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ST/A/R_55

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8 <strong>ST</strong>/A/R<br />

Buch I - Verdauung und Philosophie Nr. <strong>55</strong>/2017<br />

Verdauung, Sex und Liebe<br />

Worauf wuerden Sie am ehesten verzichten?<br />

Was ist wichtig im Leben und was ist dabei wesentlich?<br />

Platon beschreibt die Menschen als gierige, unersättliche<br />

Wesen. Zum Glück haben die Götter<br />

den Gang der Nahrung durch die Bäuche verzögert,<br />

durch unzählige Darmschlingen. So müssen<br />

wir uns nicht pausenlos um die Bändigung eines<br />

anhaltenden Hungers sorgen, sondern haben Zeit<br />

für Kultur und Philosophie. Aristoteles bezieht Vorstellungen<br />

zum erfüllten Leben begriffl ich auf volle<br />

Bäuche. Mit Epikur scheint das moralisch Gute in<br />

Bäuchen zu wurzeln.<br />

Schreckliche Bäuche<br />

Doch manche Philosophen haben wenig Freude<br />

an Bäuchen. Im Gegenteil: der Unterleib erscheint<br />

ihnen als dunkle Höhle, fl ammende Hölle, als Hort<br />

furchtbarer Ungeheuer, blinder Triebe, chaotische<br />

Unvernunft, ungehemmter Lust und nackte<br />

Boshaftigkeit. Besonders weibliche Bäuche, erscheinen<br />

mitunter als Inbegriff des Schreckens.<br />

Entgegen verbreiteter Wünsche für den Erhalt der<br />

menschlichen Gattung rät so mancher Philosoph<br />

zur Mäßigung, mitunter auch zu weitgehender Beschränkung<br />

von Verdauung, Sex und Liebe.<br />

Hungertod als Rettung<br />

Als Ausweg aus unserer persönlichen Verstrickung<br />

in die Geschäfte der Bäuche bietet sich<br />

der Selbstmord. Darauf soll schon der antike Philosoph<br />

Hegesias in seiner Schrift Apokarterṓn<br />

(Der Hungerselbstmörder) hingewiesen haben.<br />

Das Argument scheint einfach: Wer sinnliche Lust<br />

erleben und körperlichen Schmerz vermeiden<br />

möchte, der muss sich um die Vermeidung von<br />

Unlust bemühen. Aber die Vermeidung von Unlust<br />

ist nicht immer möglich. Nichts ist nur angenehm<br />

oder nur unangenehm. Im erwünschtem Ausmaß<br />

sind Glück und Lust mitunter nicht verfügbar. Jede<br />

Freude kann in ihr Gegenteil umschlagen, gerade<br />

bei Übersättigung. Nur wer die Welt und das<br />

Leben neutral betrachtet, kann dem Auf und Ab<br />

der Unlust entkommen. Der Hungertod steht allen<br />

Menschen offen, seien sie arm, reich, frei oder namenlos.<br />

Radikale Diät<br />

Längst nicht alle Philosophen befürworten den<br />

Hungertod. Nichtsdestoweniger prägen asketische<br />

Ideale nicht nur frühe ägyptische, hebräische<br />

und griechische Weisheitslehren, sondern auch<br />

die frühe christliche Philosophie. Mit seiner Abneigung<br />

gegen volle Bäuche, die Gase in alle Richtungen<br />

abgeben und damit den Geist verstören<br />

steht der Kirchenvater Hieronymus nicht allein.<br />

Jungfräulichkeit wird der Ehe und Fasten dem<br />

Fleischgenuss vorgezogen. Hunger gilt als so erstrebenswert<br />

wie Armut und Anstrengung. Durch<br />

sexuelle und digestive Verlockungen entfache der<br />

Teufel die Flammen der Leidenschaft. Selbst dem<br />

braven Einsiedler Hilarion habe er furchtbare Bilder<br />

vor die Seele treten lassen: üppige Mahlzeiten,<br />

serviert von nackten Weibern! Eingedenk des<br />

Hungertods seiner Ziehtochter rät Hieronymus<br />

aber nicht zu letzter Konsequenz beim Fasten<br />

Beim Kampf gegen volle Bäuche scheint Selbstmord<br />

nicht als mehrheitsfähige Lösung.<br />

Wer liebt verdaut<br />

Wer leben will, muss sich in einer durch Verdauung<br />

geprägten Umwelt behaupten. Das gilt gerade<br />

dort, wo Sex und Verdauung liebevoll betrieben<br />

werden. Descartes: was wir wahrhaft lieben, wollen<br />

wir verinnerlichen, auch geliebte Menschen,<br />

mit Haut und Haaren. Liebe zu einer Person beinhalte<br />

eine Entscheidung für die Verdauung ihrer<br />

Macht. Das müsse aber nicht zum Kannibalismus<br />

führen. Ob bei der Liebe sexuelles Verlangen im<br />

Spiel ist oder nicht: laut Descartes wünschen wir<br />

unseren Lieben eine Existenz unter den bestmöglichen<br />

Bedingungen. Eine Person, die wir besitzen<br />

wollen -sei es konkret, metaphorisch, körperlich<br />

oder geistig- werde deshalb nicht zum Nahrungsmittel.<br />

Verklemmung<br />

Unsere Bäuche bereiten uns nicht nur Freude.<br />

Verdauungsprobleme, schlechter Sex und trübe<br />

Liebe gehören zum Alltag vieler Menschen. Philosophen<br />

machen da keine Ausnahme. Im Gegenteil:<br />

scharfsinnige Denker wie Kant, Nietzsche und<br />

Wittgenstein litten schwer an gastraler Verklemmung.<br />

Kant versuchte seine „Gelehrtenkrankheit“<br />

zu überwinden indem er sich bemühte, seine Verdauung<br />

lachend in Schwung zu versetzen; Geschlechtsverkehr<br />

geriet ihm allerdings als Affront<br />

gegen die menschliche Würde. Beim jungen und<br />

beim alten Nietzsche prägten Verdauungsprobleme<br />

das philosophische Denken, sexuelle Frustration<br />

stand dabei Pate. Ähnlich Wittgenstein, der<br />

Verdauung durch exzessiven Gebrauch von Medikamenten<br />

und durch Bemerkungen zu Schmerzen<br />

behandelte. Bemerkungen zu seinen sexuellen<br />

Freuden und Leiden trennte er peinlich von dem,<br />

was er für öffentlich sagbar hielt.<br />

Schweigen hilft nicht weiter<br />

Wim Delvoye, Kuss<br />

Soviel dürfte klar sein: Schweigen macht den<br />

Umgang mit den Anliegen der Bäuche nicht leichter.<br />

Die Ausgrenzung von Fragen zu Verdauung,<br />

Sex und Liebe aus dem Bereich der Philosophie<br />

führt zu Verunsicherung. Mangelnder Überblick<br />

beschränkt den Diskurs auf persönliche, subjektive<br />

oder gar „private“ Aspekte. Unser Umgang<br />

mit Verdauung, Sex und Liebe entwickelt sich in<br />

einem sehr allgemeinen Rahmen. Leider fi ndet<br />

dieser Rahmen in der akademischen Philosophie<br />

gegenwärtig vergleichsweise wenig Beachtung.<br />

Das begünstigte eine Lawine humoristischer, esoterischer<br />

und gastronomischer Veröffentlichungen.<br />

Die Bedeutung dieser Veröffentlichungen<br />

ist ohne philosophische Hinterfragung kaum zu<br />

bestimmen. Schweigen zu Verdauung, Sex und<br />

Liebe schafft keine Klarheit. Ohne philosophische<br />

Hinterfragung sind die Hintergründe einzelwissenschaftlicher<br />

Erklärungen zur sozialen, psychologischen,<br />

neuronalen, religiösen oder künstlerischen<br />

Bedeutung der Bäuche schwer bestimmbar.<br />

Maß und Selbsterkenntnis<br />

Fragen zu Bäuchen sind philosophisch bedeutsam.<br />

Die Begriffe Verdauung, Sex und Liebe beziehen<br />

sich auf zentrale Aspekte der menschlichen<br />

Existenz, als Einzelwesen und als Gattung.<br />

Positionen zur Fehlernährung bei Überfl uss und<br />

Mangel, zur Überbevölkerung und zur sexuellen<br />

Diskriminierung lassen sich nicht unabhängig von<br />

philosophischen Positionen zu Bäuchen beziehen.<br />

Maßlosigkeit und Selbstverkennung verstärken<br />

die verbreitete Unsicherheit. Philosophische<br />

Fragen zu Maß und Selbsterkenntnis motivieren<br />

Fragen zu Verdauung, Sex und Liebe. Will die Philosophie<br />

ihren Bezug zu den alltäglichen Problemen<br />

der Menschen bewahren, muss sie Fragen<br />

zum Umgang mit Bäuchen behandeln.<br />

Keith Haring, Untitled, 1987,<br />

Potsdamer Platz, Berlin.

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