ST/A/R_55
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Nr. <strong>55</strong>/2017 Buch I - Verdauung und Philosophie<br />
<strong>ST</strong>/A/R 7<br />
Das muss man erst<br />
einmal verdauen?<br />
»Nicht wahr, mein lieber Adeimantos, fuhr ich fort, wir dürfen demnach auch aus dieser<br />
allgemeinen Wahrheit die Behauptung aufstellen, dass auch die Edelsten allemal ganz<br />
besonders schlecht werden, wenn sie eine schlechte Erziehung bekommen? Oder meinst<br />
du, die großen Verbrechen und die ausgemachteste Schlechtigkeit kämen von einer gemeinen<br />
und nicht vielmehr aus einer der Anlage nach herrlichen, aber durch die erhaltene<br />
geistige Nahrung verdorbenen Naturanlage, da ja eine schwache Natur zu Großem<br />
weder im Guten noch im Schlechten Veranlassung sein kann?«<br />
Platon, Poleteia, 491e.<br />
Ȇber die Physiognomie und die Zeichen des Bauches: Magerkeit und Schlankheit<br />
des Bauches sind Zeichen für einen gesunden Verstand, geistige Grösse<br />
und Eifer. Übermässige Magerkeit und Schmächtigkeit deuten auf einen<br />
schüchternen und korrumpierten Verstand und Völlerei hin. Ein grosser und<br />
fleischiger Bauch, weist auf eine Beschädigung des lebhaften sexuellen Appetits<br />
durch Trunkenheit hin, besonders wenn er weich ist und sich nach unten<br />
ausdehnt. Wenn er infolge eines bösartigen Lebens wirklich viel Fleisch hat und<br />
hart ist, weist das auf unehrenhaftes Verhalten, Gerissenheit und Versändnislosigkeit<br />
hin.«<br />
Polemon von Athen<br />
»Alle Tätigkeiten des Geistes sind nichts als verschiedene Weisen der Zurückführung des Äußerlichen zu der Innerlichkeit,<br />
welche der Geist selbst ist, und nur durch diese Zurückführung, durch diese Idealisierung oder Assimilation<br />
des Äußerlichen wird und ist er Geist.«<br />
Hegel, Enzyklopedie der philosophischen Wissenschaften III, Einleitung: Begriff des Geistes, §381 Z, S. 21.<br />
»Meine Opfer richte ich an mich selbst und<br />
an meinen Bauch, die höchste aller Gottheiten.«<br />
Der Zyklop, im gleichnamigen Theaterstück<br />
von Euripides.<br />
»Was die Erde für die Bäume, ist für<br />
die Lebewesen der Bauch.«<br />
Hippocrates, Humours, 11.1.<br />
»Nun ist das Gedächtnis so etwas wie der Magen des Geistes,<br />
Freude und Trauer sind wie eine süße und eine bittere<br />
Speise.«<br />
Augustinus von Hippo, Die Bekenntnisse<br />
»Die Kreter sind immer Lügner, böse<br />
Tiere und faule Bäuche.«<br />
Epimenides der Kreter, nach Titus 1,12<br />
»Die bloße Erfahrung kann das Denken nicht ersetzen.<br />
Die reine Empirie verhält sich zum Denken, wie<br />
Essen zum Verdauen und Assimilieren. Wenn jene<br />
sich brüstet, dass sie allein durch ihre Entdeckungen<br />
das menschliche Wissen gefördert habe; so ist es, wie<br />
wenn der Mund sich rühmen wollte, dass der Bestand<br />
des Leibes sein Werk allein sei.«<br />
Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II,<br />
532.)<br />
»...und während seine unzüchtigen Hände auf meinen<br />
Arschbacken herumspazieren, erbreche ich das<br />
ganze unvollkommen verdaute Dîner, welches das<br />
Brechmittel herausbeförderte, in seinen Mund.«<br />
Sade, 120 Journ., 6. Tag.<br />
»Jede Zeit bedarf so viel Historie, als sie in Fleisch und<br />
Blut, durch Verdauen, umsetzen kann; so dass die stärkste<br />
und gewaltigste am meisten Geschichte vertragen wird.<br />
Wie aber, wenn schwächliche Zeiten mit ihr überfüllt werden!<br />
Welche Verdauungsbeschwerden, welche Ermüdung<br />
und Kraftlosigkeit!«<br />
Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, 1873,29[32].<br />
»Hätte die Natur nicht gewollt dass der Kopf den Forderungen des Unterleibes Gehör geben<br />
sollte, was hätte sie nötig gehabt den Kopf an einen Unterleib anzuschließen. Dieser hätte sich<br />
ohne eigentlich dasjenige zu tun was man Sünde nennt satt essen und sich satt paaren und<br />
jener ohne diesen Systeme schmieden, abstrahieren und ohne Wein und Liebe von platonischen<br />
Räuschen und platonischen Entzückungen reden und singen und schwatzen können.«<br />
Lichtenberg, Sudelbücher, BI323.<br />
ungsvorgänge denken, die ausschliesslich das<br />
Denken oder ausschliesslich den Körper betreffen?<br />
Gegen eine strikte Trennung zwischen Bild<br />
und Ding sprechen neurologische und bio-chemischer<br />
Wechselwirkungen zwischen Bauch und<br />
Kopf. Verdauung und selbstbewusstes Denken<br />
sind verwoben. Maschinen können nicht verdauen,<br />
jedenfalls nicht so, wie Menschen und andere<br />
Lebewesen es tun.<br />
Verdauung beschäftigt uns. Sie ist eine Quelle<br />
höchster Lust, aus der wir schon als Säuglinge<br />
schöpfen, aber sie spielt uns auch böse Streiche.<br />
Vielen Menschen ist das Thema peinlich, es fällt<br />
es nicht immer leicht über Verdauung zu sprechen.<br />
Nichtsdestoweniger durchziehen Bemerkungen<br />
zur Verdauung die Geschichte der Philosophie<br />
wie ein roter Faden.<br />
Konrad Paul Liessmann und Christian Walter<br />
Denker nehmen den Faden in einem Zwiegespräch<br />
auf. Wo es Gutes zu verdauen gibt (das<br />
vielversprechende Menu zur Kritik der kulinarischen<br />
Vernunft fi nden Sie auf Seite 4) sollen passende<br />
Begriffe nicht fehlen.<br />
Dr. Christian Walter DENKER<br />
(* 17. Dezember 1965 in Hamburg) lehrt am<br />
Fachbereich für Literatur und Kunst<br />
der Universität im Burgund.