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Stefan Alkier | Thomas Paulsen | Simon Dittmann: Apocalypse Now? (Leseprobe)

Die Johannesapokalypse wurde als Buch universaler Hoffnung in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen. Wie aber wurde aus seiner prophetischen trostvollen Hoffnungsbotschaft ein Buch kosmologischer Schrecken und Weltuntergangsszenarien, das »Apokalypse« als Steigerung von »Katastrophe« auffassen lässt? Die Beiträge des Bandes, die aus einem gemeinsam veranstalteten interdisziplinären Seminar des Gräzisten Thomas Paulsen und des Neutestamentlers Stefan Alkier hervorgegangen sind, thematisieren die Reduktion der Johannesapokalypse auf ein Katastrophenbuch von Dante Alighieri über Martin Luther bis hin zu Terry Pratchett und dem Videospiel Darksiders. Dabei wird deutlich, wie sehr die Rezeptionsgeschichte die Wahrnehmung dieses spannenden Buches einer kosmologischen Theologie prägt und mitunter auch verzerrt. Mit Beiträgen von Stefan Alkier, Dominic Blauth, Simon Dittmann, Luca Ganz, Nadine Haas, Helena Malsy, Thomas Paulsen und Lennart Witek.

Die Johannesapokalypse wurde als Buch universaler Hoffnung in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen. Wie aber wurde aus seiner prophetischen trostvollen Hoffnungsbotschaft ein Buch kosmologischer Schrecken und Weltuntergangsszenarien, das »Apokalypse« als Steigerung von »Katastrophe« auffassen lässt? Die Beiträge des Bandes, die aus einem gemeinsam veranstalteten interdisziplinären Seminar des Gräzisten Thomas Paulsen und des Neutestamentlers Stefan Alkier hervorgegangen sind, thematisieren die Reduktion der Johannesapokalypse auf ein Katastrophenbuch von Dante Alighieri über Martin Luther bis hin zu Terry Pratchett und dem Videospiel Darksiders. Dabei wird deutlich, wie sehr die Rezeptionsgeschichte die Wahrnehmung dieses spannenden Buches einer kosmologischen Theologie prägt und mitunter auch verzerrt.

Mit Beiträgen von Stefan Alkier, Dominic Blauth, Simon Dittmann, Luca Ganz, Nadine Haas, Helena Malsy, Thomas Paulsen und Lennart Witek.

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<strong>Stefan</strong> <strong>Alkier</strong> | <strong>Thomas</strong> <strong>Paulsen</strong> (Hrsg.)<br />

<strong>Apocalypse</strong> <strong>Now</strong>?<br />

Studien zur Intertextualität und<br />

Intermedialität der Johannesapokalypse<br />

von Dante bis Darksiders


Zum Geleit<br />

Die Johannesapokalypse wurde als Buch universaler Hoffnung<br />

in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen. Wie<br />

aber wurde aus seiner prophetischen, trostreichen und zuversichtlichen<br />

Hoffnungsbotschaft ein Buch kosmologischer<br />

Schrecken und Weltuntergangsszenarien, das »Apokalypse«<br />

als Steigerung von »Katastrophe« auffassen lässt? Dieser Frage<br />

sind wir in einem gemeinsam veranstalteten interdisziplinären<br />

Seminar im Rahmen unseres hochschuldidaktischen<br />

Konzeptes »Forschendes Lernen« im Sommersemester 2021<br />

nachgegangen, das die Reduktion der Johannesapokalypse<br />

auf ein Katastrophenbuch von Dante Alighieri über Martin<br />

Luther bis hin zu Terry Pratchett und dem Videospiel Darksiders<br />

thematisierte. Dabei wurde deutlich, wie sehr die<br />

Rezeptionsgeschichte die Wahrnehmung dieses spannenden<br />

Buches einer trostreichen kosmologischen Theologie prägt –<br />

und mitunter auch verzerrt.<br />

Angelehnt haben wir unseren Buchtitel an den Filmtitel<br />

»<strong>Apocalypse</strong> <strong>Now</strong>« von Francis Ford Coppola aus dem Jahr<br />

1979, der nicht nur die Schrecken des Vietnamkrieges thematisiert,<br />

sondern den verheerenden Untergang von Menschlichkeit<br />

überhaupt durch die Entfesselung physischer und<br />

psychischer Gewalt durch die Politik des Krieges. Wir haben<br />

dahinter aber ein Fragezeichen gesetzt, um zu verdeutlichen,<br />

dass mit diesem Verständnis von Apokalypse die kosmologische,<br />

theologische und pragmatische Stoßrichtung der<br />

Johannesapokalypse gänzlich verfehlt wird. Die Johannes-<br />

5


Zum Geleit<br />

apokalypse feiert, anders als der Katastrophenfilm »Armageddon<br />

– Das jüngste Gericht« von Michael Bay aus dem Jahr<br />

1998, nicht die unabwendbare heroische Endschlacht,<br />

sondern verweist auf das mögliche Umdenken ( /<br />

metánoia) bis hinein in die Zeit des kommenden Gerichts. Das<br />

wunderschöne theopoetische Bild des letzten Buches der<br />

Bibel vom auf die Erde herabgekommenen prachtvollen<br />

himmlischen Jerusalem wird zum erquickenden Lebensort<br />

aller Völker und Gott selbst und sein Christus schlagen dort<br />

ihr Zelt dauerhaft auf. Gott und Mensch werden zusammen<br />

leben in Frieden und Überfluss, ohne Armut, Hunger,<br />

Ungerechtigkeit und Tod:<br />

»Nicht werden sie mehr hungern und nicht werden sie<br />

mehr dürsten und gewiss nicht fällt auf sie die Sonne und<br />

nicht jegliche Glut, weil das Böcklein oben auf der Mitte<br />

des Thrones sie weiden wird und sie den Weg führen wird<br />

zu Quellen der Wasser des Lebens, und abwischen wird<br />

Gott jede Träne aus ihren Augen.« (Apk 7,16f.)<br />

»Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron aus<br />

sprechen: ›Sieh: Das Zelt Gottes mit den Menschen und<br />

sein Zelt wird er aufschlagen mit ihnen und sie werden<br />

seine Völker sein, und er, Gott, wird mit ihnen sein, ihr<br />

Gott! Und abwischen wird er jede Träne aus ihren Augen<br />

und der Tod wird nicht mehr sein und Leid und Klage und<br />

Not werden nicht mehr sein, weil das Erste vergangen ist.‹<br />

Und es sagte der Sitzende auf dem Thron: ›Sieh: Neu<br />

mache ich alles!‹ Und er sagt: ›Schreibe, dass diese Worte<br />

zuverlässig sind und wahr!‹« (Apk 21,3–5)<br />

6


Zum Geleit<br />

Das ist eine andere Sprache, eine andere Sicht auf die Welt<br />

und ihre Zukunft als die Inszenierungen von »<strong>Apocalypse</strong><br />

<strong>Now</strong>« oder »Armageddon«. So spricht kein Weltuntergangsbuch,<br />

dass sich am Ende von Allem ergötzt, in dem Armageddon<br />

und Apokalypse quasi Synonyme sein sollen, wie es in<br />

einem langen Artikel in DIE ZEIT zu lesen war, der die Johannesapokalypse<br />

als Urtext aller Untergangsszenarien zu<br />

verstehen gab. Ein Dossier in »DIE ZEIT« vom 24. September<br />

2020 brachte das »Titelthema: Die (ewige) Angst vor der<br />

Apokalypse«. Der Leitartikel von Malte Henk trug den Titel:<br />

»Die Zeit ist nah!« und wurde leutselig erläutert durch die<br />

Unterschrift: »Klima-Krise, Demokratie-Krise, Corona-Krise:<br />

Ständig wird der Weltuntergang ausgerufen. Gut so, findet<br />

Malte Henk.« Der Grundgedanke dieses recht langen Artikels<br />

ist schnell zusammengefasst: Weltuntergangsszenarien<br />

können die wertvolle Zeit, die bis zum letztlich unausweichlichen<br />

Ende bleibt, zu schätzen lehren:<br />

»Jeder Politiker, jede Klimaforscherin, jede Aktivistengruppe<br />

versucht doch heute, sich nicht dem Vorwurf<br />

auszusetzen, den der Bundespräsident so formuliert hat:<br />

›Apokalypse lähmt!‹ Früher dachte ich ähnlich wie Frank-<br />

Walter Steinmeier. Nachdem ich mich ausführlicher mit<br />

dem Weltuntergang beschäftigt habe, bin ich anderer<br />

Meinung. Ich glaube inzwischen nicht mehr, dass Apokalypse<br />

lähmt, im Gegenteil, sie ist eine der großartigsten<br />

Erfindungen der westlichen Zivilisation. Und wie alle<br />

solchen Neuerungen hat auch diese ihren Gutenberg. Den<br />

Mann, mit dem alles begann. Ihn muss man kennen, will<br />

7


Zum Geleit<br />

man nachvollziehen, warum der Weltuntergang alles<br />

andere ist als ein Egalmacher.«<br />

»Vor 1900 Jahren saß ein Mann auf einer Insel am Rande<br />

des Römischen Reiches und schrieb eine Art Erfahrungsbericht.<br />

Er hatte an einem Sonntag – ja, was eigentlich?<br />

Ein spirituelles Erlebnis gehabt? Oder eine Story erfunden,<br />

als ein religiöser Relotius?«<br />

Es folgt der Versuch einer launigen Inhaltsangabe. Erstaunlicherweise<br />

aber vertauscht der belesene Journalist die<br />

Reihenfolge der letzten Visionen des Johannes. Wird in der<br />

Johannesapokalypse zunächst davon gesprochen, dass der<br />

alte Himmel und die alte Erde vergangen sind und er nun<br />

einen neuen Himmel und eine neue Erde sieht, auf die das<br />

neue Jerusalem als gemeinsame Wohnstätte für Gott, Jesus<br />

Christus und alle Völker der Erde hinabsteigt (vgl. Apk 21), so<br />

sieht Henk zunächst das himmlische Jerusalem und erst<br />

danach das Ende der Welt. Das führt ihn zu folgendem Fehlschluss:<br />

»Die Erde ist nicht mehr. Ihr Schicksal hat sich vollendet.<br />

Ich glaube, man sollte sich an dieser Stelle klarmachen, wie<br />

ungewöhnlich hier schon die Grundthese ist – dass unsere<br />

ganze Welt untergehen könnte.«<br />

8


Zum Geleit<br />

Nicht erst mit Johannes beginnt apokalyptische Literatur 1<br />

und schon gar nicht ist der Weltuntergang die »Grundthese«<br />

der Johannesapokalypse.<br />

Am Beginn der Auslegungsgeschichte steht dagegen der<br />

Bezug auf die Johannesapokalypse als eines prophetischen<br />

Buches, das Grund zur Hoffnung gibt. Das fünf Bücher<br />

umfassende Hauptwerk des Irenäus von Lyon (um 135–200) 2<br />

Adversus Haereses gebraucht und zitiert die vier Evangelien,<br />

die Paulusbriefe, aber eben auch die johanneischen Schriften<br />

neben den Büchern des Alten Testaments als verbindliche,<br />

autoritative Schriften. Insbesondere in Buch V wird die<br />

Johannesapokalypse in intertextueller Verschränkung mit<br />

Paulusbriefen und Psalmen Davids zum Kronzeugen der<br />

1<br />

2<br />

Vgl. dagegen David Hellhom, Art. Apokalyptik I. Begriffsdefinition<br />

als religionsgeschichtliches Phänomen, in: RGG 1, 4 1998, Sp. 590: »A[pokalyptik]<br />

als rel[igionsgeschichtliches] Phänomen stellt eine Offenbarungsmitteilung<br />

dar und unterscheidet sich von anderen Arten wie<br />

Prophetie […] Orakel, Mantik […] Weisheit […] und Gnosis. Sie kommt<br />

in der indo-ir.-germ., griech.-röm., mesopotamischen, äg[yptischen],<br />

jüd.-christl., gnost[ischen], isl[amischen], sowie in der Maya bzw. aztekischen<br />

Rel[igion] vor.« Vgl. auch Anathea E. Portier-Young,<br />

<strong>Apocalypse</strong> against Empire. Theology of Resistance in Early Judaism,<br />

Grand Rapids (MI)/Cambridge (UK) 2011; Michael Tilly, Apokalyptik,<br />

Tübingen 2012.<br />

Vgl. dazu Bernhard Mutschler, Das Corpus Johanneum bei<br />

Irenäus von Lyon, Studien und Kommentar zum dritten Buch von<br />

Adversus Haereses, WUNT 189, Tübingen 2006, 6: »Für ihn steht ein- und<br />

derselbe Verfasser hinter Evangelium, Brief(en) und Apokalypse.«<br />

9


Zum Geleit<br />

eschatologischen Erwartungen und Hoffnungen des wirkmächtigen<br />

Bischofs von Lyon. 3<br />

Obwohl es auf der Basis philologischer und stilistischer<br />

Untersuchungen schon bald Stimmen gab, die insbesondere<br />

den Evangelisten Johannes vom Verfasser der Apokalypse<br />

unterschieden – hier sei vor allem auf Dionysios von Alexandria<br />

(gest. 264/65) verwiesen 4 – setzte sich überwiegend die<br />

Auffassung durch, alle johanneischen Schriften seien vom<br />

selben Johannes abgefasst worden. Diese Auffassung manifestiert<br />

sich im 14. und 15. Jahrhundert auch in zwei Minuskelhandschriften,<br />

welche die fünf johanneischen Schriften<br />

aufeinander folgen lassen.<br />

In dieser Tradition steht auch noch Albrecht Dürer, wie<br />

<strong>Stefan</strong> <strong>Alkier</strong> in seinem Beitrag »Luthers Bibel« zeigt. Als<br />

Dürer nämlich 1498 das wohl erste Autorenbuch eines Künstlers<br />

publizierte mit dem Text der Johannesapokalypse und 18<br />

Holzschnitten ließ er mit dem vorangestellten Bild des<br />

Martyriums des Johannes keinen Zweifel daran, dass er<br />

Johannesevangelium und Johannesapokalypse – und wohl<br />

auch die Briefe – als Werke eines einzigen Autors begriff und<br />

wertschätzte. Luthers Septemberbibel von 1522 tritt demgegenüber<br />

nicht nur für die schon von Dionysios philologisch<br />

gut begründete Unterscheidung der Verfasser von Johannesevangelium<br />

und Johannesapokalypse ein, vielmehr verbannt<br />

3<br />

4<br />

Vgl. Georg Kretschmar, Die Offenbarung des Johannes. Die<br />

Geschichte ihrer Auslegung im 1. Jahrtausend, Calwer theologische<br />

Monographien 9, Stuttgart 1985, 74f.<br />

Vgl. dazu Martin Karrer, Johannesoffenbarung (Offb 1,1–5,14), EKK<br />

XXIV/1, Ostfildern/Göttingen 2017, 120; vgl. auch Kretschmar,<br />

a. a. O., 71–73.<br />

10


Zum Geleit<br />

er die Johannesapokalypse aus seinem Septembertestament<br />

und bläst damit die erste Posaune für eine spezifisch protestantische<br />

Diffamierung ihrer theologischen Leistung.<br />

Ob Luthers Abneigung auch etwas mit der Wirkung von<br />

Dante Alighieris intertextueller Einschreibung der Johannesapokalypse<br />

in seine epochale göttliche Komödie, wie sie<br />

Helena Malsy aufzeigt, zu tun hat, in der er die spätestens auf<br />

Augustin zurückgehende Konstruktion einer Höllentheologie<br />

in die Poetik der Weltliteratur überführte, ist eine<br />

offene Frage. Eine Übersetzung ins Deutsche oder Lateinische<br />

lag zu Luthers Lebzeiten jedenfalls nicht vor. Sicher dagegen<br />

ist die Rezeption der göttlichen Komödie durch Michelangelo,<br />

wie der Beitrag von Nadine Haas vor Augen führt.<br />

Damit wird die Johannesapokalypse im Machtzentrum der<br />

Römisch-Katholischen Kirche medial und autoritativ in die<br />

Höllenkonstruktion Dantes weiter eingebunden.<br />

Die Abwertung der Johannesapokalypse als einer gekünstelten<br />

und unverständlichen Kopfgeburt mit sieben Siegeln<br />

erhielt mit dem Ursprungsdenken im letzten Drittel des<br />

18. Jahrhunderts neue Nahrung. Mit der Etablierung literarkritischer<br />

Ursprungssuche erwuchsen der Exegese neue<br />

Optionen, die seit Luther ungeliebte Johannesapokalypse aus<br />

dem vermeintlich ursprünglich Christlichen endlich ganz zu<br />

entfernen und sie in das noch weniger geliebte, teils sogar<br />

verhasste Judentum zu verbannen. Schon Johann Salomo<br />

Semler (1725–1791) hatte sie in den Kontext jüdischer Schriftproduktion<br />

– und das heißt für die Exegese des 18., 19. und<br />

20. Jahrhunderts weitgehend nichtchristlichen Denkens –<br />

gestellt. Jüdisch und judenchristlich sind von Semler bis hin zu<br />

Rudolf Bultmann (1884–1976) kaum nur deskriptive, sondern<br />

11


Zum Geleit<br />

abwertende Begriffe. Das Jüdische gilt als das Enge, Partikularistische,<br />

Gesetzliche, Selbstbezogene, während das Christliche<br />

für Universalismus und Freiheit steht. 5 Das bereits von<br />

Carsten Colpe 6 klarsichtig dekonstruierte Begriffsmonstrum<br />

Judenchristentum, das von Hella Lemke 7 forschungsgeschichtlich<br />

aufgearbeitet wurde, steht für ein überholtes Christentum,<br />

das sich nicht mit dem Urchristlichen messen konnte. Die<br />

Literarkritik zerlegte den noch von Eduard Reuss 8 (1804–1891)<br />

gesehenen poetischen Zusammenhang der Johannesoffenbarung<br />

solange in ihre Einzelteile, bis sie als christliche<br />

Schrift nicht mehr erkennbar war. So prangert Eberhard<br />

Vischer in seinem in der ersten Auflage der RGG erschienenen<br />

Artikel »Offenbarung des Johannes« an:<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

Im Extrem zeigen sich derartige Auswüchse in der Deutung der Johannesapokalypse<br />

bei einigen nationalsozialistisch beeinflussten Auslegern.<br />

Hierzu Tobias Nicklas, Apokalypse und Antisemitismus. Die<br />

Offenbarung des Johannes bei Auslegern im Umfeld des Nationalsozialismus,<br />

in: Michael Labahn/Martin Karrer (Hg.), Die Johannesoffenbarung.<br />

Ihr Text und ihre Auslegung, Arbeiten zur Bibel und<br />

ihrer Geschichte 38, Leipzig 2012, 347–370.<br />

Carsten Colpe, Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen<br />

zwischen Judentum, Judenchristentum, Heidentum und frühem<br />

Islam, ANTZ 3, Berlin 1989; vgl. <strong>Stefan</strong> <strong>Alkier</strong>/Hartmut Leppin<br />

(Hg.), Juden – Heiden – Christen? Religiöse Inklusionen und Exklusionen<br />

im Römischen Kleinasien bis Decius, WUNT 400, Tübingen 2018.<br />

Hella Lemke, Judenchristentum. Zwischen Ausgrenzung und Integration.<br />

Zur Geschichte eines exegetischen Begriffes, Hamburger<br />

Theologische Studien 25, Münster 2001.<br />

Eduard Reuss, Art. Johannes (der Apostel. D. Johanneische Apokalypse),<br />

in: Johann Samuel Ersch/Johann Gottfried Gruber<br />

(Hg.), Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste,<br />

Zweite Section, 22. Theil, hg. v. Andreas Gottlieb Hoffmann,<br />

Leipzig 1843, 79–94.<br />

12


Zum Geleit<br />

»[…] unser Buch zeigt mit großer Deutlichkeit, wie unter<br />

dem Einflusse der jüdisch-apokalyptischen Vorstellungen<br />

das Bild Jesu, das uns noch aus den synoptischen Evangelien<br />

entgegenblickt, mit Zügen aus der Wunderwelt des<br />

Mythus ausgestattet worden ist und die einfachen, großen<br />

Worte Jesu hinter phantastischen Erwartungen zweifelhaften<br />

Wertes zurückgetreten sind.« 9<br />

Auf dieser Linie verunglimpfte Rudolf Bultmann die Apokalypse<br />

auch noch 1968, in der sechsten, von ihm selbst besorgten<br />

Auflage seiner Theologie des Neuen Testaments »als ein<br />

schwach christianisiertes Judentum […] Die Bedeutung<br />

Christi beschränkt sich doch im Wesentlichen darauf, daß er<br />

der leidenschaftlichen Hoffnung die Sicherheit gibt, die den<br />

jüdischen Apokalyptikern fehlt.« 10 Das Johannesevangelium<br />

gilt ihm dagegen wie schon Luther in seinem Septembertestament<br />

neben Paulus als maßgebliche neutestamentliche<br />

Theologie.<br />

Es ist sicherlich zumindest für den deutschsprachigen<br />

Raum kein Zufall, dass es erst in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts<br />

gleichermaßen zu einem Umdenken bezüglich des<br />

Verhältnisses von Judentum und Christentum in kirchlichen<br />

Verlautbarungen 11 kommt und zur selben Zeit die Bewertung<br />

der theologischen Leistung der Johannesapokalypse<br />

9<br />

Eberhard Vischer, Art. Offenbarung des Johannes, in: RGG 1,<br />

Tübingen 1913, Sp. 922–938.<br />

10 Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, durchges. u.<br />

erg. v. Otto Merk, Tübingen 9 1984, 525f.<br />

11 Vgl. Rheinischer Synodalbeschluss »Zur Erneuerung des Verhältnisses<br />

von Christen und Juden« (1980).<br />

13


Zum Geleit<br />

einen Umbruch erfährt. 12 Man wird forschungsgeschichtlich<br />

nach dem Zusammenhang des romantischen Bildes von der<br />

vermeintlichen Bildungsferne der frühen Christen und sogar<br />

auch noch ihrer Schriftsteller, der philologischen Hypothese<br />

einer Häufung von Hebraismen in der Apk und der Behauptung<br />

ihres schlechten Griechisch, der fiktiven Erzählung der<br />

ursprünglichen Herkunft des Verfassers der Apk aus Palästina<br />

und der literarkritisch begründeten Verbannung der<br />

Apk in ein pejorativ bewertetes jüdisch-apokalyptisches<br />

Denken zu fragen haben und diesen Themenkomplex in den<br />

Zusammenhang einer angestrebten Verabschiedung der<br />

Johannesapokalypse nicht nur aus dem christlichen Kanon,<br />

sondern aus dem christlichen Schrifttum und christlicher<br />

Theologie insgesamt stellen müssen.<br />

Auf der Verknüpfung von Höllenvorstellungen, wie sie<br />

bei Dante zu finden sind, und der Johannesapokalypse als<br />

eines Weltuntergangsszenarios, das kein himmlisches<br />

Jerusalem kennt, beruht dann weitestgehend auch noch die<br />

mediale Verarbeitung der Johannesapokalypse im 20. und<br />

21. Jahrhundert, was exemplarisch die Analyse von Luca Ganz<br />

des Apokalypsezyklus von Keith Haring, die Interpretation<br />

von Dominic Blauth einiger Episoden aus der Serie »Supernatural«,<br />

der Beitrag von <strong>Thomas</strong> <strong>Paulsen</strong> zu Terry Pratchetts<br />

und Neil Gaimans Meisterwerk »Good Omens« und die<br />

Beschreibung des Videospiels »Darksiders« von Lennart Witek<br />

12 Vgl. u. a. Heinrich Kraft, Die Offenbarung des Johannes, HNT 16a,<br />

Tübingen 1974; Adela Yarbro Collins, The <strong>Apocalypse</strong>, NTM 22,<br />

Wilmington/Delaware 1979; Martin Karrer, Die Johannesoffenbarung<br />

als Brief. Studien zu ihrem literarischen, historischen und theologischen<br />

Ort, Göttingen 1986.<br />

14


Zum Geleit<br />

aufzeigen. Dem ganz eigenen Weg der Apokalypserezeption<br />

J. R. R. Tolkiens widmet sich der Beitrag von <strong>Simon</strong><br />

<strong>Dittmann</strong>.<br />

Unser Seminar und die daraus erwachsenen und hier nun<br />

als dritter Teil unserer Sammelbände 13 zur Intertextualität<br />

der Johannesapokalypse publizierten Beiträge zeigen auf,<br />

dass erst die Rezeption und nicht zuletzt die einseitige theologische<br />

Interpretation Luthers und seiner Nachfolger die<br />

Johannesapokalypse zu einem höllischen Katastrophenbuch<br />

hat werden lassen. Es ist nicht unser Interesse, dieses auch<br />

produktive und bis heute wirksame Missverständnis der<br />

Rezeptionsgeschichte moralisch anzuprangern. Aber wir<br />

möchten dafür werben, sich den Blick auf die Enthüllungen<br />

des Johannes als eines Trost- und Hoffnungsbuches universaler<br />

und kosmologischer Weite nicht weiter verstellen zu<br />

lassen.<br />

Wir haben auch deshalb mit unserer philologisch-kritischen<br />

Neuübersetzung der Johannesapokalypse als Startband<br />

des Frankfurter Neuen Testaments 14 dazu beitragen<br />

13 <strong>Stefan</strong> <strong>Alkier</strong>/<strong>Thomas</strong> <strong>Paulsen</strong> (Hg.), Apollon, Artemis, Asteria<br />

und die Apokalypse des Johannes. Eine Spurensuche zur Intertextualität<br />

und Intermedialität im Rahmen griechisch-römischer Kultur,<br />

Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-<br />

Universität Frankfurt am Main, Band 9, Leipzig 2018; sowie Band 11<br />

derselben Reihe: dies. (Hg.), Der Seher und seine Septuaginta. Studien<br />

zur Intertextualität der Johannesapokalypse, Leipzig 2020.<br />

14 <strong>Stefan</strong> <strong>Alkier</strong>/<strong>Thomas</strong> <strong>Paulsen</strong>, Die Apokalypse des Johannes.<br />

Neu übersetzt und mit Einleitung, Epilog und Glossar, FNT 1,<br />

Paderborn 2020; dies., Die Evangelien nach Markus und Matthäus. Neu<br />

übersetzt und mit Überlegungen zur Sprache des Neuen Testaments,<br />

zur Gattung der Evangelien und zur intertextuellen Schreibweise<br />

sowie mit einem Glossar, FNT 2, Paderborn 2021; dies., Das Evangelium<br />

15


Zum Geleit<br />

wollen, dieses epochale Werk der Weltliteratur einer neuen,<br />

unbefangeneren Rezeption zu erschließen, die sich nicht nur<br />

von der mittlerweile fast allgemeinen automatischen<br />

Verknüpfung mit Hölle, Katastrophe und Weltuntergang,<br />

sondern auch von den kirchlichen Besitzansprüchen gegenüber<br />

der Bibel löst. Wenn etwa Kardinal Marx im Zuge des<br />

römisch-katholischen Missbrauchsskandals mit »apokalyptischem«<br />

Ton verlauten lässt: »Es gibt keine Zukunft des<br />

Christentums in unserem Land ohne eine erneuerte Kirche« 15<br />

und damit wie selbstverständlich seine Römisch-Katholische<br />

Kirche mit dem Christentum gleichsetzt, dann zeugt das<br />

wohl eher von einer gänzlichen Verdrehung des Verhältnisses<br />

von Bibel und Römisch-Katholischer Kirche durch<br />

uneinsichtige »Sonnenkönige in Talaren« 16 , als von der Überzeugung<br />

der Kraft der biblischen Texte. Die Römisch-Katholische<br />

Kirche wie auch alle anderen christlichen Kirchen und<br />

Konfessionen sollten sich endlich wieder darauf besinnen,<br />

was sie trägt, und sich demütig und dankbar von einer<br />

gleichermaßen erwartungsvollen, neugierigen, kritischen,<br />

aber auch selbstkritischen Lektüre und weltoffener Interpretation<br />

biblischer Texte leiten lassen. Die Bibel ist nicht das<br />

Buch irgendeiner Kirche, sondern Buch für alle Welt. Davon<br />

nach Johannes und die drei Johannesbriefe. Neu übersetzt und mit<br />

Überlegungen zu Sprache, Kosmologie und Theologie im Corpus<br />

Johanneum sowie mit einem Glossar, FNT 3, Paderborn 2022.<br />

15 Zitiert nach Jens Dirksen, Wohin, um Gottes Willen? Der Erosionsprozess<br />

der katholischen Kirche gefährdet längst ihre Existenz. Fraglich,<br />

ob Reformen helfen. Es könnte sein, dass sich der Glaube andere<br />

Wege sucht, in: WAZ, Samstag, 5. Februar, WKU_1.<br />

16 Jens Dirksen, ebd.<br />

16


Zum Geleit<br />

zeugt gerade auch die immense Rezeption und intertextuelle<br />

wie intermediale Transformation der Johannesapokalypse in<br />

Buch, Bild, Film, Video-Games und neue Medien. Wir<br />

wünschen diesem Buch aber mehr als eine partielle<br />

Ausschlachtung einzelner Motive. Wir engagieren uns für<br />

eine wirkliche Neuentdeckung jenseits eingefahrener Pfade,<br />

damit nicht zuletzt die wohl hoffungsvollste und zuversichtlichste<br />

Zusage der Bibel, der Schlusssatz der Johannesapokalypse,<br />

auch in unserer krisengeschüttelten Zeit seine volle<br />

Wirkung neu und nachhaltig entfalten kann: »Die Gunst des<br />

Kyrios Jesus mit Allen!«<br />

Wir danken allen, die an diesem Buch mitgewirkt haben,<br />

zuerst den Autorinnen und Autoren dieses Bandes, aber auch<br />

allen anderen Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern,<br />

die ihre spannenden Referate nicht zu einer Publikation<br />

ausarbeiten konnten bzw. wollten. Unser besonderer Dank<br />

geht wieder an <strong>Simon</strong> <strong>Dittmann</strong>, der auch diesen dritten<br />

Frankfurter Band zur Intertextualität der Johannesapokalypse<br />

zu einer druckreifen Fassung brachte. Wir danken aber<br />

auch der Evangelischen Verlagsanstalt und hier stellvertretend<br />

Frau Annette Weidhas für die wieder sehr freundliche<br />

wie professionelle Zusammenarbeit.<br />

Frankfurt, im März 2022<br />

<strong>Stefan</strong> <strong>Alkier</strong><br />

<strong>Thomas</strong> <strong>Paulsen</strong><br />

17


Inhaltsverzeichnis<br />

Helena Malsy<br />

Dantes »Göttliche Komödie« ......................................... 21<br />

Wirkbeschleuniger einer Höllenvorstellung als ewiger<br />

Strafort<br />

Nadine Haas<br />

»Von dort wird er kommen zu richten die<br />

Lebenden und die Toten« ............................................... 43<br />

Michelangelos »Jüngstes Gericht« als Dialog von<br />

Diskursuniversen<br />

<strong>Stefan</strong> <strong>Alkier</strong><br />

Luthers Bibel ..................................................................... 69<br />

Das Septembertestament als Bannbulle der<br />

Johannesapokalypse<br />

Luca Ganz<br />

Post-Moderne Apokalypse ............................................. 93<br />

William S. Borroughs und Keith Haring im Dialog<br />

mit der Johannesoffenbarung<br />

<strong>Simon</strong> <strong>Dittmann</strong><br />

Die Johannesapokalypse und die Mythologie<br />

J. R. R. Tolkiens ............................................................... 113<br />

Eine intertextuelle Analyse<br />

<br />

19


Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>Thomas</strong> <strong>Paulsen</strong><br />

»Bringing about Armageddon can be<br />

dangerous« ....................................................................... 143<br />

Die Rezeption der Johannes-Apokalypse im Roman<br />

»Good Omens« von Terry Pratchett und Neil Gaiman<br />

Dominic Blauth<br />

Johannesapokalypse trifft Supernatural ................... 171<br />

Eine Analyse intermedialer Effekte<br />

Lennart Witek<br />

Apokalyptische Spiele? .................................................. 191<br />

Ein intermedialer Vergleich der Videospielreihe<br />

»Darksiders« mit dem letzten Buch der Bibel<br />

<strong>Stefan</strong> <strong>Alkier</strong> / <strong>Thomas</strong> <strong>Paulsen</strong><br />

Epilog ................................................................................ 267<br />

20


Helena Malsy<br />

Dantes »Göttliche Komödie«<br />

Wirkbeschleuniger einer Höllenvorstellung als<br />

ewiger Strafort<br />

Wer in die Textwelt von Dantes Göttlicher Komödie (Commedia)<br />

eintaucht, den erwartet eine Reise durch das »große Meer<br />

des Sinns« 1 . Eine ungeheure Zahl intertextueller Verknüpfungen,<br />

die in alle zur Zeit des 14. Jahrhunderts erdenklichen<br />

europäischen Geisteswelten verweisen, machen dieses Werk<br />

»unerschöpflich« 2 : Es ist ein Feuerwerk der Intertextualitätssignale.<br />

Beim Lesen literaturwissenschaftlicher Kommentarliteratur<br />

zu Dantes Werk entsteht der Eindruck, dass<br />

Verknüpfungen zu philosophischen Texten der Antike<br />

begeistert herausgestellt werden, intertextuelle Bezüge 3 zu<br />

biblischen Texten der Antike hingegen häufig als eine<br />

Verknüpfung unter vielen marginalisiert werden. Wird die<br />

Commedia zusammenhangslos hier und da mit biblischen<br />

Bezügen garniert – oder lässt sich an ihnen entlang ein roter,<br />

sinnstiftender Faden erkennen?<br />

1<br />

Buchtitel von Karlheinz Stierle, Das große Meer des Sinns. Hermeneutische<br />

Erkundungen in Dantes »Commedia«, München 2007.<br />

2<br />

Karlheinz Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der<br />

Welt, München 2014.<br />

3<br />

Zum Konzept der Intertextualität vgl. Michael Schneider, Art.<br />

Intertextualität (NT), in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet<br />

(WiBiLex), URL: https://bibelwissenschaft.de/stichwort/50046/<br />

(Zugriff 02.02.2022).<br />

21


Helena Malsy<br />

Jenen, die mit dem Text der Apokalypse des Johannes (Apk)<br />

vertraut sind, dürfte bereits beim ersten Lesen der Commedia<br />

eine grundlegende Verknüpfung des Werks zu der neutestamentlichen<br />

Schrift auffallen. Motive wie die ›Versammlung<br />

der weißen Gewänder‹, der ›zweite Tod‹ oder gar die Tatsache,<br />

dass Johannes selbst als Figur im Text auftaucht, eröffnen die<br />

spannende Welt der Sinnerweiterung zwischen den Texten.<br />

Im Folgenden stelle ich die Ergebnisse meiner wissenschaftlichen<br />

Untersuchung 4 dieser intertextuellen Bezüge und der<br />

aus ihnen entstehenden Sinnpotenziale anhand ausgewählter<br />

Beispiele vor. Im Anschluss wird diskutiert werden,<br />

welche Auswirkungen diese »intertextuellen Dispositionen« 5<br />

und ihre dichterische Bearbeitung auf die Rezeption der Apk<br />

haben – und inwiefern sie deren Botschaft sowie gängige<br />

Höllenvorstellungen beeinflussen.<br />

Als Textgrundlagen dienen der lateinische Vulgatatext 6<br />

und eine italienisch-deutsche Prosaausgabe der Commedia 7 .<br />

4<br />

Magisterarbeit von Helena Malsy, Dantes Göttliche Komödie und<br />

die Johannesapokalypse – eine intertextuelle Studie, unveröffentlichtes<br />

Manuskript, eingereicht an der Goethe Universität Frankfurt 2021.<br />

5<br />

Susanne Holthuis, Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten<br />

Konzeption, Stauffenburg Colloquium 28, Tübingen 1993, 32.<br />

6<br />

Andreas Beriger/Widu-Wolfgang Ehlers/Michael Fieger<br />

(Hg.), Hieronymus. Biblia Sacra Vulgata, Lateinisch-deutsch, Band V,<br />

Berlin/Boston 2018.<br />

7<br />

Hartmut Köhler (Hg.), Dante Alighieri. La Commedia. Die Göttliche<br />

Komödie, Italienisch-deutsch, in Prosa übersetzt und kommentiert<br />

von Hartmut Köhler, 3 Bände, Ditzingen 2021.<br />

22


Dantes »Göttliche Komödie«<br />

Zu Dantes Lebzeiten war die Vulgata der maßgeblich verbreitete<br />

Text 8 im Römischen Reich, folglich können einige intertextuelle<br />

Bezüge erst dann entdeckt werden, wenn der altitalienische<br />

Text Dantes neben den lateinischen Bibeltext gelegt<br />

wird. Um die Autoren und ihr poetisches Ich voneinander zu<br />

unterscheiden, wähle ich folgende Schreibweisen der Namen:<br />

›Dante‹ ist der Ich-Erzähler der Commedia, Dante ihr Verfasser.<br />

Johannes ist der Verfasser der Apk, ›Johannes‹ ihr Ich-<br />

Erzähler.<br />

Dantes Commedia – eine »poetische<br />

Enzyklopädie« 9<br />

Die Commedia ist ein in altitalienischer Volkssprache verfasstes<br />

poetisches Werk, das eine Jenseitsvision schildert, in die<br />

Dante Alighieri (1265-1321) eine »Enzyklopädie des Wissens<br />

seiner Zeit« 10 eingearbeitet hat. Die Wahl der Sprache spiegelt<br />

Dantes Credo wider: Ein Dichter soll freigiebig sein, ein<br />

Gedicht und dessen Auslegung sollten alle Menschen erreichen,<br />

unabhängig von ihrer Bildung. 11 Als Kind seiner Zeit<br />

war Dante der vierfache Schriftsinn vertraut 12 , daher befinden<br />

sich im Text unzählige Allegorien und Zahlenspiele, die<br />

Lesenden zur Enthüllung bereitstehen – und Danteforscher<br />

8<br />

Vgl. Andreas Beriger/Widu-Wolfgang Ehlers/Michael<br />

Fieger, Einleitung, in: dies. (Hg.), Vulgata, 7–11.<br />

9<br />

Vgl. Hartmut Köhler, Purg. XXV, Fußnote 41, in: ders. (Hg.), Dante<br />

Alighieri. La Commedia, II • Purgatorio/Läuterungsberg.<br />

10<br />

Vgl. Stierle, Das große Meer des Sinns, 7-18.<br />

11<br />

Vgl. Stierle, Dante Alighieri, 20ff.<br />

12<br />

Stierle, a. a. O., 22.<br />

23


Helena Malsy<br />

damals wie heute zu den spannendsten Auslegungshypothesen<br />

angereizt haben.<br />

Das aus den drei Teilen Inferno, Purgatorio und Paradiso<br />

bestehende Gedicht umfasst 100 Gesänge (ital. canti). Die literarische<br />

Form des Canto als gedichtete Einheit innerhalb<br />

eines Gesamtwerks findet sich in den Epen Homers, die<br />

wiederum als Vorbild für die Aeneis des Dichters Vergil (70–19<br />

v. Chr.) dienten. Bereits durch die Wahl der Form erhob<br />

Dante den kühnen Anspruch, in einer Reihe mit den größten<br />

Dichtern der Welt zu stehen.<br />

In Ich-Form schildert ›Dante‹, der Protagonist des<br />

Gedichts, seine Reise durch die Hölle (ital. Inferno) 13 über<br />

einen Läuterungsberg (ital. Purgatorio) 14 hin zum Paradies<br />

(ital. Paradiso). ›Dante‹ hat den Auftrag, nach seiner Rückkehr<br />

auf die Erde das Erlebte so detailgetreu wie möglich aufzuschreiben,<br />

um den Lebenden davon berichten zu können.<br />

Ausgangspunkt ist ein Wald, in dem sich ›Dante‹ verirrt und<br />

schließlich am Eingang des Inferno landet. Dort wird er von<br />

dem römischen Dichter Vergil in Empfang genommen, der<br />

von ›Dantes‹ früh verstorbener Jugendliebe Beatrice zu ihm<br />

geschickt wurde. Vergil hat den göttlichen Auftrag, ›Dante‹<br />

durch etliche Gefahren hin zum Eingang des Paradiso zu<br />

führen, wo ihn Beatrice erwarten wird, die seinen Weg hin<br />

zur höchsten Gottesschau anleiten soll.<br />

13<br />

Aufgrund der Problematik einer geeigneten Übersetzung verwende<br />

ich im Text die italienischen Begriffe. »Inferno« wäre mit »Hölle« zu<br />

übersetzen.<br />

14<br />

»Purgatorio« wäre mit »Fegefeuer« zu übersetzen, »Läuterungsberg« hat<br />

sich in der Literaturwissenschaft mit der Begründung durchgesetzt,<br />

dass dieser Begriff den Ort und seine Funktion besser beschreibt.<br />

24


Dantes »Göttliche Komödie«<br />

Auf der begleiteten Reise werden ›Dante‹ etliche »Seelen<br />

mit bekanntem Namen vorgeführt« (Par. XVII,136ff.), er<br />

begegnet allen erdenklichen historischen, biblischen wie<br />

mythischen Figuren sowie ihm bekannten Zeitgenossen.<br />

Ihnen stellt ›Dante‹, der auf der Suche nach der höchsten<br />

Erkenntnis ist, etliche Fragen. Durch die lebhafte Schilderung<br />

seiner Einblicke wird er selbst zum Begleiter seiner<br />

Leser_innen, die er nach Belieben einweiht, ausschließt und<br />

zu eigenen Fragen, Erlebnissen und Erkenntnissen anreizt.<br />

Beachtenswert ist das Raumkonzept der Commedia: Das<br />

Inferno ist ein in die nördliche Erdhalbkugel hineinragender<br />

Trichter, ein »Schmerzenstrichter, in den alles Unglück der<br />

Welt hineingestopft ist« (Inf. VII,19f.). Dieser Abgrund ragt in<br />

sich nach unten hin verjüngenden Kreisen immer tiefer in<br />

die Erde, jeder einzelne entspricht einem Strafort. Verstorbenen<br />

wird je nach Kategorie der zu Lebzeiten begangenen<br />

Sünde, wie beispielsweise Maßlosigkeit oder Verrat, der<br />

geeignete Platz zugewiesen, ihrer Strafe können sie niemals<br />

entrinnen.<br />

Dieser Höllentrichter ist durch den Aufprall Luzifers (Inf.<br />

XXXIV,121–126) auf die Erde entstanden. Als Erklärung für<br />

den Sturz spielt Dante in knappen Worten die dramatische<br />

Erzählung des Himmelskampfes zwischen dem Erzengel<br />

Michael und Satan (vgl. Apk 12,7ff.) ein:<br />

»Unser Gang ins Dunkle geschieht nicht ohne Grund: Das<br />

ist so gewollt, dort oben, wo Sankt Michael Gewalt und<br />

Überheblichkeit bestraft hat.« (Inf. VII,10ff.)<br />

Die Apk wird hier nicht bloß zitiert, ihr Himmelskampf ist<br />

ursächlich für die Existenz des Inferno. Gleiches gilt für den<br />

25


Helena Malsy<br />

Läuterungsberg des Purgatorio, der ebenfalls durch den Sturz<br />

Satans aus dem Himmel entstanden ist, indem die von der<br />

Wucht des Aufpralls auf der Nordhalbkugel verdrängte Erde<br />

auf der Südhalbkugel herausgedrängt wurde. Auf diesem<br />

Berg sind sieben Terrassen angelegt, die Läuterungswillige<br />

durchlaufen müssen. Diese Bußwege entsprechen den sieben<br />

im Mittelalter durch die katholische Kirche Roms konstatierten<br />

»Todsünden« Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Habgier,<br />

Fressgier, Triebhaftigkeit. Im Unterschied zum Inferno haben<br />

die Gepeinigten im Purgatorio die Möglichkeit, dem Ort nach<br />

Abbüßen ihrer Strafe zu entrinnen. Fürbitten aus der Welt<br />

der Lebenden können Strafminderung bewirken – daher<br />

äußern verschiedene Jenseitsbewohner ein großes Interesse<br />

daran, dass ›Dante‹ nach seiner Rückkehr in die Welt bei den<br />

Lebenden ein gutes Wort für sie einlegt und ihre Reputation<br />

posthum verbessert.<br />

In Inferno und Purgatorio wird bestraft, indem die zu<br />

Lebzeiten begangenen Verfehlungen in ihr Gegenteil<br />

verkehrt werden. So werden beispielsweise den in die<br />

Zukunft blickenden Wahrsagern die Köpfe nach hinten<br />

verdreht und Neidischen die Augen mit Draht zugenäht, um<br />

ihre neidischen Blicke zu verhindern. ›Dante‹ tritt seinen<br />

eigenen Bußweg an, bis er schließlich das Paradiso erreicht. Ab<br />

jetzt kann der ungetaufte Vergil nicht mehr an seiner Seite<br />

sein, es ist die engelhafte Beatrice, die ›Dantes‹ weitere Reise<br />

begleitet.<br />

Das Paradiso ist in neun Kreisen angelegt, die, angelehnt<br />

an das Weltbild des Aristoteles und des Claudius Ptolemäus,<br />

konzentrisch verlaufen. Die Kategorien der Kreise entspre-<br />

26


Dantes »Göttliche Komödie«<br />

chen den vier philosophischen Kardinaltugenden Gerechtigkeit,<br />

Mäßigung, Tapferkeit, Weisheit und den drei theologischen<br />

Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung. ›Dante‹ trifft theologisch<br />

bedeutsame Figuren, unter anderem Johannes 15 , er befragt<br />

sie auf seinem Weg zur vollkommenen Erkenntnis. Zentrales,<br />

Abb. 1: Dante zeigt seine Commedia stolz dem erstaunten Johannes.<br />

Zeichnung: Simin Malsy, 2021.<br />

15<br />

Dante nahm als den Verfasser des Johannesevangeliums und den Verfasser<br />

der Apk dieselbe Person an. Im Inferno identifiziert Dante »den<br />

Evangelisten« als denjenigen, der »jene schaute«, die »über den Wassern<br />

sitzt«, die »mit sieben Köpfen geboren wurde« und ihre Regeln »von<br />

zehn Hörnern« bezog, vgl. Inf. XIX,106–111 und Apk 17,1–3.<br />

27


Helena Malsy<br />

redundantes Thema der Commedia ist, dass der Verstand, bei<br />

allem kühnen Streben nach Erkenntnis, klar begrenzt ist und<br />

allein der Glaube zur letzten Erkenntnis führt. Die Commedia<br />

endet damit, dass ›Dante‹ ein menschlicher Blick auf den dreieinigen<br />

Gott gewährt wird. Der Dichter ist am Ziel angelangt,<br />

seine Seele ist von jetzt an verbunden mit der Liebe Gottes,<br />

dessen Geheimnis er nun durchdrungen hat.<br />

›Dante‹ spricht im Inferno seine Leser_innen direkt an und<br />

schwört »bei den Versen dieser Komödie« (Inf. XVI,127f.). Die<br />

Klassifizierung des Werks als Komödie öffnet die Erwartung<br />

an einen plot 16 mit einer Wendung von einem tragischen,<br />

mangelhaften in einen guten, mangelfreien Zustand 17 . Auch<br />

wenn nicht auf alle Protagonisten der Commedia ein gutes<br />

Ende wartet, wie das beispielsweise bei den Insassen des<br />

Infernos der Fall ist, ist die Reise des ›Dante‹ aus dem Dickicht<br />

des Waldes empor zur Gottesschau, zur vollkommenen Liebe<br />

und Erkenntnis, eine positive Wendung des plots im Sinne des<br />

Genres. 18<br />

Auffällige Parallelen in der Makrosyntax sowie<br />

der Funktion der Engel<br />

In Dantes Werk ist nicht nur die Entstehung von Inferno und<br />

Purgatorio mit der Apk begründet, auch die Erzählstruktur<br />

16<br />

Der englische Begriff plot meint die Handlungsstruktur eines Textes.<br />

17<br />

Vgl. Stierle, Dante Alighieri, 40.<br />

18<br />

Dazu passt die These von der »Wandlung des Pilgers Dante« im Verlauf<br />

seiner Jenseitsreise, vgl. Ronald B. Herzmann, Dante and the <strong>Apocalypse</strong>,<br />

in: Richard K. Emmerson/Bernhard McGinn (Ed.), The<br />

<strong>Apocalypse</strong> in the Middle Ages, New York 1992, 402–413.<br />

28


Dantes »Göttliche Komödie«<br />

des Gesamtwerks ist nah an sie angelehnt. Die Komposition 19<br />

der Apk lässt sich in folgende Teile untergliedern:<br />

a. Leserinstruktion (Briefeingang) (Apk 1,1-8)<br />

b. Ausgangssituation – Darstellung der<br />

Mangelsituation (1,9-3,22)<br />

c. Transformation – Darstellung der Handlungen, die<br />

den Mangel beseitigen (4-20)<br />

d. Neue Situation – Darstellung des mangelfreien<br />

neuen Lebens (21,1-22,5)<br />

e. Leserinstruktion (Briefschluss) (22,6-20)<br />

›Dantes‹ Leserinstruktionen (a und e) umrahmen die Commedia<br />

zwar nicht – sie ist der äußeren Form nach im Gegensatz<br />

zur Apk kein Brief –, sondern finden sich kontinuierlich zwischendurch.<br />

Der Dreischritt im Mittelteil der Commedia (b, c,<br />

d) jedoch gleicht der Apk signifikant. ›Dante‹ erfährt eine<br />

Mangelsituation (b) auf zwei Ebenen: Er erleidet zu Beginn<br />

eine persönliche Krise durch mangelnde Erkenntnis und<br />

beklagt zudem eine Krise der Welt durch sündhaftes Verhalten<br />

der Menschen. Im Purgatorio wird eine Transformationsmöglichkeit<br />

dargestellt, nämlich die Möglichkeit zur Läuterung<br />

für alle getauften, reumütigen Christen, ihnen winkt<br />

ein Platz im Paradies – also auch ›Dante‹ selbst (c). Schließlich<br />

erfolgt die neue Situation: das Emporsteigen ›Dantes‹ ins<br />

Paradies zur unmittelbaren Gottesschau (d).<br />

19<br />

Vgl. <strong>Stefan</strong> <strong>Alkier</strong>/<strong>Thomas</strong> <strong>Paulsen</strong>, Epilog: Der kommende Gott<br />

und die Götter der Anderen, in: dies., Die Apokalypse des Johannes. Neu<br />

übersetzt und mit Einleitung, Epilog und Glossar, Frankfurter Neues<br />

Testament 1, Paderborn 2020, 75–132, 104–6.<br />

29


Helena Malsy<br />

Engel haben in diesem Transformationsgeschehen in<br />

beiden Werken dieselbe Funktion: Sie sind Mittler zwischen<br />

Gott und Menschen, treiben den plot voran, handeln im<br />

Auftrag Gottes, zeigen ›Dante‹ und ›Johannes‹ Wichtiges und<br />

belehren darüber. In beiden Werken sind jede Menge Engel<br />

am Werk, auch Dantes Beatrice und sogar der ungetaufte<br />

Vergil können aufgrund ihrer Funktion als Engel verstanden<br />

werden. Während die Engel der Apk den gesamten kosmologischen<br />

Raum 20 bespielen, scheinen sie in der Commedia<br />

keinen Handlungsauftrag für das Wirken auf Erden zu<br />

haben.<br />

Im jeweiligen Diskursuniversum beider Werke ist Gott<br />

der »Allherrscher« (vgl. Apk 19,15, FNT) und hat alles geschaffen<br />

(vgl. Apk 4,11). Das bedeutet, er ist auch derjenige, der<br />

satanischen Mächten einen Wirkraum gewährt. In der Apk<br />

wird dies in jener Sequenz verdeutlicht, in der Satan eine<br />

letzte Wirkzeit eingeräumt wird, in der Commedia sind es<br />

Höllenwächter und Folterknechte wie Minos, Cerberus oder<br />

Pluto, die sich dem Willen Gottes beugen (Inf. III,94ff.; V,22ff.;<br />

VII,10ff.; XXI,79–84) und offenbar in seinem Auftrag handeln.<br />

Der entscheidende Unterschied ist, dass der Wirkraum satanischer<br />

Mächte bei Dante örtlich begrenzt ist, in der Apk<br />

hingegen zeitlich.<br />

20<br />

Zur Bedeutung von Raum in der Apk vgl. <strong>Stefan</strong> <strong>Alkier</strong>, Jerusalem,<br />

Sodom, Babylon und ihre intertextuellen Bezüge zu Schriften der LXX,<br />

in: ders./<strong>Thomas</strong> <strong>Paulsen</strong> (Hg.), Der Seher und seine Septuaginta.<br />

Studien zur Intertextualität der Johannesapokalypse, Kleine Schriften<br />

des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität<br />

Frankfurt am Main, Band 11, Leipzig 2020, 15-47.<br />

30


Dantes »Göttliche Komödie«<br />

Der Vergleich der Makrostruktur bringt neben den<br />

auffälligen Strukturparallelen auch entscheidende Unterschiede<br />

zutage: Die Apk beschreibt Gott als den »Kommenden«,<br />

der mit Durchführung des Gerichts schließlich seine<br />

Macht verwirklicht, also dann kein Kommender mehr ist. 21<br />

Die entscheidende, heilsbringende Bewegungsrichtung der<br />

Apk ist von oben nach unten: Die heilige Stadt Jerusalem<br />

kommt von oben herab, »von Gott her« (Apk 21,10, FNT) auf<br />

die Erde. In Dantes Konzeption ist die Bewegungsrichtung<br />

genau entgegengesetzt, denn ›Dante‹ reist von ganz unten<br />

(Inferno) nach ganz oben (Paradiso). Das kosmologische<br />

System, in dem er sich bewegt, ist statisch, denn hier findet das<br />

Grauen des Inferno kein Ende und es kommt kein endgültiges<br />

Heil von oben herab. Der Allherrscher der Apk bringt alle<br />

Dinge zu einem guten Ende, in der Commedia hält er das<br />

abschreckende, ewige Reich des Inferno aufrecht.<br />

Hinweis auf die Auslegungsrichtung<br />

Dante wusste vom wirkmächtigen Ausleger und Kommentator<br />

der Apk, Joachim von Fiore (1130–1202), ›Dante‹ begegnet<br />

ihm auf seiner Jenseitsreise als »Abt aus Kalabrien, den<br />

prophetischer Geist begabte« (Par. XII,139f.). Einige Teile der<br />

21<br />

<strong>Alkier</strong>/<strong>Paulsen</strong>, Der kommende Gott und die Götter der Anderen,<br />

103f.<br />

31


Helena Malsy<br />

Lehre Joachims galten als umstritten, daher ist es bemerkenswert,<br />

dass Dante ihn im Paradies verortet. 22 Dies macht plausibel,<br />

dass der Dichter dessen Lehre nicht nur kannte,<br />

sondern auch schätzte. Joachim von Fiore vertrat eine<br />

»Hermeneutik der Entsprechungen, die Annahme einer<br />

›Vollständigkeit‹ der Apk und die Anwendung eines trinitarischen<br />

Deutungsschemas auf die Heilsgeschichte« 23 . Die<br />

Analyse dieser Erwähnung durch Dante wäre eine eigene<br />

Studie wert, insbesondere die Frage nach den Spuren der<br />

Lehre Joachims in anderen Werken Dantes. Für die Textbeobachtungen<br />

soll als Indiz festgehalten werden, dass mit<br />

dieser Erwähnung der Hinweis auf eine eingehende Beschäftigung<br />

Dantes mit der Apk und ihrer Auslegung implizit zu<br />

sein scheint.<br />

22<br />

Zur Wirkung Joachims in Bezug auf die Apk vgl. Martin Karrer, Johannesoffenbarung<br />

(Offb 1,1–5,14), EKK XXIV/1, Ostfildern/Göttingen<br />

2017, 145ff.<br />

23<br />

Robert E. Lerner, Art. Joachim von Fiore (ca. 1135–1202), in: TRE<br />

Online, Berlin/New York 2010, URL: https://www-degruyter-com.<br />

proxy.ub.uni-frankfurt.de/document/database/TRE/entry/tre.17_084<br />

_41/html (Zugriff: 02.02.2022).<br />

32


Dantes »Göttliche Komödie«<br />

›Dante‹ als Seher in der Tradition biblischer<br />

Apokalyptik<br />

›Dante‹ spricht von seiner ›Vision‹ (ital. mia visïone, Purg.<br />

XVII,34; Par. XXXIII,62) 24 und deutliche Intertextualitätssignale<br />

zeigen, wie er als Seher in der Nachfolge des ›Johannes‹<br />

und des alttestamentlichen Propheten Ezechiel inszeniert<br />

wird. Sowohl ›Dante‹ als auch ›Johannes‹ betonen, dass sie von<br />

ihrer Vision im Auftrag berichten (z. B. Apk 1,11.19 und Purg.<br />

XXXII,103ff.; XXXIII,52ff.). Zudem empfinden beide Seher ihre<br />

Aufgabe als anstrengend, sie sinken während ihrer Visionen<br />

zusammen »wie tot« (Apk 1,17) bzw. »wie ein toter Körper«<br />

(Inf. V,142).<br />

Prägnant erfolgt diese Inszenierung mittels direkter<br />

Leser_innenansprache im Purgatorio. ›Dante‹ beobachtet,<br />

kurz vor dem großen Moment des Wiedersehens mit seiner<br />

verstorbenen Jugendliebe Beatrice, einen feierlichen Festzug.<br />

Unter anderem sieht er vier Tiere, möchte aber das Aussehen<br />

nicht weiter schildern (Purg. XXIX,92–99) und fordert auf:<br />

»Doch lies Ezechiel, der sie beschreibt […] wie du sie auf seinen<br />

Seiten findest, so waren sie auch hier, nur dass bei der Zahl<br />

der Flügel ich es mit Johannes halte, der darin von ihm<br />

abweicht« (Purg. XXIX,100–105). Gemeint ist, dass Ezechiel<br />

Wesen mit vier Flügeln beschreibt (vgl. Ez 1,6), ›Johannes‹ 25<br />

24<br />

Ernst Benz wies darauf hin, dass in der Zeit Dantes »das Wort Vision<br />

noch seine eigentliche, religiöse, von der großen Tradition christlicher<br />

visionärer Ekstatiker her geprägte Bedeutung« hatte und man »nicht<br />

an dichterische Imagination, sondern an die Offenbarungsgeschichte<br />

des Johannes […]« dachte, vgl. Ernst Benz, Vision und Ekstase bei<br />

Dante, ZRGG, Vol. 22, No. 3 (1970), 212–229.<br />

25<br />

Vgl. Fußnote 15.<br />

33


Helena Malsy<br />

jedoch sechs erwähnt (vgl. Apk 4,8). Indem ›Dante‹ die<br />

Beschreibung der Apk als die korrekte bestätigt, erhebt er<br />

implizit den Bericht des ›Johannes‹ zum wahren Bericht. Wer<br />

ihn noch nicht kennt, wird durch diese Passage angespornt,<br />

den detailgetreueren Text der Apk zu lesen. Der Ich-Erzähler<br />

versteht sich als Seher, der sich in folgender Traditionslinie<br />

stehend begreift: 1. Ezechiel schreibt. 2. ›Johannes‹ greift<br />

Ezechiel auf und präzisiert. 3. ›Dante‹ bestätigt ›Johannes‹ –<br />

und ergänzt dessen Vision um das enzyklopädische Wissen<br />

des 14. Jahrhunderts, inklusive kirchlicher Buß- und Höllenvorstellungen<br />

seiner Zeit.<br />

An anderer Stelle greift Dante das Syntagma ›weiße<br />

Gewänder‹ als Intertextualitätssignal auf:<br />

Und ich [›Dante‹]: »Die Alte und die Neue Schrift setzen das<br />

Zeichen – und danach kann ich mich richten – für die<br />

Seelen, die Gott für sich gewonnen hat.<br />

Jesaja sagt, jede von ihnen wird in ihrem Reich ein doppeltes<br />

Kleid tragen; ihr Reich aber ist dieses glückselige<br />

Dasein;<br />

und dein Bruder macht uns an der Stelle, wo er von den<br />

weißen Gewändern handelt, diese Offenbarung noch sehr<br />

viel deutlicher.« (Par. XXV,88-96)<br />

Auch hier wird eine Verknüpfung mit der Apk hergestellt<br />

(vgl. Apk 3,4f.; 7,9), diese im Vergleich zu einer anderen Schrift<br />

(Jesaja) als die präzisere bestätigt und besonders hervorgehoben.<br />

In beiden Werken kommen dem Hören und Sehen in eine<br />

Schlüsselrolle zu, wie es in der Natur des Gegenstands<br />

›Vision‹ liegt, z. B.:<br />

34


»ch’io vidi e anche udi’ […]« (Par. XIX,10)<br />

»Sah ich doch und hörte auch […]«<br />

»et vidi et audivi […]« (Apk, 5,11)<br />

»und ich sah und ich hörte […]«<br />

Dantes »Göttliche Komödie«<br />

Die Augen sind innerhalb der Commedia sogar das am<br />

häufigsten verwendete Substantiv. 26 Gleich zu Beginn der<br />

Commedia fällt ein Umschwung in der Wortwahl für den<br />

Sehvorgang zwischen dem ersten und dem vierten Canto auf.<br />

Vor dem Beginn der eigentlichen Jenseitsvision beschreibt<br />

›Dante‹ sein Schauen mit einer syntagmatischen Vielfalt an<br />

Ausdrucksmöglichkeiten, wie beispielsweise ›blickte‹ (ital.<br />

guardai, Inf. I,16), ›sah‹ (ital. vidi, Inf. I,16.64), ›und ging mir<br />

nicht mehr vor dem Gesicht weg‹ (ital. e non mi si partìa d‘<br />

innazi al volto, Inf. I,34), ›der Anblick‹ (ital. la vista, Inf. I,44),<br />

oder ›mir vor den Augen dargeboten‹ (ital. alli occhi mi si fu<br />

offerto, Inf. I,61f.). Plötzlich aber, zu Beginn der Jenseitsvision,<br />

gebraucht er neunmal kurz nacheinander das Syntagma ›ich<br />

sehe‹ (ital. vidi, Inf. IV,121–141). Auch in der Apk wird für das<br />

Geschaute die Wendung ›ich sehe‹ (lat. ebenfalls vidi) verwendet,<br />

durch die Nähe der italienischen Sprache zur lateinischen<br />

dürfte Lesenden dieses Signal aus dem Intertext der<br />

Vulgata geradezu ins Auge springen. Da Dante im ersten<br />

Gesang seines Gesamtwerks bewiesen hat, dass er für den<br />

Sehvorgang eine Vielzahl an Ausdrucksmöglichkeiten beherrscht,<br />

ist es plausibel, dass er mit Beginn der Vision das<br />

intertextuelle Signalwort vidi absichtsvoll derart gehäuft<br />

26<br />

Vgl. Köhler, Par. XVI, Fußnote 78, in: ders. (Hg.), Dante Alighieri. La<br />

Commedia, III • Paradiso/Paradies.<br />

35


Helena Malsy<br />

verwendet – und hier deutlich einen Seher in apokalyptischer<br />

Tradition darstellt.<br />

Folgenreiche Umdeutung des ›zweiten Todes‹<br />

Dante deutet das Konzept des ›zweiten Todes‹ aus der Apk<br />

radikal um – mit gravierenden theologischen Folgen. Geradezu<br />

selbstverständlich greift Dante bereits im ersten Gesang<br />

des Inferno das Syntagma ›zweiter Tod‹ (ital. la seconda morte,<br />

Inf. I,117) aus der Apk auf, indem Vergil die Hölle als einen Ort<br />

beschreibt »wo du die verzweifelten Schreie hören, die endlos<br />

leidenden Geister sehen sollst, bejammert doch jeder den<br />

zweiten Tod« (Inf. I,116f.).<br />

›Johannes‹ beschreibt den ›zweiten Tod‹ als die endgültige<br />

Vernichtung lebensfeindlicher Mächte und der bis zuletzt<br />

uneinsichtig Gebliebenen, die nicht im Buch des Lebens<br />

stehen (vgl. Apk 20,14f.). 27 In Dantes Konzept ist der erste Tod,<br />

ebenso wie in der Apk, als der leibliche zu verstehen. Ebenso<br />

übernimmt er die Vorstellung eines Gerichts nach dem<br />

ersten Tod, bei dem jeder Mensch nach seinem Handeln<br />

beurteilt wird, jedoch sind zwei Dinge neu: 1) Er ergänzt die<br />

Möglichkeit, mit Fürbitten für Verstorbene eine Verkürzung<br />

der Strafzeit im Jenseits zu bewirken (Purg. III,136–141;<br />

XIII,124–129). ›Dante‹ wird immer wieder von den Verstorbenen<br />

bedrängt, er möge bei seiner Rückkehr in die erste Welt<br />

27<br />

VGL. <strong>Stefan</strong> <strong>Alkier</strong>, See des Feuers oder himmlisches Jerusalem –<br />

Qual ohne Wahl?, in: ders. (Hg.), Antagonismen in neutestamentlichen<br />

Schriften. Studien zur Neuformulierung der »Gegnerfrage« jenseits des<br />

Historismus, Beyond Historicism – New Testament Studies Today,<br />

Band 1, Paderborn 2021, 436–485.<br />

36


Dantes »Göttliche Komödie«<br />

bei den Lebenden dafür sorgen, dass sie Fürbitte für ihre<br />

Verstorbenen halten (Purg. VIII,70ff.). In der Apk ist diese<br />

Möglichkeit nicht gegeben, einzelne Hörer_innen der<br />

Botschaft des Johannes haben selbst für ihr Umdenken zu<br />

sorgen. 2) Der zweite Tod ist bei Dante nicht die endgültige<br />

Vernichtung von lebensfeindlichen Mächten und uneinsichtigen<br />

Menschen, sondern der Moment der göttlichen<br />

Entscheidung über den Platz Verstorbener im Jenseits. Dies<br />

kann entweder der Ort ewiger Qual, der Ort der Strafe mit<br />

Läuterungsmöglichkeit oder der direkte Einzug in das Paradies<br />

sein. So wird im Inferno beispielsweise ein Mann geschildert,<br />

der »lichterloh verbrannte und schon im Niederstürzen<br />

unrettbar zu Asche wurde«, aus der sich der Mann wieder<br />

zurückbildete – um seine Strafe erneut zu erleiden (Inf.<br />

XXIV,100–105). Das funktioniert, denn verstorbene spiriti<br />

haben »Scheinkörper« (ital. corpo fittizio, Purg. XXVI,10ff.).<br />

Diese erleiden »Qual, doch keinen Tod« (Purg. XXVII,20f.) –<br />

aber vernichtet werden kann in Dantes Jenseitswelt<br />

niemand. Die Apk weiß von einem solchen ewigen Strafort<br />

für Menschen nichts – von den im Feuersee Verbrannten<br />

könnte bestenfalls ihre Asche zurückbleiben.<br />

Dantes Jenseits: Ein außerbiblisches Konzept<br />

Wie anhand exemplarischer Textstellen veranschaulicht<br />

wurde, baut die Commedia deutlich auf der Apk auf, der Bezug<br />

zu ihr zieht sich wie roter Faden durch Dantes Werk. Der<br />

jenseitsreisende ›Dante‹ ist in biblisch-apokalyptischer<br />

Tradition als Seher inszeniert, wodurch er seinem Visionsbericht<br />

den Anschein besonderer Autorität verleiht. Er setzt<br />

37


Helena Malsy<br />

voraus, dass die Beobachtungen des ›Johannes‹ zutreffend<br />

sind und erweitert diese, was dazu führt, dass sich die Kernbotschaft<br />

der Apk drastisch verändert.<br />

Zahlreiche Motive verweisen deutlich auf das Diskursuniversum<br />

der Apk. Zugleich aber wird die im Mittelalter<br />

verbreitete katholische Lehrmeinung Roms in das Konzept<br />

der Apk eingetragen, sodass sich ein wesentlicher Deutungswandel<br />

ergibt, der zu einer dem antiken Bibeltext entgegenstehenden<br />

Botschaft führt: Der Seher ›Dante‹ schildert mit<br />

Blick auf die Eschatologie einen »doppelten Ausgang« 28 , also<br />

die Vorstellung davon, dass ein Teil der Menschen gerettet<br />

werde, der andere Teil aber zu ewigen Höllenqualen<br />

verdammt sei. In der Apk ist zwar ein eschatologisches Strafgericht<br />

Gottes beschrieben, jedoch kein Strafort im Sinne des<br />

Inferno, der von sadistischen Protagonisten regiert wird und<br />

als Ort ewiger Qualen für Tote fungiert 29 . Wie der evangelische<br />

Theologe <strong>Stefan</strong> <strong>Alkier</strong> in seinem Lexikonartikel<br />

»Hölle« 30 herausgearbeitet hat, existiert ein solcher Ort weder<br />

in den neutestamentlichen noch in den alttestamentlichen<br />

Schriften. 31 Unabhängig davon, von wem und in welcher<br />

Absicht diese Höllenvorstellungen nebst sadistischer Höllenqualen<br />

entwickelt worden sind, müssen sie in jedem Fall als<br />

außerbiblisch entwickeltes Konstrukt ohne Schriftgrundlage<br />

betrachtet werden.<br />

28<br />

Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/Boston 5 2018, 613–622.<br />

29<br />

<strong>Stefan</strong> <strong>Alkier</strong>, Art. Hölle, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im<br />

Internet (WiBiLex), URL: https://www.bibelwissenschaft.de/stich<br />

wort/52058/ (Zugriff: 02.02.2022).<br />

30<br />

Vgl. ebd.<br />

31<br />

Vgl. ebd.<br />

38


Dantes »Göttliche Komödie«<br />

Aus evangelisch-theologischer Perspektive ist die Commedia<br />

im Gegensatz zur Apk keine gute Nachricht für alle, die<br />

zum Umdenken bereit sind, sondern lediglich eine gute<br />

Nachricht für getaufte Christen, die rechtzeitig vor ihrem<br />

irdischen Tod ihre Verfehlungen bereuen oder deren Angehörige<br />

Fürbitte für sie leisten. Geradezu tragisch ist der<br />

Gedanke daran, wie die poetische Hochbegabung des Dante<br />

Alighieri durch seine mitleiderregende Darstellung reumütiger<br />

Jenseitsinsassen eine Höllenvorstellung angefeuert hat,<br />

die sich der christlichen Hoffnungsbotschaft in den Weg<br />

stellt und historische Begebenheiten wie die Durchführung<br />

der Ablasspraxis der Kirche Roms im Mittelalter begünstigt<br />

haben mag.<br />

Rezeptionssteuerung verstehen und aus ihr<br />

lernen<br />

Wer die Apk liest, verfügt in der Regel bis dahin längst über<br />

ein von Popularmedien geprägtes Höllenverständnis. Dantes<br />

Inferno hat erheblich dazu beigetragen, dass furchteinflößende<br />

Höllenbilder noch tiefer ins kollektive Gedächtnis<br />

eingeschrieben wurden, da sie sich im Laufe ihrer Rezeptionsgeschichte<br />

innerhalb sowie außerhalb des christlichen<br />

Kontexts erfolgreich verbreitet haben 32 . Dantes Göttliche<br />

32<br />

Franziska Meier hat die Rezeptionsgeschichte der Commedia<br />

erforscht und nachgezeichnet, dass das Inferno innerhalb der weltweiten<br />

Dante-Rezeption die Hauptrolle spielt, vgl. Franziska Meier,<br />

Besuch in der Hölle, München 2021.<br />

39


Helena Malsy<br />

Komödie ist einer der Wirkbeschleuniger einer außerbiblischen<br />

Höllenvorstellung. Künstler haben Dantes Dichtkunst<br />

wirkungsvoll ins Bild gesetzt und damit Dantes Konzept<br />

auch unter jenen Menschen weit verbreitet, welche die<br />

Commedia nicht gelesen haben. Unterstützt wurde dies in<br />

hohem Maße durch die beeindruckenden Illustrationen der<br />

Commedia von Gustave Doré (1832–1883). Die Tatsache, dass<br />

Doré zugleich Bibelillustrator war, hat gewiss ihren Anteil an<br />

der gedanklichen Verquickung biblischer und poetischer<br />

Bilder.<br />

Dass sich Dantes freie Dichtkunst und Elemente der Apk<br />

vermengt haben, ist eindrucksvoll in Michelangelos (1475–<br />

1564) Werk »Das Jüngste Gericht« zu sehen. Es stellt das biblische<br />

Weltgericht dar – und präsentiert rechts unterhalb der<br />

deutlich aus der Apk zitierten posaunenden Engel den<br />

Danteschen Charon, der vor einen Hölleneingang nach dem<br />

Vorbild des Inferno verängstigte Menschen zusammentreibt<br />

33 . Das in der Apk sorgsam ausgestaltete, Hoffnung<br />

spendende Konzept mit einer guten Nachricht für alle Menschen<br />

wird auf diese Weise torpediert: Die immerwährende,<br />

qualvolle Hölle Dantes ist nun fester Bestandteil des von<br />

Michelangelo verbildlichten Endzeitgerichts. Diese in Bild<br />

gebrachte Verquickung wurde über die Jahrhunderte bis<br />

heute unzählige Male rezipiert und unterstützt durch ihren<br />

Standort, die Sixtinischen Kapelle, als »biblisch« verstanden.<br />

33<br />

Vgl. Nadine Haas zur Intermedialität in Michelangelos »Das Jüngste<br />

Gericht« im vorliegenden Band.<br />

40


Dantes »Göttliche Komödie«<br />

Die Bilder des Mittelalters bilden oftmals den ersten<br />

Zugang zur Apk, sie dürfen jedoch nicht die Exegese bestimmen<br />

34 , so mahnt der evangelische Theologe Martin Karrer in<br />

seinem Kommentar zur Apk treffend. Die Erkenntnisse aus<br />

dem Rezeptionserfolg der Commedia können dabei helfen, das<br />

Phänomen mediengesteuerter Vorverständnisse zu thematisieren<br />

und klar zu kommunizieren, wenn von einer biblischen<br />

»Hölle« die Rede ist. Dies wirkt der Gefahr entgegen,<br />

dass Menschen die Hoffnungsbotschaft biblischer Texte wie<br />

der Apk verpassen, weil sie an einen ungnädigen, ewig strafenden<br />

Gott denken – anstatt an jenen Gott, aus dessen Thron<br />

ein Fluss von Wasser des Lebens hervorgeht und der eine Welt<br />

errichten wird, in der jegliche Verfluchung nicht mehr sein<br />

wird (vgl. Apk 22,1ff., FNT). Gelingt es, gängige Höllenvorstellungen<br />

kritisch einzuordnen, sollte der Enthüllung der<br />

frohen Botschaft nichts mehr im Wege stehen.<br />

34<br />

Vgl. Karrer, Johannesoffenbarung, 144.<br />

41


Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig<br />

Satz: <strong>Simon</strong> <strong>Dittmann</strong>, Frankfurt a. M.<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-07239-2 // eISBN (PDF) 978-3-374-07240-8<br />

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