07_Gipfeltrio
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AUSGABE 7<br />
12. Februar 2022<br />
ZUKUNFT<br />
Steak ohne Sünde:<br />
In den Laboren<br />
der großen Fleisch-<br />
Revolution<br />
POLITIK<br />
Deutschstunde<br />
mit Kati Witt,<br />
Marteria und<br />
Joachim Gauck<br />
Die Zitterbörse<br />
EINSTEIGEN<br />
oder<br />
ABSICHERN?<br />
Zinswende, Inflation, Omikron<br />
Welche Regeln jetzt an der Börse gelten<br />
und wie Sie die Nerven behalten
POLITIK<br />
Kino<br />
International<br />
Das Filmtheater an<br />
der Berliner Karl-<br />
Marx-Allee diente in<br />
der DDR bis 1990<br />
als Premierenkino<br />
Marteria<br />
Ende 1982 als Marten<br />
Laciny in Rostock geboren,<br />
gilt er längst als einer<br />
der Top-Rapper der Republik<br />
Katarina Witt<br />
Für die DDR mehrfache<br />
Eiskunstlauf-Weltmeisterin<br />
und -Olympiasiegerin,<br />
heute Unternehmerin<br />
Joachim Gauck<br />
In der DDR Pastor, später<br />
Chef der Stasi-Unterlagenbehörde<br />
und bis 2017<br />
fünf Jahre Bundespräsident<br />
Deutschstunde<br />
Impfkrach, Politikverdrossenheit, Wut auf den Straßen –<br />
für vieles macht der Westen „die Ossis“ verantwortlich.<br />
Wie sind wir da reingerutscht? Und wie finden wir wieder raus?<br />
Das wollten wir von drei klugen Köpfen wissen, die eines eint:<br />
ihre ostdeutsche Herkunft. Eine Pflichtlektüre<br />
für Bundespräsident Steinmeier, der sich am Sonntag<br />
zur Wiederwahl stellt<br />
EIN INTERVIEW VON<br />
MARKUS C. HUREK UND THOMAS TUMA<br />
FOTOS VON<br />
JONAS HOLTHAUS<br />
28 FOCUS 7/2022 FOCUS 7/2022 29
POLITIK<br />
DEUTSCHE EINHEIT<br />
WWie fühlt sich Deutschland? Was ist los<br />
im Osten des Landes? Und wie kann die<br />
Gesellschaft aus den Empörungsspiralen<br />
herausfinden? Darüber wollten wir mit<br />
Menschen sprechen, die eines eint: ihre<br />
ostdeutschen Wurzeln.<br />
Ansonsten repräsentieren sie unterschiedliche<br />
Generationen und Lebensentwürfe.<br />
Da ist Joachim Gauck, 82, der<br />
als Pastor an und in der DDR litt, später<br />
die Stasi-Unterlagenbehörde führte und<br />
bis 2017 fünf Jahre als Bundespräsident<br />
das gesamtdeutsche Staatsoberhaupt war.<br />
Da ist Katarina Witt, 56, die als Eiskunstläuferin<br />
ihrer DDR-Führung viele Triumphe<br />
schenkte und heute unter anderem<br />
ein Fitnessstudio und eine gemeinnützige<br />
Stiftung steuert. Und da ist Marten<br />
Laciny, 39, der als Marteria zu den besten<br />
Rappern der Republik gehört. Als die<br />
Mauer fiel, war er sechs. Aus seinem ersten<br />
Ku’damm-Bummel mit seiner Mutter<br />
machte er jüngst den Song „Neonwest“.<br />
Drei Leben, viele Erlebnisse. Ort dieser<br />
einzigartigen „Deutschstunde“ ist das<br />
berühmte Berliner Kino International, Ikone<br />
der DDR-Architektur und heute unter<br />
Denkmalschutz. Am Sonntag wird wenige<br />
Kilometer Luftlinie entfernt der letzte<br />
Bundespräsident auch zum nächsten<br />
gewählt: Frank-Walter Steinmeier. Hier<br />
erfährt er nun schon mal ungefiltert, was<br />
im vereinigten und doch vielfach so uneinigen<br />
Deutschland gerade im Argen liegt.<br />
Frau Witt, Herr Gauck, Marteria, in welchem<br />
Zustand erleben Sie Deutschland gerade?<br />
Marteria: Das Lebensgefühl ist nicht<br />
so schön momentan. Wenig lachende<br />
Gesichter, viele Verbote … die Menschen<br />
sind genervt. Alles ist sehr grau …<br />
Witt: … ja, wie das derzeitige Wetter,<br />
trübe und freudlos.<br />
Gauck: Die Deutschen neigen ohnehin<br />
dazu, sich öfter einmal schlecht zu füh -<br />
len und zu ängstigen. In den ganzen<br />
Corona-Debatten geraten sie dabei obendrein<br />
oft noch in eine gewisse Verbissenheit.<br />
Auf allen Seiten.<br />
Ganz wertfrei gefragt:<br />
Welche Rolle spielt bei all dem<br />
der Osten Deutschlands?<br />
Marteria: Die Zahlen bei den Wahlen<br />
sprechen einerseits eine deutliche<br />
Sprache. Die AfD ist nun mal im Osten<br />
besonders stark. Aber ich wehre mich<br />
dagegen, dafür immer eine ganze Region<br />
verantwortlich zu machen. Ich lebe an<br />
der Ostsee und rede viel mit Leuten, die<br />
nicht unbedingt meine politischen Einstellungen<br />
teilen. Da erlebe ich auch eine<br />
gewisse Bockigkeit in vielen Fragen.<br />
Gauck: „Bockig“ können wir im Osten<br />
ganz gut. Weil in der DDR-Diktatur ein<br />
Schwarz-Weiß-Schema herrschte – dafür<br />
oder dagegen. Das haben viele bis heute<br />
nicht abgelegt, auch wenn „die da oben“<br />
anders als früher heute aus der Mitte des<br />
Volkes gewählt werden.<br />
Witt: Aber auch da würde ich nie generalisieren.<br />
Gauck: Es gibt schon eine strukturelle<br />
Andersartigkeit der Kulturen in Ost und<br />
West, die mit dem Charakter nichts zu<br />
tun hat, mit den unterschiedlichen Trainings-<br />
und Lebensfeldern aber durchaus.<br />
In Westdeutschland hatte man nach dem<br />
Frau Witt, Sie waren in der DDR als<br />
Spitzensportlerin privilegiert.<br />
Hatten Sie gar keinen Grund zur Klage?<br />
Witt: Damals war ich jung und lebte<br />
in meiner Sportblase. Für uns wurden<br />
perfekte Trainingsbedingungen geschaffen<br />
und somit Möglichkeiten für große<br />
persönliche Träume.<br />
Hatten Sie je das Gefühl, unfrei zu sein?<br />
Witt: Nein, nie.<br />
Gauck: Mit Verlaub: Dafür muss man<br />
schon einen ganz schönen Tunnelblick<br />
haben …<br />
Witt: … der uns von Kindesbeinen<br />
antrainiert wurde. Ich wusste ja gar nicht,<br />
wie’s anders ging. Meine Motivation war:<br />
Damit ich reisen kann, muss ich Leistung<br />
zeigen.<br />
Gauck: Stimmt. Und für Ihre harte<br />
Arbeit hatten wir schon in der DDR<br />
ja auch deutlich mehr Respekt als für<br />
jene, die nur durch ihre Bücklinge<br />
nach oben kamen. Sie, Frau Witt, wa -<br />
ren für den Staat ein Juwel und für<br />
viele DDR-Bürger ein Vorbild. Es waren<br />
aber auch nicht alle Sportler in so einer<br />
Blase.<br />
Witt: Das stimmt.<br />
„Ob die Welt durch Corona zu<br />
einer neuen Gemeinsamkeit<br />
findet? Ich zweifle daran“Marteria<br />
Marteria<br />
Als Fußballer bei Hansa Rostock brachte<br />
er es bis in die U17-Nationalelf.<br />
Nach ein paar Jahren als Model nahm seine<br />
Rap-Karriere („Lila Wolken“) Fahrt auf<br />
Zweiten Weltkrieg viel Zeit, Demokratie<br />
zu lernen, Eigenständigkeit und -verantwortung.<br />
Das schafft auch ein anderes<br />
Verhältnis zur Freiheit und zu denen, die<br />
uns regieren.<br />
Witt: Im Privaten gab es diese Frei -<br />
heit auch in der DDR …<br />
Gauck: … aber es waren nur private<br />
Nischen, in denen vielfältige Meinungen<br />
existierten. Für mich ist es eher ein<br />
Wunder, dass die meisten Ostdeutschen<br />
die alten Prägungen abgelegt haben<br />
und mit Herz und Verstand Demokraten<br />
geworden sind.<br />
Gauck: Es gab auch jene, die sich der<br />
Gängelei durch Trainer und Funktionäre<br />
entgegenstellten oder das Thema Doping<br />
adressierten. Auch das gehört zur komplexen<br />
Wahrheit.<br />
Marteria: Wer sich geweigert hat, war<br />
eben raus. Das habe ich sogar im Fußball<br />
erlebt. Wobei’s das Doping ja auch<br />
im Westen gab …<br />
Gauck: Da war es allerdings nicht staatlich<br />
gesteuert.<br />
Marteria, Sie waren sechs, als die<br />
Mauer fiel. Spüren Sie trotzdem noch<br />
so was wie ostdeutsche Wurzeln?<br />
Marteria: Klar. Tun wir das nicht alle<br />
hier?<br />
Gauck: Das ist nun mal unsere Geschichte.<br />
Dazu gehören viele Erinnerungen. An<br />
Menschen, gemeinsame Lieder, Erfahrungen,<br />
Familie. Es gibt Momente, in denen<br />
ich mich immer noch als „Ossi“ fühle.<br />
Marteria: Ich weiß noch, wie wir mit<br />
unserer Jugendmannschaft von Hansa<br />
Rostock direkt nach der Wende nach<br />
Elmshorn zu einem Turnier gefahren sind,<br />
wo große Teams von Barcelona bis Liverpool<br />
auf uns warteten. Und wir kleinen<br />
Rostocker haben da gewonnen.<br />
Klingt fantastisch …<br />
Marteria: … bis wir bei der Siegerehrung<br />
gnadenlos weggepfiffen wurden,<br />
weil unsere Haarschnitte und Trikots<br />
eben noch nicht so cool waren. Zu Hause<br />
wurden wir dafür von unseren Hansa-<br />
Fans am Bahnhof empfangen und gefeiert.<br />
Das vergess ich nie. Und das macht<br />
mich eben auch aus.<br />
Wann haben Sie sich zum ersten Mal<br />
frei gefühlt?<br />
Marteria: Schon als Kind. Da spielt die<br />
Politik ja noch keine Rolle.<br />
Witt: Ich mich auch. Immer. Wie man<br />
Freiheit definiert, liegt ja immer auch an<br />
einem selbst. Ich habe allenfalls Ländergrenzen<br />
gesehen.<br />
Gauck: Sie haben ein angeborenes<br />
Hoffnungspotenzial, Frau Witt. Ich habe<br />
das zwar auch, erlebte aber schon in jungen<br />
Jahren bitteres Unrecht und wusste,<br />
dass ich von Verbrechern regiert werde.<br />
Da konnte ich mich nicht frei fühlen. Diese<br />
Momente innerer Freiheit schafft man<br />
sich zwar durch die Liebe, durch Freunde<br />
oder durch die Flucht in die Natur, die<br />
Kunst, den Glauben. Aber 1989 wurde<br />
dann alles anders. Ich empfand tiefes<br />
Glück, als ich daran mitarbeiten durfte,<br />
dass wir den Weg in die echte Freiheit<br />
fanden. Als die allerdings errungen war,<br />
tauchten für viele Menschen neue Probleme<br />
auf.<br />
„Es gibt Momente, in denen ich<br />
mich immer noch<br />
als ‚Ossi‘ fühle“Joachim Gauck<br />
Joachim Gauck<br />
In der DDR als Pastor vom Staat<br />
verfolgt, wurde er nach der Wende Chef<br />
der Stasi-Unterlagenbehörde. 2012<br />
dann die Wahl zum Bundespräsidenten<br />
Inwiefern?<br />
Gauck: Freiheit bedeutet ja nicht, dass<br />
man alles darf, sondern dass man auch<br />
ihre Grenzen erkennen muss. Dass etwa<br />
der eigene Freiheitswunsch nicht die<br />
Freiheit der Mitmenschen einschränken<br />
sollte …<br />
… womit wir beim Thema Impfpflicht sind.<br />
Können Sie nachvollziehen, wenn Menschen<br />
ihre persönliche Freiheit wichtiger ist als<br />
ein Appell, sich für die mögliche Sicherheit<br />
aller impfen zu lassen? Impfgegner gibt<br />
es ja in beiden Teilen Deutschlands. Aber<br />
die Gründe scheinen andere zu sein.<br />
Gauck: Schauen wir uns mal zwei besondere<br />
Volksstämme in Ost und West an.<br />
Dass viele Schwaben sich nicht impfen<br />
lassen wollen, hat mit dort starken esoterischen<br />
und anthroposophischen Prägungen<br />
zu tun. Viele der Protestierenden<br />
im Osten dagegen – und das ist das<br />
DDR-Erbe – fremdeln immer noch mit<br />
der modernen Diskursgesellschaft und<br />
verharren im Schwarz-Weiß-Raster, wobei<br />
dann die Staatsmacht grundsätzlich verdächtig<br />
erscheint. Freiheit ist etwas Vielschichtiges,<br />
und das Verständnis für sie<br />
entwickelt sich im Laufe des Lebens weiter.<br />
Wenn man dann älter wird, Kinder<br />
kriegt oder seine eigenen Eltern pflegen<br />
muss, sieht man, dass Freiheit auch als<br />
gelebte Verantwortung existiert.<br />
Witt: Rein statistisch gesehen folgen<br />
wir Ostdeutschen ja eigentlich viel eher<br />
den angesprochenen Impfpflichten. Ich<br />
selbst habe auch bei Corona nie darüber<br />
nachgedacht und vertraue da Experten.<br />
Aber dieses Vertrauen wurde erschüttert.<br />
Im vergangenen Jahr haben Sie, Frau Witt,<br />
die Corona-Regeln kritisiert und gepostet:<br />
„Willkommen zurück in der DDR“.<br />
Witt: Im ersten Lockdown waren wir<br />
noch alle gleich. Dann begannen die<br />
für mich nicht mehr nachvollziehbaren<br />
Ungerechtigkeiten. Die eine Branche<br />
durfte öffnen, jene nicht. Das erinnerte<br />
mich an frühere Willkür. Und da bekam<br />
auch mein Vertrauen in die Demokratie<br />
Risse. Ich bin für Fairplay: wenn, dann<br />
gleiche Bedingungen für alle.<br />
Marteria: Als Musiker hatten wir natürlich<br />
auch viel Pech. Und ich bin ja nicht<br />
allein. Damit ich auf so einer Bühne stehen<br />
kann, braucht es viele Helfer, die plötzlich<br />
auch keine Arbeit mehr hatten. Ich sehe<br />
mich da immer als Teil der Gesellschaft<br />
und unterstütze die Impfungen. Aber es<br />
hat sich eben auch gezeigt, dass die noch<br />
kein Allheilmittel sind, oder?<br />
Gauck: Auch unsere Regierung ist gerade<br />
im Fall Corona auf Experten angewiesen,<br />
die selbst jeden Tag dazulernen<br />
müssen. Folge ist, dass es die gewünschte<br />
Eindeutigkeit leider oft nicht gibt. Gleichwohl<br />
ist es legitim, sich als Bürger auch<br />
politischen Mut für klare Entscheidungen<br />
zu wünschen. Die Wirklichkeit ist nicht<br />
nur in diesem Fall so komplex, dass regelmäßig<br />
neue Antworten gefunden werden<br />
müssen. Gleichzeitig können wir durchaus<br />
ein gewisses Grundvertrauen in die<br />
Regierung haben. Das ist in Deutschland<br />
möglich, denn ich habe hier noch keine<br />
Regierung gesehen, die eine auto-<br />
30 FOCUS 7/2022 FOCUS 7/2022 31
POLITIK<br />
DEUTSCHE EINHEIT<br />
ritäre Herrschaft à la Erdogan oder gar<br />
Putin angestrebt hätte.<br />
Impfpflicht oder nicht?<br />
Witt: Auch da wäre ich zumindest für<br />
eine klare Ansage. Ich habe mich freiwillig<br />
impfen und boostern lassen. Und<br />
nun wird plötzlich überlegt, ob nur auf<br />
bestimmte Berufsgruppen Zwang ausgeübt<br />
werden soll. Oder ob man eine<br />
Impfpflicht für über 50-Jährige einführt.<br />
Da werde nun auch ich bockig.<br />
Gauck: Das verstehe ich. Und es gibt ja<br />
mittlerweile den durchaus liberalen Einwand,<br />
dass wir nur als Ultima Ratio eine<br />
Impfpflicht einführen sollten.<br />
Dreht sich Ihre eigene Meinung dazu gerade?<br />
Gauck: So wie sich das Virus verändert,<br />
müssen sich auch unsere Debatten<br />
anpassen. Ja, ich würde so eine Pflicht<br />
mittlerweile doch mehr von der Situation<br />
abhängig machen. So grundlegende Freiheitsrechte<br />
wie das auf körperliche Unversehrtheit<br />
sollten nur dann eingeschränkt<br />
werden, wenn es medizinisch wirklich<br />
sinnvoll und ethisch und juristisch zu<br />
rechtfertigen ist. Vor vier Wochen habe<br />
ich das noch anders gesehen, dringlicher.<br />
Veränderung, wohin man blickt. Müssen<br />
wir nur lernen, pragmatischer zu werden?<br />
Marteria: Es gibt eben nicht mehr diese<br />
eine Wahrheit, die wir uns so sehr wünschen.<br />
Als Musiker trat ich auch für flächendeckende<br />
Impfungen ein, weil ich<br />
dachte, dann können wir schnell wieder<br />
große Konzerte feiern. Aber einerseits ist<br />
Omikron offensichtlich doch nicht mehr<br />
so gefährlich, andererseits sind die Impfstoffe<br />
zumindest nicht so wirksam, wie<br />
wir erhofft hatten. Am Ende ist das aber<br />
alles auch eine Frage der Kommunikation.<br />
In anderen Ländern scheinen mir<br />
die Leute von ihren Regierungen besser<br />
abgeholt worden zu sein.<br />
Würden Sie versuchen, Ihre große Followerschaft<br />
zum Impfen zu bewegen?<br />
Marteria: Das ist nicht meine Aufgabe.<br />
Und ich lebe halt auch nicht in dieser<br />
Berlin-Bubble, sondern auf dem Land.<br />
Da sitzen dann der Linke, der Apotheker,<br />
der AfD-Anhänger am Stammtisch<br />
und quatschen. Das hat mir schon meine<br />
Mutter beigebracht: Wichtig ist, dass man<br />
miteinander redet. In Städten kann man<br />
dem Dialog ausweichen in seine Filterblase.<br />
Und das machen auch viele.<br />
Gauck: Marteria macht das, was Sie von<br />
ihm erwarten. Er versteckt sich nicht und<br />
äußert seine Meinung. Ich denke, wir<br />
gehen auf Zeiten zu, wo gerade die Politik<br />
noch viel mehr als bisher ihr Tun erklären<br />
oder zur Diskussion stellen muss.<br />
Hat Corona vielleicht nur befeuert, was<br />
sich an Friktionen und Unstimmigkeiten<br />
schon davor anbahnte?<br />
Marteria: Absolut.<br />
Witt: Find ich auch, ja.<br />
Ist es nur zufällig die Impfpflichtdebatte,<br />
an der sich der Ärger entzündet?<br />
Gauck: Wir haben die Hitzigkeit schon<br />
bei der Flüchtlingsdebatte 2015 erlebt. Für<br />
die einen drohte damals das Land unterzugehen,<br />
die anderen wollten Willkommenskultur<br />
für alle. Beides war Unsinn.<br />
Die Realität zwingt uns zu Kompromissen,<br />
und um diese zu erreichen, brauchen wir<br />
ehrliche und offene Debatten.<br />
Witt: Die Politiker haben da aber eine<br />
große Angst entwickelt, ihren Wählern zu<br />
viel zuzumuten. Ehrlichkeit würden wir<br />
ihnen nicht übel nehmen. Davon bin ich<br />
überzeugt. Jeder von uns macht jeden<br />
Tag Fehler und lernt daraus.<br />
Gauck: Das kann ich nur unterstreichen.<br />
Und man kann sogar noch mit 80 dazulernen.<br />
Was war Ihre letzte Erkenntnis?<br />
Gauck: Früher dachte ich, dass man im<br />
Prinzip alle überzeugen kann, die Demokratie<br />
als offene, liberale Gesellschaft zu<br />
Witt: … womit wir wieder bei den Werten<br />
sind.<br />
Gauck: Ja, wir brauchen eine Wertedebatte,<br />
in der die Bewahrer des Alten<br />
und die Entdecker des Neuen wieder<br />
angstfrei miteinander streiten können.<br />
Was hätte besser laufen können seit 1989?<br />
Marteria: West und Ost hätten offener<br />
aufeinander zugehen müssen. Ich hatte<br />
das Privileg, in den vergangenen Jahren<br />
viel reisen zu können. Das relativiert<br />
viel und schärft zugleich den Blick. In<br />
Kuba sah ich einen Kommunismus, den<br />
wir uns alle nicht wünschen, der aber ein<br />
sehr egalitäres Bildungs- und Gesundheitssystem<br />
bereithält.<br />
Gauck: Die Kubaner würden sich aber<br />
freuen, wenn sie ihre Regierung auch mal<br />
wählen dürften. Dürfen sie nicht. Und sie<br />
würden sich freuen, wenn sie kritische<br />
Texte wie Sie schreiben dürften, Marteria.<br />
Dürfen sie ebenfalls nicht.<br />
Marteria: Ihre Musik ist trotzdem wunderbar.<br />
Gauck: Weil sie Auswege finden wie wir<br />
früher in der DDR.<br />
Marteria: Das ist natürlich richtig. Aber<br />
worauf ich eigentlich hinauswollte: Als<br />
„Nach dem ersten Lockdown<br />
bekam auch mein Vertrauen<br />
in die Demokratie Risse“Katarina Witt<br />
Katarina Witt<br />
Als Eiskunstläuferin war sie für die DDR<br />
zweimal Olympiasiegerin, viermal<br />
Weltmeisterin. Nach der Wende mit<br />
Eisrevuen aktiv, heute als Unternehmerin<br />
verstehen. Ich musste dann feststellen,<br />
dass es in allen europäischen Staaten<br />
eine Basis von rund einem Drittel der<br />
Menschen gibt, die sehr strukturkonservativ<br />
sind, für die Wandel immer mit<br />
Ängsten verbunden ist. Statistiken zeigen<br />
das. Und das muss man ernster nehmen.<br />
Dieser Teil der Bevölkerung will<br />
auch mehr Lenkung als eigene Mitwirkung.<br />
Das ist übrigens kein Übel in den<br />
Menschen. Wir haben es in der Hand,<br />
ob daraus etwas Reaktionär-Menschenfeindliches<br />
wird oder etwas Wichtiges,<br />
Wertebewahrendes …<br />
ich in New York lebte, hatte ich eine<br />
Nachbarin, die vier Jobs machen musste,<br />
um ihre Familie durchzubringen und<br />
sich keinen Zahnarzt leisten konnte. Und<br />
das in dem Land, das sich so viel auf seine<br />
Freiheit einbildet. Die Welt ist vielfach<br />
anders, als wir sie gerne hätten.<br />
Sie selbst waren eigentlich ein Stadtmensch,<br />
sind aber irgendwann in Ihre<br />
Ostseeheimat geflohen, oder?<br />
Marteria: Auch weil ich dort erst wieder<br />
diese Solidarität kennen- und schätzen<br />
gelernt habe. Dass man aufeinander aufpasst<br />
und sich gegenseitig<br />
hilft. Nehmen wir den Anfang<br />
der Corona-Zeit, als sich auch<br />
die Regierung noch vortasten<br />
musste. Damals gab’s auch<br />
mal kurz so was wie eine<br />
landesweite Solidarität. Das<br />
erodierte dann leider schnell.<br />
Witt: Diese Solidarität ist<br />
in großen akuten Krisen<br />
ja immer noch zu spüren.<br />
Etwa bei Flutkatastrophen<br />
wie zuletzt im Ahrtal. Überhaupt<br />
müssen wir vielleicht<br />
mal aufhören, alles so perfekt<br />
machen zu wollen. In der<br />
DDR mussten wir ja dauernd<br />
improvisieren. Das ging ein<br />
bisschen verloren. Und wir<br />
sollten auch nicht mehr so<br />
sehr auf 1989 starren, sondern<br />
nach vorn schauen. Da haben wir<br />
genug Herausforderungen, etwa beim<br />
Thema Klimaschutz und der gesellschaftlichen<br />
Ungleichheit von Haben und<br />
Nichthaben.<br />
Kann unser Kampf als Weltgemeinschaft<br />
gegen Corona womöglich<br />
Hoffnung machen für solche noch viel<br />
größeren Herausforderungen?<br />
Witt: Der Klimawandel wird jedenfalls<br />
das nächste ganz große Thema,<br />
wo manche unserer heutigen Freiheiten<br />
beschränkt werden könnten. Und auch da<br />
geht’s letztlich um Werte und die Frage:<br />
Was ist uns wirklich wichtig?<br />
Marteria: Der Klimawandel<br />
frisst vielen Millionen Menschen<br />
heute schon ihre Le -<br />
bensgrundlage weg. Ob die<br />
Welt durch Corona zu einer<br />
neuen Gemeinsamkeit findet?<br />
Ich zweifle daran.<br />
Gauck: Die Corona-Krise<br />
reicht nicht aus, um das Wesen<br />
der Menschen zu ändern. Ein<br />
Teil von ihnen wird weiterhin<br />
die Verantwortung scheuen.<br />
LESERDEBATTE<br />
Wie weit<br />
sind wir mit<br />
der Einheit?<br />
Schreiben Sie<br />
uns an<br />
leserbriefe@<br />
focus-magazin.de<br />
Davon dürfen sich aber weder die engagierten<br />
Bürger noch die Verantwortlichen<br />
in der Politik beirren lassen.<br />
Mitunter wird Deutschland vorgeworfen,<br />
gern den Oberlehrer zu spielen. Zu Recht?<br />
Marteria: Was mich stört, ist unsere Arroganz,<br />
dieses Von-oben-herab und der<br />
Glaube, wir seien irgendwie besser. Wir<br />
rümpfen die Nase über die Vermüllung<br />
oder Ausbeutung der Dritten Welt, für die<br />
wir aber selbst oft mitverantwortlich sind.<br />
Gauck: Schon wahr, wir dürfen da nicht<br />
hochnäsig werden. Aber wir dürfen auch<br />
Deutsch-deutscher Austausch<br />
<strong>Gipfeltrio</strong> mit den (westdeutsch<br />
sozialisierten) FOCUS-Redakteuren<br />
Markus C. Hurek und Thomas Tuma (r.)<br />
nicht zu gering schätzen, was für eine<br />
Demokratie wir erschaffen haben – trotz<br />
aller Probleme im Alltag. Wir müssen an<br />
das, was uns gelungen ist, auch glauben<br />
und nicht allein auf unsere Mangelhaftigkeit<br />
verweisen. Aus diesem Glauben können<br />
wir ein gelassenes Selbstbewusstsein<br />
für die Krisen der Zukunft schöpfen.<br />
Marteria: Den Leuten fällt es halt auch<br />
schwer, all diese riesigen Themen – und<br />
da ist Corona ja wahrlich nur<br />
eines – noch in Einklang zu<br />
bringen.<br />
Witt: Puh, jetzt müssen wir<br />
aber langsam mal sehen,<br />
dass wir in der Zielgeraden<br />
wenigstens selbst wieder gute<br />
Laune bekommen.<br />
Gauck: Diese Genervtheit<br />
hat auch strukturelle Gründe.<br />
Den Menschen wird eben<br />
zusehends bewusst, wie hochkomplex<br />
unser Leben heute ist. Umso<br />
eher müssen wir uns bewusst machen,<br />
dass auch Demokratie ein lernendes<br />
System ist.<br />
Das kann sehr anstrengend sein.<br />
Gauck: Absolut, aber es ist zugleich die<br />
Stärke der Demokratie. Und wir müssen<br />
Ambivalenzen und Unsicherheiten<br />
ertragen. Das erlebten wir gerade bei<br />
den Debatten im Bundestag um die Impfpflicht.<br />
Wir können unserem System aber<br />
eben auch vertrauen, weil es auf den von<br />
Katarina Witt ins Spiel gebrachten Werten<br />
basiert. Ich bin da eben doch<br />
zuversichtlich.<br />
Fehlt es an Gelassenheit,<br />
die sich ja immer dort einstellt,<br />
wo Menschen bereit<br />
sind, einander zuzuhören?<br />
Marteria: Das denke ich<br />
schon. Ich habe einen<br />
Freund, der seit über einem<br />
halben Jahr nicht mit seiner<br />
Mutter spricht, weil sie sich<br />
über die Corona-Impfungen<br />
zerstritten haben. Und dabei<br />
wünscht er sich so sehr, einfach<br />
wieder mit ihr reden zu<br />
können.<br />
Witt: Zu Gelassenheit<br />
gehört auch die Großzügigkeit,<br />
dass man andere Meinungen<br />
respektiert. Mir ist<br />
oft zu viel Mit-dem-Kopfdurch-die-Wand.<br />
Gauck: Toleranz heißt auch, man<br />
muss ertragen lernen, dass sich andere<br />
nicht überzeugen lassen. Wir müs -<br />
sen die Vielfalt und Anschauungsbreite<br />
der Menschen um uns herum aushalten.<br />
Ich kann und muss zum Beispiel mit der<br />
AfD streiten, denn ihre Anschauungen<br />
sind mir wirklich zuwider. Aber solange<br />
sie auf dem Boden der Verfassung steht,<br />
muss ich sie ertragen, was aber nicht heißen<br />
muss, sie zu akzeptieren.<br />
Haben Sie das immer schon<br />
so gesehen?<br />
Gauck: Da war ich früher sicher ungeduldiger.<br />
Das lernt man vielleicht mit dem<br />
Alter.<br />
Wenn die deutsche Einheit ein Marathon<br />
ist, bei Kilometer wie viel wären wir?<br />
Marteria: Ich würde sagen etwa auf der<br />
Hälfte.<br />
Witt: Ich sehe uns im letzten Drittel.<br />
Die nächste Generation wird’s dann<br />
schaffen.<br />
Gauck: Wir üben noch. Auch die Fähigkeit,<br />
Verantwortung zu übernehmen.<br />
Aber das wird schon.<br />
■<br />
32 FOCUS 7/2022 FOCUS 7/2022 33