Von der Sehnsucht nach weniger Einfach sein: Andreas Odrich hat die Kraft der einfachen Momente schon oft gespürt. Einfach leben und glauben bleibt aber auch für ihn ein Lernprozess – für den das Wichtigste schon längst vorhanden ist. 4 Thema
»Wer einfach leben will in unserer Konsumgesellschaft, der hat dazu keine Chance« „Viel Kraft!“ Mit diesen Worten zog nach der Flut im Ahrtal eine Frau einen Wagen hinter sich her mit Lebensmitteln und Getränken für die Flutopfer und ihre Helfer und sie legte ihnen die Hand auf die Schulter. Eine einfache kleine Geste, völlig unspektakulär, die in diesen Momenten aber doch Menschen stärken und im wahrsten Sinne des Wortes Schutt- und Schlammberge versetzen konnte. Ich schätze, dass man sich noch lange an diese Frau erinnern wird, genauso wie an den einen oder andere improvisierten Grillabend mit den Helfern, während manches routiniert luxuriöse Buffet aus „Normalzeiten“ bald in Vergessenheit geraten dürfte. Musste erst die Flut kommen, um uns neu ins Gedächtnis zu rufen, was wirklich wichtig ist, was wirklich zählt im Leben? Ich bin kein Goldrandtyp Ich mag nicht für die Menschen in den Flutgebieten entscheiden, wie sie diese Situation zu empfinden haben, das maße ich mir nicht an. Mir kommt aber entgegen, dass ich kein Goldrandtyp bin. Natürlich habe ich nichts dagegen, wenn das Ambiente gepflegt und das Geschirr sauber ist. Aber die Tasse muss nicht zwingend aus Meißner Porzellan sein. Wichtiger sind mir andere Dinge – Ruhe, Geborgenheit, ein schöner Moment, ein guter Kaffee nach einem strapaziösen Tag, der Sonntag auf dem Spielplatz mit den Enkeln, Klönen mit Freunden und Familie, das ausführliche Frühstück mit meiner Frau, Zusammensein mit Menschen, die ich mag. Im Augenblick ruhen und das im Deutschen so schön wörtlich ausgedrückte „Da-sein“ genießen, als wenn die Zeit stehen geblieben wäre, das sind für mich die wertvollsten Momente. Geistlich ist das ähnlich. Als „Berufschrist“ bin ich viel herumgekommen, habe unzählige kirchliche Veranstaltungen, Gottesdienste und christliche Festivals erlebt und manches davon mitgestaltet und mitverantwortet. Ich stelle fest: auch hier reicht mir ein schlichter, stiller Andachtsraum mit einem Kreuz, an dessen Eingangstür ein Schild hängt mit der Bitte, einfach mal still zu sein, und allein Gott reden lassen. Angeblich wollen wir es alle einfach Ich sehne mich nach dem Einfachen. Angeblich stehe ich mit dieser Sehnsucht nicht allein. Der Zukunftsforscher Matthias Horx hat diese Suche nach dem Einfachen im vorigen Jahr mitten in der Corona- Krise als Megatrend der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts identifiziert, zumindest was die weltliche Seite betrifft. Seine These: Durch die Beschränkungen würden wir erkennen, „was wirklich zählt im Leben“. Wir würden weniger Kreuz- und Urlaubsfahrten brauchen, weniger Konzert- und Restaurantbesuche, das Leben würde einfach schlichter werden mit einem neuen Blick fürs Wesentliche. Doch der Blick fürs Wesentliche richtete sich in der meinungserforschten Bevölkerung vor der Flut dann doch eher in Richtung Konsum. So fielen die vermeintlichen Verfechter des einfachen Lebens unter anderem in Baumärkte ein und zerrten in bislang ungeahntem Ausmaß Swimmingpools, Hochbeete, monströse Grillstationen sowie jede Menge Renovierungsmaterial nach Hause. Einfach leben ist nicht so einfach Die Folgen treffen auch andere Bereiche. Als Freunde von uns sich zu Weihnachten per Gutschein gegenseitig Fahrräder schenkten („Auch bei uns gibt es noch sooo viele schöne Ecken zu entdecken“), mussten sie feststellen, dass die Räder über den Jahreswechsel um ein paar hundert Euro teurer geworden waren. Wer „einfach leben“ will in unserer Konsumgesellschaft, der hat dazu keine Chance. Wenn diese Konsumgesellschaft erst einmal das einfache Leben als Einnahmequelle entdeckt hat, ist das einzig Karge am Ende die Leere im Portemonnaie. Aber so war das mit dem einfachen Leben garantiert nicht gemeint. Thema 5