HUK 340 Juni 2021
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Das Hamburger<br />
Straßenmagazin<br />
Seit 1993<br />
N O <strong>340</strong><br />
<strong>Juni</strong>.21<br />
2,20 Euro<br />
Davon 1,10 Euro für<br />
unsere Verkäufer:innen<br />
Hart.<br />
Aber fair?<br />
Arbeiten beim Lieferdienst
Editorial<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>340</strong>/JUNI <strong>2021</strong><br />
CDU-Kanzlerkandidat<br />
Armin Laschet<br />
und unsere ehemalige<br />
Chefre dak teurin<br />
Annette Bruhns<br />
im Berliner Konrad-<br />
Adenauer-Haus<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
die gute Nachricht: Auch der Kanzlerkandidat der Union,<br />
Armin Laschet, hat nun mit uns über das zunehmende<br />
Elend auf den Straßen gesprochen. Die weniger gute<br />
Nachricht: Unsere Chefredakteurin Annette Bruhns, die<br />
den CDU-Politiker für uns und 19 andere Straßenzeitungen<br />
interviewt hat, hat uns verlassen. Sie scheidet im besten Einvernehmen<br />
von uns, um sich neuen beruflichen Herausforderungen<br />
zu stellen. Wir bedauern ihre Entscheidung außerordentlich,<br />
hat sie doch Hinz&Kunzt mit starken Impulsen spürbar vorangebracht.<br />
Wir bleiben in Kontakt und würden uns freuen, auch<br />
künftig hin und wieder mit ihr zusammenarbeiten zu können.<br />
Uns haben Hunderte leidenschaftliche Zuschriften<br />
für oder gegen das Gendern erreicht. Vielen Dank dafür!<br />
Viele von Ihnen fühlen sich durch den Genderstern in Ihrem<br />
Lesefluss gestört. Ein sensibler Umgang mit Sprache ist uns<br />
wichtig, wir möchten niemanden ausschließen und niemanden<br />
abschrecken. Deshalb hat die Redaktion hart mit sich gerungen.<br />
Das Ergebnis können Sie auf den Seiten 38 bis 41 nachlesen.<br />
Vermutlich wird die Debatte damit nicht beendet sein. Wir<br />
lernen ja als Gesellschaft gerade erst, wie wir Inklusion in allen<br />
Bereichen verwirklichen können, und werden noch viel zu<br />
reden haben. Es bleibt spannend!<br />
<br />
Frohe Lektüre!<br />
Ihr Dirk Ahrens<br />
Herausgeber<br />
Schreiben Sie mir an: ahrens@diakonie-hamburg.de<br />
FOTO S. 4 UNTEN: ANNETTE SCHRADER; OBEN: MAURICE WEISS<br />
TITEL-ILLUSTRATION: GRAFIKDEERNS; IDEE: CHRISTIAN HAGEN<br />
2
Inhalt <strong>Juni</strong> <strong>2021</strong><br />
14<br />
Erinnerung<br />
an ein NSU-<br />
Mordopfer<br />
6<br />
Arbeiten beim<br />
Lieferdienst<br />
18<br />
Happy<br />
Birthday,<br />
Fabrik!<br />
Stadtgespräch<br />
06 Druck auf dem Kessel<br />
Lieferdienste sind Coronagewinner. Und die Fahrer:innen?<br />
14 Süleymans Träume<br />
Ay en Ta köprü erinnert an ihren vom NSU ermordeten Bruder.<br />
16 „Die Ermittlungen waren rassistisch“<br />
brahim Arslan und Caro Keller über 20 Jahre NSU-Terror<br />
29 Amnesie im Amt<br />
Olaf Scholz hat im Cum-Ex-Ausschuss Erinnerungslücken.<br />
30 Der Privatbankier – Teil 2<br />
Fortsetzung des Krumm-Ex-Krimis von Isabel Kreitz<br />
34 „Bargeld ist ein Freiheitsrecht“<br />
CDU-Chef und Kanzlerkandidat Armin Laschet im Interview<br />
Jubiläum<br />
18 50 Jahre Fabrik<br />
Erinnerungen an bewegte Zeiten mit alternativer Kultur<br />
Freunde und Internes<br />
38 Tschüss, Gendersternchen!<br />
Der Stern geht, gendergerechte Sprache bleibt.<br />
42 Nachhaltige Nerds<br />
Die Softwarebude JaMoin spendet einen Teil des Umsatzes.<br />
Kunzt&Kult<br />
46 Kunst auf dem Teller<br />
Ein Treffen mit Street-Artistin fraujule*<br />
50 Tipps für den <strong>Juni</strong><br />
54 Höhere Ziele<br />
Ein Hochbeet im Kleingarten – komplizierter als gedacht<br />
56 Momentaufnahme: Hinz&Künztler Klaus<br />
Mit 49 Jahren bezieht Klaus seine erste eigene Wohnung.<br />
56<br />
Hinz&Künztler<br />
Klaus hat<br />
erstmals eine<br />
Wohnung.<br />
Rubriken<br />
04 Gut&Schön<br />
28, 32 Meldungen<br />
12 Zahlen des Monats<br />
44 Leser:innenbriefe<br />
55 Rätsel, Impressum<br />
Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk
Transgender-Schiri in Liga 1<br />
„Sie ist ein starkes Mädchen“, sagte Yossi<br />
Mizrahi, Trainer von Beitar Jerusalem.<br />
Sein Kompliment galt Sapir Berman,<br />
Israels erster Transgender-Erstliga-<br />
schiedsrichterin. Berman hatte gerade ihr<br />
erstes Spiel gepfiffen, nachdem sie<br />
öffentlich ihre Geschlechtsanpassung<br />
angekündigt hatte. Schon davor leitete<br />
die 26-Jährige drei Partien in der<br />
„Ligat ha’Al“. Die Fans unterstützten sie<br />
mit Plakaten wie „Super Woman“, der<br />
israelische Fußballverband IFA twitterte:<br />
„Wir sind so stolz.“ JOC<br />
JOC<br />
•
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Gut&Schön<br />
Lesen & Bildung<br />
Das Bücherkamel<br />
Bei uns gilt „du<br />
Kamel“ als Synonym<br />
für Dummheit. Im Südwesten<br />
Pakistans ist<br />
Kamelhengst Roshan<br />
Bildungsträger!<br />
Dreimal die Woche<br />
bringen Roshan und<br />
Schul leiterin Raheema<br />
Jalal Bücher für Kids<br />
in abge legene Dörfer –<br />
für sie während Corona<br />
oft der einzige Zugang<br />
zu neuem Wissen.<br />
Ähn liche Projekte laufen<br />
schon länger in Kenia<br />
und Äthiopien. JOC<br />
•<br />
Mehrwert(steuer) für die Natur<br />
FOTOS: PICTURE ALLIANCE/ASSOCIATED PRESS/SEBASTIAN SCHEINER (S. 4),<br />
FAISAL FAIZ/GUARDIAN/EYEVINE/LAIF (OBEN), ROLLING PIN (UNTEN LINKS), HERMANNTIMMANN<br />
„Soli-Küche“ für Bedürftige jetzt als „Pop-up“ in Altona<br />
Mehr als 18.000 kostenlose Mahlzeiten hat die Soli-Küche seit ihrem Start im<br />
März 2020 an Hamburger Obdachlose ausgegeben. Nun hat sich das ehrenamtliche<br />
Projekt zum gemeinnützigen Verein gewandelt und will seine gute<br />
Arbeit ausbauen. Bis Ende August findet an drei Tagen in der Woche in einem<br />
Container in der Museumsstraße am Altonaer Bahnhof eine Essenausgabe<br />
für Bedürftige statt (Mi, Fr und So von 13 bis 16 Uhr). „Jeder Mensch verdient<br />
eine warme und liebevoll gekochte Mahlzeit“, findet Onur Elci, der als Mitbegründer<br />
und -geschäftsführer der „Kitchen Guerilla“ Hamburg die Soli-Küche<br />
gemeinsam mit seinem Bruder Koral (auf dem Foto rechts) ins Leben gerufen hat.<br />
Mindestens 100 Mahlzeiten sollen pro Einsatztag ausgegeben werden, das<br />
Projekt freut sich über jede Spende. JOC Mehr Infos: www.kitchenguerilla.com<br />
•<br />
Auch der Große Wiesenknopf<br />
(Foto), von der „Loki-Schmidt-Stiftung<br />
für Naturschutz“ zur „Blume<br />
des Jahres <strong>2021</strong>“ ernannt, würde<br />
sich freuen: Knapp 40.000 Euro<br />
haben jetzt Hamburger Einzelhändler:innen<br />
der Stiftung gespendet.<br />
Das Geld stammt aus einbehaltener<br />
„Coronasteuer“ des Jahres 2020.<br />
Einige Händler:innen hatten von<br />
Juli bis Dezember trotz drei Prozent<br />
weniger Mehrwertsteuer die Preise<br />
nicht gesenkt. Das Geld kommt<br />
jetzt Naturschutzprojekten und<br />
naturpädagogischen Angeboten<br />
für Stadtkinder zugute. JOC<br />
•<br />
5
Druck auf<br />
dem Kessel<br />
Ob Lieferando oder lokales Start-up –<br />
Lieferdienste gehören zu den Coronagewinnern.<br />
Was bedeutet das für ihre Beschäftigten?<br />
TEXT: LUKAS GILBERT<br />
FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE,<br />
MAURICE WEISS/OSTKREUZ (1)
Bringt das Essen bis an die<br />
Wohnungstür, auch wenn<br />
die vielleicht im 5. Stock liegt:<br />
der Lieferfahrer.
Inzwischen fester Bestandteil des Stadtbilds: Fahrer:innen von „Lieferando“ und „Gorillas“<br />
A<br />
ls Ende vergangenen Jahres<br />
erste Landkreise Ausgangssperren<br />
verhängten, tauchten<br />
bislang wenig gefragte<br />
Kleidungsstücke auf Portalen wie Ebay-<br />
Kleinanzeigen auf: die orangen Jacken<br />
des Lieferdienstes Lieferando! Sie galten<br />
plötzlich als Ticket, um auch spät noch<br />
unterwegs zu sein. Nicht selten wurden<br />
dreistellige Summen gefordert.<br />
Denn während die meisten Menschen<br />
möglichst zu Hause bleiben sollten,<br />
bescherte die Pandemie den Lieferdiensten<br />
einen beispiellosen Boom:<br />
Ihre Fahrer:innen fluteten die Straßen<br />
der Großstädte. Beim Marktführer<br />
Lieferando wuchsen die Bestellzahlen<br />
Anfang <strong>2021</strong> im Vergleich zum Vorjahr<br />
um satte 77 Prozent. Allein von Januar<br />
bis März gingen mehr als 39 Millionen<br />
Bestellungen ein.<br />
„Lieferando zählt zu den absoluten<br />
Gewinnern der Krise“, sagt Johann<br />
Möller von der Gewerkschaft Nahrung-<br />
Genuss-Gaststätten (NGG). Zugleich<br />
drängen in Deutschland immer neue<br />
Lieferdienste auf den Markt. Gorillas<br />
oder Flink liefern Supermarktwaren im<br />
Eiltempo an die Haustür. Neben Lieferando,<br />
das zum niederländischen Mutterkonzern<br />
Just Eat Takeaway gehört,<br />
bringt auch Wolt die fertige Mahlzeit<br />
auf Klick nach Hause. Schon bald will<br />
Uber Eats in Deutschland starten. Auch<br />
lokale Alternativen kämpfen um ihren<br />
Anteil am Kuchen.<br />
Was der Erfolg von Lieferdiensten<br />
für die Fahrer:innen bedeutet, weiß<br />
Jonas Müller. Der 41-Jährige fährt seit<br />
Jahren für Lieferando und hat den Betriebsrat<br />
im Unternehmen mit aufgebaut.<br />
Für ihn beginnen die Probleme<br />
bei der Ausrüstung: „Die Regenklamotten<br />
sind nicht wasserdicht, die Winterjacke<br />
schützt nicht ausreichend vor<br />
Kälte.“ Für den passionierten Radfahrer<br />
ist das kein großes Problem: Er ist privat<br />
gut ausgestattet. „Das gilt aber nicht für<br />
alle Kollegen.“<br />
Lieferando zahlt nach eigenen Angaben<br />
einen Basisstundenlohn zwischen<br />
10 und 11 Euro, also knapp über Mindestlohn.<br />
Hinzu kommen Verschleißpauschalen<br />
für selbst genutzte Fahrräder.<br />
Wer viel fährt, erhält zudem<br />
Bonuszahlungen. Manche Fahrer:innen<br />
8<br />
kämen so auf Stundenlöhne von<br />
16,50 Euro. Betriebsrat Müller spricht<br />
von 15 Euro, Trinkgeld gebe es obendrauf.<br />
Wer weniger Bestellungen<br />
schafft, habe keine Nachteile zu befürchten,<br />
sagt Müller. „Noch nicht zumindest.<br />
Ich habe Sorge, dass sich das<br />
„Lieferando<br />
ist ein Gewinner<br />
der Krise.“<br />
JOHANN MÖLLER, GEWERKSCHAFT NGG<br />
in Zukunft ändern könnte.“ Die<br />
Fahrer:innen würden schließlich permanent<br />
per App getrackt. Die Trackingdaten<br />
würden jedoch „nicht zur<br />
unerlaubten Leistungs- oder Verhaltenskontrolle<br />
genutzt“, versichert ein<br />
Lieferando-Sprecher.<br />
Auch Alex (Name geändert) fährt Essen<br />
aus, allerdings für das Hamburger<br />
Start-up Stadtsalat. Das Unternehmen<br />
wirbt mit lokalen Lebensmitteln, in
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Lieferando<br />
Lieferando ist in Deutschland unangefochtener Marktführer im Essens-Liefergeschäft.<br />
Das Unternehmen gehört zum 1999 gegründeten niederländischen<br />
Konzern Just Eat Takeaway, der weltweit aktiv ist. Mit Pizza.de, Foodora und Lieferheld<br />
hat der Konzern eine ganze Reihe Konkurrenten in Deutschland geschluckt.<br />
Viele Restaurants sind auf den Service des Marktführers angewiesen – mit<br />
beachtlichen Kosten. 13 Prozent Provision nimmt Lieferando pro Bestellung über<br />
das Portal, wenn die Restaurants ihr Essen selbst ausfahren. Übernimmt das<br />
Lieferando, sind es 30 Prozent Provision. Das entspricht oft fast der gesamten<br />
Gewinnmarge der Restaurants. Durch den Boom des Liefergeschäfts ist Just Eat<br />
Takeaway zuletzt stark gewachsen. Während der Umsatz 2019 bei 1,6 Milliarden Euro<br />
lag, wuchs er im Coronajahr 2020 auf 2,4 Milliarden. Allein in Deutschland wurden<br />
vergangenes Jahr 112 Millionen Bestellungen über Lieferando abgewickelt,<br />
43 Prozent mehr als 2019. Ähnlich wie andere Digitalunternehmen treibt<br />
Just Eat Takeaway sein Wachstum aggressiv voran und fährt dabei Verluste ein:<br />
im vergangenen Jahr 151 Millionen Euro.<br />
Werbevideos rasen gut gelaunte Fahrradkuriere<br />
durch die Stadt. Passt das<br />
zur Wirklichkeit? „Naja, die Realität ist<br />
definitiv eine andere als die Außendarstellung“,<br />
sagt Alex. Der Verdienst –<br />
knapp über Mindestlohn plus Boni für<br />
Vielfahrer:innen – sei schlechter als<br />
beim Konkurrenten mit den orangenen<br />
Rucksäcken. Als es zu Jahresbeginn bei<br />
zweistelligen Minustemperaturen anfing<br />
zu schneien, mussten Alex und seine<br />
Kolleg:innen weiterfahren, erzählt<br />
er. Lieferando habe seinen Service da<br />
schon eingestellt. „Wir sind bis abends<br />
um zehn durch die Stadt gescheucht<br />
worden“, erinnert sich Alex. „Das war<br />
eine Zumutung, da hätte das Unternehmen<br />
die Reißleine ziehen müssen.“<br />
Dann sei da noch die Sache mit den<br />
Schichten. Für die Fahrer:innen gibt es<br />
eine Mittags- und eine Abendschicht.<br />
Alex fährt meist beide. Dazwischen<br />
heißt es warten, ohne Bezahlung. „Momentan<br />
fahre ich meistens nach Hause,<br />
weil die Restaurants, in denen man<br />
warten könnte, wegen Corona geschlossen<br />
haben.“ Alex fährt auf Midijob-<br />
Basis: Er darf zwischen 450 und 1300<br />
Euro verdienen. Für einen weiteren Job<br />
sei durch die Wartezeiten kaum Zeit.<br />
Trotzdem hat sich der 25-Jährige bewusst<br />
für Stadtsalat entschieden. „Hier<br />
habe ich nette Kollegen, und man kennt<br />
sich. Es ist familiärer. Das ist mir wichtig.“<br />
Stadtsalat-Geschäftsführer Marcus<br />
Berg betont auf Nachfrage, sein Unternehmen<br />
versuche, Fahrer:innen ein<br />
„Top-Umfeld, bestehend aus Wertschätzung,<br />
Bezahlung, Ausrüstung und<br />
Betriebsklima“ zu bieten. Die allermeisten<br />
seiner Angestellten würden keine<br />
Doppelschichten fahren, außerdem<br />
stehe ein Aufenthaltsbereich bereit.<br />
Inklusive Trinkgeld und Bonuszahlungen<br />
kämen die Fahrer:innen auf einen<br />
Lohn von 15 Euro die Stunde. Der vergangene<br />
Winter sei an einigen Tagen<br />
eine Herausforderung gewesen, räumt<br />
Lieferando-Betriebsrat Jonas Müller<br />
der Geschäftsführer ein. Allerdings<br />
habe man auch im Gespräch mit den<br />
Angestellten viel gelernt: „Wir werden<br />
auf kommende Extremwetterbedingungen<br />
noch besser vorbereitet sein.“<br />
Weniger familiär geht es offenbar<br />
bei Lieferando zu. Oft sei den<br />
Fahrer:innen nicht klar, wer ihnen bei<br />
Problemen weiterhelfe, kritisiert Betriebsrat<br />
Jonas Müller. Zwar könnten<br />
sie sich an die Zentrale wenden, den sogenannten<br />
Hub. Das wüssten viele aber<br />
nicht: „Ihr Ansprechpartner ist erst mal<br />
ausschließlich eine E-Mail-Adresse.“<br />
Laut dem Betriebsrat ein echtes Problem<br />
für die Kommunikation. „E-Mails<br />
werden teilweise wochenlang nicht<br />
beantwortet. Leute wollen Urlaub<br />
machen und bekommen keine Antwort,<br />
Leute wissen zwei, drei Wochen vor<br />
Vertragsauslauf nicht, ob ihr Job verlängert<br />
wird. So was passiert tagtäglich.“<br />
Zugespitzt habe sich die Situation,<br />
weil der Konzern zuletzt stark<br />
gewachsen ist. Strukturen seien nicht<br />
eingespielt, Stellen nicht besetzt. Die<br />
Folge: Frust bei den Angestellten. „Es<br />
gibt Fälle, in denen Fahrer richtig ausrasten<br />
und im Hub stehen und rumbrüllen.<br />
Das zeigt, dass da Druck auf<br />
dem Kessel ist“, sagt Müller.<br />
9
Das Lager von „Gorillas“ in der Hamburger Feldstraße<br />
Quelle: Just Eat Takeaway<br />
Lieferando weist die Vorwürfe zurück:<br />
„Unsere Fahrer bewerten die Beantwortung<br />
ihrer Anliegen mit mehr als<br />
8 von 10 Punkten im Durchschnitt.“<br />
Fragen an die Personalabteilung seien<br />
im März im Schnitt innerhalb von<br />
19 Stunden beantwortet und in weniger<br />
Umsätze von<br />
Lieferando<br />
205 Mio.<br />
Euro<br />
2019<br />
374 Mio.<br />
Euro<br />
2020<br />
als drei Tagen gelöst worden. „Dabei<br />
ergeben sich die größten Verzögerungen<br />
durch verzögerte Rückmeldungen<br />
von Fahrer:innen.“<br />
Rund die Hälfte der Angestellten<br />
sind laut Betriebsrat Müller Geflüchtete.<br />
Anderswo auf dem Arbeitsmarkt hätten<br />
sie oft keine Chance. Viele ernähren<br />
mit dem Job die ganze Familie. Insbesondere<br />
für diese Vollzeitangestellten<br />
grenze die Arbeit an Extremsport: „Im<br />
Schnitt fährst du so sieben oder acht<br />
Kilometer die Stunde. Wenn du Vollzeit<br />
angestellt bist und 160 Stunden im Monat<br />
fährst, sind das weit über 1000 Kilometer.“<br />
Manche gerieten damit an ihre<br />
Belastungsgrenze. Laut Lieferando liegt<br />
der Stundenschnitt bei 5 Kilometern.<br />
Einer der Geflüchteten ist Hakim<br />
(Name geändert, Red.). Der 30-Jährige<br />
kam 2014 aus Syrien nach Deutschland<br />
und arbeitet seit März bei Lieferando.<br />
Einen anderen Job habe er nicht gefunden,<br />
erzählt er. Statt mit dem Rad Kilometerrekorde<br />
zu brechen, ist Hakim<br />
mit dem eigenen Auto unterwegs. „Mit<br />
dem Fahrrad ist es zu anstrengend.“<br />
Zwar schaffe er so nicht ganz so viele<br />
Bestellungen, doch für 1650 Euro netto<br />
habe es vergangenen Monat trotzdem<br />
10<br />
gereicht. Er sieht seine Zukunft zwar<br />
nicht bei Lieferando, ist aber durchaus<br />
zufrieden mit seinem Job: Es sei besser,<br />
als Pakete auszufahren.<br />
Über inakzeptable Arbeitsbedingungen<br />
klagen hingegen Beschäftigte<br />
des Liefer-Start-ups Gorillas. Das Unternehmen<br />
verspricht, Supermarkteinkäufe<br />
binnen zehn Minuten nach<br />
Bestellung an die Haustür zu liefern.<br />
Auf Twitter berichten Angestellte anonym<br />
von Videoüberwachung im Lager,<br />
fehlenden Aufenthaltsräumen und<br />
schlechten Rucksäcken, die Rückenschmerzen<br />
verursachen. Gorillas weist<br />
die Vorwürfe dazu zurück: Keines ihrer<br />
Lager in Deutschland werde per<br />
Kamera überwacht. In den meisten<br />
gebe es Pausenräume. In manchen<br />
seien die „etwas kleiner“, man arbeite<br />
aber an Verbesserungen. Eine erste<br />
Charge Rucksäcke sei durch ergonomische<br />
und komfortable Nachfolger<br />
ersetzt worden.<br />
Lieferando-Betriebsrat Jonas Müller<br />
hofft, dass mehr Konkurrenz auf<br />
dem Markt der Lieferdienste bessere<br />
Arbeitsbedingungen und Löhne für die<br />
Fahrer:innen schafft. Denn schon heute<br />
hätten die Unternehmen Probleme,
Stadtgespräch<br />
Gig-Economy<br />
Bestelldienste wie Lieferando sind Teil der sogenannten<br />
Gig-Economy: Unternehmen vergeben über Internetplattformen<br />
oder mithilfe von Apps einzelne Aufträge<br />
– sogenannte Gigs – an Angestellte oder Selbstständige.<br />
Den Anfang machte 2008 der Fahrdienstleister Uber.<br />
Viele US-Amerikaner:innen hatten im Zuge der Finanzkrise<br />
ihre Jobs verloren und waren auf zusätzliche Einnahmen<br />
angewiesen, etwa als selbstständige Chauffeur:innen.<br />
Der Siegeszug der Gig-Economy begann. Bei Airbnb<br />
bieten Privatleute heute Ferienwohnungen an, auf<br />
Helpling lassen sich flexibel Putzkräfte buchen.<br />
Auf Plattformen wie jovoto oder upwork vergeben kleine<br />
Unternehmen genauso wie Weltkonzerne Aufträge an<br />
teils hochqualifizierte freiberufliche Crowdworker:innen.<br />
Der Vorteil für die Unternehmen: Sie können auf<br />
Angestellte und Büroflächen verzichten und so Kosten<br />
sparen. Vorteil für die Beschäftigten: Sie sind flexibel.<br />
Nachteile: Ihnen fehlt oft eine soziale Absicherung, Arbeitnehmerrechte<br />
sind nur schwer durchzusetzen.<br />
Engagement mit<br />
Herz für Hamburg<br />
Mitarbeiter:innen zu finden. Betriebsräte, wie bei Lieferando,<br />
gibt es bei neuen Playern zunächst einmal nicht.<br />
Entsprechend gespannt ist er, wie die Mitbewerber mit<br />
Arbeitnehmerrechten umgehen.<br />
Johann Möller von der NGG ist skeptisch: Die Erfahrung<br />
zeige, dass Arbeitgeber als Erstes am Personal<br />
sparen würden, um Kosten zu senken. „Man wird nicht<br />
dadurch reich, dass man der arbeitnehmerfreundlichste<br />
Betrieb ist.“ Hinzu komme eine Besonderheit der Branche:<br />
Weil die Leben der Fahrer:innen so unterschiedlich sind,<br />
sei es besonders schwer, sich zu vernetzen – zumal die<br />
Angestellten kaum aufeinandertreffen. „Dieses kollektive<br />
Gefühl wäre aber wichtig, um sich darüber klar zu<br />
werden, dass man mit seinen Problemen nicht alleine ist.“<br />
Im Bundesarbeitsministerium scheint man die<br />
Probleme erkannt zu haben. Arbeitsminister Hubertus<br />
Heil (SPD) hat kürzlich ein Eckpunktepapier vorgelegt,<br />
wie er die sogenannte Plattformökonomie regulieren will.<br />
Arbeitnehmer:innen sollen eine bessere soziale Absicherung<br />
und besseren Unfallschutz erhalten, Kündigungsfristen<br />
will Heil verlängern, die Organisierung der Beschäftigten<br />
erleichtern. Erst mal bleibt es bei Absichtserklärungen:<br />
Ein Gesetz plant der SPD-Minister nach der Bundestagswahl<br />
– wenn er dann noch im Amt ist. •<br />
Lukas Gilbert glaubt, dass – bei allen Unterschieden<br />
– eines alle Lieferfahrer:innen verbindet:<br />
das Warten. Auf die nächste Schicht, den nächsten<br />
Auftrag oder das Summen des Türöffners.<br />
lukas.gilbert@hinzundkunzt.de<br />
11<br />
Wir machen gern<br />
gemeinsame Sache:<br />
Für „Spende Dein Pfand“<br />
kooperiert Hamburg Airport<br />
mit Hinz & Kunzt und Der<br />
Grüne Punkt – Duales System<br />
Deutschland GmbH (DSD).<br />
Vom Pfandgeld finanziert<br />
Hinz & Kunzt Arbeitsplätze<br />
am Flughafen Hamburg.<br />
SPENDE<br />
DEIN<br />
PFAND<br />
www.hamburg-airport.de
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Zahlen des Monats<br />
Ernährungsindustrie<br />
Die Limo-Steuer wirkt<br />
35 Prozent<br />
weniger Zucker mischen Getränkehersteller in Großbritannien ihren Produkten bei, seitdem<br />
die Regierung dort eine sogenannte Limo-Steuer eingeführt hat. Das ist das Ergebnis einer<br />
Studie der Universität Oxford. Eine Fanta im Königreich enthalte nur noch 4,6 Gramm<br />
Zucker pro 100 Milliliter. Hierzulande sind es laut Hersteller Coca-Cola 7,6 Gramm.<br />
Jedes zweite Erfrischungsgetränk in Deutschland sei überzuckert und trage dazu bei, dass immer<br />
mehr Menschen unter Fettleibigkeit und ihren Folgen litten, urteilt die Verbraucherorganisation<br />
Foodwatch: „Die Lebensmittelindustrie trägt eine Mitverantwortung an der<br />
globalen Adipositas-Epidemie.“<br />
Übergewicht und Fettleibigkeit (Adipositas) haben in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch<br />
zugenommen. In Deutschland gelten laut Robert-Koch-Institut (RKI) 15 Prozent aller Kinder<br />
und Jugendlichen als übergewichtig, knapp 6 Prozent gar als fettleibig. Während hier<br />
zumindest der Anstieg gebremst scheint, steigt die Zahl betroffener Erwachsener weiter: Zwei<br />
Drittel aller Männer und die Hälfte der Frauen sind übergewichtig, so das RKI, jede:r vierte<br />
Erwachsene ist sogar adipös. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet zuckerhaltige<br />
Getränke als „eine der wesentlichen Ursachen“. Ihr Verzehr begünstigt Studien zufolge auch<br />
die Entstehung von Diabetes, Bluthochdruck, Gelenkproblemen und Herzerkrankungen.<br />
Bundesernährungsministerin Julia Klöckner (CDU) setzt darauf, dass die Lebensmittelhersteller<br />
freiwillig den Anteil ungesunder Beigaben zu ihren Produkten reduzieren. Ihre Strategie<br />
wirke, sagte sie im April bei der Vorstellung von neuen Ergebnissen einer wissenschaftlichen<br />
Begleitstudie: „Bei zahlreichen weiteren Produkten wurden Salz und Zucker reduziert.“<br />
Gleichzeitig seien „einige der Zahlen noch nicht zufriedenstellend“, räumte Klöckner ein.<br />
„Hier müssen die Hersteller nachlegen.“<br />
Für Foodwatch ist der Kurs der Ministerin ein Irrweg: „Programme zur Tabak-Prävention<br />
entwickelt man auch nicht gemeinsam mit Philip Morris.“ Neben einer Zuckersteuer auf<br />
Süßgetränke und einer verpflichtenden Nährwertkennzeichnung („Nutri-Score“) fordert die<br />
Verbraucherorganisation auch gesetzliche Beschränkungen des Kindermarketings. Laut einer<br />
Foodwatch-Recherche nutzen Lebensmittelkonzerne systematisch Social-Media-Stars, um<br />
zuckrige Getränke, fettige Snacks und Süßwaren an Kinder zu vermarkten.<br />
Immerhin: Laut Ministerium will die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission – zuständig für<br />
die Vorgaben – den Mindestzuckergehalt für Limonaden streichen. Was das für den alternativen<br />
Hamburger Getränkehersteller Lemonaid bedeutet, war bei Redaktionsschluss noch<br />
unklar. Der war von Verbraucherschutzbehörden abgemahnt worden, weil seine Limonade<br />
zu wenig Zucker enthalte, um als solche bezeichnet zu werden. Daraufhin klebte Lemonaid<br />
aus Protest den Hinweis „Achtung, wenig Zucker“ auf seine Flaschen. •<br />
TEXT: ULRICH JONAS<br />
ILLUSTRATION: ESTHER CZAYA<br />
Mehr Infos unter www.foodwatch.de und www.lemon-aid.de<br />
13
Süleyman Ta köprü<br />
auf dem „Walk of<br />
Fame“ in Los Angeles<br />
Süleymans<br />
Träume wurden mit<br />
ihm vernichtet<br />
Vor 20 Jahren ermordeten Neonazis vom NSU den Hamburger<br />
Kaufmann Süleyman Ta köprü. Seine Schwester Ay en Ta köprü hat für<br />
Hinz&Kunzt ihre Erinnerungen an den großen Bruder aufgeschrieben.<br />
FOTOS: PRIVAT, DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong> (1)<br />
M<br />
ein Bruder Süleyman Ta köprü ist am<br />
20. März 1970 in Istanbul geboren. Aufgewachsen<br />
ist er in uhut in Westanatolien.<br />
Zwei Jahre nach seiner Geburt ging unser Vater<br />
als Gastarbeiter nach Deutschland und arbeitete zunächst<br />
als Schiffsschweißer in Bremerhaven. Später, nach einem<br />
Arbeit sunfall, zog er nach Hamburg und war beim Schreibwarenhersteller<br />
Rotring tätig. 1979 kamen meine Mutter,<br />
mein jüngerer Bruder und ich nach Deutschland. Süleyman,<br />
der Älteste von uns vier Geschwistern, blieb vorerst bei<br />
unserer Oma in der Türkei. Er hatte sehr gute Schulnoten,<br />
und seine Lehrer überredeten unsere Eltern deshalb, dass er<br />
weiter in der Türkei zur Schule geht.<br />
Mein Bruder vermisste uns. Uns nur in den Ferien zu<br />
sehen, hat ihm nicht mehr gereicht. Als 1981 unsere jüngste<br />
Schwester in Hamburg geboren wurde, kam daher auch<br />
14
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
„Sie haben<br />
uns ein Leben mit ihm<br />
genommen.“<br />
AY EN TA KÖPRÜ<br />
Süleyman zu uns nach Altona. Wir hatten viele Freunde, und<br />
obwohl wir später etwas weiter außerhalb gewohnt haben,<br />
hat es uns immer wieder nach Altona gezogen.<br />
Mein Bruder Süleyman absolvierte den Realschulabschluss.<br />
In seiner Freizeit spielte er gern Backgammon und<br />
Fußball. Er war Anhänger des Fußballvereins Fenerbah e<br />
Istanbul und ein großer Fan des Schauspielers Sylvester Stallone,<br />
dem er ähnlich sah. Er träumte nach einer USA-Reise von<br />
einem eigenen Stern auf dem berühmten Walk of Fame in<br />
Los Angeles. Wir hatten uns über den Tod unterhalten und<br />
dabei äußerte er den Wunsch, dass im Fall seines Todes mit<br />
einem derartigen Stern an ihn erinnert werden solle.<br />
Als Teenager trainierte er drei Jahre Karate. An den Wochenenden<br />
ging er gerne tanzen. Anfang der 1990er-Jahre<br />
arbeitete er für eine japanische Firma, die Fotoapparate herstellte.<br />
1998, als er 28 Jahre alt war, ist seine Tochter geboren.<br />
An den Tag werde ich mich immer erinnern. Er kam kreideweiß<br />
aus dem Kreißsaal und bat mich, hineinzugehen:<br />
„Ich kann nicht mehr, alle schreien herum, bitte geh du rein.“<br />
Im Kreißsaal lagen alle Frauen nur mit einem Vorhang voneinander<br />
getrennt. Kein Wunder, dass ihm schwindelig war!<br />
Der Geräuschpegel war echt enorm … Er nannte seine<br />
Tochter, meine Nichte, ,,meine kleine Prinzessin“.<br />
Mamas Freundin wollte ihren Laden in der Schützenstraße<br />
39 nicht mehr weiterführen und bot ihn meinen Eltern<br />
an. Für sie war das die Lösung: Beide waren nicht mehr<br />
gesund, mein Vater war Frührentner und meine Mutter hatte<br />
ihren Vollzeitjob als Raumpflegerin im Krankenhaus aufgegeben.<br />
Also haben meine Eltern mich überredet, ihnen den<br />
Laden zu finanzieren. So konnten sie ohne Sozialhilfe finanziell<br />
klarkommen. Die Eröffnung war am 4. Dezember 1998.<br />
Da ich beruflich nicht immer in Hamburg<br />
war, hatten alle aus der Familie<br />
eine Aufgabe im Laden. Überwiegend<br />
war mein jüngerer Bruder mit Papa<br />
und Mama dort. Der Laden war nicht<br />
nur ein Lebensmittelgeschäft, sondern<br />
auch ein Treffpunkt für uns alle. Nach<br />
Feierabend trafen wir uns hinten in der<br />
kleinen Küche zum Essen.<br />
2001 wollte mein Bruder Süleyman<br />
den Laden von mir übernehmen.<br />
Er war voller Pläne! Nebenan wollte er<br />
einen Weinladen eröffnen. Ich erinnere<br />
mich an den April 2001: Mein Bruder<br />
stand im Laden, voller Begeisterung,<br />
und meinte: „Guck mal, kleine Schwester, ich habe neue<br />
Regale besorgt!“ Doch seine Pläne und Träume wurden mit<br />
ihm vernichtet.<br />
Am 27. <strong>Juni</strong> 2001 war ich zu Hause und versuchte, als<br />
frisch gewordene Mutter zurechtzukommen. Ich bekam einen<br />
Anruf von meinem jüngeren Bruder, er weinte und ich dachte,<br />
Papa hätte wieder einen Herzinfarkt erlitten. Aber als er<br />
meinte: „Hier ist alles abgesperrt“, da wusste ich, es ist etwas<br />
Schlimmes passiert. Ich weiß nicht, wie lange ich vor meinem<br />
Haus mit meinem Sohn und dem Hund stand, aber irgendwann<br />
kam mein damaliger Mann mich abholen. Im Auto<br />
sagte er mir: „Dein Bruder ist tot.“ Ich wollte schreien, aber<br />
ich konnte nicht, weil mein Sohn gerade mal drei Monate alt<br />
war. Bis zur Haustür meiner Eltern habe ich geweint.<br />
Die Zeitungsartikel über die Mordserie habe ich heute<br />
noch: „Döner-Morde“, „Mafia“, „Drogendealer“. Die Polizei<br />
hat in alle Richtungen ermittelt, nur nicht Richtung rechte<br />
Szene. Wir hatten lange Jahre immer wieder Besuch von<br />
der Kripo und mussten immer wieder Fragen über Fragen<br />
beantworten. Immer wieder mussten wir auch mit auf die<br />
Wache. Einmal bat mich die Kripo, seine alte Wohnung zu<br />
zeigen. Mir waren die Fragen viel zu viel, da sagte ich ihnen:<br />
„Gehen Sie doch zum Wahrsager.“ Und Jahre später erfahre<br />
ich aus dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags,<br />
dass sie das ernst genommen haben und wirklich zum Wahrsager<br />
gegangen sind. Was soll ich sagen: ohne Worte.<br />
Süleyman Ta köprü<br />
(Mitte) mit<br />
Geschwistern,<br />
rechts neben ihm<br />
sitzt Schwester<br />
Ay en. Mit dem<br />
Gedenkstein in<br />
Sternform erfüllte<br />
die Familie ihm<br />
einen Wunsch.<br />
15
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>340</strong>/JUNI <strong>2021</strong><br />
Auch die Urteilsverkündung nach dem NSU-Prozess beim<br />
Oberlandesgericht München am 11. Juli 2018 war unerträglich.<br />
Es war unerträglich für mich, mit Nazis in der Schlange<br />
draußen anzustehen und direkt neben ihnen auf der<br />
Zuschauertribüne zu sitzen. Alle Nazis waren in Schwarz<br />
gekleidet, auch die Angeklagten. Wie kann man so emotionslos<br />
sein und so voller Hass? Kurz vor Schluss, als auch noch<br />
smail Yozgat, der Vater des Mordopfers Halit Yozgat, vom<br />
Richter angemahnt wurde und die Nazis immer lauter jubelten,<br />
da ist mir so übel und schlecht geworden, dass ich rausmusste.<br />
Ich habe es nicht mehr ausgehalten.<br />
Bis 2001 hat mich Rassismus persönlich nie verletzt, aber<br />
seit 2001 fühle ich mich persönlich betroffen. Die<br />
Bilder von meinem Bruder schießen mir ins Gedächtnis und<br />
ich komme damit nicht zurecht. Ich fühlte mich sicher in<br />
Deutschland, und dieses Gefühl der Sicherheit haben<br />
diese Personen uns genommen. Sie haben unsere Biografie<br />
verändert. Sie haben uns ein Leben mit ihm genommen.<br />
Meine Nichte ist ohne ihn aufgewachsen, mein Sohn hat<br />
seinen Onkel nur auf Bildern gesehen. Meine Eltern sagen<br />
immer wieder: „Ach, wären wir nie nach Deutschland<br />
gekommen!“ •<br />
„Die Ermittlungen waren rassistisch“<br />
Caro Keller von „NSU-Watch“ und der Überlebende des Anschlags von Mölln,<br />
brahim Arslan, über Gedenken und Aufarbeitung von Behördenfehlern<br />
INTERVIEW: BENJAMIN LAUFER; FOTOS: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong>, PICTURE ALLIANCE/DPA (1)<br />
Caro Keller und brahim<br />
Arslan am Gedenkort<br />
für Süleyman Ta köprü<br />
Hinz&Kunzt: Wir stehen am Hamburger<br />
NSU-Tatort, eine Gedenkstätte erinnert<br />
an Süleyman Ta köprü, 100 Meter weiter<br />
ist eine Straße nach ihm benannt. Wird<br />
Hamburg damit dieser Tat gerecht?<br />
brahim Arslan: Wir sehen hier zwei Gedenkorte.<br />
Das oben ist die städtische<br />
Gedenktafel, der Stern darunter ist die<br />
Gedenkstätte der Familie. Daran sieht<br />
man, wie die Familie sich vom institutionellen<br />
Gedenken abspaltet.<br />
Caro Keller: Die Familie hat sich auch<br />
nicht gewünscht, dass ein Teil der<br />
Pa rallelstraße nach Süleyman Ta köprü<br />
benannt wird. Sie forderte nach der<br />
Selbstenttarnung des NSU von der<br />
Stadt Aufklärung. Stattdessen hat Hamburg<br />
2014 die Straße umbenannt – fürs<br />
Image. Der Forderung nach Aufarbeitung<br />
wird das nicht gerecht.<br />
Herr Arslan, Sie haben 1992 in Mölln<br />
den Brandanschlag von Neonazis<br />
auf das Haus Ihrer Familie überlebt.<br />
16<br />
Auch heute noch würden die<br />
Täter:innen nach solchen Anschlägen<br />
mehr Aufmerksamkeit als die Opfer<br />
bekommen, kritisieren Sie.<br />
Arslan: Wir leben in einer täterorientierten<br />
Gesellschaft. Die Perspektive der<br />
Betroffenen kommt kaum vor. Die<br />
Gesellschaft spricht nicht über die<br />
Menschen, die überlebt haben, und wie<br />
sie damit umgehen. Dabei wäre das<br />
wichtig, um die Angehörigen und die<br />
Verstorbenen zu würdigen.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Nach dem Mord an Süleyman Ta köprü<br />
ist vieles falsch gelaufen: Die Hamburger<br />
Polizei hat lange Organisierte<br />
Kriminalität als Tatmotiv vermutet, im<br />
familiären Umfeld ermittelt und soll<br />
sogar versucht haben, die Ermittlungen<br />
in Richtung rechts zu verhindern.<br />
Haben die Behörden aus ihren Fehlern<br />
gelernt, Frau Keller?<br />
Keller: Die Hamburger Behörden sind<br />
immer noch nicht in der Lage, rechte<br />
Taten als solche zu erkennen. Das haben<br />
wir etwa 2017 beim Anschlag am<br />
S-Bahnhof Veddel gesehen.<br />
Bei der Explosion einer selbst<br />
gebauten Nagelbombe wurde zum<br />
Glück niemand verletzt …<br />
Keller: Obwohl bekannt ist, dass der Täter<br />
eine rechte Vergangenheit hat und<br />
aus diesen Motiven auch schon einen<br />
Menschen umgebracht hatte, sprach die<br />
Polizei von einer unpolitischen Tat, weil<br />
er inzwischen zur Trinkerszene gehöre.<br />
Da sehe ich keinen Lerneffekt.<br />
Das Gericht hat später erkannt,<br />
dass ein rassistisches Motiv<br />
„ziemlich wahrscheinlich“ war.<br />
Keller: Wir haben vor NSU-Untersuchungsausschüssen<br />
auch Ermittler<br />
aus Hamburg gesehen. Einer hat dort<br />
erneut rassistische Gerüchte über die<br />
Familie verbreitet. Ein anderer hat ausgesagt,<br />
die Polizei habe keine Möglichkeit<br />
gehabt, Zschäpe, Mundlos und<br />
Böhnhardt als Täter:innen zu erkennen.<br />
Wenn man mit der gleichen Kreativität<br />
in Richtung rechts ermittelt<br />
hätte, mit der man die Familie drangsaliert<br />
hat, wäre man irgendwann auf<br />
die drei gestoßen. Das wurde einfach<br />
nicht gemacht.<br />
Sie haben sich ausführlich mit<br />
dem NSU beschäftigt. Ist 20 Jahre<br />
nach dem Mord in der Schützenstraße<br />
aufgeklärt, ob dabei Hamburger<br />
Neonazis eine Rolle gespielt haben?<br />
Keller: Wir gehen davon aus, dass es<br />
hier Helfer:innen gegeben haben muss.<br />
Wie soll man als Mensch aus Jena auf<br />
diesen Ort kommen, wenn einem<br />
niemand den Hinweis gibt, dass es hier<br />
migrantisch geführte Läden gibt?<br />
Wir wissen, dass es Bekanntschaften<br />
zwischen Hamburger Neonazis und<br />
dem NSU-Kerntrio gegeben hat. Und<br />
wir wissen, dass es eine sehr einflussreiche<br />
und tonangebende rechte Szene<br />
in Hamburg gab und gibt.<br />
Könnte ein Hamburger Untersuchungsausschuss<br />
diese Hintergründe<br />
aufdecken? SPD und Grüne lehnen<br />
ihn noch immer ab, weil der Innenausschuss<br />
der Bürgerschaft sich bereits<br />
ausreichend mit dem Fall beschäftigt<br />
habe.<br />
Keller: Alle Untersuchungsausschüsse<br />
haben neue Puzzleteile geliefert. Bislang<br />
konnte in Hamburg niemand die<br />
Akten sichten, außer dem Verfassungsschutz<br />
selbst – und dem kann man nicht<br />
trauen. Es heißt immer, man brauche<br />
neue Anhaltspunkte, um einen Ausschuss<br />
einzurichten. Dann guckt man<br />
sich den Mord an Süleyman Ta köprü<br />
an und denkt: „Reicht euch das nicht?<br />
Ist das noch nicht schlimm genug?“<br />
Arslan: Die Ermittlungen waren rassistisch.<br />
Laut Bürgermeister Peter Tschentscher<br />
gibt es trotzdem kein öffentliches<br />
Interesse an einem Hamburger<br />
Untersuchungsausschuss, weil es keinen<br />
Skandal bei den<br />
Ermittlungen gegeben<br />
habe. Offenbar<br />
ist die<br />
Stadt auf dem<br />
rechten Auge<br />
blind. Nach dem<br />
Anschlag in<br />
Hanau ist durch<br />
Recherchen der<br />
Familienange hörigen<br />
vieles ans<br />
Tageslicht gekommen.<br />
Das<br />
17<br />
lassen die Hamburger Behörden beim<br />
NSU nicht zu, weil sie belastendes<br />
Material nicht herausgeben.<br />
2018 endete der NSU-Prozess vor<br />
dem Oberlandesgericht München, ließ<br />
aber ebenfalls vieles unbeantwortet.<br />
Die Hamburger Nebenklage-Anwältin<br />
Gül Pinar sagte in ihrem Plädoyer,<br />
die Zivilgesellschaft sei nun gefragt,<br />
diese Fragen aufzuklären. Was können<br />
wir tun?<br />
Arslan: Nach der Selbstenttarnung des<br />
NSU haben wir gehofft, dass die gesamte<br />
Gesellschaft aufsteht, ihre Empörung<br />
zeigt und auf die Straße geht –<br />
mit zwei, drei Millionen Menschen.<br />
Aber es war nichts los!<br />
Keller: Wenn es große Demos gegeben<br />
hätte, hätte es auch mehr Aufklärung<br />
gegeben. In Hamburg haben sich aber<br />
mehrere Initiativen für das Gedenken<br />
stark gemacht und Hintergründe aufgearbeitet,<br />
die man so vorher in der Stadtgesellschaft<br />
nicht kannte. So wurde die<br />
Geschichte neu geschrieben. •<br />
benjamin.laufer@hinzundkunzt.de<br />
Der Prozess gegen<br />
Beate Zschäpe und<br />
Mitangeklagte ließ<br />
viele Fragen offen.<br />
Die Stadt Hamburg<br />
hat einen Teil der<br />
Kohlentwiete nach<br />
Süleyman Ta köprü<br />
benannt.
Rundumvergnügen:<br />
rappelvolle Fabrik<br />
bei dem Bluesmusiker<br />
Keb’ Mo’ (2020)<br />
50<br />
Jahre Fabrik<br />
Happy Birthday! 1971 entstand mit der Fabrik an der Barnerstraße das erste<br />
alternative Kunst- und Kulturzentrum seiner Art in Deutschland. Es wurde bald weit<br />
über Hamburg hinaus zum Vorbild. Zeitzeug:innen erinnern sich und blicken voraus.<br />
TEXTE: JOCHEN HARBERG
Alternativer Treff in alten Mauern,<br />
Geburtstagstorte von den Fabrikbeschäftigten<br />
für Art Blakey 1985,<br />
Blick von der Bühne ins Publikum<br />
FARBFOTO: LUCJA ROMANOWSKA; S/W-FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/<br />
DPA/DPA (OBEN), PICTURE ALLIANCE/ULLSTEIN BILD/<br />
CALLE HESSLEFORS (HALLE), DENIS BRUDNA
Jubiläum<br />
D<br />
ie Hoffnung ist zurückgekehrt<br />
in die Fabrik. An der Fassade<br />
macht sich ein Fenster putzer<br />
zu schaffen. Drinnen ist Geschäftsführerin<br />
Ulrike Lorenz damit beschäftigt,<br />
für die Zukunft zu planen und<br />
zu organisieren: Die Garderobe soll<br />
vergrößert werden, wie kriegen wir das<br />
hin? Dabei war noch Anfang Februar<br />
die Stimmung im Keller. „Es herrscht<br />
erdrückende Stille, hier ist wirklich niemandem<br />
nach Feiern zumute“, schreibt<br />
„Raus aus den<br />
Palästen, hin zu<br />
den Menschen“<br />
ARCHITEKT FRIEDHELM ZEUNER<br />
20<br />
Der Rocker<br />
Manfred Mann, 80<br />
Manfred Mann gründete im<br />
Geburtsjahr der Fabrik seine<br />
„Earth Band“. In der letzten<br />
Dekade war er dort Stammgast.<br />
Zum Jubiläum schreibt er uns:<br />
„Es ist uns immer ein Vergnügen,<br />
in der Fabrik zu spielen.<br />
Sie ist ein wirklich einzigartiger<br />
Platz. Nirgendwo sonst auf der<br />
Welt kommt uns das Publikum<br />
aus solch intimen Blickwinkeln<br />
nahe, das schafft eine ganz<br />
spezielle Atmosphäre. Auch<br />
deswegen fühlen wir uns in<br />
der Fabrik immer sehr zu Hause.“<br />
(Übersetzt aus dem Englischen)<br />
Leuchtturm der Kulturszene:<br />
Die abendliche<br />
Fabrik öffnet ihre Türen.<br />
Ulrike Lorenz, als wir sie erstmals nach<br />
Plänen fürs große Jubiläum fragen –<br />
am 25. <strong>Juni</strong> wird die Fabrik 50. Doch<br />
inzwischen scheint die Pandemie allmählich<br />
auf dem Rückzug. So nimmt<br />
sich Lorenz dann doch Zeit, um sich<br />
für Hinz&Kunzt in der großen Halle<br />
fotografieren zu lassen (siehe Seite 25).<br />
Denn Corona hin oder her, man wird<br />
schließlich nur einmal ein halbes Jahrhundert<br />
jung.<br />
1970 suchten der Maler und Künstler<br />
Horst Dietrich und der Architekt<br />
Friedhelm Zeuner per Zeitungsannonce<br />
in Hamburg ein Areal für ein<br />
konzeptionell völlig neuartiges Kultur-<br />
FOTOS: LUCJA ROMANOWSKA (LINKS), PICTURE ALLIANCE/JAZZ ARCHIV/RAINER MERKEL
Jubiläum<br />
FARBFOTO: LUCJA ROMANOWSKA; S/W-FOTOS: DENIS BRUDNA<br />
und Kommunikationszentrum. „Raus<br />
aus den elitären Palästen, hin zu den<br />
normalen Menschen“, so beschreibt es<br />
Zeuner heute gegenüber Hinz&Kunzt<br />
(siehe auch Seite 22). Sie finden im Herzen<br />
Altonas eine auch optisch spannende<br />
Industriebrache: eine um das Jahr<br />
1830 erbaute ehemalige preußische<br />
Maschinen- und Munitions fabrik in<br />
Form einer großen, drei schiffigen Basilika.<br />
Die beiden Männer kratzen privat<br />
Geld zusammen und verwirklichen<br />
binnen Jahresfrist für 460.000 Mark<br />
Umbaukosten ihren Traum vom alternativen<br />
Kulturtempel. In dem soll alles<br />
möglich sein: inspirierende Mitmachangebote<br />
für alle, keine Etikette,<br />
keine Denkverbote. Denn die Zeit dafür<br />
ist reif.<br />
Die Generation der 68er bricht das<br />
konservative Denken im Land auf. Der<br />
einst vor den Nazis geflüchtete Willy<br />
Brandt wird Bundeskanzler und will<br />
„mehr Demokratie wagen“. Das, was<br />
man heute wohl Zeitgeist nennen würde,<br />
manifestiert sich auch an der Barnerstraße<br />
in Ottensen, damals armer<br />
Arbeiter:innenstadtteil und Industriestandort.<br />
Die Fabrik – optisch erdig-roh<br />
mit viel Holz, Stein und Eisen bahnschwellen<br />
am Boden – wird Tummelplatz<br />
vielschichtiger Gegenkultur. Sozialarbeit<br />
für Arbeiter:innen kinder und<br />
Bauspielplatz, Stadtteil-Frühschoppen<br />
und politische Veranstaltungen, Zirkus<br />
und Batikkurse, Alternativtheater, den<br />
Fabrik-Bauernhof direkt nebenan mit<br />
Schweinen und Hühnern: Alles zusammen<br />
ergibt einen genialischen Wahnsinn<br />
kultureller Gegensätze. Und natürlich,<br />
bald schon Marken zeichen,<br />
Konzerte aller Klang farben, anfangs<br />
für umsonst oder bis maximal fünf<br />
Mark. „Man musste in der Fabrik immer<br />
aufpassen, ob von oben was geflogen<br />
kam“, erinnerte sich Tote-Hosen-<br />
Frontmann Campino schon 1991 an<br />
„einige der aufregendsten und besten<br />
Abende unserer Band-Geschichte“.<br />
Nach einem Bierschauer sei es dann<br />
aber auch einfach gewesen, „über die<br />
Boxen selbst hochzuklettern und mal<br />
nach zufragen, wo das Problem war …“<br />
Kinderkonzert mit<br />
Wolf Biermann, Spaß<br />
mit Helge Schneider,<br />
Multimediamix mit<br />
Panteón Rococó<br />
Bis zu seinem Ausscheiden als Geschäftsführer<br />
2012 und seinem Tod<br />
2014 mit 79 Jahren bleibt der künstlerische<br />
Gründer Horst Dietrich die große<br />
Klammer für alles – bewundert und<br />
kritisiert, stets changierend zwischen<br />
ewigem Programmpionier und Übervaterpatriarch.<br />
Bis heute wagt die<br />
Fabrik einen Spagat, den nur wenige<br />
können: tagsüber Stadtteilzentrum<br />
für Kids und Nachbar:innen,<br />
abends in Ehren<br />
ergraute Veranstaltungs- und<br />
Konzertbühne mit inzwischen<br />
fast über mächtiger in nerstädtischer<br />
Amüsierstättenkonkurrenz.<br />
Ob das so noch zeitgemäß<br />
ist? Auf diese Frage<br />
müssen die Macher:innen<br />
womöglich neue Antworten<br />
finden. Hinz&Kunzt stellt<br />
Menschen vor, die den Weg<br />
der Fabrik begleitet haben:<br />
Ein- und Ausblicke von<br />
gestern, heute und<br />
hoffentlich auch für<br />
ein pandemiefreies<br />
Morgen … • Jochen<br />
Harberg<br />
war das<br />
erste Mal<br />
1975 in der<br />
Fabrik – als 15-Jähriger!<br />
2018 feierte dort sein<br />
Sohn Jesper mit den<br />
Mitschüler:innen vom Gymnasium<br />
Altona sein Abitur.<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
Willy Brandt macht<br />
SPD-Wahlkampf in der Fabrik.<br />
21
Keine Panik!<br />
Udo Lindenberg, 75<br />
Grattu FABRIK! als anfang der 1970er-jahre hamburg<br />
aus einer art kleinem dornröschenschlaf wieder<br />
erwachte, war die FABRIK eine der ersten großen<br />
raketenstationen für die neue Hamburg-Szene.<br />
Startschuss Onkel Pö, dann Fabrik, Logo, Dennis Pan<br />
und so weiter.<br />
Gratuliiiiere FABRIK: sooo tolle konzerte und sessions<br />
als wir noch kleine panik-kiddies waren.<br />
Der Gründer<br />
Architekt Friedhelm Zeuner, 84<br />
„Kannst du dir die Fabrik ohne uns vorstellen?“,<br />
fragt Friedhelm Zeuner seine<br />
Frau Irmgard. Beide sitzen zum Videointerview<br />
daheim vorm Computer im<br />
Lüneburger Land, dem Ruhestands-<br />
Wohnsitz. Ihre Antwort kommt prompt:<br />
„Ich kann mir unser Leben ohne die<br />
Fabrik nicht vorstellen!“ Es ist eine späte<br />
Liebeserklärung. Und womöglich auch<br />
eine für den inneren Frieden. Aber dazu<br />
später mehr.<br />
Ende der 1960er-Jahre suchen der junge<br />
Architekt Zeuner und sein idealistischer<br />
Künstlerfreund Horst Dietrich irgendwo<br />
in Hamburg nach einem andersartigen<br />
Raum für alternative Kultur, Kunst<br />
und Handwerk. Ihr hehres Ziel: Sinnstiftende<br />
Inspiration möglichst vieler<br />
ganz normaler Menschen ohne klassenbewusste<br />
Hemmschwellen. Und zwar<br />
genau da, wo diese normalen Menschen<br />
auch wirklich wohnen. 1970 wird den<br />
beiden eine stillgelegte Munitions fabrik<br />
im Arbeiter:innenstadtteil Ottensen im<br />
Rahmen eines Erbbaurechtsvertrages<br />
günstig angeboten: „So, wie sich der<br />
Raum uns darbot, ließ er sofort viele<br />
Möglichkeiten erkennen. Die Fabrik<br />
wirkte wie eine Kathedrale“, erinnert<br />
sich Zeuner. Aus heutiger Sicht kaum<br />
vorstellbar: Der Senat sei in das folgende<br />
Renovierungsprojekt null involviert<br />
gewesen, auch die Behörden vor Ort<br />
hätten sich desinteressiert gezeigt und<br />
weitgehend rausgehalten. „Es war wirklich<br />
reine Privatinitiative.“<br />
Rund ein Jahr später, am 25. <strong>Juni</strong><br />
1971, ist Eröffnung. Für Friedhelm Zeuner<br />
im Rückblick bereits der schönste<br />
Moment seiner Fabrik-Geschichte: „Wir<br />
hatten keine Ahnung, was passieren<br />
würde – und dann war die Fabrik plötzlich<br />
randvoll mit Menschen aus ganz<br />
Hamburg. Da ahnten wir, dass wir etwas<br />
geschaffen hatten.“ Der Gedanke an die<br />
Fabrik als Musikstandort habe dabei anfangs<br />
gar nicht im Vordergrund<br />
gestanden: „Wir dachten eher an Werkstätten<br />
und Künstler, die sich dort<br />
kreativ befruchten sollten.“ Die Leute,<br />
erinnert sich seine Frau, seien „vorbeigekommen,<br />
wollten mitmachen und<br />
kriegten dann einen Platz in der Fabrik –<br />
einfach so! Das war ja das Tolle:<br />
Die Entwicklung war völlig offen, und<br />
das war auch so gewollt.“<br />
Doch dieser ewig neu zu definierende<br />
und auszudiskutierende künstlerisch<br />
offene Prozess und wie man den Laden<br />
zusätzlich auch finanziell am Laufen<br />
halten kann, kostet jede Menge Zeit,<br />
Nerven und noch mehr Geld. Trotzdem<br />
verkaufen die Zeuners, zu diesem Zeitpunkt<br />
schon dreifache Eltern, sogar ihr<br />
Haus, um die Fabrik finanziell mitzu-<br />
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/JAZZ ARCHIV/HARDY SCHIFFLER (OBEN), PRIVAT<br />
22
Jubiläum<br />
Die Fabrik-Arbeiterin<br />
Jugendpädagogin Asta Boruseviciute, 39<br />
„Dass hier tagsüber ein Paradies für Kinder ist, weiß kaum<br />
jemand“, sagt Asta Boruseviciute. Die 39-Jährige gehört<br />
seit drei Jahren zum siebenköpfigen Pädagog:innen-Team<br />
der Fabrik. Offene Kinder- und Jugendarbeit ist Teil der<br />
DNA, nach Corona wieder montags bis freitags von 12 bis<br />
18 Uhr, ohne Anmeldung und kostenlos. Hausaufgabenbetreuung,<br />
Sprach- und Lernförderung, Perlenweben,<br />
Indoorskaten, Gärtnern auf dem nahen Fabrik-Hof und mehr – aber nichts ist<br />
ein Muss. Im Alltag jenseits der Fabrik, weiß Boruseviciute, seien ihre jungen<br />
Gäste viel zu oft viel zu verplant. „Deswegen dürfen sie, wenn sie bei uns sind,<br />
immer selbst entscheiden, worauf sie gerade jetzt Lust haben.“<br />
Als Medienpädagogin mit Teilzeitstelle will die gelernte Journalistin dem<br />
Nachwuchs nahebringen, dass Handy, Tablet und Laptop „super aktive Tools<br />
sein können und nicht nur zum passiven Reinfressen gemacht sind“. So hat<br />
sie in Kooperation mit der 5. und 6. Klasse der Max-Brauer-Gesamtschule<br />
und dem Stadtteilarchiv Ottensen eine digitale Stadtteilrallye entworfen. Die<br />
Inhalte dafür haben die Schüler:innen auf Streifzügen durchs Viertel in Video<br />
und Audio selbst erstellt und alles in einer Quiz-App veredelt.<br />
30 bis 40 Kinder, schätzt Boruseviciute, würden täglich kommen, in den<br />
Ferien gern auch mal doppelt so viele. Und ja, der Raum mache etwas mit<br />
den jungen Gästen: „Trotz aller Angebote bleibt das größte Vergnügen hier<br />
immer Verstecken spielen.“ Ihr selbst gehe es nicht anders: „Ich kann körperlich<br />
spüren, wie viel tolle Geschichte in diesen Mauern steckt.“ Nur eines sei<br />
schade, „dass diese Wände nicht reden können“.<br />
•<br />
FOTOS: PRIVAT (OBEN), ANDREAS HORNOFF (ELEFANT), DENIS BRUDNA<br />
tragen: „Horst hatte ja null Geld.“ Aber,<br />
sagt Irmgard Zeuner lächelnd: „Wir<br />
wollten es unbedingt schaffen, und was<br />
ist schon eine Villa an der Alster gegen<br />
die Fabrik?“ Auch sie arbeitet ständig vor<br />
Ort mit, als „Mädchen für alles“ und mit<br />
kleiner Boutique samt Schneiderei. Doch<br />
schleichend beginnt der innere Rückzug:<br />
Zeuner ist in seinem eigenen Architekturbüro<br />
oft anderweitig gefordert und<br />
muss Geld für die Familie verdienen.<br />
Auch das Verhältnis zu Mitgründer<br />
Horst Dietrich wird immer schwieriger.<br />
Zeuner mag heute aber nicht mehr<br />
nachkarten, weshalb und warum.<br />
Anfang 1977 trennen sich ihre<br />
Wege und die der Fabrik endgültig.<br />
Eine Woche später, am 11. Februar,<br />
brennt der geliebte Bau bis auf die<br />
Grund mauern nieder, vermutlich<br />
Brand stiftung, ganz geklärt wird das<br />
nie. Zeuner eilt nach Ottensen. Weil er<br />
Gummistiefel dabei hat, trägt er seinen<br />
langjährigen Partner huckepack durch<br />
die patschnass gelöschte Ruine. „Friedhelm<br />
fragte mich: ‚Willst du wieder aufbauen,<br />
weiter machen?‘ Dann sagte er<br />
noch: ‚Mach es nicht‘!“, erinnert<br />
sich Horst Dietrich Jahre<br />
später an diesen Schicksalsmoment.<br />
Ein Glück für<br />
Ottensen und Hamburg, dass<br />
er sich anders ent scheidet:<br />
Gemeinsam mit dem neuen<br />
Archi tekten Volkwin<br />
Marg restauriert<br />
Dietrich die<br />
Fabrik für rund<br />
4,6 Millionen Mark<br />
weitgehend originalgetreu.<br />
1979 ist<br />
Neustart.<br />
Ist Zeuner heute<br />
trotzdem stolz darauf,<br />
ein Hamburger<br />
Wahrzeichen mitgeschaffen<br />
zu haben?<br />
Da leuchtet das Gesicht<br />
des 84-Jährigen:<br />
„Ja selbstverständlich,<br />
hundertprozentig!“<br />
Ein letztes Mal führt ihn 2014 sein Weg<br />
in die Fabrik – zur Trauerfeier für<br />
seinen verstorbenen Ex-Kompagnon. •<br />
Bauernhof- und Bauspiel platz-<br />
Atmo: Kids lieben die Fabrik.<br />
Das „Wahrzeichen“,<br />
der Elefantenkopf, hängt<br />
heute noch. Gründerduo 1971:<br />
Dietrich (links), Zeuner<br />
23
Einst Platz harter<br />
Arbeit, bald Tempel<br />
der Gegenkultur:<br />
die Fabrik 1970 vor<br />
dem Umbau<br />
FOTO: DENIS BRUDNA
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Jubiläum<br />
Der Konzertkönig<br />
Konzertpromoter Karsten Jahnke, 83<br />
Das will der Fachmann gleich als Erstes loswerden:<br />
„Jede Stadt in Deutschland würde sich freuen,<br />
ein Veranstaltungshaus zu haben, das diese Atmosphäre<br />
hat wie die Fabrik. Die ist ziemlich einmalig!“<br />
Seit mehr als 40 Jahren veranstaltet der international<br />
renommierte Hamburger Tourneeveranstalter<br />
Karsten Jahnke Konzerte – natürlich auch in<br />
Ottensen. Zu seinen Kunden gehörten Weltstars wie Elton John, U2<br />
(die tatsächlich mal in der Fabrik gespielt haben!) und auch Bob<br />
Dylan.<br />
Am liebsten besetze er in der Fabrik Folk. „Dafür gibt es überhaupt<br />
keine bessere Location.“ Zwar sei die Bühne für manche aufwendigen<br />
Arrangements heute zu klein, sie hat aber einen anderen riesigen<br />
Vorteil: „Diese unvorstellbare Nähe, die man zum Künstler hat, weil<br />
der ja de facto mitten in der Menge steht und spielt.“ So habe ihm<br />
etwa der irische Barde Luka Bloom gestanden, dass er „die Fabrik<br />
liebt, der will nirgendwo anders hin“.<br />
Doch will Jahnke nicht alles rosarot zeichnen. Er vermisse als Partner<br />
seinen langjährigen, aber inzwischen ausgeschiedenen Fabrik-<br />
„Booker“ Buddy Lüders. „Mit dem war die Zusammenarbeit über<br />
30 Jahre lang ein Vergnügen – keine Ahnung, wo der abgeblieben<br />
ist.“ Jahnkes Expertise aus nächster Ferne: „Es gibt kein erkennbares<br />
Konzept mehr in der Fabrik. Die bräuchten dringend einen<br />
künstlerischen Leiter, der sagt: ‚Wir haben eine Richtung X – und das<br />
ist jetzt unser roter Faden!‘“<br />
•<br />
Nina Hagen<br />
mimt 2012 in<br />
der Fabrik die<br />
wilde Göre.<br />
1975: Chillen in<br />
der Tee stube<br />
an Tischen aus<br />
alten Bahnschwellen.<br />
FOTOS: STEVEN HABERLAND (OBEN), PICTURE ALLIANCE/JAZZARCHIV/ISABEL SCHIFFLER (OBEN RECHTS),<br />
PICTURE ALLIANCE/ULLSTEIN BILD/CALLE HESSLEFORS, ANDREAS HORNOFF (UNTEN)<br />
Die Chefin<br />
Geschäftsführerin Ulrike Lorenz, 56<br />
Als wir in die Fabrik kommen zum Fototermin, ist der Saal bestuhlt. Oha, geht<br />
es etwa bald schon wieder los? Leider falscher Alarm – alles steht noch so da von<br />
den letzten Jazzkonzerten im Herbst. „Wir wollten danach nicht, dass der Raum<br />
leer und kahl aussieht“, sagt Ulrike Lorenz. Sie führt das Haus (Jahresetat:<br />
rund 2,5 Millionen Euro) und seine 55 Beschäftigten seit 2012 als Geschäftsführerin,<br />
seit 2013 ist sie auch im Vorstand der Fabrik-Stiftung. Sie liebt „ihre“ heiligen Hallen:<br />
„Die Fabrik ist ein wundervoller Ort. Selbst während Corona, in dieser viel zu<br />
lange andauernden Stille, hat sie eine positive Energie, für die ich dankbar bin.“<br />
Immer wieder wählt Lorenz Adjektive wie „solidarisch“, „gemeinsam“ oder<br />
„geduldig sein“, um klar zu machen, dass hier großes Verständnis herrscht für die<br />
strengen Schließungsmaßnahmen. Hamburg, so ihre positive Erfahrung, sei sich<br />
„seiner kulturellen Vielfalt und Diversität bewusst“ und habe „sofort Unterstützung<br />
zugesagt“. Dadurch sei auch in schweren Monaten keine Panik aufgekommen, man<br />
habe niemanden entlassen müssen und hoffe nun fest auf einen Restart im Spätsommer.<br />
Und der Geburtstag? Wird nachgeholt, verspricht Lorenz. Es mache „keinen<br />
Sinn, jetzt kurz vor dem Ziel leichtsinnig zu werden“. Wieder draußen, fällt uns das<br />
riesige Plakat am Haupteingang ins Auge, direkt unterm Fabrik-Schriftzug: „Vergesst<br />
Superhelden – wir haben EUROPA“ heißt es da, verziert mit wärmenden<br />
Schlagworten wie Rechtsstaat, Wahlrecht, Soziale Sicherung, Medizinische<br />
Versorgung, Frieden. Das sei „als Anregung im politischen und kulturellen<br />
Diskurs der Stadtgesellschaft“ zu sehen, sagt Lorenz: „Wir glauben, dass die<br />
anstehenden Herausforderungen der Menschen, sei es Pandemie oder Klimawandel,<br />
nur gemeinsam und solidarisch zu lösen sind.“ •<br />
25<br />
Warten auf<br />
den Neustart:<br />
Geschäfts führerin<br />
Ulrike Lorenz
Full House: 1200 Fans<br />
passen in die Fabrik –<br />
Jan Plewka spielt dort<br />
auch 2022 wieder!<br />
Weltstar Miles Davis, 1985<br />
Neue Fabrik mit Kran, seit 1979<br />
Abgebrannte Gemäuer, 1977<br />
Der Chronist<br />
Maler, Grafiker, Fotograf und Verleger Denis Brudna<br />
Richtung Jahresende, sagt Denis Brudna, wird es kreative Arbeitsgruppen und das Fotoforum, das im Laufe der Zeit in<br />
wohl mindestens werden. Wenn er es tatsächlich der Fabrik und anderen Orten über 370 Fotoausstellungen präsentiert<br />
hat. Auch privat war er mit Horst Dietrich recht eng verbunden.<br />
schafft, möchte der langjährigste Mitarbeiter der<br />
Fabrik (1971–2019) im Eigenverlag (Photonews) Er erinnert sich aber auch an heftige Richtungsstreits mit manchen<br />
eine Chronik der Geschichte dieses magischen Mitarbeiter:innen, denen Dietrich oft schon zu kommerziell agierte.<br />
Ortes fertig haben und Interessierten zum Kauf anbieten.<br />
Tausende Fotos hat er in seinem Privatarchiv, dieser Spannungen. 1974 kam es zur Kündigung einiger Festange-<br />
Zwei Streiks in den Jahren 1972 und 1976 sind beredtes Zeugnis<br />
die gesichtet werden müssen, langjährige Weggefährt:innen sollen stellter, die daraufhin ebenfalls in Ottensen das Stadtteil zentrum<br />
ein ungeschminktes Bild ihrer Fabrik-Zeit zeichnen dürfen. „Wir waren „Motte“ gründeten.<br />
Enthusiasten, haben selber Geld direkt und indirekt investiert und die Aber die Fabrik hielt alles und noch viel mehr aus, sogar den großen<br />
ersten Jahre uns keine richtigen Gehälter gezahlt“, erinnert sich Brudna<br />
an die Startjahre voller Energie, in denen programmatisch wild und Mark: „Wirtschaftlich war die Situation immer ziemlich angespannt,<br />
Brand von 1977 mit Wiederaufbaukosten von rund 4,6 Millionen<br />
gewollt dauerexperimentiert wurde.<br />
ohne Horst wäre die Fabrik nie wieder auferstanden.“ Brudna, daraus<br />
Initiiert und inspiriert wurde vieles durch den Gründer Horst Dietrich: macht er keinen Hehl, vermisst den Spirit des Gründers Dietrich:<br />
„Mit Horst konnte man wunderbar herumspinnen.“ Denis Brudna „Neue unorthodoxe Ideen – dafür sind jetzt die Leute nicht mehr da.<br />
kümmerte sich festangestellt vor allem um Werbung, verschiedene Es fehlt eine Vision.“<br />
•<br />
FARBFOTO OBEN: LUCJA ROMANOWSKA; S/W-FOTOS: DENIS BRUDNA<br />
26
Wir sind am<br />
Leben!<br />
Unser Rat<br />
zählt.<br />
Fan werden<br />
FOTO: PRIVAT<br />
Fisch findet Fahrrad<br />
Liebespaar Conny, 48, und Thomas, 52<br />
Wer vergisst schon den Ort, wo<br />
einen die Liebe magisch überfallen<br />
hat. „Es war Samstagabend,<br />
in unserer WG hatten alle<br />
noch Lust zu tanzen“, erinnert<br />
sich Conny. „Ein Freund und<br />
ich wollten einen Kumpel ans<br />
Thema Flirten ranbringen“,<br />
grinst Thomas. Ihr Ziel, genau wie das der WG am selben Abend:<br />
Hamburgs größte Single-Party „Fisch sucht Fahrrad“ in der Fabrik.<br />
Die ist in der Nacht zum 17. Oktober 2004 prall gefüllt. Die „F. s. F.“-<br />
Spielregel lautet, dass alle Gäste einen Aufkleber mit einer gut<br />
les baren Zahl tragen. Im ersten Stock der Fabrik sind Pinnwände<br />
aufgebaut, an denen Flirtwillige entsprechend bezifferte Nachrichten<br />
hinterlassen können. Conny aber ist das mit der Erkennungsnummer<br />
zu blöd, sie weigert sich: „Wer mich ansprechen will, kann das auch so<br />
tun.“ Als sie in einer Tanzpause auf dem Weg in den 1. Stock ist, wird sie<br />
auf der großen Treppe von einem Typ angeschnackt: „Hey, wo ist denn<br />
deine Nummer?“ Es ist Thomas, der in die Fabrik geht, seit er 18 ist, und<br />
der weiß, „dass die Treppe der strategisch günstigste Punkt ist“, um das<br />
gesamte Geschehen in der Fabrik bestmöglich im Auge zu haben.<br />
Die zwei verlieren sofort das Gefühl für Raum und Zeit, reden und<br />
reden. Und sie gestehen sich maximal lange nicht ein, dass sie beide<br />
ganz dringend auf die Toilette müssen – zu groß ist die Angst, dass der<br />
jeweils andere genau diesen Moment zur Flucht nutzt. „Das ist ja der<br />
Partyklassiker“, sagt Conny und lacht. Doch der Liebe kann niemand<br />
entkommen: Genau auf den Tag zehn Jahre und drei Kinder später<br />
werden Conny und Thomas Weinem heiraten. In die Fabrik gehen sie<br />
bis heute.<br />
•<br />
27<br />
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Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>340</strong>/JUNI <strong>2021</strong><br />
Meldungen (1)<br />
Politik & Soziales<br />
Kirchdorf-Süd<br />
Forderung nach<br />
dezentralen Impfungen<br />
1719 Infektionen, so viele wie<br />
in keinem anderen Hamburger<br />
Ortsteil, wurden im ersten<br />
Jahr der Coronapandemie in<br />
Kirchdorf-Süd gezählt. Seit<br />
Ende 2020 erkrankten 115<br />
Menschen schwer, 21 starben.<br />
Die Großwohnsiedlung liegt<br />
in Wilhelmsburg. Nur etwa<br />
jede:r sechste Bewohner:in im<br />
Bezirk Mitte lebt in Wilhelmsburg.<br />
Aber fast jede:r dritte<br />
Coronatote in dem Bezirk<br />
zwischen November 2020 bis<br />
Corona-Impfung für April <strong>2021</strong> stammt aus diesem<br />
Obdachlose im Stadtteil. Die AG Kirchdorf,<br />
Hotel Schanzenstern ein Netzwerk aus Schulen, Kitas,<br />
Jugendeinrichtungen und<br />
Beschäftigungsträgern, schlägt<br />
Hamburger Sozialbehörde<br />
deswegen Alarm und hat<br />
sich an den Senat gewandt.<br />
Mehr als 1100 Obdachlose geimpft<br />
Sie fordert dezentrale Impfangebote,<br />
wie sie die Poliklinik<br />
Die Impfkampagne für Obdachlose ist erfolgreich. Laut Sozialbehörde konnten bis<br />
Redaktionsschluss dieser Ausgabe am 21. Mai mehr als 1100 Menschen in Notunterkünften,<br />
Aufenthaltsstätten und Hotels gegen Corona geimpft werden. Damit ist mehr Veddel ermöglicht, und 2500<br />
bereits auf der benachbarten<br />
als die Hälfte der rund 2000 Menschen, die laut Behörde auf Hamburgs Straßen leben, bis 3000 Impfdosen extra<br />
vor einem schweren Verlauf der Krankheit geschützt. Eine frühzeitige Impfung für für ihren Stadtteil. „Die Menschen<br />
in Kirchdorf-Süd leben<br />
Obdachlose hatten die Ständige Impfkommission und der Deutsche Ethikrat gefordert,<br />
weil diese Menschen aufgrund ihrer Lebensumstände stärker als andere Bevölkerungsgruppen<br />
gefährdet seien. Obwohl ihre Priorisierungsgruppe bereits Mitte April voll<br />
einfach vergessen werden“,<br />
seit Langem damit, dass sie<br />
ständig zur Impfung aufgerufen wurde, erhielten Obdachlose erst verspätet die Chance heißt es in dem offenen Brief.<br />
zur Impfung. Die Sozialbehörde setzte auf das Vakzin von Johnson & Johnson, da dieses Viele Menschen würden<br />
nur einmal gespritzt werden muss. Die Lieferungen des US-amerikanischen Unternehmens beengt wohnen, prekären<br />
erreichten Deutschland schließlich Ende April. „Wir haben keinen Tag gezögert“,<br />
Beschäftigungen nachgehen<br />
sagte Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) gegenüber Hinz&Kunzt. Noch im selben und kaum Möglichkeiten fürs<br />
Monat wurden die ersten Obdachlosen in den Unterkünften des Winternotprogramms Homeoffice haben. Dadurch<br />
geimpft. Es folgten weitere Impfangebote in Aufenthaltsstätten und den Hotelstandorten, seien sie einem erhöhten<br />
in denen Hinz&Kunzt, Diakonie und Alimaus 130 Obdachlose zum Schutz vor Corona Risiko ausgesetzt. Bislang<br />
beherbergt hatten (siehe Foto). Allein in der Tagesaufenthaltsstätte in der Markthalle habe man aber lediglich ein<br />
am Hauptbahnhof wurden nach Angaben der Sozialbehörde an zwei Terminen rund Infomobil der Stadt gesichtet.<br />
400 Menschen immunisiert. Weitere Impfangebote sollen im <strong>Juni</strong> folgen.<br />
„Das ist nett, aber viel zu wenig.“<br />
Die Mitglieder der AG<br />
Vor dem Start der Impfungen war es im Winternotprogramm in Hammerbrook<br />
noch zu einem größeren Corona-Ausbruch gekommen: Insgesamt 71 Obdachlose<br />
befürchten, ohne zusätzliche<br />
und 17 Beschäftigte des städtischen Unterkunftsbetreibers Fördern & Wohnen hatten Impfangebote werde das<br />
sich infiziert. Zu einem „schweren Verlauf“ sei es aber glücklicherweise bei keiner der Virus „in Kirchdorf-Süd<br />
erkrankten Personen gekommen, so ein Behördensprecher. JOF<br />
•<br />
weiter grassieren“. JOF<br />
•<br />
FOTO: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
28
Krimi<br />
Investigativ journalist<br />
Oliver Schröm<br />
Amnesie im Amt<br />
Olaf Scholz kann sich im Cum-Ex-Untersuchungsausschuss<br />
an nichts erinnern. Alles „völlig korrekt“?<br />
TEXT: OLIVER SCHRÖM<br />
FOTO: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />
ILLUSTRATION KRUMM-EX-COMIC: ISABEL KREITZ<br />
Die Schlagzeilen sind niederschmetternd<br />
für Olaf Scholz:<br />
„Erinnerungsschwächen eines<br />
Kanzlerkandidaten“ oder „Der Mann<br />
ohne Erinnerung“ urteilt die Presse<br />
selten einhellig über den Auftritt des<br />
Vizekanzlers im Hamburger Untersuchungsausschuss<br />
„Cum-Ex-Steuerskandal“<br />
am 30. April.<br />
Zur Erinnerung: Die Hamburger<br />
Privatbank Warburg soll zwischen 2007<br />
und 2011 mit Cum-Ex-Aktiendeals<br />
rund 170 Millionen Euro aus der Stadtkasse<br />
geplündert haben. Anfang 2016<br />
durchsucht deswegen die Staatsanwaltschaft<br />
das Geldinstitut und ermittelt<br />
gegen Bankmitarbeiter:innen sowie<br />
die Mitinhaber Max Warburg und<br />
Christian Olearius wegen schwerer<br />
Steuerhinterziehung.<br />
Das Finanzamt wird ebenfalls aktiv,<br />
nimmt die dunklen Aktiengeschäfte der<br />
Bank unter die Lupe. Das Ergebnis: Ein<br />
Teil des Geldes scheint weg, die Ansprüche<br />
der Stadt verjährt. Den anderen<br />
Teil möchte das Finanzamt zurück.<br />
Eile ist geboten. Ende 2016 würde ein<br />
weiterer Teilbetrag verjähren, 47 Millionen<br />
Euro aus dem Steuerjahr 2009.<br />
Im Oktober 2016 schickt das<br />
Finanzamt einen 28-seitigen Bericht an<br />
die vorgesetzte Finanzbehörde, dazu<br />
einen Ordner und eine CD mit<br />
Gutachten. Am Ende des Schreibens<br />
„bittet das FA (Anm.: Finanzamt) um die<br />
Zustimmung“, die Millionen zurückfordern<br />
zu dürfen.<br />
Die Bankmitinhaber Warburg und<br />
Olearius sehen keinen Grund, die<br />
Steuer millionen zurückzuzahlen. Sie<br />
wenden sich vertrauensvoll an Olaf<br />
Scholz, damals Erster Bürgermeister.<br />
Sie suchen Scholz binnen weniger<br />
Wochen zwei Mal im Rathaus auf,<br />
zuletzt am 26. Oktober 2016,<br />
und übergeben dem SPD-<br />
Politiker eine siebenseitige<br />
Unterlage zu dem Steuerverfahren.<br />
Am 9. November<br />
ruft Scholz bei Olearius<br />
an, fordert ihn auf, die<br />
Unterlage auch an Peter<br />
Tschentscher zu schicken, damals<br />
Finanzsenator der SPD und heute<br />
Bürgermeister. Olearius folgt dem Rat<br />
von Scholz. Acht Tage später ist das<br />
Problem erledigt. In Tschentschers<br />
Finanzbehörde wird entschieden, die<br />
Millionen nicht zurückzu fordern.<br />
Scholz betont heute, keinen Einfluss<br />
auf die Entscheidung der Finanzverwaltung<br />
genommen zu haben.<br />
Die Vorgänge rund um die Entscheidung<br />
beschreibt Olearius in<br />
seinem Tagebuch, auch die Treffen mit<br />
Scholz. Die ledergebundenen Kladden<br />
beschlagnahmen Ermittler:innen, als<br />
sie die Villa des Bankiers durchsuchen.<br />
Nachdem im September 2020 mehrere<br />
Medien über die Vorgänge berichten,<br />
richtet die Bürgerschaft einen Parlamentarischen<br />
Untersuchungsausschuss<br />
ein. Der geht der Frage nach: Haben<br />
Scholz und Tschentscher politisch Einfluss<br />
genommen auf die Entscheidung<br />
der Finanzverwaltung zugunsten der<br />
Privatbank? Scholz versichert: „Ich<br />
habe mich völlig korrekt verhalten.“<br />
Fünf lange Stunden befragen ihn<br />
am 30. April die Abgeordneten. Die<br />
Treffen mit Olearius sind nicht nur in<br />
dessen Tagebuch festgehalten, sondern<br />
auch im Dienstkalender von Scholz.<br />
Aber im Gedächtnis des Kanzlerkandidaten<br />
scheinen die Vorgänge gelöscht.<br />
Mehr als 20-mal bekommen die<br />
Abgeordneten ähnlich lautende Sätze<br />
zu hören, Tenor: „Ich habe keine<br />
eigene Erinnerung.“ •<br />
29
Krimi<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>340</strong>/JUNI <strong>2021</strong><br />
alles<br />
egal …äh,<br />
legal!<br />
Aus dem Leben eines Hanseaten, nicht real, aber gut erfunden!<br />
was bisher geschah …<br />
hamburg lässt sich sein traditions-geldhaus etwas kosten und<br />
verzichtet auf eine zwei-stellige MilLionen-Forderung!<br />
doch in berlin wird nichts verschenkt! der oberste steuerbeamte der<br />
republik spricht ein machtwort:<br />
dieses jahr muss die humbug-bank mehrere miLlionen zurückzahlen!<br />
da kann auch der bürgermeister nicht helfen! Oder doch?<br />
na, erstmal ist Wochenende!<br />
nicht<br />
nachlassen,<br />
herr casparius!<br />
schatz,<br />
die baumschneider<br />
sind da!<br />
entschuldigen<br />
sie, herr Hübenecker,<br />
ist wichtig!<br />
ohne die<br />
fällgenehmigung<br />
kann ich gar nichts<br />
machen, herr<br />
casparius! tut<br />
mir leid!<br />
das<br />
ist doch<br />
unerhört!<br />
der baum<br />
versperrt mir<br />
die aussicht!<br />
auf meinem<br />
grund und boden<br />
um erlaubnis<br />
bitten? wo<br />
komMen wir<br />
denn da hin?<br />
30
Krimi<br />
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
landschaftsschutzgesetz!<br />
beschweren<br />
sie sich bei der<br />
umweltbehörde!<br />
der behördenchef<br />
und ich, wir<br />
spielen jede woche<br />
zusammen Golf!<br />
wenn ich<br />
dem einen brief<br />
schreibe, kriegt ihre<br />
firma in dieser stadt<br />
nicht mal mehr einen<br />
auftrag zum laubharken!<br />
so? dann<br />
passen sie mal<br />
auf!<br />
und<br />
unserem lieben<br />
herrn bürgermeister<br />
schicken wir eine kiste<br />
rotwein, zum amtsantritt<br />
als finanzminister!<br />
wunderbar<br />
hast du<br />
das gemacht,<br />
schatz!<br />
Tjahaaa!!<br />
Und jetzt schreib<br />
ich diesem steuerbeamten<br />
in berlin<br />
einen brief!<br />
bin<br />
gerade so in<br />
schwung!<br />
dem werde<br />
ich mal verdeutlichen,<br />
wie<br />
kurz mein draht<br />
zu seinem neuen<br />
vorgesetzten<br />
ist!<br />
mein<br />
held!<br />
… wird die bewährte methode auch die<br />
finanzieLle aussicht des herrn casparius<br />
verbessern?<br />
fortsetzung folgt …<br />
31
Stadtgespräch<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>340</strong>/JUNI <strong>2021</strong><br />
Meldungen (2)<br />
Politik & Soziales<br />
Im Sommer 2019<br />
wurde die Schauenburgerstraße<br />
für<br />
einige Wochen zur<br />
autofreien Zone.<br />
sagt SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf. JOF<br />
•<br />
Zukunftspläne<br />
Das Herz der Stadt<br />
Weniger Autos, mehr Kultur, Vielfalt und vor allem Platz zum Wohnen:<br />
So lauteten die Wünsche der Hinz&Kunzt-Experten, die in unserer Dezember-<br />
Ausgabe 2020 ihre Pläne zur Rettung der City präsentierten. Zielsetzungen,<br />
die sich jetzt auch Handelskammer und SPD-Fraktion auf die Fahne schreiben.<br />
Während die Handelskammer beispielsweise von einer neuen Markthalle und<br />
einem Wasserlauf in der Mönckebergstraße träumt, verweist die SPD auf den<br />
bereits reduzierten Autoverkehr in der „Mö“ und am Jungfernstieg. Außerdem<br />
stelle man 50 Millionen Euro für attraktive Plätze und Aktivitäten in der City zur<br />
Verfügung. „Unser Ziel ist ein lebendiger Ort für alle Menschen in unserer Stadt“,<br />
Kirchliche Beratungsstelle<br />
Hamburger Verkehrsverbund<br />
Asylverfahren aussetzen<br />
HVV-Ticket statt Sozialkarte<br />
Solange Corona unser Leben bestimmt,<br />
sollten Asylverfahren ausge-<br />
Abokarten für Hartz-IV- und andere<br />
Die Sozialbehörde bezuschusst HVVsetzt<br />
werden: Das fordert die Hamburger<br />
Beratungsstelle Fluchtpunkt. Euro pro Monat. Bislang mussten<br />
Leistungsempfänger:innen mit 22,60<br />
Staatliche Stellen ignorierten die Pandemie,<br />
beklagt die kirchliche Hilfs-<br />
immer neben der Monats- auch ihre<br />
diese bei einer Fahrkartenkontrolle<br />
einrichtung. Die Behörde erlasse Bescheide<br />
mit kurzer Rechtsmittelfrist, nun geändert: Seit Anfang April müs-<br />
Sozialkarte vorzeigen. Das hat sich<br />
obwohl derzeit nur schwer Rechtsrat sen Anspruchsberechtigte nur noch<br />
zu erhalten sei. Ärztliche Atteste bei der Bestellung ihre Bedürftigkeit<br />
würden gefordert, „ohne Rücksicht darlegen und bekommen dann vergünstigt<br />
eine normale Abokarte, wie<br />
da rauf, dass das Gesundheitssystem<br />
ohnehin schon überlastet ist“. UJO<br />
•<br />
sie auch alle anderen erhalten. JOF<br />
•<br />
Grundsicherung<br />
Forscher fordert umfassende<br />
Reform des Hilfesystems<br />
Das Hilfesystem in Deutschland muss<br />
grundlegend reformiert werden.<br />
Das ist das Ergebnis einer Studie des<br />
ifo Instituts im Auftrag der Stiftung<br />
Grundeinkommen. Es gebe rund 175<br />
Bestimmungen zur Grundsicherung,<br />
so Studienautor Andreas Peichl:<br />
„Das System ist zu kompliziert und<br />
wirkt, als wäre es gemacht, um es<br />
den Empfängern schwer zu machen.<br />
Denn der Staat spart zwischen<br />
6 und 10 Milliarden Euro im Jahr,<br />
weil Berechtigte im Antragsdschungel<br />
abgeschreckt werden.“ Das sei seit<br />
Jahrzehnten so. Studien zufolge<br />
nehmen vier von zehn Hilfeberechtigten<br />
diese nicht in Anspruch. UJO<br />
•<br />
Mehr Infos unter<br />
www.huklink.de/grundsicherungsreform<br />
Obdachlosenhilfe<br />
Streit um Housing First<br />
Ein von Rot-Grün bereits Anfang<br />
2020 beschlossenes Housing-First-<br />
Projekt für Hamburg lässt auf sich<br />
warten. Im Mai forderten deswegen<br />
Linke und CDU in der Bürgerschaft<br />
erneut dessen Umsetzung. Die Idee<br />
dahinter: Obdachlose erhalten<br />
Wohnungen, ohne erst beweisen zu<br />
müssen, dass sie selbstständig wohnen<br />
können. Zuvor hatten Hamburger<br />
Sozialverbände im Februar der<br />
Sozialbehörde ihre Pläne präsentiert.<br />
Doch im rot-grünen Haushaltsentwurf<br />
sind bislang keine Mittel für das<br />
Modellprojekt vorgesehen. Trotzdem<br />
werde Housing First in Hamburg<br />
umgesetzt, versicherte Mareike Engels,<br />
sozialpolitische Sprecherin der<br />
Grünen. Das Versprechen von 2020<br />
sei „nicht nur Wahlkampfgetöse“.<br />
Die Grünen-Politikerin versprach,<br />
entsprechende Änderungen im<br />
Haushalt zu beantragen. BELA/JOF<br />
•<br />
FOTO: ANDREAS LAIBLE/HAMBURGER ABENDBLATT<br />
32
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Armuts- und Reichtumsbericht<br />
Die Verhältnisse sind zementiert<br />
Die Reichen mehren ihren Wohlstand, die Armen knapsen weiter rum: Das ist<br />
zugespitzt formuliert das Ergebnis des neuen Armuts- und Reichtumsberichts der<br />
Bundesregierung. So stieg der Anteil der oberen 10 Prozent der Bevölkerung am<br />
Nettogesamtvermögen von 59 auf fast 64 Prozent. Gleichzeitig, so Arbeitsminister<br />
Hubertus Heil (SPD), „müssen wir feststellen, dass sich in den letzten Jahrzehnten<br />
eine Verfestigung von Armutslagen ergeben hat“. Der Sozialverband<br />
VdK erklärte, wenn die Bundesregierung Armut wirklich bekämpfen wolle, müsse<br />
sie die Betroffenen „ermächtigen, sich aus der Hilfebedürftigkeit zu befreien“.<br />
Konkret bedeute das: den sozialen Arbeitsmarkt auszubauen, einen Anspruch<br />
auf Qualifizierung und Weiterbildung einzuführen, prekäre Beschäftigung abzuschaffen,<br />
den Mindestlohn auf 13 Euro zu erhöhen, eine Kindergrundsicherung<br />
einzuführen und die Regelsätze so anzuheben, dass sie soziale Teilhabe ermöglichen.<br />
„Es reicht nicht aus, Milliarden in die Wirtschaft zu pumpen.“ UJO<br />
•<br />
Mehr Infos unter www.armuts-und-reichtumsbericht.de<br />
ANKER<br />
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Immobilienmarkt<br />
Wohnungspolitik<br />
Mietpreise fallen erstmalig<br />
Auch wenn die Mieten in Hamburg<br />
laut einer aktuellen Untersuchung<br />
zuletzt leicht gesunken sind: Nach<br />
wie vor müssen Wohnungssuchende<br />
tief in die Tasche greifen. Der<br />
Qua dratmeterpreis in Wohnungsannoncen<br />
lag in diesem Frühjahr bei<br />
13,40 Euro. Das geht aus einer Studie<br />
von Schüler:innen des Gymnasiums<br />
Ohmoor hervor. Rückblickend wird<br />
deutlich: Zwischen 2012 und 2018<br />
schoss der Quadratmeterpreis<br />
von durchschnittlich 11,34 Euro auf<br />
13,24 Euro in die Höhe. Seitdem<br />
stagnieren die Preise weitgehend.<br />
<strong>2021</strong> lagen die Angebotsmieten sogar<br />
um durchschnittlich 5 Cent unter den<br />
Preisen des Vorjahrs. „Die aktuelle<br />
Atempause für Hamburgs Mieterhaushalte<br />
dürfte überwiegend auf<br />
die Coronapandemie und das<br />
schwindende Zahlungsvermögen der<br />
Wohnungsinteressenten zurückzuführen<br />
sein“, sagt Siegmund Chychla.<br />
Der Vorsitzende des Mietervereins zu<br />
Hamburg fordert den Bau von mehr<br />
Sozialwohnungen. Bei Neubauprojekten<br />
solle ihr Anteil mehr als<br />
50 Prozent betragen. JOF<br />
•<br />
Gesetz gegen Spekulation<br />
Hamburg kann künftig wirkungsvoller<br />
gegen Spekulation mit Bauland<br />
und Wohnraum vorgehen. Ein entsprechendes<br />
Gesetz brachte die Große<br />
Koalition in Berlin nach langem<br />
Streit auf den Weg. So können Kommunen<br />
künftig Baugebote verhängen<br />
oder Grundstücke übernehmen,<br />
wenn mit diesen nur spekuliert wird.<br />
In Innenstädten sollen die Behörden<br />
geförderten Wohnungsbau vorschreiben<br />
können. Zudem erschwert das<br />
neue Gesetz die Umwandlung von<br />
Miet- in Eigentumswohnungen in<br />
Gebieten mit „angespannten Wohnungsmärkten“.<br />
Als solches solle das<br />
gesamte Stadtgebiet gelten, erklärte<br />
die Stadtentwicklungsbehörde auf<br />
Nachfrage. Umwandlungen würden<br />
künftig „nur in seltenen Ausnahmefällen<br />
erlaubt werden“. Wie genau<br />
die neuen Regeln aussehen, war bei<br />
Redaktionsschluss unklar, da die<br />
Zustimmung des Bundesrates zum<br />
Gesetz noch ausstand. UJO<br />
•<br />
Mehr Infos und Nachrichten unter:<br />
www.hinzundkunzt.de<br />
Hinz&Kunzt bietet obdachlosen<br />
Menschen Halt. Eine Art<br />
Anker für diejenigen, deren<br />
Leben aus dem Ruder<br />
gelaufen ist. Möchten Sie<br />
uns dabei unterstützen und<br />
gleichzeitig den Menschen,<br />
die bei Hinz&Kunzt Heimat und<br />
Arbeit gefunden haben, helfen?<br />
Dann hinterlassen Sie etwas<br />
Bleibendes – berücksichtigen<br />
Sie uns in Ihrem Testament! Als<br />
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für den Halt, den Sie den<br />
sozial Benachteiligten mit Ihrer<br />
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Geschäfts führer Jörn Sturm.<br />
Tel.: 040/32 10 84 03<br />
oder Mail: joern.sturm@hinzundkunzt.de<br />
33
Armin Laschet im<br />
Konrad-Adenauer-Haus<br />
in Berlin vor Porträts von<br />
Parteichefs der CDU<br />
„Bargeld ist ein<br />
Freiheitsrecht“<br />
Armin Laschet, Kanzlerkandidat der Union,<br />
über bezahlbare Wohnungen, Housing First<br />
für Obdachlose – und Cent-Münzen<br />
TEXT: ANNETTE BRUHNS<br />
FOTOS: MAURICE WEISS/OSTKREUZ
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Hinz&Kunzt: Herr Laschet, die Zahl<br />
der Obdachlosen wächst exponentiell:<br />
Sie hat sich in Hamburg genauso<br />
verdoppelt wie im kleinen Rain am Lech.<br />
Nehmen Sie diese Verelendung wahr?<br />
Armin Laschet: Ja, das ist ein Problem,<br />
an dem Politik arbeiten muss. Ich selbst<br />
bin seit Jahren mit einer Wohnungslosen-Initiative<br />
in Aachen verbunden,<br />
Café Plattform. Da merkt man, dass es<br />
nicht nur um die Frage geht, ob eine<br />
Wohnung da ist oder nicht, sondern um<br />
sehr individuelle Lebensgeschichten.<br />
Wir brauchen mehr als nur ein Wohnungsbauprogramm,<br />
um Menschen da<br />
herauszuhelfen.<br />
Die Verelendung ist auch ein Ergebnis<br />
von Armutszuwanderung: Gut zwei<br />
Drittel der Betroffenen haben einen<br />
EU-Pass – aber keinen deutschen.<br />
Sie haben mal gesagt, die EU sei keine<br />
„Sozialunion“; der Staat solle Arbeitsmigrant:innen<br />
nicht dieselben Sozialleistungen<br />
bieten wie Deutschen.<br />
„drObs“ aus Dresden glaubt, Ihr Ansatz<br />
habe das Problem noch verschärft …<br />
… ich habe nur das europäische Recht<br />
erläutert. Für soziale Leistungen ist zunächst<br />
der Mitgliedsstaat zuständig, aus<br />
dem jemand stammt. Man kann zur<br />
Arbeitsaufnahme nach Deutschland<br />
kommen, aber man kann nicht einwandern<br />
und sofort Leistungen in Anspruch<br />
nehmen. Das ist nicht das Konzept der<br />
Europäischen Union.<br />
Aber was soll dann geschehen, damit<br />
Wanderarbeiter:innen nach Einsätzen in<br />
der Landwirtschaft oder auf Baustellen,<br />
die zu keinen Sozialleistungen berechtigen,<br />
nicht auf der Straße landen?<br />
Die Obdachlosigkeit nimmt nicht nur<br />
durch Zuwanderung aus Mittel- und<br />
Osteuropa zu …<br />
… sagen wir es so: Die wenigen<br />
Zahlen, die wir haben, legen nahe,<br />
dass Zuwanderung entscheidend<br />
dazu beiträgt. In Hamburg waren 2009<br />
mehr als 70 Prozent aller Obdachlosen<br />
deutsch. Bei der letzten Zählung, 2018,<br />
hatte sich die Zahl der Betroffenen fast<br />
verdoppelt – und zwei Drittel waren<br />
Nichtdeutsche.<br />
Der Ausweg kann nicht sein, dass jeder,<br />
der innerhalb der Europäischen Union<br />
einreist, automatisch Anspruch auf<br />
Leistungen hat. Das würde das deutsche<br />
Sozialsystem überfordern.<br />
Welche Lösungen schlagen Sie vor?<br />
Dortmund hatte das Problem massiv:<br />
mit vielen Menschen, die in illegale,<br />
ausbeuterische Arbeitsverhältnisse vermittelt<br />
worden waren. Sie wurden teilweise<br />
in Schrottimmobilien untergebracht,<br />
manchen wurden Kreditkarten<br />
und Pässe abgenommen. Kurz: Es gab<br />
ein kriminelles Umfeld, das eine große<br />
soziale Frage zur Folge hatte. Dortmund<br />
hat reagiert, indem die Stadt<br />
die Schrottimmobilien stillgelegt und legale<br />
Arbeitsmöglichkeiten geschaffen<br />
hat. Tariflohn, Mindestlohn, Arbeitslosenversicherung<br />
– all das, was unser<br />
Land an Sozialabsicherung vorsieht,<br />
muss natürlich auch für legal Beschäftigte<br />
aus Südosteuropa gelten.<br />
„Staatlich geplanter<br />
Wohnungsbau führt<br />
nicht zu mehr<br />
menschenwürdigem<br />
Wohnraum.“<br />
In Europa gelingt es offenbar nur<br />
Finnland, Obdachlosigkeit zu verringern:<br />
durch „Housing First“, die bedingungslose<br />
Vermittlung von Wohnraum.<br />
Ihr Sozialminister Karl-Josef Laumann<br />
hat ein Modellprojekt in Nordrhein-<br />
Westfalen zuletzt als „vollen Erfolg“<br />
bezeichnet. Würden Sie als Kanzler<br />
Housing First in ganz Deutschland<br />
einführen?<br />
Das entscheiden die Länder, der Bund<br />
kann nur Impulse setzen. Jedes Land<br />
muss auf die Situation vor Ort eine<br />
Antwort finden. Die ist im Ruhrgebiet<br />
im Zweifel anders als in Köln, auf dem<br />
Land anders als in Städten. Housing<br />
First ist in Nordrhein-Westfalen ein<br />
Modellprojekt. Wenn es gut funktioniert,<br />
und den Eindruck habe ich, kann<br />
es natürlich eine Blaupause sein für andere<br />
in Deutschland.<br />
In vielen Städten werden Obdachlose<br />
durch Ordnungsdienste brutal<br />
35<br />
20 Straßenzeitungen &<br />
5 Spitzenkandidat:innen:<br />
Die CDU ist die vierte demokratische<br />
Partei im Bundestag, deren<br />
Spitzenvertreter:in wir vor der Wahl zur<br />
sozialen Agenda befragen. Wir sind:<br />
abseits, Asphalt, BISS, bodo, die straße,<br />
Donaustrudl, draußen, DRAUSSEN<br />
SEITER, drObs, fiftyfifty, Frei-e-Bürger,<br />
Guddzje, Hempels, Hinz&Kunzt, Jerusa <br />
l mmer, KARUNA Kompass, KiPPE,<br />
RISS, Straßenkreuzer, Trott-war.<br />
ver trieben. Grundlage sind Straßensatzungen,<br />
die „aggressives Betteln“,<br />
„Lagern“ und „störenden Alkoholgenuss“<br />
verbieten. Was halten Sie als<br />
ehemaliger Integrationsminister von<br />
so viel Intoleranz?<br />
Da geht es um schwierige Abwägungen<br />
zwischen der öffentlichen Ordnung und<br />
der Möglichkeit, sich irgendwo aufzuhalten<br />
und sein Leben zu leben. Ich würde<br />
mir einerseits eine tolerante Handhabung<br />
der Gesetzeslage wünschen, vor<br />
allem aber, immer den Menschen im<br />
Blick zu behalten, um den es da geht.<br />
Apropos Betteln: Die Finanzexpertin<br />
der CDU, Antje Tillmann, hält mindestens<br />
die kleinen Münzen für überflüssig.<br />
Geben Sie uns hier und heute eine<br />
Garantie, dass mit Ihnen das Münzgeld<br />
erhalten bleibt?<br />
Ja! Soweit ich das kann und das nicht<br />
die Europäische Zentralbank entscheidet.<br />
Ich finde selbst eine Ein-Cent-<br />
Münze zeitgemäß. Bargeld ist ein<br />
Freiheitsrecht.<br />
Das Verfassungsgericht hat gerade<br />
Berlins Mietendeckel gekippt: Für das<br />
Mietpreisrecht sei der Bund zuständig.<br />
Mit welchem Konzept gegen überteuerte<br />
Mieten ziehen Sie in den Wahlkampf?<br />
Die Erfahrung aus gut 70 Jahren Bundesrepublik<br />
lehrt: Staatlich geplanter<br />
und kontrollierter Wohnungsbau führt<br />
nicht zu mehr bezahlbarem, menschenwürdigem<br />
Wohnraum. Was wir brauchen,<br />
ist aus Landes- und Bundesmitteln<br />
geförderter Sozialwohnungsbau<br />
und dazu Anreize für mehr Wohnungsbau,<br />
besonders in überhitzten Gebieten<br />
wie Berlin. Der Mietendeckel hat das
Gegenteil bewirkt. Es wurde noch nie<br />
so wenig in Berlin gebaut wie jetzt. Er<br />
war das falsche Mittel für das richtige<br />
Ziel: Auch in Metropolen muss für<br />
jeden eine Wohnung bezahlbar sein;<br />
Menschen sollten nicht aufs Land<br />
ziehen müssen.<br />
Was wären das für Anreize? Steuererleichterungen<br />
für Vermieter:innen?<br />
Die bräuchte es nicht. Sobald man<br />
Flächen ausweist, wo gebaut werden<br />
kann, wird auch gebaut. Wohnungsbau<br />
ist attraktiv als Anlageobjekt, nur muss<br />
man Regeln haben gegen überhöhte<br />
Mietkostensteigerungen.<br />
Eine Frage von „Asphalt“ aus Hannover:<br />
Angenommen, ich hangle mich von<br />
einem befristeten Arbeitsvertrag<br />
zum nächsten, wohne zur Miete und<br />
mache mir Sorgen um die Zukunft,<br />
auch wegen des Klimawandels.<br />
Weshalb sollte ich die CDU wählen?<br />
Um zu mehr wirtschaftlichem Wachstum<br />
und damit zu mehr Arbeitsplätzen<br />
zu kommen! Vor der Pandemie haben<br />
wir ohne Steuererhöhungen mehr<br />
Steuer einnahmen gehabt – weil die<br />
Wirtschaft gewachsen ist. Dies wieder<br />
herzustellen, wird wegen des Klimawandels<br />
zur doppelten Herausforderung.<br />
Wir wollen bis zur Mitte des Jahrhunderts<br />
mit marktwirtschaftlichen<br />
Anreizen Deutschlands Klimaneutralität<br />
hinbekommen. Die CO 2<br />
-Besteuerung<br />
– also dem klimaschädlichen CO 2<br />
einen höheren Preis zu geben – wird zu<br />
Innovationen führen, die wiederum für<br />
neue Arbeitsplätze sorgen. Und: Die<br />
CDU kümmert sich nicht nur um guten<br />
Klimaschutz, sondern auch um die<br />
soziale Frage.<br />
Mehr Einfamilienhäuser bedeuten<br />
pro Person deutlich mehr CO 2<br />
-Ausstoß<br />
als andere Wohnformen – trotzdem<br />
fördert die Union diesen Traum.<br />
Ist das nicht rückwärtsgewandt?<br />
Ich glaube, dass es gut ist, wenn Menschen<br />
auch mit kleineren oder mittleren<br />
Einkommen die Chance haben, Eigentum<br />
zu erwerben. Das Baukindergeld<br />
soll dies kinderreichen Familien erleichtern<br />
und damit zugleich zur Altersvorsorge<br />
beitragen. Welche Flächen<br />
in einer dicht bebauten Stadt dafür infrage<br />
kommen, muss natürlich die<br />
Kommune entscheiden. Aber generell<br />
gegen Einfamilienhäuser anzutreten,<br />
weil sie CO 2<br />
-schädlich seien, ist nicht<br />
die Politik der CDU.<br />
Armutsforscher wie Christoph Butterwegge<br />
halten das Baukindergeld aber<br />
auch aus sozialen Gründen für eine<br />
fehlgeleitete Subvention: Es helfe nicht<br />
den Familien, die in Ballungsgebieten<br />
keine Wohnung finden.<br />
Das ist ja auch gar nicht die Absicht! Es<br />
ist für die Familien gedacht, die theoretisch<br />
die Chance hätten, Eigentum zu<br />
36<br />
erwerben, aber nicht zu den Großverdienern<br />
gehören. Es ist aber kein<br />
Mittel, um Wohnungsnot in einer<br />
Großstadt zu lindern.<br />
Eine Kanzlerin Baerbock würde die<br />
Steuern und Abgaben für Vermögende<br />
erhöhen, um das Geld umzuverteilen.<br />
Gehen Sie da mit?<br />
Jetzt geht es doch um die Frage, wie<br />
kann und wird es uns gelingen, die<br />
Folgen der Pandemie zu bewältigen,<br />
wie bringen wir Menschen aus Kurzarbeit,<br />
wie erhalten wir Arbeitsplätze<br />
und schaffen neue. Das gelingt sicher<br />
nicht mit Steuererhöhungen. Das Problem<br />
einer Vermögenssteuer ist doch,<br />
dass sie besonders den Mittelstand trifft.<br />
Also die vielen Familienunternehmen,<br />
die Arbeitsplätze schaffen und erhalten.<br />
Das wäre jetzt die falsche Antwort gerade<br />
auch für die vielen Arbeitnehmerinnen<br />
und Arbeitnehmer, die in diesen<br />
Betrieben arbeiten.<br />
Die Grünen wollen das Ehegattensplitting<br />
abschaffen, das nach wie<br />
vor die Alleinverdiener-Ehe fördert.<br />
Warum sollte die Republik an diesem<br />
Steuermodell festhalten?<br />
Erstens entscheiden Ehepaare selbst,<br />
wie sie die Familienarbeit aufteilen.<br />
Zweitens würde, wenn Sie das so pauschal<br />
abschaffen, eine ganze Generation<br />
der heute Älteren nachträglich bestraft<br />
werden. Deshalb finde ich die Weiterentwicklung<br />
des Ehegattensplittings zu<br />
einem Familiensplitting gerechter.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Stadtgespräch<br />
Und was bedeutet das für<br />
Alleinerziehende?<br />
Ein Familiensplitting würde die Kinder<br />
unabhängig vom Status der Eltern steuerlich<br />
berücksichtigen. Für Alleinerziehende<br />
ist die Vereinbarkeit von Familie<br />
und Beruf besonders wichtig. Eine gute<br />
Kinderbetreuung ist für sie existenziell,<br />
und zwar nicht nur von Ein- bis Sechsjährigen,<br />
sondern auch für Grundschulkinder.<br />
Wir wollen möglichst bis zum<br />
Sommer den Anspruch auf Grundschulkinderbetreuung<br />
rechtlich verankern.<br />
Laut Ihrer Partei soll gute Bildung Hartz-<br />
IV-Karrieren verhindern. Als Kanzler<br />
könnten Sie den Ländern freilich wenig<br />
vorschreiben; den Ministerpräsidenten<br />
fragen wir, was bisher falsch gelaufen<br />
ist: Woher kommt die große Bildungsungleichheit<br />
in Deutschland?<br />
Das ist ein Thema, das mich seit vielen<br />
Jahren umtreibt. Ich habe dazu ein<br />
Buch geschrieben, „Die Aufsteigerrepublik“.<br />
Die eigentliche soziale Frage<br />
lautet: Aufstieg unabhängig von der<br />
Herkunft der Eltern zu ermöglichen.<br />
Das betrifft viele Kinder mit einer Einwanderungsbiografie,<br />
wenn die Eltern<br />
nicht gut Deutsch sprechen. Aber auch<br />
in deutschen Familien mangelt es teilweise<br />
an guten Sprachkenntnissen.<br />
Deshalb brauchen wir frühkindliche<br />
Sprachförderung, Ganztagsangebote –<br />
und durchlässige Schulen, die etwa<br />
den Wechsel von der Realschule zum<br />
Gymnasium jederzeit ermöglichen. Ich<br />
kenne viele Karrieren, gerade aus Einwandererfamilien,<br />
die in der Hauptschule<br />
begonnen und zum Abitur<br />
geführt haben. Der Anteil an Abiturientinnen<br />
und Abiturienten mit Zuwanderungsgeschichte<br />
steigt von Jahr zu Jahr.<br />
In der Pandemie wurden Laptops an<br />
Schüler:innen in einem Land verteilt,<br />
in dem es vielerorts noch an der<br />
Mobilfunk versorgung hapert. Wieso<br />
rangiert das Merkel-Deutschland in Sachen<br />
Netzausbau noch hinter Albanien?<br />
Wir sind da nicht gut genug. In Nordrhein-Westfalen<br />
haben wir jetzt Verträge<br />
mit den großen Telekommunikationsunternehmen<br />
gemacht, um den Ausbau<br />
zu beschleunigen.<br />
„Für ein Kind, das in<br />
einer Zweizimmerwohnung<br />
lebt, ist der<br />
Präsenzunterricht die<br />
Chance auf Aufstieg.“<br />
Ihre Coronapolitik wirkte im Gegensatz<br />
zu der Ihres bayerischen Amts kollegen<br />
Markus Söder schlingernd …<br />
… wieso ist es schlingernd zu sagen,<br />
Kinder und Jugendliche sollen wieder<br />
in die Kitas und Schulen, wenn die Infektionszahlen<br />
sinken? Das war der große<br />
Streit des Jahres 2020. Für ein Kind,<br />
das mit Geschwistern in einer Zweioder<br />
Dreizimmerwohnung lebt, ist der<br />
Präsenzunterricht die Chance, um den<br />
Aufstieg zu schaffen. Wir werden uns<br />
nach der Pandemie intensiv um die<br />
Kinder kümmern müssen, gerade um<br />
diejenigen aus schwierigen sozialen<br />
Verhältnissen, damit kein Kind aufgrund<br />
der Pandemie zurückbleibt.<br />
Meine Haltung war klar: Neben den<br />
Inzidenzzahlen müssen auch die Schäden<br />
in den Blick genommen werden,<br />
die Schulschließungen anrichten.<br />
Dieses Jahr hatten wir eine Phase mit<br />
explodierenden Infektionszahlen, mit<br />
der britischen Mutante sogar mit höheren<br />
Ansteckungsraten bei Kindern. Da<br />
muss man eine andere Antwort geben<br />
als im Jahr zuvor.<br />
37<br />
Der umstrittene Ex-Verfassungsschutzchef<br />
Hans-Georg Maaßen hat auf Twitter<br />
schon Corona mit Grippe verglichen.<br />
Was bedeutet seine Bundestagskandidatur<br />
für Ihre Kanzlerkandidatur?<br />
Gar nichts. Corona ist gefährlich. Tausende<br />
Menschen haben ihr Leben verloren<br />
wegen dieser Pandemie. Punkt.<br />
Ansonsten gehe ich davon aus, dass<br />
Herr Maaßen seinen Beitrag für den<br />
Erfolg der Union leisten wird. Wir<br />
werden mit der AfD weder reden, noch<br />
kooperieren, diese Regeln gelten auch<br />
für Herrn Maaßen. Das weiß er auch.<br />
Im Übrigen hat der Bundesparteivorsitzende<br />
keinen Einfluss auf die Wahl der<br />
Kandidaten in den 299 Wahlkreisen.<br />
Ihr Konkurrent Olaf Scholz hat uns auf<br />
die Frage, was aus ihm würde, wenn er<br />
nicht siegt, geantwortet: „Ich werde<br />
Kanzler.“ Wie ist das bei Ihnen, würden<br />
Sie auch nach Berlin gehen, um die<br />
Opposition anzuführen?<br />
Das ist doch mal eine originelle<br />
Antwort. Ich werde Kanzler. •<br />
Annette Bruhns traf auf einen Kanzlerkandidaten,<br />
der nicht im Wahlkampfmodus<br />
schien: Er beantwortete Fragen kurz und<br />
nüchtern, ließ sich aber auf Nachfragen ein.<br />
Allerdings war er im Stress. So blieb keine<br />
Zeit, um auf die in der Unionsfraktion schwelenden<br />
Korruptionsaffären um Atemschutzmasken<br />
und Aserbaidschan einzugehen.<br />
redaktion@hinzundkunzt.de
und Doppelpunkt<br />
Intern<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>340</strong>/JUNI <strong>2021</strong><br />
Mit Kreativität<br />
Wir wollen weiter gerecht schreiben, aber lesbarer sein:<br />
unser künftiger Umgang mit Gender und Sprache<br />
TEXT: BENJAMIN LAUFER FÜR DIE REDAKTION<br />
ILLUSTRATION: GRAFIKDEERNS.DE<br />
38
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Intern<br />
Soll Hinz&Kunzt den Genderstern weiter benutzen<br />
oder wieder abschaffen? Als wir das Sie,<br />
liebe Leser*innen, im Januar gefragt haben,<br />
hätten wir mit so viel Resonanz nie gerechnet!<br />
Hunderte Briefe haben uns erreicht – und diejenigen,<br />
die dagegen oder dafür sind, können allesamt mit<br />
Leidenschaft für ihre Sache streiten, so viel ist sicher!<br />
Es scheint, als ob viele sich unversöhnlich gegenüberstehen:<br />
Da sind die, für die der Stern symbolisch für die<br />
Verhunzung der deutschen Sprache steht. Und die,<br />
für die es schon ein Affront ist, seine Abschaffung<br />
überhaupt zur Debatte zu stellen. Uns hat das die<br />
Entscheidung nicht leicht gemacht, denn Hinz&Kunzt<br />
ist angetreten, um Brücken zu bauen – und nicht, um<br />
Gräben aufzureißen.<br />
Einige sind in ihrer Haltung auch unentschieden.<br />
Leserin Andrea Gerdes schreibt, sie halte Gendern zwar<br />
für wichtig, aber bitte nicht mit Stern, denn: „Ich finde<br />
es wirklich schrecklich, dass er überall aus dem Text herausblinkt.<br />
Er tut mir richtig weh.“ Das gibt uns zu denken,<br />
denn wir wollen, dass Ihnen das Magazin Freude<br />
bereitet. Aber wir wollen auch niemanden vergessen,<br />
sondern Männer, Frauen und alle weiteren Geschlechter<br />
ansprechen und benennen. Schließlich gehört es zum<br />
Grundverständnis von Hinz&Kunzt, auch denjenigen<br />
eine Stimme zu geben, die sonst weniger gehört werden.<br />
Genau dafür steht der Genderstern.<br />
Bedanken möchten wir uns für die vielen konstruktiven<br />
Rückmeldungen. Boulevardmedien wie<br />
Hinz&Kunzt sollten Dinge wie den Genderstern testen<br />
und verbreiten, meint unser Leser Achim Brenner. Er<br />
ist also ein klarer Befürworter des Sterns – und doch<br />
stört er sich an ihm: „Beim Stern habe ich immer das<br />
Bedürfnis, ans Textende zu schauen, zum Kleingedruckten<br />
oder zu Fußnoten.“ Sein Vorschlag: Wir<br />
sollten statt des Sternchens den unauffälligeren Doppelpunkt<br />
nehmen, der würde den Lesefluss weniger stören.<br />
Eine Variante des Genderns, die sich inzwischen immer<br />
mehr durchsetzt. Und wissen Sie was? So machen wir’s!<br />
Ab sofort wollen wir statt eines eher klobigen Sternchens<br />
einen schlanken Doppelpunkt verwenden.<br />
Gerechte Sprache, aber besser lesbar.<br />
Weil Verständlichkeit für uns alle ebenfalls ein<br />
wichtiges Anliegen ist, wollen wir es nicht beim Wechsel<br />
vom Sternchen zum Doppelpunkt belassen, sondern<br />
uns noch mehr Mühe geben, geschlechtsneutrale<br />
Formulierungen zu finden. Also: Statt Mitarbeiter:innen<br />
schreiben wir Beschäftigte, statt Herausgeber:innen<br />
herausgegeben von, statt Student:innen Studierende.<br />
Aus „Autofahrer brauchen einen Führerschein“ könnte<br />
„Wer Auto fährt, braucht einen Führerschein“ werden.<br />
Beim Führerschein soll es übrigens einfach bleiben:<br />
Das Wort Führer:innenschein werden wir nicht erfinden.<br />
In Überschriften wollen wir so kreativ sein, dass der<br />
Doppelpunkt dort gar nicht vorkommen muss.<br />
Trotzdem sind auch wenige Doppelpunkte zusätzliche<br />
Barrieren und damit nicht unproblematisch. Der<br />
Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband spricht<br />
Wir wollen denen eine<br />
Stimme geben, die sonst<br />
weniger gehört werden.<br />
sich zum Beispiel gegen ihre Verwendung aus, weil Vorlesegeräte<br />
sie (wie auch die Sterne) oft nicht richtig aussprechen<br />
würden. Aber auch in dieser Community sind<br />
die Stimmen vielfältig: Die Geräte müssten eben besser<br />
werden, meint Heiko Kuhnert, Geschäftsführer des<br />
Hamburger Blinden- und Sehbehindertenvereins. Auch<br />
Blinde würden sich an die Genderzeichen gewöhnen.<br />
Übrigens haben wir das in Ihren Briefen ebenfalls oft<br />
gelesen: dass man sich an die neue Schreibweise<br />
gewöhnt, wenn man sich nur darauf einlässt. „Als fast<br />
70-Jähriger behaupte ich: Auch diese Sternchen werden<br />
im Zusammenhang und durch häufigen Gebrauch<br />
leicht verständlich“, meint unser Leser Bernd Heeling.<br />
Eins noch: Manche haben uns geschrieben, dass sie<br />
Hinz&Kunzt nicht mehr kaufen wollen, wenn wir weiter<br />
gendern. Bitte überlegen Sie sich das noch einmal!<br />
Damit schaden Sie nämlich nicht nur der Redaktion,<br />
die Sie so womöglich treffen wollen. Sondern auch unserer<br />
Sozialarbeit und den Hinz&Künztler:innen, die<br />
auf Ihre Hilfe angewiesen sind. Sie schwächen<br />
außerdem die Lobby für Arme und Obdachlose, die<br />
Hinz&Kunzt neben einem Magazin eben auch ist. Halten<br />
Sie es doch lieber wie Lydia Stern, die zwar den<br />
Genderstern ablehnt, aber auch schreibt: „Das Projekt<br />
ist zu wichtig, als wegen dem Genderstern die Zeitung<br />
nicht mehr zu kaufen!“ Wir wissen, dass wir es mit unserer<br />
Entscheidung nicht allen recht machen können –<br />
aber wir hoffen trotzdem, dass Sie uns und den<br />
Hinz&Kunzt-Verkäufer:innen treu bleiben. •<br />
39
Intern<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>340</strong>/JUNI <strong>2021</strong><br />
Pro<br />
„Stern oder<br />
Doppelpunkt<br />
stören meinen<br />
Lesef luss<br />
nicht mehr.“<br />
ULRIKE BEESE<br />
Der Stern, oder<br />
besser ein Doppelpunkt,<br />
stört meinen Lesefluss<br />
mittlerweile nicht mehr.<br />
Das ausschließende<br />
generische Maskulinum,<br />
das andere Geschlechter<br />
unsichtbar macht, beschert<br />
mir viel Widerstand beim<br />
Lesen. Dieser Wandel mit<br />
Stern oder Doppelpunkt kann<br />
nicht bei allen auf einmal gut ankommen.<br />
Es ist ein Entwicklungsprozess. Geht<br />
man wieder zum Alten zurück, gibt es keinen<br />
Wandel und keine Entwicklung. Das würde zu<br />
Hinz&Kunzt einfach nicht passen.<br />
ULRIKE BEESE<br />
Auseinandersetzungen<br />
um die Repräsentation<br />
in Sprache sind,<br />
wie die Abschaffung<br />
der Anrede „Fräulein“<br />
aus dem Amtsdeutschen<br />
heute vor genau<br />
50 Jahren zeigt, keine<br />
„neuen“ Erscheinungen,<br />
sondern Gegenstand<br />
wichtiger gesellschaftlicher<br />
Entwicklung – es wäre schön,<br />
wenn Hinz&Kunzt dabei nicht<br />
auf der Strecke bleibt. FABIAN DE HAIR<br />
Noch vor einem Jahr habe ich mir über<br />
gendergerechte und inklusive Sprache keine<br />
Gedanken gemacht. Heute ist sie für mich aus<br />
meinem alltäglichen Sprachgebrauch nicht mehr<br />
wegzu denken. Damit war selbstverständlich ein<br />
Umgewöhnungs- und Lern prozess verbunden.<br />
Aber dank vieler Autor*innen und Podcaster*-<br />
innen habe ich schnell ein Gefühl für inklusive<br />
Sprache bekommen. Und warum sollte es<br />
anderen, lern willigen Menschen nicht genauso<br />
ergehen?<br />
CHRISTIAN BOOSE<br />
Ich schreibe aus nichtbinärer Perspektive,<br />
diese Aussage ist weder von einem Mann noch<br />
von einer Frau geschrieben. Das bedeutet nicht,<br />
dass ich an irgendeiner Universität aus dem Ei<br />
geschlüpft bin. Meine Realität ist ALG-2-Bezug<br />
und Lohnarbeit. Wenn wir die Schreibweise<br />
nicht verändern und wenn wir nicht mal punktuell<br />
ein * in die Texte reinsetzen – dann wird<br />
das kontinuierliche Vergessen von Menschen<br />
wie mir einfach weiter fortgesetzt.<br />
YOH_<br />
Ich kaufe die Hinz&Kunzt auch deswegen,<br />
weil sie bisher diskriminierungssensibel auch mit<br />
der Sprache umgegangen ist. Heute wird das<br />
Sternchen verbannt, weil es Menschen überfordern<br />
soll, morgen die Berichterstattung über<br />
die Klimakrise, weil sie überfordert? Nein! Ich<br />
will das Gendersternchen kaufen! PETER BISPING<br />
Gleichberechtigung gibt es nicht umsonst.<br />
Das Gendersternchen (genauso der<br />
Doppelpunkt) mag ein kleiner Störfaktor im<br />
gewohnten Lesefluss sein. Aber eben nur ein<br />
kleiner – z. B. verglichen mit den langen<br />
Doppelformen (Leserinnen und Leser). Ein<br />
Text wird durch das Sternchen nur marginal<br />
verändert. Das ist einfach zu lesen und auch<br />
in der Umsetzung intellektuell keine große<br />
Herausforderung.<br />
ASTRID HELZEL<br />
Veränderung ist ungewohnt und bedarf<br />
Achtsamkeit. Diese Achtsamkeit in der eigenen<br />
Sprache kann eine Herausforderung sein, aber<br />
letztlich ist es der Wille, der zählt, und vielleicht<br />
sogar etwas Empathie gegenüber den Menschen<br />
zwischen uns, die selten mitgemeint sind.<br />
Menschen, die so selten mitgemeint sind, dass<br />
sie sich häufig nicht trauen, das Wort zu ergreifen<br />
oder zu sich selbst zu stehen. Gendern kann<br />
empowern, kann Mädchen zeigen, dass auch sie<br />
Ärztinnen werden können, und nichtbinären<br />
und Transpersonen ein Gefühl von Sichtbarkeit<br />
und Teilhabe geben.<br />
SCARLETT<br />
40
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Intern<br />
Contra<br />
Ich persönlich verzichte gern darauf, weil<br />
ich der Meinung bin, dass man die Realität nicht<br />
durch die Sprache verändern kann, sondern<br />
dass die Sprache sich der ständig verändernden<br />
Realität anpasst. Und von der Realität der<br />
Gleichbehandlung der Geschlechter sind wir<br />
noch weit entfernt. Dazu brauchen wir gleiche<br />
Bezahlung, bessere und gerechtere Möglichkeiten<br />
zur Kinderbetreuung und vieles mehr –<br />
aber kein Gendersternchen.<br />
ANNE WEBER<br />
Man kann sich ja als weiblich im männlichen<br />
Körper fühlen oder auch andersherum.<br />
Meinetwegen kann man sich auch jeden Tag<br />
neu fragen, weil man sich nicht entscheiden<br />
kann. Aber ich sehe nicht ein, dass 79,9 Millionen<br />
Menschen wegen ein paar Hundert tagtäglich<br />
beim Sprechen, Hören, Lesen oder<br />
Schreiben sprachliche Verrenkungen machen<br />
sollten.<br />
TIM BÖGER<br />
Wenn es darum geht, Menschen mit<br />
diversem Geschlecht zur Geltung zu bringen,<br />
dann kann man dies in Artikeln und Texten<br />
ausdrücklich tun. So wie man sich auch vielen<br />
anderen Gruppen unserer Gesellschaft zuwenden<br />
kann, ohne deswegen Moral-Sternchen<br />
oder -Sprechpausen einzuführen. MARTIN MEISTER<br />
Diesen ganzen Gendermist nun auch mit<br />
Macht in diesem Straßenmagazin zu etablieren,<br />
geht mir schlicht und einfach auf den Senkel. Wir<br />
haben Besseres zu tun. Unsere Obdachlosen zu<br />
unterstützen. Ich bin 75 Jahre alt, unterstütze sie<br />
regelmäßig mit Geldzuwendungen auf der<br />
Straße, weil ich es mir leisten kann. Beim<br />
Gendern hört der Spaß für mich als Mann der<br />
älteren Generation allerdings auf. Ich will diesen<br />
Formulierungswahnsinn nicht. HANS-JÜRGEN DREWS<br />
Sprache verändert sich. Das hat sie immer<br />
getan, und zwar durch das Volk. Beim Genderstern<br />
fühle ich mich aber bevormundet von<br />
sogenannten Gutmenschen, die es sicher<br />
gut meinen, aber mit diesem sprachlichen<br />
Ungetüm nicht gut machen. Diese Schnappatmung<br />
beim Sprechen mit Genderstern lenkt<br />
vom Inhalt eines Satzes ab, da er nicht flüssig<br />
gesprochen werden kann. CHRISTINE BALASUS<br />
Sprachliches Gendern entspringt<br />
mythischem Denken.<br />
Eine wohlfeile Beschwörungsformel,<br />
die wie die<br />
gesamte Identitätspolitik<br />
von den wirklichen Ursachen<br />
der Ungleichbehandlung<br />
ablenkt. Ein<br />
Genderstern führt keinen<br />
Obdachlosen von<br />
der Straße. MICHAEL HESS<br />
Aus meiner Sicht beleidigt<br />
und diskriminiert das<br />
Gendern den Mann in seiner<br />
Persönlichkeit als Mann und als<br />
Mann selbst. Den Mann und ganze<br />
Berufszweige aus der Gesellschaft einfach<br />
wegzugendern werde ich nicht mehr unterstützen.<br />
Der Genderstern, als Lösung für<br />
sogenannte diverse Personen, erscheint<br />
mir auch nicht als eine befriedigende<br />
Lösung. TH. MORGENSTERN<br />
Bald formen Worte<br />
keine Bilder mehr, sondern<br />
sind nur noch<br />
bemüht, immer neuen<br />
Regeln nachzukommen.<br />
Gerechter wird<br />
unsere Gesellschaft<br />
damit kein bisschen.<br />
Aber wir können es<br />
uns wunderbar einreden<br />
(lassen).<br />
SABINE LEOPOLD<br />
„Gendern<br />
lenkt vom<br />
Inhalt eines<br />
Satzes ab.“<br />
CHRISTINE BALASUS<br />
41
Freunde<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>340</strong>/JUNI <strong>2021</strong><br />
Firmengründer<br />
Martin Weser<br />
Nachhaltige Nerds<br />
JaMoin programmiert Software. Die muss zu den Kund:innen<br />
passen und die wiederum zu den Werten der Firma: nachhaltig und sozial.<br />
Auch Hinz&Kunzt hat davon profitiert.<br />
TEXT: ANNA-ELISA JAKOB<br />
FOTO: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong><br />
Martin Weser beschäftigt<br />
gerne „Nerds“ in seiner<br />
Firma. Der Softwareentwickler<br />
meint damit<br />
allerdings nicht einen Typ, „der mit<br />
Pizza und Cola die Nächte durchhackt“.<br />
So einfach sieht nur das<br />
Klischee aus. Martin Weser findet: Ein<br />
Nerd ist jemand, „der wirklich für<br />
etwas brennt“. So wie er selbst.<br />
Als er zum Gespräch im Büro von Ja-<br />
Moin in Eimsbüttel empfängt, hat er<br />
noch sein Headset auf und telefoniert.<br />
Martin Weser trägt Hoodie, Jeans,<br />
dunkle Socken in Birkenstocks. Noch<br />
bevor er das später erzählen wird, sieht<br />
man dem 40-Jährigen an, dass er ein<br />
Outdoortyp ist: sonnengebräuntes<br />
Gesicht trotz Homeoffice-Zeiten. Er sei<br />
lange im Alpenverein gewesen und<br />
42<br />
klettere heute noch regelmäßig Felswände<br />
hoch, erzählt er.<br />
Als Weser sich 2011 als Softwareentwickler<br />
selbstständig macht, will er<br />
sich erst mal nur einen Arbeitsplatz<br />
schaffen, der besser ist als der, den er<br />
als Angestellter kennt. Das bedeutet<br />
vor allem: möglichst viel selbst programmieren.<br />
Gemeinsam mit seinem<br />
Geschäftspartner baut er diese Idee
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Freunde<br />
aus; vor sechs Jahren geben sie ihr den<br />
Namen JaMoin.<br />
JaMoin programmiert Software, die<br />
individuell zu den Kund:innen passen<br />
soll. Doch auch die Werte des Teams<br />
zählen. „Aufträge aus der Rüstungsindustrie<br />
lehnen wir gleich ab“, sagt Weser.<br />
Ganz einfach ist die Entscheidung<br />
trotzdem nicht immer: Was, wenn sich<br />
hinter ökologischem Tierfutter eine Firma<br />
verbirgt, die an Massentier haltung<br />
beteiligt ist? Oder wenn das Wort<br />
„Nachhaltigkeit“ im Logo in erster Linie<br />
dem Marketing dienen soll?<br />
Dann werde beraten, abgestimmt<br />
und lieber abgelehnt, wenn das Team<br />
unsicher bleibt. Denn sie wollten bestimmte<br />
Werte repräsentieren, sagt<br />
Martin Weser. Zudem wolle er qualifizierte<br />
Arbeitskräfte nicht verlieren,<br />
weil die sich mit ihrem Job nicht mehr<br />
identifizieren können. Moralische<br />
Fragen sind für Weser auch wirtschaftliche<br />
Fragen – und umgekehrt.<br />
Es war nicht von Anfang an sein<br />
Plan, ein sozial und ökologisch ausgerichtetes<br />
Unternehmen zu gründen.<br />
Dazu gehören übrigens inzwischen<br />
auch Angebote für die Beschäftigten<br />
wie Obst im Büro, eine Mit gliedschaft<br />
im Sportverein und eine 4,5-Tage-Woche.<br />
Früher ging es vor allem ums Programmieren.<br />
„Aber als ich älter wurde,<br />
habe ich immer mehr darüber nachgedacht,<br />
wie man mit dem, was man tut,<br />
auch etwas Gutes zu tun kann“, sagt er.<br />
Deswegen spendet JaMoin auch<br />
jedes Jahr rund ein Prozent seines Umsatzes<br />
an gemeinnützige Vereine. Diesmal<br />
ging ein Teil davon an Hinz&Kunzt.<br />
Der Vorschlag kam von Weser, der bei<br />
einer Veranstaltung von dem Projekt erfahren<br />
hatte. Es hatte ihn nachhaltig<br />
beeindruckt.<br />
Er programmiert auch immer noch<br />
viel selbst, so wie er das von Anfang an<br />
wollte. Würde sich das jemals ändern,<br />
sagt Martin Weser, würde er lieber eine<br />
andere Geschäftsführung einstellen.<br />
Er ist halt ein Nerd: Er brennt dafür. •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
JA,<br />
ICH WERDE MITGLIED<br />
IM HINZ&KUNZT-<br />
FREUNDESKREIS.<br />
Damit unterstütze ich die<br />
Arbeit von Hinz&Kunzt.<br />
Meine Jahresspende beträgt:<br />
60 Euro (Mindestbeitrag für<br />
Schüler:innen/Student:innen/<br />
Senior:innen)<br />
100 Euro<br />
Euro<br />
Datum, Unterschrift<br />
Ich möchte eine Bestätigung<br />
für meine Jahresspende erhalten.<br />
(Sie wird im Februar des Folgejahres zugeschickt.)<br />
Meine Adresse:<br />
Name, Vorname<br />
Straße, Nr.<br />
PLZ, Ort<br />
Telefon<br />
E-Mail<br />
Wir danken allen, die uns im Mai und<br />
während des Lockdowns unterstützt haben,<br />
sowie allen Mitgliedern im Freundeskreis von<br />
Hinz&Kunzt! Wir freuen uns gleichermaßen<br />
über kleine und große Beträge.<br />
Auch unseren Unterstützer:innen auf<br />
Facebook: ein großes Dankeschön!<br />
DANKESCHÖN EBENFALLS AN:<br />
• IPHH<br />
• wk it services<br />
• das Produktionsbüro<br />
Romey von Malottky GmbH<br />
• die Hamburger Tafel<br />
• Axel Ruepp Rätselservice<br />
• die Hamburger Kunsthalle<br />
• bildarchiv-hamburg.de<br />
• die Gesellschaft für integrierte<br />
Kommunikationsforschung<br />
• K2 Konzept Medienservice<br />
Dankeschön<br />
• das Max-Planck-Institut für<br />
ausländisches und internationales Privatrecht<br />
• den Hamburger Laufladen<br />
• die Helene-Stiftung<br />
Medizinische Masken werden<br />
permanent für die Hinz&Kunzt-<br />
Verkäufer:innen benötigt. Danke an:<br />
• BdV Behrens GmbH • Hanseatic Help<br />
• Der Hafen hilft • Hamburger Lloyd<br />
NEUE FREUNDE:<br />
• Wolfgang Bayer • Ralf Becker<br />
• Ingeborg Below • Heike Bleitner<br />
• Michael Bußmann-Kuban<br />
• Susanne David • Susan Gerding-Yoo<br />
• Lena Gómez Forero • Niels Hansen<br />
• Ralf-Uwe Hundt • David Nordholz<br />
• Jens Schmidt-Rüttgerott<br />
• Heidemarie Schuhose<br />
• Ingo Schulz • Bernd Thiel<br />
• Agata Kraus und Christoph Wieghaus<br />
Einzugsermächtigung:<br />
Ich erteile eine Ermächtigung zum<br />
Bankeinzug meiner Jahresspende.<br />
Ich zahle: halbjährlich jährlich<br />
IBAN<br />
BIC<br />
Bankinstitut<br />
Ich bin damit einverstanden, dass mein Name in<br />
der Rubrik „Dankeschön“ in einer Ausgabe des<br />
Hamburger Straßenmagazins veröffentlicht wird:<br />
Ja<br />
Nein<br />
Wir garantieren einen absolut vertraulichen<br />
Umgang mit den von Ihnen gemachten Angaben.<br />
Die übermittelten Daten werden nur zu internen<br />
Zwecken im Rahmen der Spendenverwaltung<br />
genutzt. Die Mitgliedschaft im Freundeskreis ist<br />
jederzeit kündbar. Wenn Sie keine Informationen<br />
mehr von uns bekommen möchten, können<br />
Sie jederzeit bei uns der Verwendung Ihrer<br />
personenbezogenen Daten widersprechen.<br />
Unsere Datenschutzerklärung können Sie<br />
einsehen unter www.huklink.de/datenschutz<br />
Bitte Coupon ausschneiden und senden an:<br />
Hinz&Kunzt-Freundeskreis<br />
Altstädter Twiete 1-5, 20095 Hamburg<br />
Wir unterstützen Hinz&Kunzt. Aus alter Freundschaft und mit neuer Energie. Hanse Werk<br />
43<br />
HK <strong>340</strong>
Buh&Beifall<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>340</strong>/JUNI <strong>2021</strong><br />
Was unsere Leser:innen meinen<br />
„Sie sind einer Sprachverwirrung aufgesessen“<br />
Weniger Sozialwohnungen<br />
H&K 339: „Es geht um den sozialen Frieden“<br />
In einem will ich widersprechen,<br />
nämlich der Grafik „Sozialwohnungsbestand:<br />
freier Fall gestoppt?“. Da sind<br />
Sie einer vom Senat und speziell der<br />
SPD propagierten Sprachregelung,<br />
besser Sprachverwirrung, aufgesessen:<br />
der summierten Betrachtung von Wohnungen<br />
des 1. und des 2. Förderweges<br />
unter der gemeinsamen Überschrift<br />
„Sozialwohnungen“.<br />
Bei Wohnungen des 2. Förderweges<br />
liegt der Einstiegswert bei 8,90 Euro/<br />
qm. Das ist eher Mittelstandsförderung,<br />
wogegen nicht unbedingt<br />
etwas zu sagen ist. Aber heutzutage,<br />
wo rund 40 Prozent Anspruch auf eine<br />
Sozialwohnung (also auf den 1. Förderweg)<br />
haben und nur ein Bruchteil eine<br />
solche Wohnung findet, ist die sukzes-<br />
sive Ausweitung des 2. Förderweges<br />
aus meiner Sicht mit einem großen<br />
Fragezeichen zu sehen. Denn wir<br />
haben in unserer Stadt vor allem einen<br />
Mangel an günstigen, bezahlbaren<br />
Wohnungen für die Menschen mit<br />
kleinem Portemonnaie.<br />
Wenn die Wohneinheiten des<br />
1. und 2. Förderweges addiert auftauchen,<br />
ergibt sich – wie in der Grafik –<br />
ein falscher Eindruck. Die Zahl der<br />
Sozialwohnungen (also der 1. Förderweg)<br />
ist nämlich rückläufig, auch über<br />
2020 hinaus. MICHAEL JOHO, FRAKTION DIE LINKE<br />
Unwürdig oder empfehlenswert?<br />
H&K 339: „Faible für Bösewichte“<br />
Ich bin überhaupt nicht einverstanden<br />
mit Ihrer einseitig offensichtlich von<br />
Missgunst geprägten Berichterstattung<br />
über die Cum-Ex-Affäre. So billige<br />
Häme sollte meiner Meinung nach nicht<br />
Ihr Geschäft sein.<br />
HERBERT NÖLTING<br />
Der Krimi ist empfehlenswert für<br />
alle, die wie Herr Scholz an Gedächtnislücken<br />
leiden.<br />
MARION RYSI<br />
Leser:innenbriefe geben die Meinung der<br />
Verfasser:innen wieder, nicht die der Redaktion.<br />
Wir behalten uns vor, Briefe zu kürzen. Über Post<br />
an briefe@hinzundkunzt.de freuen wir uns.<br />
Wir trauern um<br />
Stanislaw Bulik<br />
19. September 1967– 13. Mai <strong>2021</strong><br />
Stanislaw kam 2017 zu uns. Er hatte am ALDI<br />
Paul-Dessau-Str. in Bahrenfeld seinen Festplatz.<br />
Die Verkäufer:innen und das Hinz&Kunzt-Team<br />
HAMBURGER NEBENSCHAUPLÄTZE<br />
DER ETWAS ANDERE<br />
STADTRUNDGANG –<br />
DIGITAL FÜR GRUPPEN<br />
100Jahre<br />
Wenn die Welt<br />
auf einmal<br />
stillsteht.<br />
Zuverlässige und<br />
persönliche Hilfe im<br />
Trauerfall – jederzeit.<br />
Wollen Sie Hamburgs City einmal mit anderen Augen sehen?<br />
Abseits der glänzenden Fassaden zeigen wir Orte, die in keinem<br />
Reiseführer stehen: Bahnhofsmission statt Rathausmarkt und<br />
Drogenberatungsstelle statt Alsterpavillon. Leider können wir<br />
wegen Corona aktuell keine echten Rundgänge anbieten. Gruppen<br />
können allerdings mit unserem Stadtführer Chris digitale Touren<br />
machen. Das ist fast genauso interessant.<br />
Bequem online buchen bei<br />
friederike.steiffert@hinzundkunzt.de oder<br />
Telefon 040/32 10 84 04.<br />
Kostenbeitrag: 5 Euro pro Person<br />
Immer für Sie da.<br />
040 - 24 84 00<br />
www.gbi-hamburg.de
Kunzt&Kult<br />
Bunte Botschaften: Eine Begegnung mit Teller-Künstlerin fraujule* (S. 46).<br />
Hohe Ziele: Wenn der Journalist zum Hochbeet-Gärtner wird (S. 54).<br />
Echte Freude: Hinz&Künztler Klaus hat zum ersten Mal eine eigene Wohnung (S. 56).<br />
Ach, Hamburg, du bist zwar eine<br />
Großstadt, aber wer auf dem<br />
Grünen Ring wandern geht, kann das<br />
glatt vergessen – wie hier an der<br />
Dove-Elbe. Mehr dazu auf S. 51<br />
FOTO: THOMAS KRENZ
Street-Artistin<br />
fraujule* möchte<br />
anonym bleiben.
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Kunzt&Kult<br />
„In Hamburg ist<br />
ganz viel Liebe“<br />
Über Teller mit Goldrand, nackte Wände und den<br />
Stammtisch von St. Depri – eine Begegnung mit der<br />
Street-Artistin und Teller-Künstlerin fraujule*.<br />
TEXT: FRANK KEIL<br />
FOTOS: ANDREAS HORNOFF, FRANK KEIL<br />
I<br />
ch suche neuerdings nach Tellern,<br />
wenn ich durch die Straßen gehe,<br />
nach den Tellern von @fraujuleskunst.<br />
Ich schaue an Hauswänden<br />
hoch, statt geradeaus auf den Gehweg,<br />
schleiche mich in Durchgänge, suche<br />
dunkle Unterführungen ab. Jedes Mal<br />
freue ich mich, wenn ich wieder einen<br />
Teller von @fraujuleskunst, wie sie sich<br />
auf Instagram nennt, entdeckt habe.<br />
Manchmal steht nur ein Wort drauf:<br />
„MUT“ etwa. Oder „Tja …!“ Oder<br />
„GUTMENSCHEN aller Länder vereinigt<br />
euch!“<br />
Wir treffen uns im Schanzenviertel,<br />
im Innenhof vom Knust. Richtig reingehen<br />
kann man ja nirgendwo. „Ach, ich<br />
stehe auch ganz gerne“, sagt fraujule*<br />
entspannt. Ihr bürgerlicher Name soll<br />
keine Rolle spielen; sie möchte anonym<br />
bleiben. Wir schauen uns nach einem<br />
Ort zum Unterstellen um, kommen an<br />
einer Hauswand vorbei, sie bleibt abrupt<br />
stehen: „Oh, hier hat jemand drübergesprüht“,<br />
sagt sie und zeigt auf einen Teller<br />
an der Wand, der dick mit schwarzer<br />
Farbe bedeckt ist: „Das ist einer von<br />
ganz früher. Ist ja schade.“<br />
Gibt es so etwas wie einen allerersten<br />
Teller, einen Ur-Teller? „Ja, aber<br />
der hängt leider nicht mehr. Der ist verschwunden,<br />
am Diebsteich, in der Unterführung“,<br />
sagt sie. Darauf gemalt<br />
war in den ihr eigenen Druckbuchstaben<br />
der Satz „love yourself, before you<br />
die“. Übersetzt in etwa: „Liebe dich,<br />
bevor du stirbst.“<br />
„Ich habe ein Faible für altes Zeug“,<br />
sagt sie. So stapelte sich bei ihr zu Hause<br />
auch Geschirr: „Ich habe für Freunde<br />
öfter Kaffeetassen mit lustigen Sachen<br />
bemalt und irgendwann waren die<br />
Teller an der Reihe.“ Die mit Goldrand<br />
und Blümchen sind ihr die liebsten. Die<br />
47<br />
Frage war aber, wohin damit: „Da habe<br />
ich sie auf die Straße gebracht.“<br />
„Ich mag Street-Art total gerne;<br />
das, was sie mit den Menschen macht:<br />
Botschaften setzen, Denkanstöße geben,<br />
eine nette Nachricht an jemand<br />
Unbekanntes senden.“ Ihre Botschaften<br />
klingen dann so: „Jetzt mal ehrlich!“<br />
oder „Einfach mal abtauchen!“.<br />
Im Schanzenviertel findet man ihre<br />
Botschaften, in Eimsbüttel, in Altona,<br />
im Karolinenviertel, in den Szenevierteln<br />
also. Doch neuerdings hat fraujule*<br />
ihren Radius erweitert, bis nach Wandsbek:<br />
„Ich habe immer ein bisschen<br />
Ladehemmung, wenn ich in ein Viertel<br />
gehe, wo nicht so viel Kunst an den<br />
Wänden hängt; wenn dann die Wand<br />
so nackig ist und dann hänge ich da<br />
allein.“<br />
„Es gibt Orte, wo ich denke, da<br />
muss was hin“, sagt sie. Die Teller hängt
sie etwas höher, dass man sie noch gut<br />
lesen, aber nicht gleich herunterreißen<br />
kann. Manchmal sagen ihr die Muster<br />
und Motive auf den Tellern, was drauf<br />
soll: „Kinderteller bekommen einen<br />
Kinderspruch, ist die Verzierung lila,<br />
wird es feministisch, ,grün‘ wirbt immer<br />
für Veganismus.“ Eines ihrer schönsten<br />
Stücke zeigt eine fein gemalte Ente auf<br />
einem kleinen See, umrundet vom<br />
Slogan „friend, not food“, also „Freund,<br />
kein Essen“.<br />
Womit wir bei der Liebe wären und ihrem<br />
Klassiker „LIEBE ist ein Tuwort!“:<br />
„Liebe ist definitiv mein Thema, denn<br />
mit Liebe wird alles besser. Liebe ist ein<br />
Klebstoff, der uns gut zusammenhält“,<br />
sagt sie. Liebe zu sich selbst – gerade<br />
wegen der anderen: „Wer cool mit sich<br />
selbst ist, kann auch cool mit anderen<br />
umgehen.“ Es gibt auch politische Botschaften,<br />
wie „Teller gegen das Patriarchat“,<br />
„Teller gegen Nazis“. Auch hier<br />
wird sie nie grob, hängt lieber die<br />
Parole auf: „Kein Kuchen für Nazis“.<br />
Sie nickt: „Politik ohne Liebe, ohne<br />
Herz funktioniert nicht.“<br />
Aufgewachsen ist fraujule* im<br />
Rheinland. Als sie Hamburg kennenlernt,<br />
ist da gleich ein Gefühl. „Ich war<br />
mit 18 Jahren das erste Mal hier, ich bin<br />
aus dem Zug gefallen und dachte:<br />
‚Boah, das ist Zuhause!‘“ Nur will<br />
Hamburg sie lange nicht haben: Sie<br />
muss nach Frankfurt am Main ziehen,<br />
wo sie studiert. Auch einen Job findet<br />
sie nicht gleich in der Stadt ihrer Träume,<br />
doch dann kann sie nach Hamburg<br />
wechseln, findet eine Festanstellung, die<br />
sie bis heute hat: „Ich muss daher nichts<br />
mit den Tellern verdienen; sie können<br />
den Leuten gefallen, es muss aber<br />
nicht“, sagt sie.<br />
Inzwischen ist sie seit etwa 13 Jahren<br />
Hamburgerin. „Ich will hier auch<br />
nicht wieder weg, ich mag dieses<br />
Lebensgefühl: ‚Komm her, so wie du<br />
bist.‘“ Dass man auch dann akzeptiert<br />
werde, wenn man mal ein wenig neben<br />
der Spur ist, das hätte sie an anderen<br />
Orten so nicht erlebt. Es gebe so viel<br />
Gutes in der Stadt: „Immer, wenn mich<br />
Freunde aus anderen Städten besuchen,<br />
stehen die mit großen Augen da und<br />
staunen, was es an sozialen Initiativen<br />
und Unterstützungsangeboten gibt<br />
und was hier alles los ist.“ Dann lacht<br />
sie laut und sagt: „In Hamburg ist ganz<br />
viel Liebe!“
Die<br />
Großuhrwerkstatt<br />
Bent Borwitzky<br />
Uhrmachermeister<br />
Telefon: 040/298 34 274<br />
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von mechanischen Tisch-,<br />
Wand- und Standuhren<br />
Sie ist Teil davon. Die Künstlerin unterstützt<br />
Projekte wie die Suppen küche<br />
„DeinTopf“ im Karoviertel, das Projekt<br />
„Viva con Aqua“ und die Initiative<br />
„clubkinder“. Dafür verkauft sie gelegentlich<br />
benefizmäßig Teller, auf der<br />
Rückseite signiert und datiert.<br />
„Wer cool<br />
mit sich selbst<br />
ist, kann<br />
cool mit anderen<br />
umgehen.“<br />
„Ich bin recht eng mit St. Pauli verbandelt“,<br />
sagt sie. Also mit dem Fußballclub.<br />
Und hat so plötzlich das Thema<br />
Depressionen am Wickel: „Es gibt irre<br />
viele Leute, auch in meinem Freundeskreis,<br />
die davon betroffen sind, und<br />
auch für die Angehörigen ist das oft<br />
zum Haareraufen: Man weiß bald nicht<br />
mehr, wie kann man helfen, was kann<br />
man tun.“<br />
So landet sie bei der Faninitiative<br />
„St. Depri“: „Da gehe ich regelmäßig<br />
zum Stammtisch, weil ich das eine<br />
großartige Initiative finde: angebunden<br />
an den Verein und niedrigschwellig.“<br />
„Depression, du mieses Stück Scheiße“,<br />
Botschaften von fraujule*,<br />
unten: die Künstlerin am Werk<br />
steht auf einem ihrer Teller; einer der<br />
ganz wenigen, auf dem sie sich so<br />
drastisch äußert. Ein anderer Teller sagt<br />
softer „enjoy your psychotherapy“; also<br />
„Genieße deine Psychotherapie“, um<br />
das Stigma aufzubrechen, man sei<br />
gestört und bedauernswert, wenn man<br />
eine Therapie mache – das Gegenteil<br />
sei der Fall.<br />
Ach ja, St. Pauli, der Club. Da gibt<br />
es eine schlechte und eine gute Nachricht.<br />
Die jährliche „Millerntor Gallery“<br />
wird auch dieses Jahr nicht stattfinden<br />
können. Trotzdem soll Kunst ins Stadion,<br />
die Haupttribüne neu gestaltet werden:<br />
„100 Blickwinkel auf St. Pauli“ ist<br />
das Motto. Weil auch der FC St. Pauli<br />
noch recht männlich dominiert ist,<br />
wurde Kunst von Künstlerinnen und<br />
nichtbinären Künstler:innen gesucht,<br />
also von Menschen, die sich weder als<br />
Mann noch als Frau sehen. fraujule* ist<br />
dabei. Auch mit den „clubkindern“ ist<br />
was in der Mache, ebenso mit Viva con<br />
Aqua. Sieht danach aus, als könne es<br />
ein guter Sommer für fraujule* und ihre<br />
Tellerkunst werden.<br />
Letzte Frage: Womit befestigt sie<br />
die Teller an den Wänden? Wieder<br />
lacht sie, sagt: „Mit Liebe!“ Klar könnte<br />
sie jetzt den Klebstoff nennen. Aber<br />
sie hat ja recht: Liebe ist einfach das<br />
Haltbarste. •<br />
redaktion@hinzundkunzt.de<br />
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49
Kult<br />
Tipps für den<br />
Monat <strong>Juni</strong>:<br />
Eine Abenteuerreise<br />
durch die Stadt<br />
Auf der Straße<br />
Kunstspaziergang durch Sankt Pauli<br />
Schon mal vom Vespa-Laden an der<br />
Karolinenstraße durch die Passage zum<br />
Wohnhaus 20 a spaziert? Dort hat sich<br />
der Street-Art-Künstler Lapiz vor drei<br />
Jahren mit diesem imposanten Mural,<br />
so nennt man die öffentlichen Wandbilder,<br />
verewigt (Foto oben). Schablonen<br />
und Spraydosen sind sein Handwerkszeug.<br />
„Back to the roots“ nennt er seine<br />
Ausstellung, die unter freiem Himmel<br />
an noch vielen weiteren Orten auf<br />
Sankt Pauli zu erkunden ist. Er bringt<br />
künstlerische und gesellschaftspolitische<br />
Impulse aus Neuseeland, Schweden<br />
und Argentinien mit, bringt Menschen<br />
nicht immer zum Lachen, aber sicher<br />
zum Nachdenken. Einen Rundgang zu<br />
seinen Werken kann man auf eigene<br />
Ikonischer Whistleblower im Karoviertel<br />
Faust mit digitalem Begleitheft<br />
(kostenlos) unternehmen. Der Künstler<br />
selbst hat es verfasst und teilt seine<br />
Gedanken darüber, wie es sich anfühlt,<br />
auf der Straße zu malen. Oder man<br />
schließt sich einer Gruppe an<br />
(20 Euro, ermäßigt 15 Euro). •<br />
Buchen und herunterladen können Sie die<br />
Tour hier: www.hamburgstreetart.de<br />
50
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Kunzt&Kult<br />
Schön bunt:<br />
Diese SUPs<br />
machen für<br />
Alsterfische<br />
und Co. die<br />
Nacht zum<br />
Tag.<br />
Wandern<br />
Auf dem „Grünen Ring“<br />
Auf diesem Rundweg schieben sich<br />
Spazierende nicht Schulter an Schulter:<br />
viel Platz und garantiert etwas<br />
Neues zu entdecken in Parks und<br />
Naturschutzgebieten, gesäumt von<br />
Bächen und Seen. Gut 100 Kilometer<br />
misst die Route. Aber man muss ja<br />
nicht alles auf einmal ablaufen! •<br />
Hamburg, Wanderkarten gratis,<br />
www.hamburg.de/wandern-im-gruenen<br />
FOTOS: LAPIZ (S. 50), BRITA PLATH, EDUARDO BASULADO<br />
Entdeckungstour<br />
Auf zu neuen Ufern<br />
Suppen, wie man neudeutsch sagt, meint, stehend auf einem surfähnlichen Board<br />
über möglichst ruhiges Gewässer zu paddeln. Schon seit ein paar Jahren ist das<br />
der Trendsport auf der Alster: Kanäle, Gärten und Teiche aus der leicht erhöhten<br />
Fischperspektive erkunden. Diesen Sommer um so beliebter, weil Mindestabstand<br />
bei diesem Abenteuer kein Thema ist. Es gibt Dutzende Mietstationen.<br />
Diese Boards mit cooler Unterbodenbeleuchtung hat der Sup Port Hamburg. Sie<br />
werden aus einem Transporter herausgereicht an der Heilwigstraße 1, am Steg<br />
am Eichenpark geht es zu Wasser oder alternativ in der Rathenaustraße Höhe<br />
Zukunftsschule, Einstieg kurz vor dem Ringkanal. Freitags und samstags gibt’s<br />
Touren mit den leuchtenden SUPs. Wasserfestes Abendoutfit anziehen und dann:<br />
Alsterdampfer, Wahrschau! •<br />
Infos: www.sup-port-hamburg.de, ab 11 Euro je Stunde<br />
Kunst<br />
Augen auf in der Hafencity<br />
14 nationale und internationale Künstler:innen präsentieren ab dem 4.6. ihre<br />
In stallationen zwischen Baumwall und Elbbrücken: „The Gate. Wohin führt das<br />
Tor zur Welt?“ Wussten Sie, dass die Hafencity eigens eine Kuratorin für Kunst im<br />
öffentlichen Raum hat? Ellen Blumenstein hat jüngst diesen freudig erwarteten<br />
Kunstspaziergang verwirklicht, komplettiert durch einen kostenfreien Podcast.<br />
Man mag bis Ende<br />
September dort<br />
noch lieber als sonst<br />
auf Entdeckungsreise<br />
gehen. Die Kunstwerke<br />
sprechen mal<br />
subtil, mal offensiv<br />
die Geschichte unserer<br />
Handelsstadt an,<br />
als Tor zur Welt, mit<br />
Tradition, Historie<br />
und Zukunft.<br />
Imagine the City,<br />
•<br />
kostenloser Kunstspaziergang,<br />
www.<br />
imaginethecity.de Eduardo Basualdos „Drehtür“ zur Welt<br />
Film<br />
Gegen Kinovermissung<br />
Hamburgs Metropolis-Kino gibt’s<br />
jetzt auch digital. Die Streamingplattform<br />
Metropolis+ bietet eine fein<br />
kuratierte Auswahl an historischen<br />
und aktuellen Filmen. Das Angebot<br />
soll auch nach Kino-Wiedereröffnung<br />
bestehen bleiben. •<br />
Metropolis+, Tickets ab 3,50 Euro,<br />
www.metropoliskino.de<br />
Literatur<br />
Sub & Pop<br />
Kevin Goonewardena hat einen ziemlich<br />
charmanten Guide zur Alternativund<br />
Untergrundkultur Hamburgs hingelegt<br />
– und stellt in ihm nicht nur die<br />
üblichen Verdächtigen vor. Eine Reise<br />
an die herrlich schraddeligen Orte<br />
dieser Stadt. •<br />
Hamburg Sub & Pop, <strong>Juni</strong>us Verlag, 240<br />
Seiten, 19,90 Euro, www.junius-verlag.de<br />
Theater für Kinder<br />
Ins Hirn der Finsternis<br />
Die Traummaschine ist zum Ablegen<br />
bereit, im Volkspark. Bitte einsteigen:<br />
Kinder und Erwachsene ab acht<br />
Jahren. Per digitaler Karte folgen wir<br />
einem vergesslichen Kapitän und<br />
seiner ungeduldigen Tocher ins Herz<br />
der Erinnerungen und mitten in den<br />
riesigen Park, bizarrer Spielort dieses<br />
individuell zu erkundenden Theaters.<br />
Bezaubernde Sirenen und alte<br />
Seehunde werden uns begegnen. •<br />
Fundus Theater, Start an der Mühlenau,<br />
Sylvesterallee, Boarding jederzeit und<br />
kostenfrei, www.traummaschineinc.net<br />
51
Film<br />
Kurz und gut<br />
„Ich bin weil wir sind“ lautet das Motto<br />
des 37. Kurzfilm Festivals Hamburg.<br />
Es lehnt sich an „Ubuntu“, Südafrikas<br />
Philosophie der Verbundenheit, an. Das<br />
passt, schließlich hat das Team um die<br />
künstlerische Leiterin Maike Mia Höhne<br />
trotz aller Widrigkeiten ein herausragendes<br />
Programm auf die Beine<br />
gestellt. Der Fokus der diesjährigen<br />
Beiträge liegt auf dem solidarischen<br />
Miteinander. Es geht um die Entwicklung<br />
von Stadträumen, Utopien, Denksystemen.<br />
Seit 1986 zeigt das Festival<br />
jährlich rund 400 Filme. In diesem Jahr<br />
digital, wenn das Wetter und das Virus<br />
mitspielen, vielleicht auch als Open Air.<br />
Die Festivalmacher:innen verweisen auf<br />
die Homepage für aktuelle Infos. Das<br />
Programm wird begleitet von der Ausstellung<br />
„Dance to the End of Love“<br />
52<br />
Wettbewerbsbeitrag mit Schoßhund:<br />
„Die klaffende Wunde“ von Jovana Reisinger<br />
vom libanesischen Künstler Akram<br />
Zaatari. Seine performativen Arbeiten<br />
können im Festivalzentrum Open Space<br />
in der Post am Diebsteich bewundert<br />
werden. Parallel läuft das Mo & Friese<br />
Kinder Kurzfilm Festival. •<br />
37. Kurzfilm Festival Hamburg, 1.–7.6.,<br />
Mo & Friese Kinder Kurzfilm Festival,<br />
30.5.–7.6., Tickets 5–30 Euro,<br />
www.festival.shortfilm.com
Kunzt&Kult<br />
Filme des Monats<br />
Puschen- und<br />
großes Kino<br />
FILMSTILL: DIE KLAFFENDE WUNDE/JOVANA REISINGER (S. 52); FOTOS: CASPAR DAVID ENGSTFELD, PRIVAT<br />
Kunsthochschule<br />
Digitales Lametta<br />
Festival<br />
Kunst trifft Virtual Reality<br />
VRHAM! Das Virtual Reality & Arts<br />
Festival Hamburg findet statt – als<br />
hybride Festivaledition. 18 Kunstwerke<br />
aus 15 Ländern erwarten die Gäste<br />
dieses Events, das Kunst und digitale<br />
Technologien verschmelzen lässt. Die<br />
Macher:innen haben an einem ausgeklügelten<br />
Hygienekonzept gearbeitet,<br />
mit dem sie Anfang <strong>Juni</strong> einzelne<br />
Veranstaltungen auch physisch<br />
zugänglich machen wollen. Ein fest<br />
gebuchtes Ticket soll den Besuch der<br />
Vrexhibi tion und des VR-Cinemas<br />
ermöglichen. Alternativ ist das<br />
gesamte Fes tivalprogramm auch<br />
bequem vom heimischen Sofa aus mit<br />
VR-Brillen zu verfolgen. Das nötige<br />
Equipment kann zu einem günstigen<br />
Preis für einen begrenzten Zeitraum<br />
ausgeliehen und im Festivalzeitraum<br />
abgeholt werden. •<br />
VRHAM, Stockmeyerstraße 43, 4.6.–12.6.,<br />
Eintritt 6–11 Euro, www.vrham.de<br />
„Boa, was für ein Fahrrad!?“ –<br />
Abschluss arbeit von<br />
Caspar David Engstfeld<br />
Nicht nölen, machen, haben sich die Designstudierenden der HAW gesagt und<br />
sind mit ihrer Jahresausstellung der Armgartstraße pandemiebedingt ins Netz<br />
gezogen. Mehr als 70 Abschlussarbeiten aus den Studiengängen Kommuni ka tionsdesign,<br />
Illustration sowie Mode-, Kostüm- und Textildesign können dort entdeckt<br />
und bewundert werden. Auch digital herrlich bunt anzuschauen. •<br />
Jahresausstellung der Armgartstraße, digitale Edition, kostenfrei,<br />
www.rundgang-armgartstrasse.de<br />
Musik<br />
Nachbarschaftsklänge<br />
Das Netzwerk Musik von den Elbinseln<br />
verlegt das Festival „48h Wilhelmsburg“<br />
auf den Spätsommer –<br />
und lädt stattdessen zu interaktiven<br />
Spaziergängen durchs Viertel ein.<br />
Die Freiluftausstellung „Listen to<br />
your neighbourhood“ führt durch das<br />
Reiherstiegviertel und über die Veddel.<br />
Stelltafeln verraten Insiderwissen<br />
über die Festivalhistorie, und vom<br />
Smartphone geführt gelangt man<br />
zu musikalischen und informa tiven<br />
Überraschungen. Der perfekte Appetizer<br />
für 48h Wilhelmsburg, das vom<br />
3. bis 5.9. live stattfinden soll. •<br />
Listen to your neighbourhood, kostenlos<br />
ab dem 11.6. , www.mvde.de<br />
Über Tipps für Juli freuen sich<br />
Simone Rickert und Regine Marxen.<br />
Bitte bis zum 10.6. schicken an:<br />
kult@hinzundkunzt.de<br />
Mitte Mai <strong>2021</strong> (beim Verfassen<br />
dieser Kolumne), und so<br />
richtig weiß noch niemand,<br />
welche Regeln es im <strong>Juni</strong> geben<br />
wird. Dürfen wir wieder<br />
ins Kino gehen? Sollten wir?<br />
Und wenn ja, unter welchen<br />
Bedingungen? Wer auf<br />
Nummer sicher gehen will,<br />
setzt bei bestem Wetter (das<br />
kommt bestimmt!) auf die<br />
ganz große Leinwand und<br />
sichert sich die besten Plätze<br />
für den Sonnenuntergang: in<br />
Hamburg besonders schön<br />
an der Aussichtsplattform der<br />
Elbphilharmonie, am Westufer<br />
des Stadtparksees oder<br />
auf dem Parkhausdach vom<br />
Altonaer Ikea.<br />
Und sollte es doch einmal<br />
regnen, bietet das gute alte<br />
Puschenkino durchaus Sehenswertes.<br />
„You’ll never<br />
walk alone“ ist so ziemlich die<br />
meist gesungene, gegrölte,<br />
geliebte Stadionhymne der<br />
Welt. Am 9. <strong>Juni</strong> ab 23 Uhr<br />
führt Schauspieler und Fußballfan<br />
Joachim Król durch<br />
die Doku (WDR). Wer die<br />
paar Extra-Euro für Amazon<br />
Prime ausgibt, kann sich auf<br />
die Anthologie „Solos“ freuen<br />
(ab 25. <strong>Juni</strong>). Die Topbesetzung<br />
mit Morgan Freeman<br />
und Anne Hathaway verspricht<br />
hochkarätiges Hollywoodkino<br />
in sieben Episoden.<br />
Weniger brachial ist die Netflix-Produktion<br />
„Skater Girl“,<br />
die Mitte <strong>Juni</strong> startet. Das<br />
spannende Drama um eine<br />
indische Skaterin schildert<br />
eindrucksvoll, welche emanzipatorische<br />
Wirkung Sport<br />
haben kann. • André Schmidt<br />
geht seit<br />
Jahren für uns<br />
ins Kino.<br />
Er arbeitet in der<br />
PR-Branche.<br />
53
klein<br />
gartenlife<br />
#3<br />
Kunzt&Kult<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>340</strong>/JUNI <strong>2021</strong><br />
Mehr Einblicke in den Garten<br />
des Kolumnisten auf Instagram:<br />
@raketengaertner<br />
Höhere Ziele<br />
Wenn der Journalist zum Gärtner wird:<br />
Benjamin Laufer im Hochbeet-Fieber<br />
Die Sache mit dem Hochbeet hatte ich<br />
mir so einfach vorgestellt! Alte Futterkisten<br />
mit Erde füllen, Gemüsesamen<br />
rein und dann im Herbst fette Ernte<br />
einfahren. Und zwar ohne ständig auf<br />
allen vieren das Unkraut rausreißen zu<br />
müssen, sondern angenehm rückenschonend.<br />
Inzwischen gibt es die<br />
Dinger ja auch im Discounter. Sogar<br />
Altkanzler Schröder hat eins, das kann<br />
man auf Instagram bestaunen. Wie<br />
schwer kann es also sein, ein Hochbeet<br />
zu bewirtschaften?<br />
Sie ahnen bereits: Einfach ist es<br />
nicht. Denn ein Hochbeet ist viel mehr<br />
als nur ein höhergelegtes konventionelles<br />
Gemüsebeet. Das hätte ich natürlich<br />
wissen können, bevor ich die<br />
schicken Holzkisten bestellt habe.<br />
Ob ich unbewusst einem Vintage-<br />
FOTOS: DMITRIJ LELTSC<strong>HUK</strong>, BENJAMIN LAUFER<br />
Hochbeet-Trend hinterherlaufe? Wäre<br />
mir zwar peinlich, ist aber leider nicht<br />
auszuschließen.<br />
Doch sich mit dem Hochbeet-<br />
Wesen auseinanderzusetzen, lohnt sich.<br />
Man braucht zunächst ein komplexes<br />
Mehrschichtsystem im Beet, zu dem ein<br />
Fachmann mir riet: Auf die unterste<br />
Schicht aus dicken und dünneren Ästen<br />
folgt eine aus Grassoden, die verhindern,<br />
dass feinerer Grünschnitt nach<br />
unten durchrutscht. Dann kommt eine<br />
Lage Kompost vom Recyclinghof und<br />
ganz oben eine Mischung aus Kompost<br />
und Mutterboden (alternativ geht auch<br />
Pflanzerde aus dem Baumarkt, aber bitte<br />
ohne Torf). Der Hochbeet-Trick: Äste<br />
und Grünschnitt verrotten nach und<br />
nach und setzen so über die Jahre ständig<br />
neue Nährstoffe frei. Das Hochbeet<br />
düngt sich quasi von selbst – sehr praktisch,<br />
wenn man so bequem ist wie ich.<br />
Natürlich kann man in das fertige<br />
Hochbeet nicht einfach reinpflanzen,<br />
wonach einem der Sinn steht. Wäre ja<br />
noch schöner! Als Erstes gehören sogenannte<br />
Starkzehrer ins Beet, die gut mit<br />
dem anfänglich hohen Stickstoffgehalt<br />
umgehen können: Tomaten, Kartoffeln,<br />
Zucchini zum Beispiel. Und es gilt,<br />
noch viel mehr Gartenwissen zu pauken:<br />
Neben die Karotten pflanzt man<br />
etwa Zwiebeln, weil die beiden als gute<br />
Nachbarn gelten und sich gegenseitig<br />
die Schädlinge vom Hals halten. Das<br />
führt wiederum zur Fruchtfolge: Wo in<br />
diesem Jahr Kopfkohl oder Sellerie<br />
wachsen, dürfen Sie diese Sorten für<br />
drei Jahre nicht pflanzen! Sonst könnten<br />
die für Weichfäule verantwortlichen<br />
Bakterien sich im Beet halten. Das kann<br />
ja niemand wollen! Googeln Sie mal<br />
„Pflanzplan“ – ich verspreche, Sie werden<br />
sich im Wirrwarr der Gemüseregeln<br />
anfangs kaum zurechtfinden.<br />
Ich gebe zu, ich bin damit immer<br />
noch überfordert, so wie mit vielen anderen<br />
Baustellen im Garten (Obstbaumschnitt<br />
wäre auch so ein Thema,<br />
das immer komplizierter wird, je mehr<br />
man sich damit beschäftigt). Doch während<br />
ich das hier schreibe, schiele ich<br />
rüber zur halben Süßkartoffel, die auf<br />
meiner Fensterbank fleißig Wurzeln im<br />
Wasserglas schlägt. Gleich darf sie ins<br />
Hochbeet umziehen, wo sie hoffentlich<br />
von der Wärme profitiert, die beim<br />
ständigen Zersetzungsprozess in der unteren<br />
Etage entsteht. Spätestens bei der<br />
Ernte im Herbst hat sich der ganze<br />
Theoriekram endlich gelohnt. BELA<br />
•<br />
54
WWW.HINZUNDKUNZT.DE<br />
Rätsel<br />
ILLUSTRATION (BLEISTIFT IM IMPRESSUM): BERND MÖLCK-TASSEL<br />
einfache<br />
Mahlzeit<br />
Fallen<br />
des<br />
Meeresspiegels<br />
Frohsinn<br />
Volk im<br />
Baltikum<br />
Offiziersrang<br />
Drall<br />
einer<br />
Billardkugel<br />
französisch:<br />
Insel<br />
erklären<br />
Garn,<br />
Gewebe<br />
4<br />
8<br />
1<br />
8<br />
6<br />
3<br />
9<br />
8<br />
Nadelbaum,<br />
Taxus<br />
2<br />
1<br />
6<br />
9<br />
Popmusik<br />
der 60er-<br />
Jahre<br />
7<br />
3<br />
3<br />
5<br />
8<br />
wertvoller<br />
Pelz<br />
Hanswurst,<br />
Possenreißer<br />
zugunfähig<br />
(Schach)<br />
4<br />
1<br />
4<br />
9<br />
7<br />
1<br />
5<br />
2<br />
9<br />
Schuldsumme<br />
lederner<br />
Schnürsenkel<br />
5<br />
2<br />
6<br />
5<br />
zu Gott<br />
sprechen<br />
Erquickung,<br />
Seelentrost<br />
Fruchtgallert<br />
Spion,<br />
Spitzel<br />
französischer<br />
Mehrzahlartikel<br />
japanischer<br />
Politiker<br />
† 1909<br />
schwankend,<br />
unsicher<br />
4<br />
3<br />
8<br />
2<br />
AR0909-0619_4sudoku<br />
6<br />
6<br />
„Großspiel“<br />
im Skat<br />
Errichtung<br />
Schulstadt<br />
in<br />
England<br />
franz.<br />
Schriftsteller<br />
(Émile) †<br />
7<br />
4<br />
Staat<br />
7<br />
4<br />
Inhaltslosigkeit<br />
Aufzeichnung<br />
der<br />
Herzströme<br />
(Abk.)<br />
Fluss<br />
in Peru<br />
sich auf<br />
Rädern<br />
fortbewegen<br />
Ablassprediger<br />
† 1519<br />
8<br />
5<br />
poetisch:<br />
Nadelwald<br />
norddeutsch:<br />
Ried<br />
älteste<br />
latein. Bibelübersetzung<br />
Informationselement<br />
(EDV)<br />
norddt.:<br />
einjähr.<br />
Fohlen,<br />
Kalb<br />
Großmutter<br />
(Kosewort)<br />
9<br />
3<br />
Abtei in<br />
Oberbayern<br />
unbestimmter<br />
Artikel<br />
nur<br />
geistig<br />
vorhanden<br />
Blumenbinderin<br />
10<br />
10<br />
englisch:<br />
und<br />
121916 – raetselservice.de<br />
Füllen Sie das Gitter<br />
so aus, dass die Zahlen<br />
von 1 bis 9 nur je einmal<br />
in jeder Reihe, in jeder<br />
Spalte und in jedem<br />
Neun-Kästchen-Block<br />
vorkommen.<br />
Als Lösung schicken<br />
Sie uns bitte die farbig<br />
gerahmte, unterste<br />
Zahlenreihe.<br />
Lösungen an: Hinz&Kunzt, Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg,<br />
per Fax an 040 32 10 83 50 oder per E-Mail an info@hinzundkunzt.de.<br />
Einsendeschluss: 28. <strong>Juni</strong> <strong>2021</strong>. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Wer<br />
die korrekte Lösung für eines der beiden Rätsel einsendet, kann eine<br />
von zwei iPad-Taschen „Street-Pad“ aus dem Hinz&Kunzt-Shop oder eins<br />
von vier Exemplaren der Familiensaga „Elbleuchten“ (rororo) gewinnen.<br />
Das Lösungswort beim Mai-Kreuzwort rätsel war: Polarfuchs.<br />
Die Sudoku-Zahlenreihe: 328 169 475.<br />
Impressum<br />
Redaktion und Verlag<br />
Hinz&Kunzt<br />
gemeinnützige Verlags- und Vertriebs GmbH<br />
Altstädter Twiete 1–5, 20095 Hamburg<br />
Tel. 040 32 10 83 11, Fax 040 32 10 83 50<br />
Anzeigenleitung Tel. 040 32 10 84 01<br />
E-Mail info@hinzundkunzt.de, www.hinzundkunzt.de<br />
Herausgeber<br />
Landespastor Dirk Ahrens, Diakonisches Werk Hamburg<br />
Externer Beirat<br />
Prof. Dr. Harald Ansen (Armutsexperte HAW-Hamburg),<br />
Mathias Bach (Kaufmann),<br />
Dr. Marius Hoßbach (Korten Rechtsanwälte AG),<br />
Olaf Köhnke (Ringdrei Media Network),<br />
Karin Schmalriede (ehemals Lawaetz-Stiftung, i.R.),<br />
Dr. Bernd-Georg Spies (Spies PPP),<br />
Alexander Unverzagt (Medienanwalt), Oliver Wurm (Medienberater)<br />
Geschäftsführung Jörn Sturm<br />
Redaktion Annette Woywode (CvD; abi, V.i.S.d.P. für die Umschlagseiten,<br />
Gut&Schön, Jubiläum, Krimi, Freunde, Buh&Beifall, Kunzt&Kult),<br />
Jonas Füllner (jof, V.i.S.d.P. für die Momentaufnahme),<br />
Benjamin Laufer (bela, V.i.S.d.P. für Intern und das Stadtgespräch),<br />
Lukas Gilbert (lg), Kirsten Haake (haa), Jochen Harberg (joc),<br />
Anna-Elisa Jakob (aej), Ulrich Jonas (ujo), Frank Keil (fk),<br />
Regine Marxen (rem), Simone Rickert (sr)<br />
Online-Redaktion Benjamin Laufer (CvD), Jonas Füllner, Lukas Gilbert<br />
Korrektorat Kerstin Weber, Kristine Buchholz<br />
Redaktionsassistenz Cedric Horbach,<br />
Sonja Conrad, Anja Steinfurth<br />
Artdirektion grafikdeerns.de<br />
Öffentlichkeitsarbeit Sybille Arendt, Friederike Steiffert<br />
Anzeigenleitung Sybille Arendt<br />
Anzeigenvertretung Gerald Müller,<br />
Wahring & Company, Tel. 040 284 09 418, g.mueller@wahring.de<br />
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 25 vom 1. Januar <strong>2021</strong><br />
Vertrieb Christian Hagen (Leitung), Sigi Pachan,<br />
Jürgen Jobsen, Meike Lehmann, Sergej Machov,<br />
Frank Nawatzki, Elena Pacuraru, Reiner Rümke, Marcel Stein,<br />
Eugenia Streche, Cornelia Tanase, Silvia Zahn<br />
Spendenmarketing Gabriele Koch<br />
Spendenverwaltung/Rechnungswesen Susanne Wehde<br />
Sozialarbeit Stephan Karrenbauer (Leitung), Jonas Gengnagel,<br />
Isabel Kohler, Irina Mortoiu<br />
Das Stadtrundgang-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />
Chris Schlapp, Harald Buchinger<br />
Das BrotRetter-Team Stephan Karrenbauer (Leitung),<br />
Stefan Calin, Gheorghe-R zvan Marior, Fred Hauschka<br />
Das Team von Spende Dein Pfand am Airport Hamburg<br />
Stephan Karrenbauer (Leitung), Uwe Tröger,<br />
Klaus Peterstorfer, Herbert Kosecki<br />
Litho PX2 Hamburg GmbH & Co. KG<br />
Produktion Produktionsbüro Romey von Malottky GmbH<br />
Druck und Verarbeitung A. Beig Druckerei und Verlag,<br />
Damm 9–15, 25421 Pinneberg<br />
QR Code ist ein eingetragenes Warenzeichen von Denso Wave Incorporated<br />
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Die Hinz&Kunzt gGmbH mit Sitz in Hamburg ist durch den aktuellen<br />
Freistellungsbescheid bzw. nach der Anlage zum Körperschaftssteuerbescheid<br />
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weitergegeben. Beachten Sie unsere Datenschutzerklärung, abrufbar auf<br />
www.hinzundkunzt.de. Hinz&Kunzt ist ein unabhängiges soziales Projekt, das<br />
obdachlosen und ehemals obdachlosen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe bietet.<br />
Das Magazin wird von Journalist*innen geschrieben, Wohnungslose und<br />
ehemals Wohnungslose verkaufen es auf der Straße. Sozialarbeiter*innen<br />
unterstützen die Verkäufer*innen.<br />
Das Projekt versteht sich als Lobby für Arme.<br />
Gesellschafter<br />
Durchschnittliche monatliche<br />
Druckauflage 2. Quartal <strong>2021</strong>:<br />
61.666 Exemplare<br />
55
„Ich hatte noch nie<br />
einen eigenen Schlüssel“<br />
Klaus verkauft Hinz&Kunzt in der Horner Landstraße vor Aldi.<br />
Zum ersten Mal im Leben konnte der 49-Jährige jetzt in eine eigene Wohnung ziehen.<br />
TEXT: JONAS FÜLLNER; FOTOS: MAURICIO BUSTAMANTE<br />
T<br />
ür zu und endlich Ruhe.<br />
Durchatmen. Klaus kannte<br />
solche Momente überhaupt<br />
nicht mehr, bis er im Dezember<br />
einen Platz im Hamburger<br />
Hotelprojekt für Obdachlose erhielt.<br />
„Da war ich richtig glücklich.“<br />
Das erzählt der ehemalige Obdachlose,<br />
während er zusammen mit<br />
Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Jonas<br />
Gengnagel mühsam einen Küchentisch<br />
durch den Eingang eines Altbaus<br />
in Harburg hievt. Das Hotelzimmer<br />
war für Klaus nur der erste Schritt.<br />
Jetzt, knapp sechs Monate später,<br />
bezieht Klaus zum ersten Mal in seinem<br />
Leben ein eigenes Zuhause – mit<br />
49 Jahren. Die kleine Mietwohnung im<br />
Zentrum von Harburg ist günstig und<br />
trotzdem in einem super Zustand. „Ein<br />
richtiger Jackpot“, sagt Sozialarbeiter<br />
Gengnagel.<br />
Dass zu einem Dach über dem<br />
Kopf und einem eigenen Bett auch ein<br />
56
Momentaufnahme<br />
Klaus beim<br />
Einzug in<br />
seine neue<br />
Wohnung im<br />
dritten Stock<br />
Schlüssel gehört, war für den Langzeitobdachlosen<br />
Klaus eine echte Umstellung.<br />
Ständig habe er den Hotelschlüssel<br />
im Zimmer vergessen, erinnert er sich<br />
und schiebt fast entschuldigend hinterher:<br />
„Ich hatte noch nie einen eigenen<br />
Schlüssel. Nicht mal für ein Fahrradschloss.“<br />
Wozu auch? Seit mehr als 30 Jahren<br />
hat der gebürtige Darmstädter keinen<br />
festen Wohnsitz mehr. Mit 13 nahm<br />
er das erste Mal von seinen Eltern Reißaus.<br />
Rückblickend sagt Klaus, er sei ein<br />
ziemlicher Chaot gewesen und „immer<br />
breit“. Seine Eltern seien froh gewesen,<br />
als er weg war, glaubt Klaus. Jugendliche<br />
wie er landen dann für gewöhnlich<br />
im Heim. Klaus hingegen zog vom<br />
Elternhaus auf einen Bauwagenplatz.<br />
Er jobbte in einem Chemielabor, verdiente<br />
sein erstes eigenes Geld und<br />
machte eine Ausbildung zum Industriemechaniker.<br />
Als 1990 die Mauer fiel,<br />
zog es ihn rüber in den Osten. Viele<br />
Ostdeutsche verloren damals ihre Arbeit.<br />
Für einen Überlebenskünstler wie<br />
Klaus hingegen eröffnete der Umbruch<br />
paradiesische Möglichkeiten. Einige<br />
Jahre lebte er in besetzten Häusern in<br />
Chemnitz, Leipzig und Magdeburg. Eine<br />
wilde Zeit, in der Klaus die Arbeit<br />
aus den Augen verlor und längst nicht<br />
mehr nur Alkohol, sondern auch Haschisch<br />
und Partydrogen konsumierte.<br />
Um sich sein Leben zu finanzieren,<br />
begann er zu dealen. Das funktionierte<br />
einige Jahre, dann wurde er gefasst und<br />
landete schließlich im Knast.<br />
Nach Jahren in Haft stand Klaus<br />
erneut ohne Wohnung da. Fast 40 war<br />
er inzwischen und längst nicht mehr so<br />
wild wie früher. Er sei erst mal viel rumgereist,<br />
habe auf der Straße geschlafen<br />
und sich mit kleinen Jobs durchgeschlagen.<br />
„Ich habe alles gemacht, was eben<br />
anfällt.“ Aber geklaut habe er nie, betont<br />
Klaus. Sein unstetes Leben änderte<br />
sich erst 2014, als er nach Hamburg<br />
kam. Klaus fand zu Hinz&Kunzt, wurde<br />
Magazinverkäufer und blieb.<br />
Trotzdem dauerte es noch einmal<br />
fast sieben Jahre, bis Klaus von der<br />
Straße wegkam. Sein Türöffner war das<br />
Hotelprojekt von Hinz&Kunzt, Diakonie<br />
und anderen Hilfseinrichtungen für<br />
Obdachlose. Als im Frühjahr 2020<br />
die Coronapandemie ausbrach, lautete<br />
57<br />
das Motto „Stay at home – bleibt zu<br />
Hause“. Für Obdachlose eine Illusion,<br />
da ihnen die Stadt in Großunterkünften<br />
lediglich Erfrierungsschutz, aber eben<br />
kaum Schutz vor Infektionen bot.<br />
Hinz&Kunzt und andere Hilfseinrichtungen<br />
forderten daher gemeinsam die<br />
Hotelunterbringung. Gehör fanden sie<br />
allerdings nicht beim Senat, sondern<br />
bei großzügigen Spender:innen. Mit<br />
deren Geld wurden schließlich Obdachlose<br />
wie Klaus von der Straße<br />
geholt.<br />
„Ich war meistens<br />
allein unterwegs,<br />
da hat man<br />
weniger Stress.“<br />
HINZ&KÜNZTLER KLAUS<br />
Sozialarbeiter Jonas Gengnagel kennt<br />
Klaus seit zweieinhalb Jahren. Damals<br />
hatte sich der Hinz&Künztler bereits<br />
einen Stammplatz in Horn erarbeitet.<br />
Aber nachts schlief Klaus draußen in<br />
seinem Zelt – egal wie kalt oder nass es<br />
war. „Die Zeit auf der Straße hat man<br />
Klaus deutlich angesehen. Jetzt hat<br />
er wieder richtig Farbe im Gesicht“,<br />
freut sich Gengnagel. Klaus stimmt zu.<br />
Die Zeit der Obdachlosigkeit sieht man<br />
ihm aber trotzdem auch heute noch<br />
deutlich an, obwohl er sagt: „Das Hotel
Momentaufnahme<br />
HINZ&KUNZT N°<strong>340</strong>/JUNI <strong>2021</strong><br />
Fortsetzung von Seite 57<br />
Endlich zur<br />
Ruhe kommen:<br />
Klaus in seinem<br />
Schlaf zimmer<br />
Obdachlose in Hotels<br />
Während die Stadt Obdachlosen im vergangenen<br />
Winter in drei Großunterkünften<br />
Schutz anbot, mieteten Hinz&Kunzt,<br />
Diakonie und Alimaus in sechs Hotels<br />
Zimmer für 130 Menschen an. Sie<br />
wurden dort von Sozialarbeiterinnen und<br />
Sozialarbeitern begleitet und erhielten<br />
Verpflegung oder Lebensmittelgutscheine.<br />
Das Hamburger Unter nehmen<br />
Reemtsma und seine Mitarbeitenden,<br />
der FC St. Pauli, die Nordkirche und die<br />
Diakonie-Stiftung MitMenschlichkeit<br />
Hamburg sowie private Spender:innen<br />
finanzierten das Kooperationsprojekt.<br />
Es endete am 15. Mai, nachdem allen<br />
Beherbergten ein Impfangebot gemacht<br />
werden konnte (siehe Seite 28). Bereits<br />
zu Beginn der Pandemie im Frühjahr<br />
2020 hatten die Projektpartner:innen<br />
obdachlose Menschen in Hotels untergebracht<br />
und damit gute Erfahrungen<br />
gemacht. Neben diesem Kooperationsprojekt<br />
ermöglichten in Hamburg<br />
weitere Initiativen Obdachlosen einen<br />
Hotel aufenthalt mithilfe von Spenden.<br />
war Erholung pur.“ Warum er davor<br />
die Straße, trotz der Kälte, dem städtischen<br />
Winternotprogramm mit Mehrbettzimmern<br />
vorgezogen habe? Klaus<br />
muss nicht lange überlegen: „Da wird<br />
nur geklaut. Da kannste dein Zeug<br />
nicht liegen lassen“, sagt er. „Ich war<br />
stattdessen meistens allein unterwegs,<br />
da hat man weniger Stress.“<br />
Ob er sich denn nie ein Dach über<br />
dem Kopf gewünscht habe? „Doch“,<br />
sagt Klaus, der von der Schlepperei erschöpft<br />
erst mal Pause in seiner Küche<br />
macht. „Aber in Hamburg eine Wohnung<br />
finden?“ Immer mal wieder habe<br />
er sein Glück versucht. Vergeblich.<br />
Nach so vielen Rückschlägen sei es<br />
schwer, die Menschen noch zu erreichen,<br />
sagt Sozialarbeiter Gengnagel. Er<br />
war froh, dass Klaus das Angebot annahm,<br />
im Hotel zu schlafen. „Erst<br />
durch das Hotelprojekt haben wir uns<br />
richtig kennengelernt“, ergänzt Gengnagel.<br />
Früher sei Klaus eher ein komplizierter<br />
Typ gewesen. „Manche hielten<br />
ihn sogar für einen Kotzbrocken.“<br />
Klaus schmunzelt und nickt. Er habe<br />
sich verändert, weil er zuletzt endlich<br />
auch positive Dinge erlebt habe: „Wie<br />
sich die Leute von ,mybed‘ um uns gekümmert<br />
haben, das war sensationell.<br />
Da kann sich jeder eine Scheibe von abschneiden.“<br />
Bei aller Begeisterung war<br />
ihm die zeitliche Befristung des Hotelprojektes<br />
klar. Ende Mai hätte er wieder<br />
auf die Straße gemusst. Kein Schutzund<br />
Ruheraum mehr. Keine Tür, die<br />
man schließen kann. Nur ein Zelt.<br />
Umso glücklicher war er, als ihm<br />
Jonas Gengnagel eine Anschlussperspektive<br />
eröffnete. Die Wohnung in<br />
Harburg wurde Hinz&Kunzt privat angeboten.<br />
Sie ist nicht überteuert, kein<br />
Schimmel an den Wänden. „So ein Angebot<br />
ganz ohne Haken hatte ich noch<br />
nicht“, freut sich Klaus. Hinz&Kunzt<br />
bürgt für die Miete, die vorerst das Amt<br />
übernimmt. Und Klaus schmiedet<br />
schon Pläne: Seine erste Bewerbung für<br />
eine Halbtagsstelle habe er bereits eingereicht,<br />
erzählt der jetzt ehemalige<br />
Obdachlose.<br />
58<br />
Davor wird Klaus allerdings noch einige<br />
Stühle, Schränke und auch Geschirr<br />
und Besteck schleppen müssen. Seine<br />
neue Bude ist nicht groß. Aber wer vor<br />
dem Einzug nur einen Schlafsack<br />
besaß, fängt bei null an. Etwas verloren<br />
wirkt Klaus in seiner noch weitgehend<br />
leeren Wohnung und kratzt sich am<br />
Kopf. „Einen Sessel und einen Kleiderschrank<br />
könnte ich wohl auch noch gut<br />
gebrauchen“, sagt er und lacht. •<br />
jonas.fuellner@hinzundkunzt.de<br />
Klaus und alle anderen Hinz&Künztler:innen<br />
erkennt man am Verkaufsausweis.<br />
5934
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