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Das Magazin von ERF – Der Sinnsender

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»Wer einfach leben<br />

will in unserer Konsumgesellschaft,<br />

der hat<br />

dazu keine Chance«<br />

„Viel Kraft!“ Mit diesen Worten zog nach der Flut im<br />

Ahrtal eine Frau einen Wagen hinter sich her mit Lebensmitteln<br />

und Getränken für die Flutopfer und ihre<br />

Helfer und sie legte ihnen die Hand auf die Schulter.<br />

Eine einfache kleine Geste, völlig unspektakulär, die<br />

in diesen Momenten aber doch Menschen stärken und<br />

im wahrsten Sinne des Wortes Schutt- und Schlammberge<br />

versetzen konnte. Ich schätze, dass man sich<br />

noch lange an diese Frau erinnern wird, genauso wie<br />

an den einen oder andere improvisierten Grillabend<br />

mit den Helfern, während manches routiniert luxuriöse<br />

Buffet aus „Normalzeiten“ bald in Vergessenheit<br />

geraten dürfte.<br />

Musste erst die Flut kommen, um uns neu ins<br />

Gedächtnis zu rufen, was wirklich wichtig ist, was<br />

wirklich zählt im Leben?<br />

Ich bin kein Goldrandtyp<br />

Ich mag nicht für die Menschen in den Flutgebieten<br />

entscheiden, wie sie diese Situation zu empfinden<br />

haben, das maße ich mir nicht an. Mir kommt aber<br />

entgegen, dass ich kein Goldrandtyp bin. Natürlich<br />

habe ich nichts dagegen, wenn das Ambiente gepflegt<br />

und das Geschirr sauber ist. Aber die Tasse muss nicht<br />

zwingend aus Meißner Porzellan sein. Wichtiger sind<br />

mir andere Dinge – Ruhe, Geborgenheit, ein schöner<br />

Moment, ein guter Kaffee nach einem strapaziösen<br />

Tag, der Sonntag auf dem Spielplatz mit den Enkeln,<br />

Klönen mit Freunden und Familie, das ausführliche<br />

Frühstück mit meiner Frau, Zusammensein mit Menschen,<br />

die ich mag. Im Augenblick ruhen und das im<br />

Deutschen so schön wörtlich ausgedrückte „Da-sein“<br />

genießen, als wenn die Zeit stehen geblieben wäre, das<br />

sind für mich die wertvollsten Momente.<br />

Geistlich ist das ähnlich. Als „Berufschrist“ bin<br />

ich viel herumgekommen, habe unzählige kirchliche<br />

Veranstaltungen, Gottesdienste und christliche<br />

Festivals erlebt und manches davon mitgestaltet und<br />

mitverantwortet. Ich stelle fest: auch hier reicht mir<br />

ein schlichter, stiller Andachtsraum mit einem Kreuz,<br />

an dessen Eingangstür ein Schild hängt mit der Bitte,<br />

einfach mal still zu sein, und allein Gott reden lassen.<br />

Angeblich wollen wir es alle einfach<br />

Ich sehne mich nach dem Einfachen. Angeblich stehe<br />

ich mit dieser Sehnsucht nicht allein. Der Zukunftsforscher<br />

Matthias Horx hat diese Suche nach dem<br />

Einfachen im vorigen Jahr mitten in der Corona-<br />

Krise als Megatrend der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts<br />

identifiziert, zumindest was die weltliche Seite<br />

betrifft. Seine These: Durch die Beschränkungen<br />

würden wir erkennen, „was wirklich zählt im Leben“.<br />

Wir würden weniger Kreuz- und Urlaubsfahrten brauchen,<br />

weniger Konzert- und Restaurantbesuche, das<br />

Leben würde einfach schlichter werden mit einem<br />

neuen Blick fürs Wesentliche.<br />

Doch der Blick fürs Wesentliche richtete sich in der<br />

meinungserforschten Bevölkerung vor der Flut dann<br />

doch eher in Richtung Konsum. So fielen die vermeintlichen<br />

Verfechter des einfachen Lebens unter anderem<br />

in Baumärkte ein und zerrten in bislang ungeahntem<br />

Ausmaß Swimmingpools, Hochbeete, monströse Grillstationen<br />

sowie jede Menge Renovierungsmaterial<br />

nach Hause.<br />

Einfach leben ist nicht so einfach<br />

Die Folgen treffen auch andere Bereiche. Als Freunde<br />

von uns sich zu Weihnachten per Gutschein gegenseitig<br />

Fahrräder schenkten („Auch bei uns gibt es noch<br />

sooo viele schöne Ecken zu entdecken“), mussten sie<br />

feststellen, dass die Räder über den Jahreswechsel um<br />

ein paar hundert Euro teurer geworden waren. Wer<br />

„einfach leben“ will in unserer Konsumgesellschaft,<br />

der hat dazu keine Chance.<br />

Wenn diese Konsumgesellschaft erst einmal das<br />

einfache Leben als Einnahmequelle entdeckt hat, ist<br />

das einzig Karge am Ende die Leere im Portemonnaie.<br />

Aber so war das mit dem einfachen Leben garantiert<br />

nicht gemeint.<br />

Thema<br />

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