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Credit Suisse bulletin, 2011/01
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30 <strong>Herkunft</strong> Flora und Fauna<br />
Eiszeit gilt dasselbe. Zwar dürften viele Populationen geschwächt<br />
gewesen sein wegen des abrupten Klimawandels am Ende der<br />
letzten Kaltzeit. Da aber all die verschwundenen Arten frühere<br />
Temperatursprünge jeweils überlebt hatten, kann man für diese<br />
Ausster bewelle kaum dem Klima die Schuld geben. Als einzige sinnvolle<br />
Erklärung bleibt, dass es der Mensch war, der durch Jagd und<br />
Nahrungskonkurrenz die einst so farbige Tierwelt Europas so arg<br />
dezimiert hat.<br />
Die Ausrottung der grossen Säuger war aber erst der Anfang.<br />
Mit dem Aufkommen der Landwirtschaft vor 7000 Jahren begann<br />
der Mensch, auch die Landschaft und mit ihr die Pflanzenwelt umzu<br />
gestalten – zuerst langsam, dann immer massiver, sodass es<br />
heute in der Schweiz kaum mehr einen Flecken gibt, der wirklich<br />
ursprünglich ist. Noch vor 8000 Jahren war Mitteleuropa unterhalb<br />
der Baumgrenze zu 80 bis 90 Prozent von Wald bedeckt. Wirk lich<br />
offene Flächen gab es im Flachland nur nach Waldbränden, Erdrutschen<br />
oder entlang von Gewässern. Allerdings darf man sich den<br />
Schweizer Urwald nicht als strammen, dunklen Fichtenwald vorstellen<br />
– er war mit Bestimmtheit vielfältiger und licht durchfluteter. Dafür<br />
sorgten unter anderem die letzten überlebenden grossen Weidetiere,<br />
etwa Hirsche, Auerochsen und Wisente, die durch Fressen<br />
und Trampeln den Wald offen hielten.<br />
Einerlei im Wald ist menschgemacht<br />
Das Edelweiss kam vermutlich erst in der letzten Eiszeit von der<br />
asiatischen Steppe zuerst ins europäische Tiefland.<br />
aller Alpenpflanzen ist also ein Einwanderer, ja sogar ein ziemlich<br />
junger Zuzüger.<br />
Schlimmer als bei den Pflanzen waren die Verluste bei den Tieren.<br />
Wir machen uns kaum eine Vorstellung davon, wie reich die Welt der<br />
grossen Säugetiere bei uns noch vor 30 000 Jahren war. Man kennt<br />
von der Eiszeit-Fauna vielleicht das Mammut, die Säbelzahnkatze,<br />
den Höhlenbären, aber da waren noch viel mehr: Wollnashörner,<br />
Moschusochsen, Steppenbisons, Wildpferde, Saiga-Antilopen. Riesenhirsche<br />
mit bis zu 45 Kilogramm schweren Geweihen. Grosse<br />
Raubtiere wie Hyänen, Vielfrasse und Leoparden. Der Löwe kam<br />
bei uns auch nach der Eiszeit noch vor – in Ungarn und auf dem Balkan<br />
sogar bis vor 2500 Jahren.<br />
Flusspferde im Rhein weit verbreitet<br />
Ganz anders und vielleicht noch exotischer sah die mitteleuropäische<br />
Tierwelt der letzten Warmzeit vor etwa 120 000 Jahren aus: Waldnashorn,<br />
Damhirsch und Auerochse lebten hier – dazu Wasserbüffel,<br />
Wildpferd und Wildesel. Im Rhein waren Flusspferde weit verbreitet.<br />
Am eindrücklichsten dürften die zahlreichen Waldelefanten mit einer<br />
Schulterhöhe von bis zu vier Metern gewesen sein! Noch im 18. Jahrhundert<br />
war den Gelehrten die Vorstellung von europäischen Nashörnern<br />
und Elefanten derart ungeheuer, dass sie sämtliche Knochenfunde<br />
auf Importe für Zirkusspiele in römischer Zeit zurückführten.<br />
Da wir heute wieder in einer Warmzeit leben, müssten wir natürlicherweise<br />
auch wieder eine Warmzeit-Fauna haben. Doch die meisten<br />
dieser Tiere sind ausgestorben oder haben sich nach Afrika und<br />
Asien zurückgezogen. Für die grossen Säuger und Raubtiere der<br />
Dann begannen unsere Vorfahren, durch Brandrodung Flächen freizulegen<br />
und darauf Getreide anzubauen. Dadurch wurde der Wald<br />
immer weniger und immer eintöniger. Die heutige Dominanz von<br />
Buchen, Eichen und Rottannen ist menschgemacht, wie Untersuchungen<br />
der Forschungsgruppe des Berner Botanikers Willy Tinner<br />
gezeigt haben: Indem der Mensch immer wieder Feuer legte und den<br />
Wald nutzte, dezimierte er die im Mittelland einst dominierenden<br />
Ulmen, Linden, Ahorne und Eschen. Profitiert haben jene Arten, die<br />
besonders feuer- und störungsresistent sind, und das sind vor allem<br />
Buchen und Eichen.<br />
Während also die Wälder verödeten, blühten die Felder auf. Denn<br />
auf den gerodeten Flächen wuchs nicht nur das Korn, sondern auch<br />
eine ganze Begleitflora, die die Steinzeit-Europäer unabsichtlich mit<br />
dem Getreide aus dem Nahen Osten importiert hatten. Kamille, Kornrade,<br />
Klatschmohn, Kornblume: Diese attraktiven, heute teilweise<br />
wieder seltenen Arten sind Ost-Importe.<br />
Aber nicht nur sie. Man schätzt, dass in der Schweiz 40 Prozent<br />
der Pflanzenarten so genannte Kulturfolger sind – dass sie also von<br />
der Tätigkeit der Menschen profitiert haben. Manche sind aus Steppen<br />
eingewandert, als bei uns die Bäume im grossen Stil fielen. Andere<br />
waren schon zuvor auf kleinen offenen Flächen vorhanden und<br />
haben sich dank der Landwirtschaft massiv ausgebreitet. Ähnliches<br />
gilt für Tiere, etwa für Feldmäuse und Kohlweisslinge, aber auch für<br />
inzwischen bedrohte Arten wie das Rebhuhn, den Feld hasen oder<br />
den Kiebitz.<br />
Experten fordern wieder mehr Wildnis<br />
Fast nichts mehr in der Schweiz ist vom Menschen unbeeinflusst.<br />
Ursprüngliche Wälder oder auch Flussläufe gibt es kaum mehr. Und<br />
ausgerechnet die artenreichsten Flächen, die kleinstrukturierten<br />
Wiesen und Felder mit Hecken, Einzelbäumen und Waldrändern, für<br />
viele Leute der Inbegriff von Natur, sind letztlich ein Kunstprodukt:<br />
Sie entstanden als unbeabsichtigte Folge einer bestimmten Form<br />
der Landbearbeitung und verschwinden jetzt im Zuge der Inten si-<br />
Fotos: Creativ Studio Heinemann, Getty Images | Michael Breuer, Prisma Bildagentur<br />
<strong>bulletin</strong> 1/<strong>11</strong> Credit Suisse