesem Prozess möchte<br />

Lemke mit ihrer Forschung an der <strong>BOKU</strong>,<br />

in enger Zusammenarbeit mit lokalen<br />

Akteur*innen und den vielfältigen transdisziplinären<br />

Netzwerken, die bereits an<br />

der <strong>BOKU</strong> bestehen, beitragen. •<br />

Der Autor ist Chefredakteur der Zeitschrift Chemiereport/Austrian<br />

Life Sciences.<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

43


LEBENS<br />

MITTEL<br />

Faszinierende Pflanzen<br />

Der „Fascination of Plants Day <strong>2021</strong>“ widmete sich der Bedeutung von Obstgehölzen, Reben,<br />

Kornelkirschen und Beerenfrüchten für die Produktion von Nahrungsmitteln.<br />

Von Margit Laimer<br />

Margit Laimer/PBU<br />

Im Saran-Haus der <strong>BOKU</strong> stehen über 50 virusfreie Stein- und Kernobst-Mutterpflanzen sowie weltweit einzigartige virusresistente Linien (rund 200<br />

Reben und Steinobst).<br />

Der sechste internationale „Fascination<br />

of Plants Day“ (FoPD) der<br />

Europäischen Organisation für<br />

Pflanzenwissenschaften (EPSO) fand am<br />

18. Mai <strong>2021</strong> unter Koordination der Plant<br />

Biotechnology Unit (PBU) der <strong>BOKU</strong><br />

statt. Das Ziel des weltweiten Aktionstages,<br />

den Menschen die Faszination der<br />

Pflanzenwelt zu vermitteln und deren<br />

zentrale Bedeutung für alle Lebensbereiche,<br />

aber auch für den Klima- und Naturschutz<br />

aufzuzeigen, wurde wieder durch<br />

vielseitige Initiativen erfüllt. In diesem<br />

Jahr wurden Themen aufgegriffen, die<br />

die Bedeutung der Pflanzen für die Landund<br />

Forstwirtschaft und den Gartenbau<br />

für die nachhaltige Produktion von Nahrungsmitteln<br />

sowie für die Bereitstellung<br />

von Energie hervorheben.<br />

In Österreich fanden zahlreiche Aktionen<br />

statt, die Wissenswertes aus der Pflanzenforschung<br />

ebenso zeigten wie die<br />

Möglichkeiten zur vielfältigen Nutzung<br />

der Pflanzen als Lebens- oder Heilmittel<br />

bis hin zu ästhetischen Ansprüchen in<br />

Kunstwerken.<br />

An der <strong>BOKU</strong> führte die PBU in einer<br />

virtuellen Einspielung zunächst am<br />

Standort Muthgasse durch die In vitro-<br />

Genbank für holzige Nutzpflanzen, die<br />

Obstgehölze, Reben, Kornelkirschen und<br />

Johann Weiß<br />

Die 1.000-jährige Dirndl<br />

Beerenfrüchte enthält. Vor allem die<br />

1.000-jährige Dirndl aus dem Traisental<br />

regte die Teilnehmer*innen via <strong>BOKU</strong><br />

Instagram zu einem lustigen und informativen<br />

Quiz an, an dem 500 User*innen<br />

teilnahmen. Insgesamt sahen rund 8.500<br />

Personen die Beiträge auf Insta gram.<br />

Die Webseite zum FoPD wurde 800 Mal<br />

aufgerufen.<br />

Der Erhalt und Schutz der genetischen<br />

Vielfalt des weltweiten Kulturpflanzenbestandes<br />

ist eine der bedeutendsten<br />

Maßnahmen gegen potenzielle Verluste<br />

der Biodiversität, hervorgerufen durch<br />

Faktoren wie Klimaveränderung oder<br />

neue Pflanzenkrankheiten, aber auch vor<br />

dem Hintergrund des steigenden Nahrungsbedarfs<br />

einer wachsenden Weltbevölkerung<br />

und deshalb enorm wichtig.<br />

Der zweite Teil der Vorstellung führte<br />

zum Saranhaus der <strong>BOKU</strong> am Standort<br />

Sowinetzgasse 1, 1210 Wien. Ein Saranhaus<br />

ist eine mit einem engmaschigen doppelwandigen<br />

Gewebe (Saran) ausgestattete<br />

Konstruktion, in der die Pflanzen unter annähernden<br />

Freilandbedingungen gezogen<br />

werden können. Benannt wurde dieses<br />

Gewebe nach der Frau und der Tochter<br />

des Erfinders John Reilly (Sarah und Ann).<br />

Das Saranhaus dient dem Erhalt von<br />

Pflanzen unter örtlichen Wetterbedingungen<br />

bei gleichzeitigem Schutz vor<br />

boden- und luftbürtiger Virusübertragung.<br />

Es hält Blattläuse und Insekten<br />

fern. Ein Fundament und die Haltung<br />

von Einzelpflanzen in versenkten Containern<br />

verhindern den Kontakt zum<br />

Außenboden. Hier stehen die im Laufe<br />

der Forschungsarbeiten entstandenen<br />

virusfreien Mutterpflanzen (über 50<br />

Stein- und Kernobst) sowie weltweit einzigartige<br />

virusresistente Linien (ca. 200<br />

Reben und Steinobst), die als Ressource<br />

für neue Forschungsprojekte dienen.•<br />

A.o. Univ.Prof. in Dr. in Margit Laimer leitet die Plant<br />

Biotechnology Unit der <strong>BOKU</strong> und ist die nationale<br />

Koordinatorin des „Fascination of Plants Day“.<br />

44 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


Wiener Würze<br />

Ingeborg Sperl<br />

LEBENS<br />

MITTEL<br />

Des Lebens Würze<br />

Es muss nicht immer Soja sein. Es geht auch mit Lupinen. Karl Traugott, Absolvent der Lebensmitteltechnologie<br />

an der <strong>BOKU</strong>, macht es mit seiner „Wiener Würze“ vor.<br />

Von Ingeborg Sperl<br />

Man trifft sich auf einer kalten<br />

Parkbank, trotz Impfung im vorgeschriebenen<br />

Abstand, beäugt<br />

von älteren Damen mit Hund. Karl Traugott<br />

ist aus Wolkersdorf im Weinviertel,<br />

dem Standort seines Betriebs, gekommen,<br />

hat Würzeflaschen mitgebracht<br />

und wirkt tiefenentspannt.<br />

Dass er irgendetwas mit Lebensmitteln<br />

machen würde, war sozusagen unausweichlich,<br />

denn er stammt aus einer<br />

Familie, die seit acht Generationen in<br />

der Brauerei beschäftigt war und immer<br />

noch ist. Traugott erzählt, er habe sich<br />

immer für Verfahrenstechnik, Analysen<br />

und Prozesse interessiert, Überraschungen<br />

nicht ausgeschlossen: „Das ist wie<br />

eine Schachtel Pralinen, man weiß nie,<br />

was man bekommt.“ 2016 hat er seinen<br />

Betrieb gegründet und erst einmal einen<br />

Maschinenpark aufbauen müssen. Gebrauchte<br />

Anlagenteile wurden modifiziert,<br />

andere Maschinen neu konstruiert.<br />

SECHS MONATE FERMENTATION<br />

Von Anfang an war klar, dass nur Bio-<br />

Produkte aus Österreich verwendet<br />

werden sollten und das aus möglichst<br />

naher Umgebung. Inzwischen kooperiert<br />

Traugott mit bestimmten Bauern;<br />

hilfreich war auch, dass die Schwiegereltern<br />

eine Landwirtschaft betreiben.<br />

Allerdings, so Traugott, „sind manche<br />

Böden in Niederösterreich fast zu gut für<br />

Lupinen“. Diese darf man sich ungefähr<br />

so wie die Zierblumen gleichen Namens<br />

im Garten vorstellen, nur sind Lupinen<br />

auf dem Acker zerzauster.<br />

Der Herstellungsprozess für die „Wiener<br />

Würze“ ist ähnlich der Sojasaucenherstellung.<br />

Traugott hat Soja durch Lupine ersetzt<br />

und statt Weizen Hafer genommen.<br />

Das alles konnte er auf der <strong>BOKU</strong> ausprobieren.<br />

Die Lupinen werden einen Tag<br />

gekocht, mit Hafer gemischt mit einem<br />

Edelschimmel beimpft, fermentiert und<br />

dann wandert alles nach drei Tagen mit<br />

Salzwasser in die Reifung. Ganze sechs<br />

Monate dauert dieser Prozess mithilfe<br />

spezieller Schimmelpilze, bis abgepresst,<br />

erhitzt und abgefüllt werden kann.<br />

Varianten sind die „Tiroler Würze“, die<br />

mit geräuchertem Salz hergestellt wird,<br />

um einen Geschmack von Speck zu erzeugen.<br />

Außerdem gibt es noch eine<br />

„Scharfe Würze“ mit Chili, das im Mühlviertel<br />

angebaut wird. Salatwürze mit<br />

Essig soll heuer im Sommer folgen. Ein<br />

Miso aus Kichererbsen ist auch am Start,<br />

das angenehm salzig und rund schmeckt.<br />

Karl Traugott bezeichnet sich selbst als<br />

Omnivor. „Ich bin ein Genussmensch.“<br />

Kein Zufall also, dass die Produktlinie<br />

unter „Genusskoarl“ läuft. Als Allesesser<br />

verschmäht er auch Fleisch nicht.<br />

„Aber ich habe von vornherein tierische<br />

Komponenten in der Produktion ausgeschlossen“.<br />

„ÜBERZEUGTER <strong>BOKU</strong>-ABSOLVENT“<br />

Dazulernen ist immer angesagt. Karl<br />

Traugott besucht an der <strong>BOKU</strong> zum<br />

Beispiel Seminare zu zielgruppenspezifischem<br />

Marketing – „das liegt mit nicht so<br />

gut“ – und zum Einsatz von alternativen<br />

Proteinquellen. „Ich bin ein überzeugter<br />

<strong>BOKU</strong>-Absolvent“, die Muthgasse ist ein<br />

Fixpunkt in seinem Leben.<br />

Für Hobbys bleibt wenig Zeit. „Früher war<br />

ich Sanitäter bei den Maltesern“, aber das<br />

geht sich jetzt wegen der Arbeits zeiten<br />

in der Nacht nicht mehr oft aus, zumal<br />

er auch möglichst viel Zeit mit seiner<br />

kleinen Tochter verbringen will. Segeln<br />

in den sieben Weltmeeren hat wegen der<br />

Pandemie Pause, bleibt aber eine Option.<br />

Und natürlich liebt der Unternehmer gutes<br />

Essen, auch Ausgefallenes, Neues zu<br />

probieren macht ihm Freude. Und selber<br />

kochen. Mit Würze.<br />

•<br />

www.genusskoarl.at<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

45


LEBENS<br />

MITTEL<br />

Wo der Pfeffer und die<br />

Gewürznelke wachsen<br />

Die Geschichte des<br />

Gewürzhandels ist auch<br />

immer eine Geschichte<br />

von Unterdrückung,<br />

kolonialer Ausbeutung<br />

und Bereicherung.<br />

Von Ingeborg Sperl<br />

Die Geschichte der Gewürze ist untrennbar<br />

mit Kolonialismus, Ausbeutung<br />

und Sklaverei verbunden.<br />

Exemplarisch dafür sind die sagenhaften<br />

Gewürzinseln, die heutigen Banda-Inseln<br />

zwischen Sulawesi und Neuguinea gelegen,<br />

die unter niederländischer Kolonialherrschaft<br />

Molukken genannt wurden.<br />

Einst haben sich Eroberer und Entdecker,<br />

kühne Seefahrer und abenteuerlustige<br />

Reisende neue Routen durch die<br />

Weltmeere gesucht, um Gewürze nach<br />

Europa zu bringen. Es wurden Seewege<br />

erforscht und auf den Landwegen entwickelten<br />

sich blühende Städte, Handelszentren,<br />

wo die Karawanen auf dem<br />

Weg nach Europa Halt machten. Die<br />

Jagd nach Gewürzen hatte geopolitische<br />

Folgen, derer wir uns heute kaum mehr<br />

bewusst sind.<br />

Eines der begehrtesten Handelsgüter<br />

war Pfeffer, der heutzutage ein banales<br />

Gewürz ist. Doch früher wurden mit<br />

den schwarzen Kügelchen riesige Gewinne<br />

erzielt; die Händler gelangten zu<br />

Reichtum, man nannte sie deshalb auch<br />

„Pfeffersäcke“.<br />

STATUSSYMBOL UND<br />

GERUCHSÜBERTÜNCHER<br />

Die Pflanze der Begierde ist recht unspektakulär:<br />

eine Ranke, ein wenig an die<br />

Bohnenranke erinnernd. Mit hübschen<br />

ovalen Blättern, die Früchte hängen in<br />

dünnen Trauben herunter.<br />

Warum Pfeffer? Man kann sich vorstellen,<br />

wie schnell Fleisch in der Vergangenheit<br />

mangels Kühlung vergammelte. Um diesen<br />

Hautgout zu übertünchen, war Pfeffer<br />

ideal. Außerdem diente das Gewürz<br />

als Statussymbol. Man demonstrierte<br />

damit, was man sich alles leisten konnte.<br />

Pfeffer war zudem leicht transportierbar,<br />

behielt seinen Geschmack und verdarb<br />

nicht so schnell. Man schreibt ihm auch<br />

heute noch eine positive Wirkung auf die<br />

Gesundheit zu. Das Alkaloid Piperin regt<br />

zum Beispiel die Durchblutung und auch<br />

die Verdauung an.<br />

Der rote Pfeffer, dessen Körner sich auf<br />

dem Steak so hübsch machen, stammt<br />

hingegen von einem Baum, der nichts<br />

mit dem echten Pfeffer zu tun hat, dessen<br />

rispenartig angeordnete Früchte<br />

aber oft als Pfefferersatz herhalten. Und<br />

der in Mode gekommene Pfefferspray<br />

wirkt nicht wegen der Pfefferinhaltsstoffe,<br />

sondern durch das Capsaicin, wie<br />

es in scharfen Pfefferoni enthalten ist.<br />

Launige Abschweifungen helfen indes<br />

nicht, sich um die grausame Geschichte<br />

herumzudrücken: Der historische Hintergrund<br />

des Gewürzhandels ist allgemein<br />

recht düster.<br />

HERKUNFTSLÄNDER ENTEIGNET<br />

Die Molukken, die vom Portugiesen<br />

Afonso de Albuquerque entdeckt wurden,<br />

sind dafür ein trauriges Beispiel. Die<br />

Portugiesen errichteten dort 1512 ein<br />

Handelsmonopol. Das nahm ihnen die<br />

Niederländische Ostindien-Kompanie<br />

ab. Schon um 1620 bestanden etwa 56<br />

Prozent der Waren, die von den niederländischen<br />

Kaufleuten nach Europa importiert<br />

wurden, aus Pfeffer. Bis 1700<br />

ging es dabei um 577 Millionen Gulden<br />

(wenn man den niederländischen Gulden<br />

nach heutigem Kurs berechnet, waren<br />

das etwa 288 Millionen Euro). Ein schönes<br />

Zubrot für den Staatshaushalt. Die<br />

einheimische Bevölkerung der Molukken,<br />

die praktisch enteignet wurde, zahlte<br />

jedoch einen hohen Preis.<br />

46 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


Ingeborg Sperl<br />

Gewürznelken werden auf den Banda-Inseln entlang der<br />

Straßen zum Trocknen ausgelegt.<br />

Die Gewürznelken stammen von einem Baum, der zu den Myrtengewächsen gehört und<br />

gehören neben Pfeffer und Muskatnüssen zu den begehrten Produkten der „Gewürzinseln“.<br />

„GOLD“ MUSKATNUSS<br />

Denn auf den Inseln gedieh neben dem<br />

Pfeffer noch ein weiteres begehrtes<br />

Gewächs: der Muskatbaum, der zu den<br />

Magnoliengewächsen gezählt wird und<br />

sowohl männliche als auch weibliche<br />

Blüten trägt. Der Baum selbst ist nicht<br />

besonders auffällig. Doch bergen die<br />

Früchte ästhetische Überraschungen.<br />

Die Frucht ist nämlich innen von einem<br />

leuchtend roten Fasernetz umschlossen,<br />

der sogenannten Muskatblüte, die ebenfalls<br />

als Gewürz verwendet wird.<br />

Nach Aufständen fielen die<br />

Bewohner der Molukken<br />

einem gezielten Genozid<br />

durch die Holländer zum<br />

Opfer. Die neuen Plantagenbesitzer setzten<br />

daraufhin auf ihren Gütern Sklaven<br />

ein. Als die Muskatnuss, das „Gold Ostindiens“,<br />

als Arzneimittel gegen die Pest<br />

angesehen wurde, schossen die Preise<br />

nochmals in die Höhe – wieder ein gutes<br />

Geschäft für die Europäer, die sich wegen<br />

der Muskatnuss auch untereinander bekriegten.<br />

Wie das so ist bei Monopolen:<br />

Irgendwann schmuggelt jemand wie der<br />

französische Statthalter von Mauritius,<br />

Pierre Poivre, Muskatnüsse aus dem Land<br />

und das Monopol ist gebrochen.<br />

Reist man durch Flores oder Timor und<br />

ist gerade zur richtigen Jahreszeit dort,<br />

kann man entlang der Straßen auf Planen<br />

zum Trocknen ausgebreitet, händisch gepflückte<br />

Gewürznelken in verschiedenen<br />

Trocknungsgraden sehen. Eine olfaktorische<br />

Schwelgerei sondergleichen. Den<br />

Baum, der zu den Myrtengewächsen zählt,<br />

sieht man in den ländlichen Gebieten oft<br />

zwischen den penibel gejäteten Gemüsefeldern<br />

stehen. Auch der Gewürznelkenbaum<br />

war ursprünglich nur auf den Molukken<br />

endemisch und ebenso heiß begehrt.<br />

Gewürznelken wurden nach Indien<br />

exportiert. Über arabische Händler bezogen<br />

die Römer die teuren Blütenknospen.<br />

Gewürznelken können Bakterien, Pilze,<br />

Viren und Entzündungen hemmen; leicht<br />

betäubend sind sie als erste Hilfe gegen<br />

Zahnschmerzen nützlich.<br />

Heute werden Pfeffer, Muskat und Nelken<br />

in weiten Teilen der Welt angebaut.<br />

Jedoch werden die meisten Gewürznelken<br />

immer noch in Amsterdam oder<br />

Rotterdam umgeschlagen.<br />

MANHATTAN GEGEN<br />

MOLUKKEN-INSEL<br />

Der lange Schatten der Geschichte<br />

reicht bis in die Gegenwart. Nachdem<br />

die Niederländer während der Napoleonischen<br />

Kriege die Molukken an die Engländer<br />

verloren hatten, wurden die Inseln<br />

im Zweiten Weltkrieg von den Japanern<br />

besetzt. Die Christen auf den Molukken<br />

wollten nach der Unabhängigkeitserklärung<br />

Indonesiens einen eigenen Staat,<br />

was von Indonesien verhindert wurde.<br />

Die Folge: Pogrome und brutale Auseinandersetzungen<br />

mit Muslimen. 1951<br />

flüchteten 35.000 Menschen, die sich in<br />

ihrer Heimat nicht mehr sicher fühlten,<br />

in die Niederlande. Nicht unbedingt willkommen<br />

und in bestimmten Stadtteilen,<br />

„sozialen Brennpunkten“, angesiedelt,<br />

führte das zu etlichen Anschlägen durch<br />

radikale Molukker.<br />

Noch eine absurde Folge des Gewürzhandels<br />

soll nicht unerwähnt bleiben:<br />

Im Kampf um das Muskatnuss-Monopol<br />

tauschten die Briten 1667 eine winzige<br />

Molukken-Insel gegen die Insel Manhattan,<br />

die den Holländern gehörte. Der<br />

Rest ist Geschichte. <br />

•<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

47


unsplash<br />

LEBENS<br />

MITTEL<br />

Lebensmittel- und Biotechnologie: Wie die Löcher in<br />

den Käse und die Antigene in den Impfstoff kommen<br />

Die <strong>BOKU</strong> bietet das einzige Universitätsstudium in diesem Bereich und bildet ihre Studierenden auf höchstem<br />

fachlichen Niveau aus.<br />

Von Hanni Schopfhauser<br />

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts<br />

wurde die <strong>BOKU</strong> als „Hochschule<br />

für Bodencultur“ gegründet, um<br />

die Ernährung des riesigen Habsburgerreiches<br />

weiterhin zu gewährleisten,<br />

nachdem die höchste landwirtschaftliche<br />

Ausbildungsstätte in Ungarisch-<br />

Altenburg (heute Mosonmagyaróvár) an<br />

die ungarische Reichshälfte gefallen war.<br />

Heute, fast 150 Jahre später, ist ein ausreichendes<br />

Nahrungsangebot, zumindest<br />

in Europa, kein Thema mehr – im<br />

Gegenteil: Die Verschwendung von Lebensmitteln<br />

beschäftigt in den westlich<br />

geprägten Ländern immer mehr Menschen.<br />

Doch bis hierher war es ein weiter<br />

Weg: Zwei Weltkriege und die Wirtschaftskrise<br />

verursachten noch im 20.<br />

Jahrhundert Hunger in Österreich und<br />

historische Ereignisse wie der Untergang<br />

der Monarchie, die politischen Wirren<br />

der 1930er-Jahre und der Nationalsozialismus<br />

(sowie dessen Überwindung)<br />

sorgten dafür, dass die <strong>BOKU</strong> am Ende<br />

des Zweiten Weltkrieges vor den Trümmern<br />

ihrer Existenz stand.<br />

„GÄRUNGSTECHNIK“ ALS BEGINN<br />

Just in diesem Jahr 1945 entschied sich<br />

das Professorenkollegium zur Einführung<br />

einer neuen Studienrichtung, der<br />

Gärungstechnik. Der Lehrplan beschäftigte<br />

sich jedoch nicht ausschließlich<br />

mit Fermentationstechnologien, sondern<br />

auch mit anderen Aspekten der<br />

Lebensmittelverarbeitung, die im Laufe<br />

der Jahrzehnte immer vielfältiger und<br />

komplexer wurden, und entwickelte<br />

schließlich einen Schwerpunkt für<br />

pharmazeutische Grundstoffe, geleitet<br />

von der immer stärker spezialisierten<br />

Grundlagenforschung. Das führte 1984<br />

schließlich zur Umbenennung des Studiums<br />

in „Lebensmittel- und Biotechnologie“,<br />

wie das Bachelorstudium auch<br />

heute noch heißt. Auf dem Masterlevel<br />

gibt es seit 2003 die Wahl zwischen „Lebensmittelwissenschaften<br />

und -technologie“<br />

und „Biotechnology“ (seit 2019 in<br />

englischer Sprache) und seit 2005 auch<br />

Lebensmittelsicherheit auf internationaler<br />

Ebene mit „Safety in the Food Chain“.<br />

Mit den immer komplexeren Methoden<br />

der Lebensmittelverarbeitung stiegen<br />

auch die Anforderungen an die (messbare)<br />

Qualität, internationale Produktionsstandards<br />

mussten in Betrieben<br />

eingeführt und kontrolliert werden –<br />

Lebensmittelsicherheit rückte immer<br />

mehr in den Fokus der Lebensmitteltechnolog*innen<br />

und damit der Aus-<br />

48 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


ildung. Gleichzeitig war in den 70er-<br />

Jahren des 20. Jahrhunderts erstmals<br />

Lebensmittelüberproduktion ein Thema:<br />

Ältere Semester erinnern sich an den<br />

„Butterberg“ und den „Milchsee“ der<br />

Wirtschaftswunderjahre. Zur Bewältigung<br />

dieser neuen Problematik war nicht<br />

nur die Politik gefragt, sondern auch die<br />

Lebensmitteltechnologie. Welche neuen<br />

Produkte konnten das Interesse der Bevölkerung<br />

in Zeiten stetig steigenden<br />

Wohlstandes wecken, und das möglichst<br />

stärker als das Angebot der Konkurrenz<br />

(vor 40 Jahren sprach noch niemand von<br />

„Mitbewerb“)?<br />

unsplash<br />

Mit dem Lebensstandard stiegen jedoch<br />

bereits in den 1980er-Jahren die verharmlosend<br />

als „Wohlstandskrankheiten“<br />

bezeichneten Probleme wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen<br />

oder Diabetes Typ II<br />

und damit das Bedürfnis, diesen durch<br />

gesunde Ernährung Einhalt zu gebieten.<br />

Das führte zu einem regelrechten Boom<br />

der Lebensmitteltechnologie, zum Beispiel<br />

mit der Entwicklung von zuckerund/oder<br />

fettreduzierten Lebensmittelprodukten,<br />

die jedoch auch den steigenden<br />

Anforderungen an Geschmack<br />

und andere sensorische Eigenschaften<br />

gerecht werden sollten, bis hin zu „functional<br />

foods“ um die Jahrtausendwende,<br />

bei denen bereits die Grenzen zwischen<br />

Lebensmittel- und Pharmaprodukten zu<br />

verschwimmen begannen.<br />

Adobe Stock<br />

HYGIENE GEGEN<br />

„LEBENSMITTELVERGIFTUNG“<br />

An diesen Entwicklungen waren hierzulande<br />

die Lebensmittel- und Biotechnolog*innen<br />

der <strong>BOKU</strong> maßgeblich beteiligt,<br />

ist es doch bis heute das einzige<br />

Universitätsstudium auf diesem Gebiet<br />

in Österreich. Das aktuelle Bachelorstudium<br />

stattet die Studierenden mit den<br />

Grundlagen für die Herausforderungen<br />

des 21. Jahrhunderts aus: Sie beschäftigen<br />

sich mit den biologischen, chemischen<br />

und physikalischen Prozessen und<br />

Verfahren, die an der Aufbereitung, Verarbeitung<br />

und Veredelung von Lebensmitteln,<br />

aber auch an der Herstellung von<br />

Ausgangsmaterialien für pharmazeutische<br />

Produkte oder an der Erzeugung von<br />

Biotreibstoff beteiligt sind. Ihre Welt sind<br />

Organismen, Zellen und Enzyme genauso<br />

Wie die Antigene in den Impfstoff kommen, ist Thema in der Zellbiologie und auch in der Genetik<br />

wie technologische Verfahren. Sie wissen,<br />

wie die Löcher in den Käse kommen<br />

(durch die Gasbildung an der Reifung beteiligter<br />

Mikroorganismen), warum Zellen<br />

altern, Pilze nützlich sind, wie man Schadstoffe<br />

analysiert oder Bakterien nutzt, um<br />

Insulin zu erzeugen. Einige Produkte, wie<br />

zum Beispiel moderne Impfstoffe, hat die<br />

Biotechnologie überhaupt erst möglich<br />

gemacht und hohe Hygienestandards haben<br />

dazu geführt, dass Krankheits- oder<br />

gar Todesfälle durch „Lebensmittelvergiftungen“<br />

praktisch keine statistische<br />

Bedeutung mehr haben, wo sie eingehalten<br />

werden. Ernährung und Gesundheit<br />

kommen eben nie aus der Mode und die<br />

<strong>BOKU</strong> ist dabei immer am Puls der Zeit<br />

– seit 76 Jahren. •<br />

Mehr zum Thema Lebensmittel-<br />

und Biotechnologie<br />

gibt es auf der <strong>BOKU</strong>-<br />

Homepage und im <strong>BOKU</strong>-<br />

YouTube-Channel<br />

Auch interessant: www.youtube.com/<br />

watch?v=Y3vNE65lokQ Introduction<br />

to the Department of Food Science and<br />

Technology at <strong>BOKU</strong><br />

DI in Hanni Schopfhauser ist Absolventin der Lebensmittel-<br />

und Biotechnologie und leitet die Stabsstelle<br />

Lehre: Kommunikation und Berichtwesen.<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

49


ERASMUS+ <strong>2021</strong>–2027 – Neues für<br />

Mobilität und Projekte auf einen Blick<br />

Von Margarita Calderón-Peter<br />

Die Grundpfeiler von ERASMUS+<br />

wie Auslandsstudien und -praktika<br />

sowie Lehrenden- und Personalmobilität<br />

stehen noch, doch die ERAS-<br />

MUS+ Programmgeneration <strong>2021</strong>–27<br />

bietet neben altbekannten Möglichkeiten<br />

auch neue Optionen für kürzere<br />

beziehungsweise teilweise virtuelle Mobilitäten<br />

und Lehr- sowie Kapazitätsentwicklungsprojekte<br />

und unterstützt mit<br />

neuen Zuschüssen.<br />

Neu sind „Blended Intensive Programmes“<br />

(BIPs). Das sind Kurse von zumindest<br />

fünf Tagen „vor Ort“-Aktivität<br />

und zusätzlichen Online-Einheiten im<br />

Umfang von insgesamt mindestens drei<br />

ECTS, die sowohl für Studierende (bis<br />

inklusive Doktorat) als auch für Mitarbeiter*innen<br />

durchgeführt werden können.<br />

Wenn <strong>BOKU</strong>-Angehörige an einem BIP<br />

teilnehmen, können sie Reise- und Aufenthaltskostenzuschüsse<br />

bekommen;<br />

wenn an der <strong>BOKU</strong> ein BIP organisiert<br />

wird, können Organisationskosten teilfinanziert<br />

werden. Eine weitere Neuerung<br />

in dieser Programmperiode: Für<br />

Incoming-Lehrende von europäischen<br />

Unternehmen kann ein Zuschuss beantragt<br />

werden. Die bisher bekannten<br />

Mobilitätsförderungen werden nun im<br />

Anlassfall ergänzt um sogenannte „Topup’s“<br />

für Studienbeihilfenbezieher*innen,<br />

Studierende mit Kind, Personen mit<br />

besonderen Bedürfnissen sowie für die<br />

Verwendung umweltfreundlicher Verkehrsmittel<br />

(Bus, Bahn, Carsharing).<br />

Nachhaltigkeit, Inklusion und Digitalisierung<br />

sind die Prioritäten des neuen ERAS-<br />

MUS+ Programms, nicht nur bei den oben<br />

genannten Mobilitätsförderungen, sondern<br />

auch bei den Projektfinanzierungen,<br />

die ebenfalls neu strukturiert wurden:<br />

Co-operation Partnerships (vormals Strategische<br />

Partnerschaften) sind kleinere<br />

Projekte (z. B. für Digitalisierung, Weiterbildung<br />

von Studierenden und Mitarbeiter*innen,<br />

Entwicklung innovativer<br />

Lehr- und Lernformate) von 1–3 Jahren<br />

Dauer und 3–10 Partnerinstitutionen,<br />

mit einem Budget zwischen 100.000 und<br />

400.000 Euro. Anträge sind bei der Nationalagentur<br />

einzureichen, die nächste<br />

Antragsfrist ist der 3. November <strong>2021</strong>.<br />

Innovationsallianzen sollen die Kooperation<br />

zwischen Universitäten und Wirtschaft<br />

stärken. Als Allianzen für Bildung<br />

und Unternehmen unterstützen sie die<br />

Entwicklung von Lehr- und Lernformaten<br />

mit Einbindung von Betrieben (mindestens<br />

acht Konsortiumspartner*innen,<br />

davon mindestens je drei aus dem Wirtschafts-<br />

sowie Bildungsbereich; Laufzeit<br />

2–3 Jahre; Budget 1 bis 1,5 Mio. Euro).<br />

In der Form von Allianzen für Sektorale<br />

Zusammenarbeit sollen konkrete<br />

Studierendenmobilität<br />

https://short.boku.ac.at/int-out.html<br />

Lehrenden- und Personalmobilität<br />

https://short.boku.ac.at/int-staffout.<br />

html<br />

Lehr- und Kapazitätsentwicklungsprojekte<br />

https://short.boku.ac.at/<br />

int-coop-lehreprojekte<br />

Generelle Anfragen zu ERASMUS-<br />

Mobilitäten erasmus@boku.ac.at<br />

Anfragen zu ERASMUS-Projekten<br />

margarita.calderon-peter@boku.ac.at<br />

Kompetenzen für einen bestimmten<br />

Wirtschaftssektor vermittelt werden<br />

(mindestens zwölf Projektpartner*innen,<br />

davon mindestens je fünf aus Wirtschaft<br />

beziehungsweise Bildung; Laufzeit vier<br />

Jahre; Budget 4 Mio. Euro). Einreichfrist<br />

für beide Arten von Innovationsallianzen<br />

ist der 7. September <strong>2021</strong> (Einreichung<br />

über das EU-Portal).<br />

Jean Monnet-Aktionen fördern wie bisher<br />

die Integration von EU-Aspekten in<br />

Studien, die sonst wenig EU-Bezug haben.<br />

Dies ist über Module (mind. 40 Unterrichtsstunden<br />

pro Jahr, Laufzeit drei Jahre,<br />

Budget ca. 30.000 Euro), Professuren<br />

(mind. 90 Unterrichtsstunden pro Jahr,<br />

Laufzeit drei Jahre, Budget max 50.000<br />

Euro) oder Exzellenzzentren (zur Förderung<br />

des Dialogs mit der Gesellschaft,<br />

Laufzeit drei Jahre, Budget max. 100.000<br />

Euro) möglich. Einreichfrist (über das EU-<br />

Portal) war heuer der 2. Juni <strong>2021</strong>.<br />

Auch ERASMUS MUNDUS Joint Master<br />

(EMJM) sind weiterhin Teil des ERAS-<br />

MUS-Programms – heuer mit einer EU-<br />

Portals-Einreichfrist am 17. Juni <strong>2021</strong>.<br />

Ab 2022 wird es dann auch wieder Förderungen<br />

für Studierenden- und Personalmobilität<br />

außerhalb der EU sowie<br />

für Kapazitätsentwicklungsprojekte mit<br />

diesen Partnerländern geben. Bei Interesse<br />

berät Sie das Team von <strong>BOKU</strong>-International<br />

Relations gerne (Details siehe<br />

Infokasten).<br />

Dr in . Margarita Calderón-Peter ist Leiterin der<br />

International Relations.<br />

50 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


KK<br />

SPLITTER<br />

Ausgezeichnete Forschung<br />

Gleich drei Forschungsprojekte<br />

an<br />

der <strong>BOKU</strong> wurden<br />

mit dem Neptun-<br />

Wasserpreis ausgezeichnet.<br />

In dem<br />

interdisziplinären<br />

Forschungsprojekt<br />

Ligninbasierte Trägersysteme<br />

für die<br />

Renate Weiß<br />

Agro-Biotechnologie<br />

untersucht Renate Weiß am Institut für Umweltbiotechnologie<br />

den Einsatz des Holzbestandteils Lignin<br />

als umweltfreundliche Alternative zu mineralölbasierten<br />

Trägersystemen für Pflanzenschutzmittel, der deshalb besondere<br />

Bedeutung für den Gewässerschutz besitzt.<br />

Cornelia Kasper und Dominik Egger vom Institut für Zell- und<br />

Gewebekulturtechnologien<br />

Das Forschungsprojekt Tracking the origin of Ewing sarcoma<br />

wurde für den hochdotieren, internationalen Preis der<br />

Alex’s-Lemonade-Stand-Stiftung ausgewählt. Darin arbeiten<br />

Wissenschaftler*innen der St. Anna Kinderkrebsforschung,<br />

der MedUni Wien und der <strong>BOKU</strong> gemeinsam an der Heilung<br />

von Kinderkrebs. Die Arbeitsgruppe rund um Cornelia Kasper<br />

vom Institut für Zell- und Gewebekulturtechnologien an der<br />

Universität für Bodenkultur Wien hat eine besondere Expertise<br />

im Bereich der Kultivierung von mesenchymalen Stammzellen,<br />

die für diese Forschung zentral ist. „Damit die Zellen im Labor<br />

möglichst wie im menschlichen Körper reagieren, arbeiten<br />

wir mit 3-D-Zellkulturen in sauerstoffreduzierter Umgebung“,<br />

betont Dominik Egger, der sich an der <strong>BOKU</strong> auf die physiologische<br />

Kultivierung von Zellen spezialisiert hat. Im Projektverlauf<br />

werden die Stammzellen in die gewünschten Zelltypen<br />

wie Knochen, Knorpel oder Fettgewebe ausdifferenziert, um<br />

die Entstehung des Ewing-Sarkoms zu untersuchen.<br />

Nachhaltige Nutzung der Oberflächengewässer im äthiopischen<br />

Hochland: Die Wasserqualität der Oberflächengewässer<br />

des äthiopischen Hochlands hat sich in den vergangenen<br />

Jahrzehnten stark verschlechtert. In einer von<br />

der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit geförderten<br />

Kooperation des Instituts für Hydrobiologie und<br />

Gewässermanagement der <strong>BOKU</strong> mit der Ambo University<br />

wurden Maßnahmen entwickelt, um den Gewässerzustand<br />

zu überwachen.<br />

Das Projekt Plastic-<br />

FreeDanube vom<br />

Institut für Abfallwirtschaft<br />

widmet<br />

sich dem Thema Makro-Kunststoffverschmutzungen<br />

in und<br />

entlang der Donau.<br />

Ziel des Projekts ist<br />

einerseits die Etablierung eines fundierten Wissensstands<br />

und die Festlegung standardisierter Methoden zur Messung,<br />

andererseits soll die Plastikmüll-Problematik auch Kindern<br />

nähergebracht werden.<br />

Christoph Gruber/<strong>BOKU</strong>-Medienstelle<br />

Ausgezeichneter Holzbau<br />

Das Ilse-Wallentin-Haus, das ie BIG als Bauträgerin<br />

für die <strong>BOKU</strong> errichtet hat, wurde mit dem Green<br />

& Blue Building Award prämiert. Als Niedrigstenergiegebäude<br />

trägt der Holzneubau, der von DELTAund<br />

SWAP-Architekten in nur 14 Monaten errichtet<br />

wurde, durch seinen sehr niedrigen CO 2<br />

-Ausstoß<br />

beim Bau und während des laufenden Betriebs zum<br />

Klimaschutz bei.<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

51


<strong>BOKU</strong> Core Facility<br />

BioIndustrial Pilot Plant<br />

Von Markus Luchner<br />

Fotos: Cloningcompany © CF BIPP<br />

Fermentationsanlage<br />

Die Core Facility „BioIndustrial Pilot<br />

Plant“ (CF BIPP) am Vienna<br />

Institute of Biotechnology (VIBT)<br />

ist eine semi-industrielle Einrichtung<br />

zur Aus- und Weiterbildung im Bereich<br />

Bioverfahrens- bzw. Bioprozesstechnik<br />

sowie Dienstleister*innen und Entwickler*innen<br />

biotechnologischer Prozesse,<br />

beispielsweise für die Kultivierung von<br />

verschiedenen Organismenklassen und<br />

die Aufreinigung von Biomolekülen.<br />

Die CF BIPP wurde bereits in den späten<br />

1980er-Jahren installiert, für mehrere<br />

Jahre industriell als GMP-Anlage genutzt<br />

und schließlich 2012/13 im Zuge der<br />

MINT-Initiative umfassend modernisiert<br />

und auf den letzten Stand der Technik<br />

gebracht. Bei dieser Generalsanierung<br />

wurden unter anderem die Sensorik der<br />

bestehenden Fermentationsanlage komplett<br />

erneuert und die Anlagensteuerung<br />

durch ein neues Industrieprozessleitsystem<br />

(Siemens PCS7) nach GAMP5-<br />

Richtlinien ersetzt. Dieses ermöglicht sowohl<br />

flexible als auch voll automatisierte<br />

Prozessabläufe mit unterschiedlichen<br />

Feed- und Kultivierungsstrategien.<br />

Entsprechend dem Pilot-Maßstab wurde<br />

das Geräteportfolio für Zellernte, Zellaufschluss<br />

sowie Aufreinigung diverser<br />

Produkte erweitert bzw. ergänzt.<br />

Die modulare Anlage ist für die Kultivierung<br />

(Fermentation) von Mikroorganismen,<br />

tierischen und pflanzlichen Zellen<br />

sowie deren Ernte und Aufreinigung der<br />

Produkte bzw. Biomoleküle (Downstream<br />

Processing) ausgerichtet. Zum derzeitigen<br />

Equipment zählen unter anderem<br />

Bioreaktoren für mikrobielle Systeme von<br />

50 bis 300 l bzw. tierische Zellkultur von<br />

15 bis 100 l, Zentrifugen und Separatoren<br />

(GEA Tellerseperator), Hochdruckhomogenisatoren<br />

(GEA Ariete und Panda), Filtrationssysteme<br />

für Tiefen- bzw. Ultra-/<br />

Diafiltration (Zero-T, Sartoflow Advanced)<br />

und Chromatografie-Systeme (Äkta<br />

Pilot und Explorer).<br />

Zu den zwei Säulen, Upstream und<br />

Downstream, kommt die dritte Säule<br />

– Monitoring. Diese umfasst die qualitative<br />

und quantitative Prozessanalytik,<br />

wie Proteinreinheit und -gehalt, das<br />

mikrobielle Raum-Monitoring und das<br />

Monitoring von Versorgungsmedien wie<br />

Wasser, Prozess- und Raumluft usw.<br />

Ca. 650 m 2 der gesamten Anlage mit<br />

einer Gesamtgröße von 950 m 2 befinden<br />

sich in einem überwachten Reinraum der<br />

52 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


Chromatografie<br />

Klasse D, spezielle Labore haben die Klasse<br />

C. Die einzelnen Bereiche wie Inokulumbereitung<br />

und Befüllung, tierische<br />

Zellkultur, mikrobielle Fermentation,<br />

Downstream sowie Monitoring (beide<br />

Reinräume der Klasse C) sind räumlich<br />

voneinander getrennt. Die Anlage verfügt<br />

auch über eine unabhängige Wasserversorgung<br />

für HQ-Wasser, Prozessluftversorgung,<br />

Reindampferzeugung und<br />

Inaktivierung von biologischen Abfällen<br />

und Prozessflüssigkeiten.<br />

Die Arbeitsabläufe für regelmäßige Wartungen<br />

und der Betrieb der Anlage sind<br />

durch sogenannte SOPs (Standard Operation<br />

Procedures) beschrieben. Diese<br />

industrierelevante Vorgangsweise und<br />

der gut dokumentierte Betrieb erlauben<br />

es, sowohl forschungs- als auch industriekonforme<br />

Projekte umzusetzen.<br />

Mit diesem Portfolio an Gerätschaften<br />

und Peripherie sowie bereits etablierten<br />

Arbeitsabläufen und wissenschaftlich<br />

bestens geschultem Personal mit zusätzlichen<br />

Expert*innen aus dem Institut<br />

für Bioverfahrenstechnik sind wir eine<br />

interessante Partnereinrichtung sowohl<br />

für Forschungsprojekte als auch für<br />

Dienstleistungen. Das Portfolio reicht<br />

von Einzelprozessen bis hin zu Gesamtprozessen<br />

und von Routinetätigkeiten<br />

wie z. B. Fermentation und Chromatografie<br />

bis hin zu hoch komplexen Entwicklungsprojekten,<br />

von der Zellbankbereitung<br />

bis zum finalen Produkt. Eine<br />

weitere unserer besonderen Stärken ist<br />

das Scale-up von Bioprozessen bzw. die<br />

Produktion von präklinischem Material.<br />

Unsere Zielgruppe reicht von nationalen<br />

und internationalen akademischen<br />

Partner*innen über Start-ups bis hin<br />

zu Industriepartner*innen. Zu unseren<br />

Kooperationspartner*innen zählen Entwicklungsfirmen,<br />

Supplier von Materialien,<br />

Geräte- und Anlagenhersteller<br />

sowie Forschungsgruppen und Firmen<br />

mit fertig entwickelten Bioprozessen.<br />

Neben diesen Aktivitäten ist die Aus- und<br />

Weiterbildung die wichtigste Säule. So<br />

bieten wir bereits seit 2013 für das Masterstudium<br />

Biotechnologie einen zweiwöchigen<br />

Kurs aus dem Bereich Bioverfahrenstechnik<br />

an, wo Studierende weit<br />

über den Labormaßstab hinaus die komplette<br />

Produktionskaskade eines rekombinanten<br />

Proteins von der Kultivierung<br />

über verschiedene Reinigungsschritte<br />

bis zu einer Produktreinheit von bis zu<br />

99,5 Prozent selbstständig planen und<br />

durchführen. Auch im Curriculum des<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

53


Doktoratsstudiums „Bioprocess Engineering“<br />

sind verpflichtende Praktika in der<br />

Anlage aus dem Bereich Bioverfahrenstechnik<br />

verankert, um den Studierenden<br />

erste Einblicke im industriellen Kontext<br />

zu vermitteln.<br />

Ergänzt wird unser breites Betätigungsfeld<br />

durch die Betreuung zahlreicher<br />

Masterarbeiten, die unsere Studierenden<br />

sehr gerne wahrnehmen. Die angebotenen<br />

Themen fokussieren auf bioverfahrenstechnische<br />

Fragestellungen und<br />

GMP-Umsetzungen, neue Regularien und<br />

Risikomanagement-Implementierungen.<br />

Im Rahmen der <strong>BOKU</strong>-Strategie mit dem<br />

Schwerpunkt auf die Weiterbildungsakademie<br />

liefern wir einen essentiellen<br />

Beitrag für „Lifelong Learning“. Wir<br />

bieten unseren Kund*innen aus dem<br />

akademischen, aber auch industriellen<br />

Umfeld maßgeschneiderte Kurse an und<br />

möchten dieses Angebot in Zukunft noch<br />

weiter ausbauen.<br />

In den letzten Jahren sind auch die Themen<br />

„Industrie 4.0“ und Digitalisierung<br />

STRATEGISCHE KOOPERATION <strong>BOKU</strong>–UMWELTBUNDESAMT<br />

Wald- und Biodiversitätsfonds<br />

Klimakrise, Biodiversitätskrise, Coronakrise<br />

– dass sich gesellschaftliche<br />

Nutzung und Umgang natürlicher<br />

Ressourcen ändern müssen, liegt mittlerweile<br />

auf der Hand. Im Bereich Klimawandel<br />

und -anpassung existiert mit dem<br />

Austrian Climate Research Programme<br />

(ACRP) bereits seit Längerem ein Förderprogramm<br />

an der Schnittstelle von Forschung<br />

und Praxis. Nun gibt es zwei weitere<br />

nationale Initiativen im Themenbereich<br />

Umwelt. Mit dem „Waldfonds“ hat das<br />

Bundesministerium für Landwirtschaft,<br />

Regionen und Tourismus (BMLRT) ein Paket<br />

für die Zukunft der Wälder geschaffen,<br />

um den nachhaltigen Umgang mit dieser<br />

Ressource zu fördern und die Wald- und<br />

Forstwirtschaft in ihren Herausforderungen<br />

zu unterstützen. Ähnlich dazu wurde<br />

mit dem „Biodiversitätsfonds“ eine Förderschiene<br />

durch das Bundesministerium<br />

für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität,<br />

Innovation und Technologie (BMK)<br />

aus der Taufe gehoben, die zur Umsetzung<br />

der österreichischen Biodiversitätsstrategie<br />

und insbesondere zur Erreichung<br />

der österreichischen Biodiversitätsziele<br />

beiträgt. Beide Fördertöpfe orientieren<br />

sich sehr stark in Richtung Umsetzung,<br />

weshalb der Einbezug unterschiedlicher<br />

Akteur*innen und somit breite Kooperationen<br />

gefragt sind.<br />

Für Anfragen bezüglich Kooperation mit<br />

dem Umweltbundesamt stehe ich gerne<br />

zur Verfügung. <br />

•<br />

Jürgen Pletterbauer Privat<br />

an der biopharmazeutischen Industrie<br />

bzw. am Anlagenbau nicht spurlos vorübergegangen.<br />

Um dieser Entwicklung gerecht<br />

zu werden, sind wir gerade am Beginn<br />

der Implementierung eines digitalen<br />

Zwillings der Fermentationsanlage und<br />

arbeiten an der Entwicklung neuer Strategien<br />

und Anwendungsmöglichkeiten.<br />

Weiters wird gerade ein Simulationstool<br />

am Prozessleitsystem installiert, welches<br />

das Produktivsystem auf virtueller Ebene<br />

abbildet. Mit diesem virtuellen Zwilling<br />

können parallel das Operator-Training<br />

und die Fehlerursachenanalyse und das<br />

„Trouble Shooting“ künftig entkoppelt<br />

stattfinden. Beide Konzepte sind in Erstellung<br />

und werden unsere Möglichkeiten<br />

maßgeblich ergänzen.<br />

Die Sicherheit am Arbeitsplatz und das<br />

Wohlergehen unserer Mitarbeiter*innen,<br />

Auszubildenden und Projektpartner*innen<br />

sind uns besonders wichtig. Deshalb<br />

haben wir 2020 mit der ISO 45001-Zertifizierung<br />

für Gesundheit und Sicherheit<br />

am Arbeitsplatz begonnen.<br />

Um in Zukunft einen hohen Standard in<br />

Ausbildung und Dienstleistungen halten<br />

zu können, starten wir <strong>2021</strong> mit der Implementierung<br />

eines Qualitätsmanagementsystems<br />

nach ISO 9001:2015. •<br />

LINK<br />

<strong>BOKU</strong> Core Facility BioIndustrial<br />

Pilot Plant<br />

https://boku.ac.at/cf/bipp<br />

KONTAKT<br />

LINKS<br />

KONTAKT<br />

DI Dr. Markus Luchner<br />

bipp@boku.ac.at<br />

Von Florian Borgwardt<br />

Waldfonds<br />

www.waldfonds.at<br />

Biodiversitätsfonds<br />

www.bmk.gv.at/themen/klima_umwelt/<br />

naturschutz/biol_vielfalt/fonds.html<br />

DI Dr. Florian<br />

Borgwardt<br />

+ 43 664 966 86 38<br />

<strong>BOKU</strong>: Mittwoch<br />

08:30–16:30<br />

Umweltbundesamt:<br />

Montag 08:30–16:30<br />

florian.borgwardt@boku.ac.at<br />

http://short.boku.ac.at/fos_<br />

stratkoopbokuu<br />

54 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


<strong>BOKU</strong>:BASE<br />

Alles zum Thema Entrepreneurship<br />

Nach intensiven Vorbereitungen ist es nun endlich so weit: Mit Frühling <strong>2021</strong> starteten die<br />

offiziellen Aktivitäten der <strong>BOKU</strong>:BASE.<br />

Von Michael Ambros, Michaela Amstötter-Visotschnig, Doris Schmidt<br />

Unter dem Dach der <strong>BOKU</strong>:BA-<br />

SE (<strong>BOKU</strong> Activities Supporting<br />

Entrepreneurship) fördert die<br />

<strong>BOKU</strong> unternehmerisches Denken und<br />

Handeln und ist die Anlaufstelle für<br />

Innovation und Unternehmertum. Wir<br />

verstehen uns als Sprungbrett für Innovationen,<br />

Wegbereiter*innen für Ideen,<br />

Technologien und Strategien zur nachhaltigen<br />

Entwicklung in der Gesellschaft.<br />

Die <strong>BOKU</strong>:BASE deckt die ganze Breite<br />

unternehmerischen Handelns ab und<br />

unterstützt Menschen mit der Motivation<br />

„etwas zu tun“, einer vagen Idee,<br />

einem innovativen Forschungsergebnis<br />

sowie jene, die bereits ein valides Geschäftsmodell<br />

entwickelt haben.<br />

Unser Angebot umfasst drei Bereiche:<br />

<strong>BOKU</strong>:BASE EDUCATION –<br />

UNTERSTÜTZUNG FÜR STUDIERENDE<br />

Für Studierende bieten wir ein gezieltes<br />

Angebot an Lehrveranstaltungen, die<br />

sie bei der Umsetzung ihrer Projektidee<br />

unterstützen. Neben einem Fokus auf die<br />

Umsetzung nachhaltiger Ideen und dem<br />

Werdegang zum Start-up kooperieren<br />

wir mit anderen Universitäten, um interund<br />

transdisziplinäre Teams und Ideen zu<br />

fördern. Zusätzlich gibt es für vielversprechende<br />

Projekte die Möglichkeit, unseren<br />

Co-Working-Space zu nutzen und sich<br />

mit unserer Community zu vernetzen.<br />

<strong>BOKU</strong>:BASE RESEARCH & IP – UNTER-<br />

STÜTZUNG FÜR FORSCHER*INNEN<br />

Forscher*innen bieten wir professionelle<br />

Unterstützung bei der wirtschaftlichen<br />

Umsetzung innovativer Ideen aus der<br />

Forschung und betreuen den gesamten<br />

Gründungsprozess eines Spin-offs. Die<br />

maßgeschneiderte Beratung umfasst<br />

zum Beispiel die Erstellung von Verwertungsstrategien,<br />

Identifikation möglicher<br />

Finanzierung, Vernetzung mit externen<br />

Partner*innen, Festlegung der notwendigen<br />

Intellectual Property (IP) oder einer<br />

möglichen Patentierungsstrategie. Als<br />

erste Anlaufstelle unterstützen wir von<br />

der ersten Idee bis zur Gründung und<br />

sind Begleiter*innen bei der weiteren<br />

Zusammenarbeit der Unternehmen mit<br />

der <strong>BOKU</strong>.<br />

<strong>BOKU</strong>:BASE LABS & INFRA-<br />

STRUCTURE – LABORFLÄCHEN UND<br />

RÄUMLICHKEITEN FÜR SPIN-OFFS<br />

UND START-UPS<br />

Durch die Bereitstellung von Laborflächen<br />

und Räumlichkeiten an unseren<br />

Standorten Türkenschanze, Muthgasse<br />

und Tulln soll gezielt das Prototyping<br />

und Testen neuer Ideen und Produkte<br />

gefördert werden. Mit den Core Facilities<br />

stellt die <strong>BOKU</strong> Ausstattung wie<br />

Instrumente und Großgeräte auf dem<br />

neuesten technischen Entwicklungsstand<br />

zur Verfügung. Ideen und wissenschaftliche<br />

Erkenntnisse können die<br />

Start-up-Teams hier optimieren und bis<br />

zur Marktreife entwickeln.<br />

Das Angebot umfasst Lehrveranstaltungen,<br />

Beratung, Veranstaltungen, Coaching,<br />

flexible und semesterweise Arbeitsplätze<br />

u. v. m. Thematische Schwerpunktsetzungen<br />

(z. B. BASE:Hubs wie<br />

FOOD:BASE oder WOOD:BASE) bauen<br />

auf die disziplinäre Vielfalt der <strong>BOKU</strong><br />

und können so zur interdisziplinären Kooperation<br />

sowie zur Entwicklung ganzheitlicher<br />

Lösungen gesellschaftlicher<br />

Probleme (z. B. Ernährungssicherheit)<br />

beitragen.<br />

•<br />

LINK<br />

https://base.boku.ac.at/<br />

KONTAKT<br />

base@boku.ac.at<br />

Mag. Michael Ambros<br />

Education & SDGs<br />

Mag. a Michaela<br />

Amstötter-<br />

Visotschnig<br />

Research & IP<br />

Dr. in Doris Schmidt,<br />

BSc MSc<br />

Labs & Infrastructure<br />

Fotos: Privat<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

55


Christoph Gruber (<strong>BOKU</strong>) © Koordinationsstelle für Gleichstellung, Diversität und Behinderung<br />

V. l.: Ruth Scheiber-Herzog, Frida, Helene Steiner und Ela Posch<br />

Wir sind vieles – die Facetten von<br />

Gleichstellung, Diversität und Behinderung<br />

DIE NEUE KOORDINATIONSSTELLE STELLT SICH VOR<br />

Die bewusste Sichtbarmachung und Wahrnehmung von Diversität an Universitäten hat in den letzten<br />

Jahren im Zuge eines Kulturwandels stetig zugenommen. Das Prinzip der Diversität ist daher nicht neu,<br />

sondern begründet ein Verständnis von Vielfalt, auf dessen Basis Chancengleichheit, Antidiskriminierung<br />

und Gleichberechtigung auf allen Ebenen integriert und umgesetzt werden soll.<br />

Von Ruth Scheiber-Herzog, Ela Posch und Helene Steiner<br />

Mit der Zusammenlegung der<br />

Stabsstelle zur Betreuung von<br />

Menschen mit besonderen Bedürfnissen<br />

und der ehemaligen Koordinationsstelle<br />

für Gleichstellung und<br />

Gender Studies (Einrichtung gemäß<br />

§ 19 Abs. 2 Z 7 UG) wurde mit Jahresbeginn<br />

<strong>2021</strong> eine organisatorische Einheit<br />

geschaffen, die dem Vizerektorat für<br />

Organisation und Prozessmanagement<br />

zugeordnet ist.<br />

Zu den Kernaufgaben der neuen Koordinationsstelle<br />

für Gleichstellung, Diversität<br />

und Behinderung zählen vor<br />

allem der Abbau von Diskriminierung,<br />

die Förderung von Chancengleichheit<br />

und die Schaffung eines wertschätzenden<br />

und diskriminierungsfreien Studienund<br />

Arbeitsumfelds hin zu einer offenen<br />

Hochschulkultur, in der sich alle <strong>BOKU</strong>-<br />

Angehörigen frei bewegen können.<br />

Die neue Koordinationsstelle wurde mit<br />

der Implementierung einer Diversitätsstrategie<br />

betraut und arbeitet bereits<br />

intensiv an den Vorbereitungen. Mit<br />

einem Kick-off im Frühjahr 2022 startet<br />

ein partizipativer Prozess, bei dem alle<br />

<strong>BOKU</strong>-Angehörigen eingeladen sind,<br />

sich aktiv mit Ideen, Anregungen und<br />

Impulsen in den Bereichen Studium und<br />

Lehre, Forschung, Personal und Internationales<br />

einzubringen und sich gemeinsam<br />

für ein diskriminierungsfreies,<br />

wertschätzendes und chancengleiches<br />

Studieren und Arbeiten an der Universität<br />

einzusetzen. <br />

•<br />

LINKS<br />

Koordinationsstelle für Gleichstellung,<br />

Diversität und Behinderung<br />

https://short.boku.ac.at/kostelle<br />

Veranstaltungsreihe<br />

„Wissenschaftlerinnen im Talk“<br />

https://short.boku.ac.at/im-talk<br />

KONTAKT<br />

Koordinationsstelle für Gleichstellung,<br />

Diversität und Behinderung<br />

Wilhelm-Exner-Haus<br />

Peter-Jordan-Straße 82/DG<br />

1190 Wien<br />

ruth.scheiber@boku.ac.at<br />

ela.posch@boku.ac.at<br />

helene.steiner@boku.ac.at<br />

56 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


Gleichstellung<br />

Diversität<br />

O Gleichstellungsbericht<br />

O Gender- und diversitätssensible<br />

(Lehr-)Veranstaltungen<br />

O Genderkriterien in der Forschung<br />

O Gender- und diversitätsreflektierte<br />

Sprache<br />

O Nachteilsausgleich für<br />

Studierende<br />

O Netzwerktagung zum Thema<br />

„Behinderung und Inklusion“<br />

O Beratung und Information<br />

für Studierende<br />

O Individuelle Unterstützungsangebote<br />

Behinderung<br />

O <strong>BOKU</strong>-Diversitätsstrategie<br />

O <strong>BOKU</strong> Team Diversität<br />

O Awareness-Days<br />

O Netzwerk-Diversität<br />

österr. Hochschulen<br />

Barrierefreie <strong>BOKU</strong><br />

O Erstellung barrierefreier<br />

Dokumente<br />

O E-Accessibility/<br />

<strong>BOKU</strong>easyaccess<br />

O Schaffung von barrierefreien<br />

Zugängen<br />

O Sensibilisierungsmaßnahmen<br />

Das war der Wiener<br />

Töchtertag <strong>2021</strong><br />

an der <strong>BOKU</strong><br />

Seit 2006 öffnet die <strong>BOKU</strong> im Rahmen<br />

des Wiener Töchtertags ihre Tore<br />

für Mädchen im Alter von 11–16 Jahren,<br />

um Einblicke in Studium und Arbeitsalltag<br />

an der <strong>BOKU</strong> zu geben – mit<br />

dem Ziel, das Interesse an technischnaturwissenschaftlichen<br />

Bereichen in<br />

einer ersten entscheidenden Phase für<br />

die Berufswahl zu wecken. Auch heuer<br />

konnten die Teilnehmerinnen am 22.<br />

April <strong>2021</strong> viele spannende Bereiche<br />

der <strong>BOKU</strong> kennenlernen – wenn auch<br />

covid-19-bedingt anders als in den Jahren<br />

zuvor – in digitalem Setting.<br />

Geplante Vorhaben für <strong>2021</strong><br />

Mit dem Thema „Mobilität in Zeiten von Corona“ wurde am 9. Juni <strong>2021</strong> die Veranstaltungsreihe<br />

„Wissenschaftlerinnen im Talk“ fortgeführt, die im Rahmen einer<br />

digitalen Podiumsdiskussion Fragen zu virtueller Mobilität für Doktoratsstudierende,<br />

Lehrende und allgemeines Personal beleuchtet.<br />

Von 20.–22. Oktober <strong>2021</strong> laden wir alle <strong>BOKU</strong>-Angehörigen zu den Awareness<br />

Days ein – einem dreitägigen Seminar- und Workshop-Angebot mit Themenschwerpunkten<br />

wie Privilege Awareness, Barrierefreie Universität, Geschlechtervielfalt,<br />

(Anti-)Feministische Bewegungen, Diversität Kreativworkshop u. v. m.<br />

Am 10. November <strong>2021</strong> hostet die <strong>BOKU</strong> die Tagung des Netzwerks Diversität<br />

österreichischer Hochschulen zum Thema „Inklusion und Behinderung – Best<br />

Practice-Impulse und Umsetzungsperspektiven“.<br />

Im Rahmen des neuen Fortbildungs-Moduls für Lehrende setzt die Koordinationsstelle<br />

ab dem Wintersemester <strong>2021</strong> einen Schwerpunkt zu Diversität, Inklusion<br />

und soziale Nachhaltigkeit.<br />

Mit der Installation einer Vitrine zu Ehren von Inge Dirmhirn wird der Impuls aus<br />

den Feierlichkeiten 100 Jahre Frauenstudium an der <strong>BOKU</strong> aufgegriffen, für die<br />

erste Professorin an der <strong>BOKU</strong> einen Ort der Anerkennung und Erinnerung zu<br />

realisieren.<br />

Wir laden alle <strong>BOKU</strong>-Angehörigen ganz herzlich zur regen Teilnahme an unseren<br />

Veranstaltungen ein und freuen uns auf Austausch und eine gute Zusammenarbeit!<br />

Die Töchter, Enkeltöchter, Nichten<br />

und Freundinnen von <strong>BOKU</strong>-Mitarbeiter*innen<br />

durften nach einer<br />

Einführung zu <strong>BOKU</strong>-Geschichte,<br />

Standorten, Studienrichtungen und<br />

Arbeitsbereichen in einem Video-Pool<br />

abtauchen und aus verschiedensten<br />

Themen auswählen: von Klimabudget,<br />

Kohlenstoffkreisläufen, Holz- und Naturfasertechnologie<br />

über Geodaten<br />

und die Digitalisierung der Erde bis hin<br />

zu Mikroorganismen oder Waldmonitoring.<br />

Im Anschluss daran konnten<br />

Rätselfreudige am <strong>BOKU</strong>-Töchtertag-<br />

Instagram-Quiz teilnehmen und ein<br />

<strong>BOKU</strong>-Goody Bag gewinnen.<br />

Für den letzten Donnerstag im April<br />

2022 sind wieder viele spannende<br />

Themen beim <strong>BOKU</strong>-Töchtertag geplant<br />

– wir freuen uns auf ein hoffentlich<br />

reales Setting mit „echten“<br />

Workshops und geben das Programm<br />

Anfang März 2022 bekannt.<br />

Die Koordinationsstelle für Gleichstellung,<br />

Diversität und Behinderung<br />

in Kooperation mit <strong>BOKU</strong>4YOU und<br />

der Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit.<br />

<strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong><br />

57


FORSCHUNG: FAQ<br />

FIS im <strong>BOKU</strong>-CMS<br />

Vom FIS-Team<br />

Die bestehenden FAQs zum<br />

Forschungsdokumentationssystem<br />

FIS wurden komplett<br />

überarbeitet und aktualisiert.<br />

Die neuen, zweisprachigen FAQs (in<br />

Deutsch und Englisch) sind im <strong>BOKU</strong>-<br />

Web (Login) unter https://boku.ac.at/<br />

fos/themen/forschungsinformationssystem-fis/fis-faqs<br />

zu finden, um die<br />

Arbeit für Forscher*innen und Bearbeiter*innen<br />

mit kurzen Hilfetexten zu<br />

erleichtern und etwaige Unklarheiten<br />

aus dem Weg zu räumen.<br />

Michal Jarmoluk<br />

Es werden die Themen Forscher*innen-Profil,<br />

Projekte und Publikationen<br />

mit ersten FAQs abgedeckt. Die FAQ-<br />

Liste ist eine lebende Dokumentation<br />

und wird ab sofort laufend anhand häufig<br />

gestellter Fragen an das FIS-Team<br />

erweitert. Wenn neue Fragen häufiger<br />

auftreten, werden sie vom FIS-Team<br />

automatisch in die FAQ-Liste aufgenommen.<br />

Bitte nutzen Sie weiterhin für Fragen<br />

zum FIS unsere Service-Email-Adresse:<br />

fis@boku.ac.at<br />

Im neuen FIS-Servicebereich https://<br />

boku.ac.at/fos/themen/forschungsinformationssystem-fis<br />

gibt es einen<br />

Downloadbereich für aktuelle Anleitungen<br />

(z. B. für die Abfrage von<br />

SCI-Journals, die neue <strong>BOKU</strong>-Mitarbeiter*innen<br />

mit externen affiliations<br />

veröffentlicht haben), weiters eine<br />

Linksammlung zu e-Datenbanken.<br />

Unter „Weiterbildungen mit FIS-Bezug“<br />

sind die aktuellen Schulungs- &<br />

Webinar-Termine, die vom Forschungsservice<br />

angeboten werden, auf einen<br />

Blick zu finden.<br />

KONTAKT<br />

Gabriela Miechtner<br />

gabriela.miechtner@boku.ac.at<br />

58 <strong>BOKU</strong> <strong>Magazin</strong> 2 | <strong>2021</strong>


LeBENSMITTEL<br />

Ein Blick über den Tellerrand

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!