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Ausgabe 1/2 2010 - BDH

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Buchtipp!!!<br />

Wie funktioniert das Gehirn? Rund<br />

um den Globus suchen Ärzte, Neurologen,<br />

Psychiater auf diese Frage<br />

eine Antwort. Sie analysieren chemische<br />

Prozesse, messen Gehirnströme,<br />

machen Schichtaufnahmen.<br />

Aber was passiert mit den Gedanken,<br />

mit den Erinnerungen, mit<br />

den Bildern, mit den eigenen<br />

Worten, die einem so durch<br />

den Kopf gehen? Kathrin<br />

Schmidt hat für das Buch „Du<br />

stirbst nicht“ 2009 den Deutschen<br />

Buchpreis bekommen<br />

– ein Roman, der auf diese<br />

Frage eine ganz greifbare<br />

Antwort gibt.<br />

Helene Wesendahl nennt Kathrin<br />

Schmidt ihre Hauptfigur.<br />

So hat die Schriftstellerin sich<br />

literarisch verkleidet. Sie und<br />

Helene sind im Jahr 2002 44<br />

Jahre alt, sie sind Schriftstellerinnen<br />

und haben als Psychologinnen<br />

gearbeitet. Helene<br />

Wesendahl, Mutter, Ehefrau,<br />

Freundin, Journalistin,<br />

Autorin, erwacht im Krankenhaus<br />

aus dem Koma, nachdem<br />

ein Blutgerinnsel aus ihrem<br />

Kopfinnern ein Trümmerfeld<br />

gemacht hat. So etwas<br />

kann man sich nicht vorstellen<br />

– das macht sprachlos.<br />

Bilder, Worte, Stimmen sind durcheinander<br />

geraten. Wie bei einem<br />

Glückspielautomaten rasen sie auf<br />

verschiedenen Rädchen aneinander<br />

vorbei, bleiben nur kurz stehen,<br />

ergeben aber nie ein zusammengehörendes<br />

Bild. Kathrin Schmidt eine<br />

Meisterin des Wortspiels, preis-<br />

<strong>BDH</strong>-Kurier 1/2 <strong>2010</strong><br />

Aneurysma,<br />

das klingt schön<br />

gekrönte Schriftstellerin und Lyrikerin<br />

aus Gotha, ist genau das<br />

2002 passiert – Sprachverlust.<br />

Ausgerechnet ihr – glücklicherweise<br />

ihr?<br />

Schmidt lässt Helene Wesendahl<br />

ein Tagebuch schreiben – von den<br />

Stimmen, zu denen es Erinnerungen<br />

gibt, die aber nicht zu den Menschen<br />

passen, die sie sieht. Von<br />

den Puzzle-Teilen im Kopf, die man<br />

dreht und wendet und mühsam suchen<br />

muss, wohin sie im eigenen<br />

Leben gehören. Wesendahl schreibt<br />

von den Worten, die neu geformt<br />

werden müssen, und von der Rückeroberung<br />

der eigenen Erinnerung.<br />

Mit der Eroberung beginnt auch der<br />

Kampf um das eigene Leben. Weniger<br />

das Überleben, sondern die<br />

Herrschaft über den eigenen Kör-<br />

per, über die eigenen Entscheidungen<br />

und über die Deutungshoheit<br />

der eigenen Erinnerungen. Kathrin<br />

Schmidt schreibt: „Helene läuft die<br />

Jahre ab. Übt erinnern.“<br />

Helene Wesendahl ist eine Kopffrau.<br />

Dass ihr der Körper nicht mehr<br />

gehorcht, ist das, was die Außenwelt,<br />

ihre Umgebung wahrnimmt.<br />

Sie wird rehabilitiert – mit allem,<br />

was die Medizin zur Verfügung<br />

stellt: Stroke unit, Ergo- und Logotherapie,<br />

Psychologie und, und,<br />

und. Aber Wesendahl arbeitet<br />

sich in ihrem Kopf<br />

vor – wie eine Archäologin<br />

gräbt sie nach Erinnerungsscherben.<br />

Legt sie<br />

frei, sortiert, katalogisiert<br />

und sucht nach passenden<br />

Stückchen.<br />

Sie macht Entdeckungen<br />

über ihr eigenes Leben:<br />

Dass die Ehe mit Matthes,<br />

der so fleißig neben ihr<br />

sitzt und Händchen hält,<br />

am Ende war. Sie rätselt<br />

und spürt nach dem, was<br />

wirklich war, will sich nicht<br />

darauf verlassen, was etwa<br />

ihr Mann Matthes in ihr<br />

wachrufen will. Sie kramt<br />

in den hintersten Winkeln<br />

ihres Bewusstseins. Was<br />

sie entdeckt ist manchmal<br />

verwirrend, manchmal erschreckend,<br />

manchmal<br />

traurig, aber sie lässt sich<br />

ihr altes Leben nicht aus<br />

der Hand nehmen.<br />

Das macht das Buch so mutig und<br />

so ermutigend. Der Leser folgt Helene<br />

Wesendahl auf der Reise. Er<br />

sitzt mit ihr in ihrem Kopfgefängnis,<br />

staunt, fühlt, wütet über das, was<br />

sie entdeckt. Und man sägt auch<br />

an den Gitterstäben. Das Hirn wird<br />

9<br />

Ratgeber

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