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moneyeditorial EDITORIAL Über den Sinn des Lebens, 21 Jahre FOCUS-MONEY, den Abschied und einen neuen Anfang FRANK PÖPSEL CHEFREDAKTEUR FOCUS-MONEY Was ist der Sinn des Lebens? „Wenn ich am Ende meines Lebens konstatieren kann, dass ich meinen Spaß gehabt habe, vielleicht sogar reichlich: Soll das dann wirklich alles gewesen sein? Will ich nicht eine Spur in der Weltgeschichte hinterlassen, auf die ich stolz sein kann, auch wenn sie sich schon nach wenigen Hundert Jahren verliert? Ist nicht Albert Schweitzer ein Mensch, dessen Leben in jedermanns Augen, einschließlich seiner eigenen, in ganz besonderem Maße einen Sinn hatte?“, schreibt der Wissenschaftsjournalist Christoph Poppe in einer Rezension über Bernulf Kanitscheiders Buch „Entzauberte Welt“. Der Alltag der meisten Menschen sieht jedoch ganz anders aus. Stress beim Aufstehen. Danach schnell ins Büro, das Projekt wartet schon. „Herr Maier, der Kunde beschwert sich, dass es zu Verzögerungen kommt!“ Das Team zusammenrufen, Lösungen suchen, ein Beschwichtigungsanruf. „Bis heute Abend sind die Probleme beseitigt. Versprochen!“ Stress in der Abteilung. Um 12.00 Uhr schnell in die Kantine, ein wenig Tratsch. Gegen 19.00 Uhr läuft das Projekt dann tatsächlich. Endlich nach Hause. „Kinder, hört endlich auf mit dem Fernsehen! War die Mathe-Schulaufgabe gut?“ Noch schnell ein Plausch am Küchentisch und dann einen Wein aufmachen. Endlich Feierabend und „Tatort“ sehen. Wieder ein Tag vorbei! Ist das der Sinn des Lebens? Der mitteleuropäische Mann lebt durchschnittlich rund 75 Jahre, die Frau 82 Jahre. Die meiste Zeit verbringt der Mensch in diesem Rhythmus: aufstehen, arbeiten, Feierabend. Schlafen, aufstehen, arbeiten. Das kann der Sinn des Lebens doch nicht sein! Zwei Drittel der Deutschen sehen einer Allensbach-Umfrage zufolge ihren Lebenssinn darin, „glücklich zu sein“ und „möglichst viel Lebensgenuss zu haben“ – ist das der Sinn des Lebens? Schwer zu sagen. Nach der vom österreichisch-britischen Philosophen Karl Popper begründeten Wissenschaftstheorie des Falsifikationismus vollzieht sich Erkenntnisfortschritt durch „trial and error“: Auf offene Fragen geben wir versuchsweise eine Antwort und unterziehen diese einer strengen Prüfung. Wenn die Antwort die Prüfung nicht besteht, verwerfen wir sie und versuchen, sie durch eine bessere zu ersetzen. Wenn sie besteht, gehen wir davon aus, dass die Antwort richtig ist, solange sie nicht doch irgendwann falsifiziert werden kann. Wenn der Sinn des Lebens darin liegen sollte, „Lebensgenuss“ zu haben, wäre das Leben von Milliarden Menschen, die in bitterer Armut leben, „unsinnig“. Läge der Zweck darin, „geachtet und beliebt“ zu sein, müssten alle Unterprivilegierten in Verzweiflung untergehen. Und käme es allein auf das „Glück“ an, müssten alle Unglücklichen folgerichtig sofort Selbstmord begehen, denn ihr Leben hätte ja keinen Sinn. Viktor E. Frankl, einer der berühmtesten Neurologen des vergangenen Jahrhunderts, fand denn auch eine ganz andere Antwort auf die Sinnfrage. Frankl begründete die Theorie der „Logotherapie“ (griechisch „logos“ = Sinn). Entwickelt hat er sie in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz und Dachau, die er dank seiner persönlichen Sinnfindung überlebte. Frankls Credo: „Im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einer Person erfüllt der Mensch sich selbst.“ Bleibt die Frage: Lässt sich auch diese Theorie von der Liebe als „Sinn des Lebens“ im Popper’schen Sinne falsifizieren? Findet sich ein Gegenbeweis, der besagt, „Menschen, die lieben oder sich mit vollem Engagement in den Dienst an einer Sache stellen, sind unglücklich? Die Antwort lautet: „Nein.“ Eine US-amerikanische Studie kommt zu dem Ergebnis: „Menschen, die etwa als Trainer einer Jugendmannschaft ein Ehrenamt ausüben, helfen nicht nur anderen, sondern auch sich selbst.“ Forscher der British Columbia University in Vancouver fanden heraus, dass durch eine von Nächstenliebe oder Begeisterung für eine Sache angeregte Handlung körpereigene Botenstoffe im Belohnungszentrum des Gehirns ausgeschüttet werden. Diese Ausschüttung ist vergleichbar mit der, die nach dem Genuss von Rauschmitteln einsetzt. In seinem Buch „Schluss mit lustig – das Ende der Spaßgesellschaft“, zitiert der bekannte ZDF-Journalist Peter Hahne aus einem Kabarettbeitrag des Düsseldorfer „Kom(m)ödchens“: „Lebensangst und Kreislaufstörung, Hasten, Jagen, Kampf und Gier. Was stabil ist, ist die Währung, was labil ist, das sind wir. Lass die Puppen schneller tanzen, ohne Ziel in dem Getriebe, hochgepeitscht durch Dissonanzen, ohne Glaube, Hoffnung, Liebe.“ „Der Sinn des Lebens“, so Hahne, „sieht anders aus.“ Liebe Leserinnen, liebe Leser, 21 Jahre lang war FOCUS-MONEY neben meiner Familie und meinen Freunden ein Teil von meinem „Sinn des Lebens“. Nach dem Tod meines Sohnes Julian hat mir die Arbeit für und mit meinen Kollegen und Ihnen geholfen, wieder ins Leben zurückzufinden. Das „Ehrenamt“, das ich als Chefredakteur von FOCUS-MO- NEY ausfüllen durfte, hat mich erfüllt – und ich hoffe, Ihnen auch etwas geholfen. Und ja: Wenn ein Heft besonders gut gelungen war oder mich ein besonders netter Leserbrief erreichte, war das durchaus schon mal mit dem „Genuss von Rauschmitteln“ zu vergleichen. Ich habe im Dezember vergangenen Jahres den Vorstand gebeten, aus meinen Amt ausscheiden zu dürfen. Mit Georg Meck ist seit 1. Oktober mein Nachfolger an Bord. Ich möchte mich von Ihnen verabschieden und Sie bitten: Bleiben Sie FOCUS-MONEY gewogen, bleiben Sie meinem Nachfolger Georg Meck gewogen und bleiben Sie mir gewogen. Die Begeisterung für Journalismus bleibt auch weiter ein Teil von meinem „Sinn des Lebens“. Ihr FOCUS-MONEY <strong>43</strong>/<strong>2021</strong> Foto: D. Gust/FOCUS-MONEY Composing: FOCUS-MONEY 3