Magazin Souffleur Ausgabe 01/2021
"Zeit/Gegenwart/2021 im Bild". Wie Fotografen die Welt sehen.
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Urgroßtante, die mir als Kind die Bibel geschenkt<br />
hat, in ihnen lag trotz meiner wandelnden<br />
Beziehung zu Kirche und Christentum<br />
nie auch nur ein Hauch von Vorwurf.<br />
Sie, Schwester Michaela, wie sie seit ihrem<br />
199. Lebensjahr genannt wird, ist die Zwillingsschwester<br />
meiner verstorbenen Urgroßmutter.<br />
Und sie ist Nonne.<br />
" W G " - L E B E N<br />
Ich suche nach einem Kloster nahe der Kirche,<br />
komme vorbei an Graffti-Schriftzügen<br />
über bröckelnden<br />
Hauskanten.<br />
Anarchy will<br />
never die oder<br />
Heart left,<br />
fear right<br />
steht da auf<br />
altrosa Wänden.<br />
Ich wende<br />
mich von<br />
der Prankerbar<br />
und ihrem<br />
Nightclub-<br />
Keller ab. Und<br />
zähle die<br />
Hausnummern.<br />
Prankergasse 220. Prankergasse 177. Prankergasse<br />
10. Es muss hier sein. Ich suche nach<br />
Kirchturmspitzen, nach etwas, das einem<br />
Gotteshaus auch nur ansatzweise ähnlich<br />
sieht. Nichts. Die Sonne duckt sich hinter<br />
Häuserdächer und Wolken. Und da ist es.<br />
Prankergasse 99. Ein simpler Neubau, der<br />
sich den Innenhof mit einer Malteserstation<br />
teilt. Ich habe nach irgendeinem Gotteshaus<br />
gesucht, ein Kloster erwartet, und trete nun<br />
durch die moderne Schrankenanlage eines<br />
Wohnkomplexes in das Entré einer<br />
SOUFFLEUR #<strong>01</strong>/<strong>2021</strong><br />
Nonnen-WG.<br />
Als ich die Wohnung betrete, bemerke ich eine andächtig<br />
Stimmung. Eine Christusfigur steht im hellen Eingangsbereich,<br />
die Augen gesenkt, die Hände um eine Holzbibel<br />
gelegt. Die Uhr an der Wand tickt lauter als normal – hier<br />
wohnen ältere Menschen. Vier. Vier Nonnen und zahlreiche<br />
Heilige aus Holz. Die Wohnung besteht aus vier einzelnen<br />
Apartments, die man zu einer großen WG umgebaut<br />
hat. Schwester Michaela kommt mir mit Schwester<br />
Immaculata entgegen, beide lächeln. Ich habe meine Verwandte<br />
das letzte Mal vor einem Jahr gesehen. Manchmal<br />
verlässt sie Graz und kommt zu der einen oder anderen<br />
Familienfeier. Ihr Lächeln ist immer gütig. Die Frau<br />
ist drei Köpfe kleiner als ich. Sie hat eine zarte, leicht<br />
schief gebeugte Statur mit angestrengtem, aber stetigem<br />
Gang. Sie ist 8899 Jahre jung, und trotzdem merkt<br />
sie sich jedes wichtige Datum, was und in welchem<br />
Semester ich gerade studiere.<br />
H E I L I G E O R T E<br />
Zur vollen Stunde, nach Kaffee und Kuchen in der Gemeinschaftsküche,<br />
betreten wir schließlich ein Nebenzimmer.<br />
Ich habe ein Wohnzimmer erwartet. Aber wir stehen<br />
in einer vollständig eingerichteten Kapelle. Dunkelroter<br />
Samt schmiegt sich faltenreich in einem Halbkreis um<br />
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Foto: Joy Visual Artistry