25.02.2022 Aufrufe

ST/A/R_55

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

6 <strong>ST</strong>/A/R<br />

Buch I - Verdauung und Philosophie Nr. <strong>55</strong>/2017<br />

PHILOSOPHISCHES<br />

ZWIEGESPRÄCH<br />

»[...] so endigt die Mahlzeit mit Lachen; welches, wenn<br />

es laut und gutmütig ist, die Natur durch Bewegung des<br />

Zwergfells und der Eingeweide ganz eigentlich für den<br />

Magen zur Verdauung als zum körperlichen Wohlbefinden<br />

bestimmt hat; indessen dass die Theilnehmer am<br />

Gastmahl, Wunder wie viel Geisteskultur in einer Absicht<br />

der Natur zu finden wähnen.«<br />

Immanuel Kant, Anthr., AA VII<br />

»Nous concluons, avec la<br />

même certitude, que le<br />

cer-veau digère en quelque<br />

sorte les impressions; qu’il<br />

fait organiquement la sécré-tion<br />

de la pensée.«<br />

Brillat-Saverin,<br />

»Da tat ich meinen Mund auf, und er gab mir den Brief<br />

zu essen und sprach zu mir: Du Menschenkind, du<br />

musst diesen Brief, den ich dir gebe, in deinen Leib essen<br />

und deinen Bauch damit füllen. Da aß ich ihn, und<br />

er war in meinem Munde so süß wie Honig. Und er<br />

sprach zu mir: Du Menschenkind, gehe hin zum Hause<br />

Israel und predige ihnen meine Worte.«<br />

Ezekiel, 3:1-5<br />

»Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen.<br />

Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit.<br />

Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch,<br />

welches ich geben werde für das Leben der Welt.«<br />

Jesus von Nazareth, nach Joh, 6:51f.<br />

»Ich bin gekommen, meine Schwester, liebe Braut, in meinen<br />

Garten. Ich habe meine Myrrhe samt meinen Würzen abgebrochen;<br />

ich habe meinen Seim samt meinem Honig gegessen;<br />

ich habe meinen Wein samt meiner Milch getrunken.<br />

Eßt, meine Lieben, und trinkt, meine Freunde, und werdet<br />

trunken!«<br />

Hohelied, 5:1<br />

»Ich habe aus der Trommel gegessen; ich<br />

habe aus dem Zymbal getrunken; ich habe<br />

den Kernos getragen; ich habe die innere<br />

Kammer betreten.«<br />

Geheimspruch der Mystien<br />

»Aber mich zwingt mein<br />

böser Bauch, die härtesten<br />

Schläge zu dulden!«<br />

Homer, Odyssee, 18:53<br />

»Daher glaubt man auch, es sei den Pythagoreern<br />

verboten, Bohnen zu essen, weil<br />

diese Speise eine starke Aufblähung verursacht,<br />

die der Ruhe des Geistes, der das<br />

Wahre sucht, entgegengesetzt ist.«<br />

Cicero, De Divinatione, 1.30.62.<br />

»Thinking is digesting« (»Denken ist verdauen«).<br />

Wittgenstein, Brief an Norman Malcolm, vom 26.6.1945<br />

»Eine erste solche prägenitale Sexualorganisation ist<br />

die orale oder, wenn wir wollen, kannibalische. Die<br />

Sexualtätigkeit ist hier von der Nahrungsaufnahme<br />

noch nicht gesondert, Gegensätze innerhalb derselben<br />

nicht differenziert.«<br />

Sigmund Freud,<br />

Drei Ahhandlungen über Sexualtheorie.<br />

»Und Jona betete zu dem HERRN,<br />

seinem Gott, im Leibe des Fisches.<br />

Und sprach: Ich rief zu dem<br />

HERRN in meiner Angst, und er<br />

antwortete mir; ich schrie aus dem<br />

Bauche der Hölle, und du hörtest<br />

meine Stimme.«<br />

Jona 2:1f<br />

»Und sag ich demnach der auswendige Mensch sei das Tier so sich der Vernunft gebraucht und dem der<br />

Wille des Blutes zugehöret. Der inwendige aber sei kein Tier; sondern das wahrhaftige Ebenbild Gottes.«<br />

Johan Baptista van Helmont, De magnetica Vulnerum curatione<br />

»Es gibt zwei Sorten Ratten:<br />

Die hungrigen und satten.<br />

Die satten bleiben vergnügt zu Haus,<br />

Die hungrigen aber wandern aus.«<br />

Heinrich Heine, Die Wanderratten<br />

Wenn wir etwas als „geistig“ erleben, steht unser<br />

Bauch dabei Pate: Wir verdauen Ideen,<br />

verschlingen Bücher, schlucken Unerwünschtes,<br />

verbeissen uns in Probleme, kämpfen mit<br />

intellektuellen Verstopfungen und begriffl ichem<br />

Dünnpfi ff.<br />

Ob uns Ereignisse uns auf den Magen schlagen,<br />

verliebte Schmetterlinge unseren Bauch<br />

Univ. Prof. Konrad Paul LIESSMANN<br />

(* 13. April 1953 in Villach) ist Universitätsprofessor<br />

für „Methoden der Vermittlung von<br />

Philosophie und Ethik“ an der Universität Wien.<br />

erfreuen, Boshaftigkeit zum Erbrechen reizt,<br />

Geschmacklosigkeit den Appetit verdirbt: Die<br />

Organen des Verdauungsschlauchs liefern uns<br />

Metaphern für das Verständnis unserer selbst<br />

und der Welt in der wir leben.<br />

Aber handelt es sich hier wirklich immer um Metaphern?<br />

Wer sich vor Angst in die Hose macht,<br />

der hat tatsächlich ein Problem, sei es metaphorisch<br />

oder konkret. Verdauung lässt sich als<br />

ein körperlicher Vorgang verstehen, aber Verdauung<br />

steht auch in nachvollziehbaren Bezügen<br />

zu unseren Gedanken. Begriffl iche Bilder<br />

der Verdauung sind die Kehrseite konkreter Bilder<br />

der Verdauung. Ding und Begriff gehören<br />

zueinander. Wie sollten wir uns denn Verdau-

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!