Zdirekt! 01-2022
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Z direkt! <strong>01</strong>/<strong>2022</strong><br />
BERLIN DIREKT 33<br />
Warum erhöht nicht jede Bundesregierung den gesetzlichen<br />
Mindestlohn spürbar? Der Applaus einer großen<br />
Mehrheit wäre ihr sicher. Ein höheres Einkommen wird<br />
jeder Empfänger und jede Empfängerin dankbar entgegennehmen<br />
und einkommensstärkere Gruppen, die<br />
nicht unmittelbar von der Mindestlohnhöhe profitieren,<br />
werden es gönnen. Gedanken an Wohnungsmieten<br />
oder Stromrechnungen rufen sehr schnell ein Gefühl<br />
von „richtig“ hervor.<br />
Weshalb fährt dann nicht jede Bundesregierung (mehrfach)<br />
die Stimmenbeute eines höheren Mindestlohns<br />
ein? In Demokratien müssen Regierungen immer wieder<br />
Spannungen zwischen Mehrheitswünschen und<br />
„objektiven Mechanismen“ aushalten, die in Märkten<br />
angelegt sind. Erkannt wurde dies vor langer Zeit – und<br />
mag schmerzen, dass hier wesentliche Entscheidungen<br />
dem Mehrheitswillen entzogen wurden. Gerade hieran<br />
kann man aber auch erkennen, dass gewichtige Gründe<br />
für diese Lösung sprechen. Politiker und Politikerinnen<br />
lassen sich in Zeiten mangelnden Wählerzuspruchs womöglich<br />
doch nicht durch unsichtbare Marktprozesse<br />
davon abhalten, Geld zu verschenken. Die unsichtbaren<br />
Marktprozesse haben allerdings das Potential, das gesamtwirtschaftliche<br />
Gleichgewicht empfindlich zu stören,<br />
wenn sie ignoriert werden. Kommt es so weit, hält<br />
es für niemanden Vorteile bereit. Genau deshalb haben<br />
die Mütter und Väter des Grundgesetzes unter anderem<br />
die Tarifautonomie im Grundgesetz verankert. Sie ist<br />
»Es ist nicht nachzuvollziehen,<br />
dass die neue Regierung durch eine<br />
politisch festgesetzte Vorgabe die<br />
Arbeit der Mindestlohnkommission<br />
konterkariert und die Tarifautonomie<br />
geringschätzt.«<br />
hat auch in Deutschland zu gravierenden praktischen<br />
Konsequenzen geführt. Die Entscheidungskompetenz<br />
über einige bedeutsame Fragen wurde bewusst dem<br />
direkten demokratischen Zugriff, den (oftmals lautstarken)<br />
Wahlkämpfen und den politischen Verlockungen<br />
nach beliebten Entscheidungen entzogen. Sie wurden<br />
in die Hände unabhängiger Institutionen gelegt, die<br />
sich nicht unmittelbar dem Wählervotum stellen. Gerade<br />
vor der Versuchung, Geld im Übermaß zu verteilen,<br />
ohne die Nebenwirkungen zu berücksichtigen,<br />
sollen Regierung und Gesetzgeber geschützt werden:<br />
Geldpolitische Entscheidungen trifft eine unabhängige<br />
Zentralbank und Lohnentwicklungen vereinbaren Gewerkschaften<br />
und Arbeitgeberverbände autonom. Es<br />
kein Schlagwort, sondern der Versuch, Störungen der<br />
volkswirtschaftlichen Stabilität durch einen Interessenausgleich<br />
der beteiligten Gruppen zu verhindern. Es gibt<br />
keine „objektiv richtigen“ Löhne. Es gibt nur Löhne, auf<br />
die sich Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen mit Arbeitnehmern<br />
und Arbeitnehmerinnen verständigen können.<br />
Die gesamtwirtschaftliche Stabilität ist nur ein Ziel des<br />
deutschen Staates. Zu den anderen zählt die Armutsbekämpfung.<br />
Für sie steht ein breiter Instrumentenkasten<br />
zur Verfügung. Viele Ökonominnen und Ökonomen<br />
trennen Armutsbekämpfung und Lohnfindung strikt<br />
voneinander. Sie wollen die skizzierten Zusammenhänge<br />
schützen. Löhne sind in dieser Lesart eine ökonomische