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Thomas Söding: Das Evangelium nach Markus (Leseprobe)

Dieser große Kommentar erschließt das Markusevangelium historisch-kritisch und kanonisch als Erzählung an Jesus, die im Licht des Osterglaubens erstmals die Zusammenhänge zwischen dem Wirken und der Passion Jesu vergegenwärtigt. Jesus nimmt seine Sendung, das Reich Gottes zu vermitteln, als Gottessohn mitten unter den Menschen wahr – als Jude für alle Völker. Das Evangelium antwortet auf eine tiefe Krise der Gesellschaft und der Kirche, die durch den Jüdischen Krieg zugespitzt wird. Es führt die Aktualität der Verkündigung Jesu vor Augen: Der Glaube prägt alle Lebensbereiche, weil er in der Nachfolge Jesu die rettende Beziehung zu Gott mit der sozialen Verantwortung für die Nächsten vereint. Diese Orientierung entwickelt sich in einer lebendigen Gemeindetradition, die Markus zusammenfasst und weiterführt. Das Markusevangelium wird als grundlegendes Zeugnis personaler Christologie gedeutet, die das Bild Jesu nachhaltig geprägt hat und bis heute eine Auseinandersetzung mit ihm stimuliert.

Dieser große Kommentar erschließt das Markusevangelium historisch-kritisch und kanonisch als Erzählung an Jesus, die im Licht des Osterglaubens erstmals die Zusammenhänge zwischen dem Wirken und der Passion Jesu vergegenwärtigt. Jesus nimmt seine Sendung, das Reich Gottes zu vermitteln, als Gottessohn mitten unter den Menschen wahr – als Jude für alle Völker. Das Evangelium antwortet auf eine tiefe Krise der Gesellschaft und der Kirche, die durch den Jüdischen Krieg zugespitzt wird. Es führt die Aktualität der Verkündigung Jesu vor Augen: Der Glaube prägt alle Lebensbereiche, weil er in der Nachfolge Jesu die rettende Beziehung zu Gott mit der sozialen Verantwortung für die Nächsten vereint. Diese Orientierung entwickelt sich in einer lebendigen Gemeindetradition, die Markus zusammenfasst und weiterführt.
Das Markusevangelium wird als grundlegendes Zeugnis personaler Christologie gedeutet, die das Bild Jesu nachhaltig geprägt hat und bis heute eine Auseinandersetzung mit ihm stimuliert.

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<strong>Thomas</strong><br />

<strong>Söding</strong><br />

<strong>Das</strong><br />

<strong>Evangelium</strong><br />

<strong>nach</strong><br />

<strong>Markus</strong><br />

2<br />

Theologischer<br />

Handkommentar<br />

zum<br />

Neuen Testament


Vorwort<br />

<strong>Das</strong> <strong>Markus</strong>evangelium hat seit fast zweitausend Jahren das Bild Jesu Christi geprägt.<br />

Soweit bekannt, ist es das älteste Buch über das öffentliche Wirken und Leiden Jesu.<br />

Es hat Schule gemacht. Es ist zwar weit kürzer als die Evangelien <strong>nach</strong> Matthäus<br />

und Lukas, die – ähnlich wie das Johannesevangelium – häufiger ausgelegt worden<br />

sind und stärker die Theologie und die Liturgie, auch die Kunst, die Literatur, die<br />

Musik beeinflusst haben. Aber Matthäus und Lukas haben das <strong>Markus</strong>evangelium<br />

als wichtigste Quelle benutzt; Johannes dürfte sein Werk nicht unabhängig von ihm<br />

geschrieben haben.<br />

An einem Wendepunkt der Geschichte hat <strong>Markus</strong> mit seinem Buch den mündlichen<br />

und schriftlichen Jesusüberlieferungen, die es vor ihm gab, eine neue Gestalt<br />

gegeben, die für die Zukunft geeignet war. Dieser Wendepunkt wird durch die Zerstörung<br />

Jerusalems markiert, die im <strong>Evangelium</strong> zum Thema wird (Mk 13); sie wird<br />

aber auch durch das Martyrium des Petrus angezeigt, mit dem die kirchliche Tradition<br />

lange Zeit das <strong>Evangelium</strong> verbunden hat. Denn weil die Urgemeinde als Zentrum<br />

der jungen Kirche nicht mehr dienen konnte und die Zeit der Augenzeugen zu<br />

Ende ging, musste die Jesustradition eine neue Gestalt finden. <strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong> gibt<br />

auf diese Herausforderung eine kreative Antwort. Nach wie vor prägt <strong>Markus</strong> die<br />

Grundform eines <strong>Evangelium</strong>s.<br />

Im Kommentar soll dieses <strong>Evangelium</strong> ausgelegt werden: im Rückgang auf die<br />

Zeit seiner Entstehung, vor allem in Bezug auf Jesus, sein Wirken, sein Leiden und<br />

seine Auferstehung. Ein Kommentar soll eine Hilfe für Predigt, Katechese und Unterricht<br />

sein. Er soll den aktuellen Forschungsstand aufnehmen und weiterführen;<br />

er soll frühere Auslegungen nicht verachten, aber auch neue Wege gehen. Er soll erstens<br />

die literarische Gestalt des Textes analysieren; er soll zweitens die historischen<br />

Bezüge sowohl zur Zeit seiner Entstehung als auch zu Jesus selbst aufklären; er soll<br />

drittens die theologische Bedeutung erhellen, die der Erzählung eingeschrieben ist<br />

und sich im narrativen Portrait Jesu ebenso zeigt wie in den Rezeptionssignalen, die<br />

der Text setzt, um eine Lektüre zu steuern, die dem <strong>Evangelium</strong> Gehör verschafft.<br />

Beim Schreiben des Kommentars haben mich viele Menschen unterstützt, die<br />

an meinem Lehrstuhl in Bochum gearbeitet haben und arbeiten – zu viele, als dass<br />

ich alle Namen hier auflisten könnte. Stellvertretend möchte ich Elisabeth Koch nennen,<br />

nicht nur als Sekretärin, sondern auch als Bibliothekarin. Dem Verlag danke ich<br />

für die editorische Betreuung, den zuständigen Herausgebern Jens Herzer und Udo<br />

Schnelle für Geduld, Nachsicht, Interesse und Unterstützung.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Markus</strong>evangelium war meine erste exegetische Liebe. Die Arbeit am Kommentar<br />

hat sie nicht erkalten lassen, sondern vertieft.<br />

Bochum / Münster im Sommer 2021<br />

<strong>Thomas</strong> <strong>Söding</strong>


Inhaltsverzeichnis<br />

Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .XI<br />

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .XXI<br />

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />

§ 1 Der Text: Aufbau, Gattung und Erzählweise . . . . . . . . . . . . . . . . . 1<br />

§ 2 Der Kontext: Autor und Adressaten, Zeit und Ort . . . . . . . . . . . . . . 6<br />

§ 3 Die Genese: Traditionen, Spannungen und Verbindungen . . . . . . . . . 9<br />

§ 4 Die Perspektiven der Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12<br />

Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />

Die Überschrift (Mk 1,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />

Die Einführung (Mk 1,12–15) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />

Die Schriftreflexion (Mk 1,2f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22<br />

Der Auftritt Johannes des Täufers (Mk 1,4–8) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />

Die Taufe Jesu (Mk 1,9–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28<br />

Die Versuchung Jesu (Mk 1,12f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />

Die Verkündigung Jesu (Mk 1,14f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37<br />

Der erste Hauptteil:<br />

Jesu Wirken in und um Kapharnaum (Mk 1,16 – 4,34) . . . . . . . . . . . . . . . 43<br />

Die Berufung der ersten Jünger am See (Mk 1,16–20). . . . . . . . . . . . . . 43<br />

Ein Sabbat in Kapharnaum (Mk 1,21–39) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48<br />

Lehre und Exorzismus in der Synagoge (Mk 1,21–28). . . . . . . . . . . . . . 49<br />

Die Heilung der Schwiegermutter Simons im Haus (Mk 1,29–31) . . . . . . . 55<br />

Der Andrang des Volkes in der Stadt (Mk 1,32–34) . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />

Rückzug in und Aufbruch von Kapharnaum (Mk 1,35–39). . . . . . . . . . . 58<br />

Die Heilung eines Aussätzigen in Galiläa (Mk 1,40–45). . . . . . . . . . . . . 61<br />

Konflikte in Galiläa (Mk 2,1 – 3,6) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66<br />

Die Heilung eines Gelähmten (Mk 2,1–12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />

Die Berufung des Levi und das Mahl mit Sündern (Mk 2,13–17) . . . . . . . 76<br />

<strong>Das</strong> Fasten (Mk 2,18–22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81<br />

<strong>Das</strong> Ährenraufen am Sabbat (Mk 2,23–28). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84<br />

Die Heilung eines Menschen mit verdorrter Hand am Sabbat (Mk 3,1–6) . . 87


VIII<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Klärung der Positionen (Mk 3,7–35) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92<br />

Der Andrang des Volkes am See (Mk 3,7–12) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92<br />

Die Einsetzung des Zwölferkreises auf dem Berg (Mk 3,13–19) . . . . . . . . 95<br />

Der Vorstoß der Angehörigen (Mk 3,20f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100<br />

Der Vorwurf der Besessenheit (Mk 3,22–30) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102<br />

Die Familie Gottes um Jesus (Mk 3,31–35) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />

Lehre in Gleichnissen (Mk 4,1–34) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115<br />

Die Einleitung und das Sämanngleichnis (Mk 4,1f.3–9). . . . . . . . . . . . . 116<br />

<strong>Das</strong> Gespräch mit den Jüngern über den Sinn der Gleichnisse (Mk 4,10–12) . 121<br />

Die Deutung des Sämanngleichnisses für die Jünger (Mk 4,13–20) . . . . . . 125<br />

Worte an die Jünger zu Verhüllung und Offenbarung (Mk 4,21–25). . . . . . 129<br />

<strong>Das</strong> Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29) . . . . . . . . . . 133<br />

<strong>Das</strong> Gleichnis vom Senfkorn (Mk 4,30–32) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136<br />

Die Ausleitung der Gleichnisrede (Mk 4,33f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138<br />

Der zweite Hauptteil:<br />

Jesu Wirken in Galiläa und darüber hinaus (Mk 4,35 – 8,26). . . . . . . . . . . . 141<br />

Machttaten jenseits und diesseits des Sees (Mk 4,35 – 5,43). . . . . . . . . . . . . 142<br />

Die Stillung des Seesturmes (Mk 4,35–41) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142<br />

Der Exorzismus in Gerasa (Mk 5,1–20) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147<br />

Die Auferweckung der Tochter des Jaïrus<br />

und die Heilung der blutflüssigen Frau (Mk 5,21–43) . . . . . . . . . . . . . 154<br />

Mission in Galiläa unter Druck (Mk 6,1– 44) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164<br />

Die Ablehnung Jesu in seiner Vaterstadt (Mk 6,1–6a) . . . . . . . . . . . . . . 164<br />

Die Aussendung der Zwölf (Mk 6,6b –13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169<br />

Unterschiedliche Meinungen über Jesus (Mk 6,14–16) . . . . . . . . . . . . . 174<br />

Die Ermordung des Täufers durch Herodes (Mk 6,17–29) . . . . . . . . . . . 176<br />

Die Speisung der Fünftausend (Mk 6,30–44) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183<br />

Die Ausdehnung des Wirkens über Galiläa hinaus (Mk 6,45 – 8,10). . . . . . . . . 191<br />

Der Seewandel Jesu (Mk 6,45–52). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192<br />

Heilungen in Genezareth (Mk 6,53–56) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198<br />

Lehrgespräche über Rein und Unrein (Mk 7,1–23) . . . . . . . . . . . . . . . 200<br />

Die Erhörung der Bitte einer Syrophönizierin (Mk 7,24–30) . . . . . . . . . . 209<br />

Die Heilung eines Taubstummen in der Dekapolis (Mk 7,31–37) . . . . . . . 215<br />

Die Speisung der Viertausend (Mk 8,1–10) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219<br />

Gemischte Bilanz (Mk 8,11–26). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223<br />

Die Zurückweisung der Zeichenforderung der Pharisäer (Mk 8,11–13) . . . . 223<br />

Die Verstocktheit der Jünger (Mk 8,14–21) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226<br />

Die Heilung eines Blinden bei Bethsaïda (Mk 8,22 –26). . . . . . . . . . . . . 229


Inhaltsverzeichnis<br />

IX<br />

Der dritte Hauptteil:<br />

Der Weg Jesu <strong>nach</strong> Jerusalem (Mk 8,27 – 10,52) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233<br />

Der Kreis um die erste Ankündigung des Leidens<br />

und der Auferstehung (Mk 8,27–9,29) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235<br />

<strong>Das</strong> Messiasbekenntnis, die erste Vorhersage des Leidens<br />

und der Auferstehung Jesu und der Ruf zur Kreuzes<strong>nach</strong>folge (Mk 8,27–9,1) 235<br />

Die Verwandlung Jesu (Mk 9,2–13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252<br />

Die Heilung eines besessenen Jungen (Mk 9,14 –29) . . . . . . . . . . . . . . 260<br />

Der Kreis um die zweite Ankündigung des Leidens<br />

und der Auferstehung (Mk 9,30 –50) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270<br />

Die zweite Vorhersage des Leidens Jesu<br />

und seiner Auferstehung (Mk 9,30–32). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270<br />

Die Zurechtweisung im Rangstreit der Jünger (Mk 9,33–37). . . . . . . . . . 272<br />

Die Klarstellung in der Kritik der Jünger am fremden<br />

Wundertäter (Mk 9,38–41). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275<br />

Die Warnung der Jünger vor Verführung (Mk 9,42–50) . . . . . . . . . . . . 278<br />

Der Kreis um die dritte Ankündigung des Leidens<br />

und der Auferstehung (Mk 10,1–52) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283<br />

Der Aufbruch Jesu <strong>nach</strong> Judäa (Mk 10,1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283<br />

<strong>Das</strong> Lehrgespräch Jesu über die Ehescheidung (Mk 10,2–12) . . . . . . . . . . 284<br />

Die Segnung der Kinder (Mk 10,13–16). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289<br />

Die vergebliche Berufung des Reichen und das Jüngergespräch<br />

über die Rettung des Lebens (Mk 10,17–31) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292<br />

Die dritte Vorhersage des Leidens und der Auferstehung Jesu (Mk 10,32–34) 299<br />

Die Bitte der Zebedaïden um Ehrenplätze und der Dienst<br />

des Menschensohnes (Mk 10,35–45) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301<br />

Die Heilung des blinden Bartimäus bei Jericho (Mk 10,46–52) . . . . . . . . 307<br />

Der vierte Hauptteil:<br />

<strong>Das</strong> Wirken Jesu in Jerusalem (Mk 11,1 – 13,37) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313<br />

Der Auftritt Jesu vom Einzug bis zur Tempelaktion (Mk 11,1 – 12,12) . . . . . . . . 313<br />

Der Einzug Jesu in Jerusalem (Mk 11,1–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314<br />

Die Verfluchung des Feigenbaumes (Mk 11,12–14) . . . . . . . . . . . . . . . 318<br />

Die Prophetie im Tempel (Mk 11,15–19) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320<br />

Die Schule des Gebetes (Mk 11,20–25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325<br />

Die Frage <strong>nach</strong> der Vollmacht Jesu (Mk 11,27–33) . . . . . . . . . . . . . . . . 328<br />

<strong>Das</strong> Gleichnis vom Weinberg (Mk 12,1–12). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330<br />

Lehrgespräche im Tempel (Mk 12,13–44) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337<br />

Die Antwort auf die Steuerfrage (Mk 12,13 –17) . . . . . . . . . . . . . . . . . 338<br />

Die Antwort auf die Auferstehungsfrage (Mk 12,18 –27) . . . . . . . . . . . . 343<br />

Die Antwort auf die Frage <strong>nach</strong> dem größten Gebot (Mk 12,28–34) . . . . . . 347


X<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Die Klärung der Messiasfrage (Mk 12,35–37) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353<br />

Die Kritik heuchlerischer Schriftgelehrter (Mk 12,38ff.) . . . . . . . . . . . . 357<br />

<strong>Das</strong> Vorbild der armen Witwe (Mk 12,41–44) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360<br />

Die Endzeitrede (Mk 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363<br />

Die Ankündigung der Tempelzerstörung (Mk 13,1f.) . . . . . . . . . . . . . . 366<br />

Der Anfang der Bedrängnis (Mk 13,3–13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367<br />

Der Gipfel der Bedrängnis (Mk 13,14–23) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374<br />

Die Ankunft des Menschensohnes (Mk 13,24–27). . . . . . . . . . . . . . . . 378<br />

Die Mahnung zur Wachsamkeit (Mk 13,28–37) . . . . . . . . . . . . . . . . . 380<br />

Der fünfte Hauptteil:<br />

Die Passion und Auferstehung Jesu (Mk 14,1 – 16,8) . . . . . . . . . . . . . . . . 385<br />

Die kontrastive Eröffnung (Mk 14,1–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388<br />

Der Todesbeschluss (Mk 14,1f.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388<br />

Die Salbung in Bethanien (Mk 14,3–9) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389<br />

Der Entschluss des Judas (Mk 14,10f.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393<br />

<strong>Das</strong> Letzte Abendmahl (Mk 14,12–25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395<br />

Die Bereitung des Abendmahles (Mk 14,12–16) . . . . . . . . . . . . . . . . . 395<br />

Die Ankündigung der Übergabe (Mk 14,17–21) . . . . . . . . . . . . . . . . . 397<br />

Die Gabe von Brot und Wein (Mk 14,22–25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399<br />

Der Weg der Auslieferung (Mk 14,26–52) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405<br />

Die Ankündigung des Jüngerversagens (Mk 14,26–31) . . . . . . . . . . . . . 405<br />

<strong>Das</strong> Gebet in Gethsemane (Mk 14,32–42). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408<br />

Die Gefangennahme Jesu (Mk 14,43–52) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414<br />

Der Prozess vor dem Hohen Rat (Mk 14,53–72) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418<br />

Die Verurteilung Jesu (Mk 14,53–65) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418<br />

Die Verleugnung Jesu durch Petrus (Mk 14,66–72) . . . . . . . . . . . . . . . 425<br />

Der Prozess vor Pilatus (Mk 15,1–20a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428<br />

<strong>Das</strong> Verhör und die Verurteilung Jesu (Mk 15,1–15) . . . . . . . . . . . . . . . 428<br />

Die Verspottung und Folterung Jesu (Mk 15,16–20a) . . . . . . . . . . . . . . 432<br />

Die Hinrichtung Jesu (Mk 15,20b –41) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435<br />

Der Kreuzweg Jesu (Mk 15,20b–22). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436<br />

Die Kreuzigung und Verspottung Jesu (Mk 15,23–32) . . . . . . . . . . . . . 438<br />

Der Tod Jesu (Mk 15,33–41) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442<br />

<strong>Das</strong> Begräbnis Jesu (Mk 15,42–47) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449<br />

Die Auferweckungsbotschaft im leeren Grab (Mk 16,1–8) . . . . . . . . . . . . . . 452<br />

Der Nachtrag: Sekundäre Abschlüsse des <strong>Markus</strong>evangeliums . . . . . . . . . . 457<br />

Der kürzere <strong>Markus</strong>schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457<br />

Der längere <strong>Markus</strong>schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459<br />

Ausleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465


Einleitung1<br />

<strong>Das</strong> <strong>Markus</strong>evangelium ruft durch Erzählen in Erinnerung, dass Jesus als Sohn Gottes<br />

das Reich Gottes verkündet hat. Es ist in und für Gemeinden geschrieben worden, die<br />

eine Orientierung im Glauben suchen. Der Evangelist stellt den bestimmenden »Anfang«<br />

vor Augen, den Jesus mit seinem Wirken, seinem Leiden und seiner Auferstehung<br />

gemacht hat (Mk 1,1). Die Kanonisierung hat den Rang des <strong>Evangelium</strong>s bestätigt.<br />

Für <strong>Markus</strong> ist der Bezug zur Geschichte Jesu wesentlich: Gott hat durch Jesus verkündet,<br />

dass seine Herrschaft nahegekommen ist (Mk 1,14f.); er hat seinen Sohn als Diener<br />

gesandt, der den Menschen die Erlösung bringt, indem er sein Leben für sie hingibt<br />

(Mk 10,45); er hat Jesus von den Toten auferweckt (Mk 16,7), damit das <strong>Evangelium</strong> bis<br />

zum Ende aller Zeit Glauben finden kann (Mk 1,15).<br />

<strong>Markus</strong> zeichnet Jesus in den Kontext seiner Zeit ein – und diese Zeit in den Horizont<br />

einer Verheißung, die Zukunft gewinnt, weil Jesus sie erschlossen hat. <strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong><br />

übt Kritik an den Hohepriestern in Jerusalem und an den imperialen wie den<br />

lokalen Machthabern. Es konzentriert sich aber auf die Person und die Botschaft Jesu.<br />

Vierzig Jahre <strong>nach</strong> dem grundlegenden Geschehen hat der Evangelist eine neue Form<br />

der Überlieferung gefunden. Er hat mündliche und schriftliche Traditionen aufgenommen<br />

und zusammengeführt, die mit der Abfassung des <strong>Evangelium</strong>s nicht aufhören,<br />

aber ein neues Orientierungszentrum gewinnen können: den schriftlichen Text, der später<br />

»<strong>Evangelium</strong>« genannt werden wird und auf Lesen, Deuten und Verstehen aus ist,<br />

jeweils vor Ort und zur Zeit (vgl. Mk 13,14).<br />

<strong>Das</strong> Buch öffnet den Raum für Entwicklungen, für Impulse und Rückschläge, für<br />

Auseinandersetzungen und Begegnungen, die Jesus erlebt und erlitten hat. Er selbst<br />

bleibt von diesen Spannungen nicht unberührt; <strong>Markus</strong> charakterisiert eine Fülle diverser<br />

Reaktionen auf Jesus, die von vorschneller Zustimmung bis zu verstocktem Widerstand<br />

und von schwerfälligem Lernen bis zu spontaner Glaubenskraft reichen. Die<br />

Fülle an farbigen, widersprüchlichen, stimulierenden Erinnerungen, die der Evangelist<br />

aufschreibt, öffnet einen Rezeptionsraum, in dem die Grundforderung Jesu: »Kehrt um<br />

und glaubt an das <strong>Evangelium</strong>!« (Mk 1,15), auflebt, so dass Antworten möglich werden,<br />

die Gottes Heilswillen entsprechen.<br />

§ 1 Der Text: Aufbau, Gattung und Erzählweise<br />

<strong>Das</strong> <strong>Markus</strong>evangelium wird von allen großen Handschriften überliefert, in denen sich<br />

kanonisch gewordene Evangelien finden. Es steht in der Regel an der zweiten Stelle,<br />

1 Vgl. U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB), Göttingen 8 2008, 264–286, überdies die<br />

Einführungen der wissenschaftlichen Kommentare und weitere führende Einleitungen in das Neue<br />

Testament; ferner Th. <strong>Söding</strong>, Der Evangelist in seiner Zeit. Voraussetzungen, Hintergründe und<br />

Schwerpunkte markinischer Theologie, in: Ders. (Hg.), Evangelist, 11–62.


2<br />

Einleitung<br />

immer <strong>nach</strong> Matthäus (dem selten zuerst Johannes folgt) und immer vor Lukas. Die Majuskelhandschriften<br />

bieten den <strong>Markus</strong>text in der Regel vollständig. Größere Teile überliefern<br />

die Chester Beatty-Papyri, kleinere P 84 (aus dem Louvre) sowie P 88 (aus Mailand).<br />

Vom Spezialproblem des <strong>Markus</strong>schlusses abgesehen (s. bei Mk 16,9), bewegen sich die<br />

Varianten im üblichen Rahmen. Der Grundbestand des Textes ist so gut gesichert, wie<br />

es beim Neuen Testament erwartet werden darf. Die Editio Ciritiica Maior belegt die<br />

Intensität der Überlieferung auch im Blick auf die Varianten.<br />

1.1 Der Aufbau<br />

<strong>Das</strong> <strong>Markus</strong>evangelium erzählt in charakteristischen Episoden 2 die Geschichte des<br />

öffentlichen Wirkens und Leidens Jesu, den Gott von den Toten auferweckt hat<br />

(Mk 16,6f.). 3 Durch einen vielfältigen und vielförmigen Bezug auf die Bibel Israels ordnet<br />

das <strong>Evangelium</strong> die Geschichte Jesu in die Geschichte Gottes mit seinem Volk ein,<br />

und zwar im Kern dadurch, dass Jesus selbst sich als Lehrer und Beter, als Prophet und<br />

Hörer auf die Tora, die Propheten und die Psalmen bezieht.<br />

<strong>Das</strong> Corpus des <strong>Evangelium</strong>s lässt sich sinnvoll <strong>nach</strong> verschiedenen Kriterien gliedern.<br />

4 Eine geographische Strukturierung, die den Zeitfaktor berücksichtigt, 5 ist besonders<br />

gut geeignet. 6 <strong>Markus</strong> schildert die Ereignisse im Rahmen ungefähr eines Jahres. Jesus<br />

startet mit seiner Verkündigung in Galiläa (Mk 1,14f.); er stirbt am Paschafest in Jerusalem<br />

(Mk 14–15); er wird als Auferstandener die Jünger <strong>nach</strong> Galiläa zurückführen (Mk 14,28;<br />

vgl. 16,7). Auf seinem Leiden und Sterben in Jerusalem liegt ein besonderes Gewicht;<br />

schon früh weisen Erzählsignale in diese Richtung (vgl. Mk 2,7; 3,6); Jesus selbst prophezeit<br />

mehrfach sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung (Mk 8,31; 9,31; 10,32ff.<br />

u. ö.). Gleichwohl ist das <strong>Markus</strong>evangelium keine »Passionsgeschichte mit ausführlicher<br />

Einleitung« 7 , sondern zuerst eine Geschichte der Verkündigung Jesu in Wort und<br />

Tat, beginnend in Galiläa und Umgebung (Mk 1,14–9,50), dann auf dem Weg <strong>nach</strong> Judäa<br />

(Mk 10,1), schließlich in Jerusalem (Mk 11–13). Ohne diese Erzählungen ließe sich nicht<br />

verstehen, wer in Jerusalem verfolgt wird und weshalb sein Tod, der Jesus zum Klageschrei<br />

des Gottverlassenen führt (Mk 15,34), Heilsbedeutung haben soll (Mk 10,45; 14,22–25).<br />

2 Vgl. C. Breytenbach, <strong>Das</strong> <strong>Markus</strong>evangelium als episodische Erzählung. Mit Überlegungen zum »Aufbau«<br />

des zweiten <strong>Evangelium</strong>s, in: F. Hahn (Hg.), Erzähler, 137–169.<br />

3 Nach Zeit, Form, Botschaft und Zweck schlüsselt L. Schenke (<strong>Markus</strong>evangelium [1988]) den Gesamttext<br />

auf.<br />

4 Vgl. F. Wilk, Erzählstrukturen im Neuen Testament (UTB 4559), Tübingen 2016, 101–139. Nach Personengruppen<br />

ordnet K. M. Schmidt (Wege), <strong>nach</strong> signifikanten Situationen A. Y. Collins (Mark, 85–94),<br />

<strong>nach</strong> dramatischen Konstellationen L. Schenke (<strong>Markus</strong>evangelium [2018]).<br />

5 Die literarische Konstruktion analysiert P. Weigandt, Zeit und Ort im <strong>Markus</strong>evangelium, Darmstadt<br />

2018.<br />

6 So die meisten, z. B. K. Scholtissek, Von Galiläa <strong>nach</strong> Jerusalem und zurück. Zur theologischen Topographie<br />

im <strong>Markus</strong>evangelium, in: G. Brüske u. a. (Hg.), Oleum laetitiae. FS B. Schwank, Münster<br />

2003, 56–77.<br />

7 So M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus (1892), hg.<br />

v. E. Wolf (TB 2), München 4 1969, 60, Anm.


Der Text<br />

3<br />

Umgekehrt wird immer wieder angezeigt, dass der Zugang zur Vollmacht Jesu versperrt<br />

bleibt, wenn der Weg des Leidens verkannt oder verstellt wird, so spektakulär in der Konfrontation<br />

zwischen Jesus und Petrus in Caesarea Philippi (Mk 8,27–9,1).<br />

Diese Szene bildet einen kompositorischen Einschnitt, weil sie durch die Frage Jesu<br />

<strong>nach</strong> der Meinung des Volkes wie <strong>nach</strong> dem Urteil der Jünger über ihn eingeleitet wird<br />

(Mk 8,27ff.). Von diesem Moment an kündigt Jesus explizit dreimal sein Leiden und seine<br />

Auferstehung an (Mk 8,31; 9,31; 10,32ff.). Dieser Dreiklang hält die Szenen bis zur Heilung<br />

des Blinden in Jericho vor den Toren Jerusalems zusammen (Mk 10,45–52). Schwerer<br />

ist die erste Hälfte des <strong>Markus</strong>evangeliums zu gliedern (s. bei Mk 1,16–4,34). Auch wenn<br />

eine trennscharfe Unterscheidung nicht möglich ist, sammelt sich eine erste Serie von<br />

Episoden um und in Kapharnaum (Mk 1,16–39; 2,1–3,6; vgl. 3,7–12.13–19.20–35; 4,1–34),<br />

mit einem ersten Abstecher tief <strong>nach</strong> Galiläa hinein (Mk 1,40–45). Ab der Sturmstillung<br />

(Mk 4,35–41) wird der See Genezareth zur Drehscheibe der Aktivität Jesu (vgl. Mk 6,45–<br />

52; 8,14–21). Hier beginnt eine zweite Serie von Episoden. Kapharnaum ist nicht vergessen<br />

(vgl. Mk 5,21–45; 7,1–23). Aber mit Nazareth (Mk 6,1–6a), Genezareth (Mk 6,53–56),<br />

Dalmanutha (Mk 8,10–13) und Bethsaïda (Mk 8,22–26) werden weitere jüdische Ortschaften<br />

genannt. Die Sendung der Zwölf (Mk 6,6–13) zeigt die programmatische Ausweitung<br />

des Wirkens Jesu auf ganz Israel an. Jesus selbst gelangt sogar in die heidnische Dekapolis<br />

(Mk 5,1–20; 7,37–8,10), <strong>nach</strong> Tyros (Mk 7,24–30) und Sidon (Mk 7,31).<br />

Nach der Überschrift (Mk 1,1) und der programmatischen Eröffnung (Mk 1,2–15)<br />

zeichnen sich fünf Hauptteile ab:<br />

Mk 1,1<br />

Mk 1,2–15<br />

Mk 1,16 –4,34<br />

Mk 4,35 –8,26<br />

Mk 8,27–10,56<br />

Mk 11–13<br />

Mk 14–16<br />

Überschrift<br />

Einführung<br />

Jesu Wirken in und um Kapharnaum<br />

Jesu Wirken in Galiläa und darüber hinaus<br />

Jesu Weg <strong>nach</strong> Jerusalem<br />

Jesu Wirken in Jerusalem<br />

Jesu Passion und Auferstehung<br />

<strong>Markus</strong> wählt eine einfache Sprache, die Tiefe hat und durch eine Reihe von biblischen<br />

Wendungen den Einklang zwischen Thema und Darstellung erhöht. 8 Die Koine, die<br />

Sprache des Volkes, entspricht der Klarheit und Eindeutigkeit des <strong>Evangelium</strong>s, das die<br />

Nähe des Gottesreiches zur Frohen Botschaft schlechthin erklärt (Mk 1,15). Der elementaren<br />

Kraft des <strong>Evangelium</strong>s entspricht eine große Vielfalt von Verkündigungsformen:<br />

Jesus beruft Jünger, heilt Kranke und treibt Dämonen aus; er erzählt Gleichnisse und<br />

führt Konflikt- wie Konsensgespräche; er unterrichtet seine Jünger in einer Schule des<br />

Glaubens, die viele Lektionen vorsieht und immer wieder neu ansetzen muss. Der Weite<br />

des <strong>Evangelium</strong>s, in dessen Dienst Jesus sich <strong>nach</strong> <strong>Markus</strong> stellt, entspricht eine Fülle<br />

von Begegnungen Jesu mit Menschen: Sympathisanten und Opponenten, Hilfsbedürftigen<br />

und Helfern, Verwandten und Fremden. 9 So wie <strong>Markus</strong> es darstellt, findet Jesus für<br />

8 Vgl. M. Reiser, Syntax und Stil des <strong>Markus</strong>evangeliums (WUNT 2/11), Tübingen 1984.<br />

9 Vgl. M. Ebner, Im Schatten der Großen. Kleine Erzählfiguren im <strong>Markus</strong>evangelium, in: BZ 44 (2000), 56–76.


4<br />

Einleitung<br />

sie alle das richtige Wort: sei es heilsam und befreiend, sei es kritisch oder aufmunternd.<br />

Er löst keineswegs nur Zustimmung aus, sondern immer wieder starke Spannungen,<br />

die von gutwilliger Verständnislosigkeit bei den Jüngern bis zu kalkulierter Todfeindschaft<br />

bei Hohepriestern, Ältesten und Schriftgelehrten reichen, von vertrauensvoller<br />

Erwartung bei Kranken bis zu ängstlicher Sorge bei Angehörigen, von Unglaube und<br />

Desinteresse bis zu Begeisterungsstürmen einer Menge, die aber schnell abflauen, und<br />

zur Unterstützung von Einzelnen, die im Verborgenen bleibt. 10<br />

Diese große Vielfalt erklärt sich daraus, dass die Nähe der Gottesherrschaft das ganze<br />

Leben aller Menschen verändert, die das <strong>Evangelium</strong> hören: Alle werden zur Umkehr<br />

gerufen, allen öffnet Jesus die Tür zum Reich Gottes, allen gibt er sein Leben hin. Jesus<br />

wartet nicht, bis Menschen zu ihm kommen, sondern macht sich selbst auf den Weg,<br />

ihnen die Nähe Gottes (Mk 1,15) zu erschließen, indem er sie heilt und befreit, belehrt<br />

und beschenkt.<br />

1.2 Die Gattung<br />

<strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong> stellt die Person Jesu in den Mittelpunkt (Mk 1,1). Deshalb ist es am<br />

ehesten als Biographie zu sehen, nicht im modernen, aber im antiken Wortsinn. 11 Jesus<br />

erscheint bei <strong>Markus</strong> als Vorbild, das es in seiner Frömmigkeit und Leidensbereitschaft,<br />

seinem Ethos der Liebe und seiner Kritik gegenüber politischen wie religiösen Institutionen<br />

<strong>nach</strong>zuahmen gilt. Aber vor allem erscheint er als Person, die Gott gesandt hat.<br />

Deshalb ist er nicht nur Vorbild. Er ist der Lehrer, dem man <strong>nach</strong>folgen muss, um auf<br />

den Weg des Lebens zu finden (Mk 1,16–20; 10,17–31); er ist der Messias, der Sohn Gottes<br />

(Mk 1,1), der Retter, und zwar als Diener (Mk 10,45; 14,22–25).<br />

Durch die Christologie entstehen typische Unterschiede zu den Mustern antiker Biographien:<br />

Niederlagen werden aufgedeckt; Glanz und Gloria werden kritisiert; traditionelle<br />

Werte werden umgewertet, die Kleinen werden zu Großen und die Großen zu<br />

Kleinen, innerhalb wie außerhalb der Jüngergemeinde. Vor allem: Der Held stirbt, und<br />

zwar keinen ehrenvollen, sondern einen schändlichen, quälenden Tod am Kreuz. Ohne<br />

diese Schmach zu verdrängen, vielmehr indem er sie offenlegt, verkündet der Evangelist<br />

diesen Menschen Jesus als Sohn Gottes. Weil Jesus als Mensch unter Menschen Gott verkündet,<br />

mitten im Leben, schildert <strong>Markus</strong> das politische, kulturelle und soziale Umfeld<br />

eingehender als in antiken Biographien üblich. Der Evangelist lässt die Welt anschaulich<br />

werden, in die Jesus, der Protagonist, hineinkommt, um sie zu verändern.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Markus</strong>evangelium taugt als Quelle der Rückfrage <strong>nach</strong> Jesus, aber nur auf dem<br />

Wege der historischen Kritik und der biblischen Hermeneutik der Erinnerung (Mk<br />

14,9): Ins Gedächtnis wird das gerufen, was im Rückblick denen als wesentlich gilt, die<br />

zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind; es wird so erinnert, dass deutlich wird,<br />

was geglaubt wird, wie und warum. Im Unterschied zum platonischen ist für das bib-<br />

10 Die Dynamiken des Verstehens, die im Text angelegt sind, analysiert J. U. Beck, Verstehen.<br />

11 Vgl. R. A. Burridge, Gospels; D. Dormeyer, <strong>Markus</strong>evangelium. Als Historiographie sieht es E.-M. Becker,<br />

<strong>Markus</strong>-<strong>Evangelium</strong>. Die Grenzen sind fließend.


Der Text<br />

5<br />

lische Gedächtniskonzept der Bezug auf Geschichte wesentlich. Während der Mythos<br />

erzählt, was »niemals war und immer ist« (Sallust, De diis et mundo 4,4), erzählt das<br />

<strong>Evangelium</strong>, was einmal war und immer wird: weil Gott selbst das Gedächtnis seiner<br />

Taten stiftet und die Bedeutung des Geschehens denen erschließt, die sein Wort hören.<br />

Die historische Evangelienforschung muss deshalb die Prozesse der Traditionsbildung<br />

eruieren; sie kann nicht erwarten, auf einen geschichtlichen Grund zu stoßen, der frei<br />

von theologischen Ambitionen wäre, weil Jesus selbst nicht im luftleeren Raum, sondern<br />

im Feld religiöser Erwartungen, Erfahrungen und Enttäuschungen agiert hat. Die<br />

Exegese hat die Aufgabe zu analysieren, welche geschichtlichen Impulse von den Evangelienerzählungen<br />

aufgenommen und verstärkt worden sind. 12<br />

1.3 Die Erzählweise 13<br />

Der Evangelist gestaltet die Geschichte des Wirkens und Leidens Jesu ebenso zurückhaltend<br />

wie <strong>nach</strong>drücklich. Er steht anscheinend nicht allein, sondern ist Teil einer Überlieferungsgemeinschaft,<br />

der er seine Kenntnisse verdankt und die er seinerseits durch sein<br />

<strong>Evangelium</strong> als Glaubensgemeinschaft prägen will, auch wenn er seine Einbindungen<br />

nicht offenlegt (anders als Lk 1,1–4 oder Joh 21,24f.). 14 Weitgehend ordnet er die Sequenzen<br />

seiner Erzählung mit unsichtbarer Hand; an einzelnen Stellen tritt er als Erklärer jüdischer<br />

Kultur (z. B. Mk 7,3f.) und als Übersetzer des jesuanischen Aramäisch (Mk 5,41;<br />

14,36; 15,34 sowie 7,34; vgl. 15,22) in Erscheinung, einmal, in einem politisch brisanten<br />

Kontext, als direkter Motivator: »Wer liest, soll verstehen« (Mk 13,14). 15 Durchweg befindet<br />

er sich auf der Höhe des Geschehens. Er weiß, was Jesus <strong>nach</strong> seiner Taufe als Wort aus<br />

dem geöffneten Himmel gehört hat (Mk 1,9ff.); er weiß auch, was Jesus in seiner Einsamkeit<br />

beobachtet (Mk 6,47) und gebetet hat (Mk 14,35f.). Er beschreibt die Emotionen Jesu:<br />

Zorn und Trauer (Mk 3,5), Mitleid (Mk 6,34), Angst (Mk 14,34f.) und Liebe (Mk 10,21). Er<br />

kennt auch die Motive der Jünger (z. B. Mk 8,17–21) und der Gegner Jesu, bis hin zu den<br />

Mitgliedern des Hohen Rates (Mk 11,16; 12,12 u. ö.) und Pilatus (Mk 15,10). Er erzählt<br />

von der Versuchung in der Wüste (Mk 1,12f.) und von der Verwandlung auf dem Berg<br />

(Mk 9,2–13), vom Verhör vor dem Hohen Rat (Mk 14,53–65) und vom Prozess vor Pilatus<br />

(Mk 15,1–20), als ob er selbst dabei gewesen wäre. <strong>Markus</strong> schreibt sein Buch in dem<br />

Glauben an das <strong>Evangelium</strong>, den Jesus fordert (Mk 1,15).<br />

12 Vgl. Th. <strong>Söding</strong>, Verkündigung, 41–78.<br />

13 Analysen unter dem Stichwort narrative criticism sammeln K. R. Iverson; Chr. W. Skinner (Hg.), Mark;<br />

D. Rhoads; J. Dewey; D. Michie, Mark as Story. An Introduction to the narrative of a Gospel, Minneapolis<br />

3 2012. Freilich darf die Analyse die Erzählung weder von ihrem Bezug auf Jesus noch von den<br />

Dynamiken ihrer Tradition und den Kontexten ihrer Genese isolieren.<br />

14 S. Huebenthal (<strong>Markus</strong>evangelium) verfolgt diese Spur mit den Mitteln der social memory.<br />

15 Analysiert von U. E. Eisen, <strong>Das</strong> <strong>Markus</strong>evangelium erzählt. Literary Criticism und Evangelienauslegung,<br />

in: St. Alkier; R. Brucker (Hg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Heidelberg 1998,<br />

135–153.


6<br />

Einleitung<br />

§ 2 Der Kontext: Autor und Adressaten, Zeit und Ort<br />

Rückschlüsse vom Text selbst her auf die Umstände seiner Entstehung müssen so vorsichtig<br />

16 und präzise wie möglich gezogen werden, damit das <strong>Markus</strong>evangelium historisch<br />

geortet werden kann.<br />

2.1 Der Autor<br />

<strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong> ist ursprünglich anonym. Die Zuschreibungen in den Handschriften<br />

»<strong>nach</strong> <strong>Markus</strong>« sind sekundär, allerdings einheitlich.<br />

Die inscriptio »(<strong>Evangelium</strong>) <strong>nach</strong> <strong>Markus</strong>« zeigt an, dass das Buch des Evangelisten<br />

nicht mit dem »<strong>Evangelium</strong> Jesu Christi« identisch ist, das im Titel (Mk 1,1) angekündigt<br />

wird. Es ist vielmehr die Vergegenwärtigung dieses <strong>Evangelium</strong>s in Form einer Erzählung.<br />

Damit wird es zur historischen Quelle (unter antiken Bedingungen) und zum<br />

theologischen Grunddokument (unter urchristlichen Vorzeichen).<br />

Seit dem 2. Jh. gilt Johannes <strong>Markus</strong> aus Jerusalem (Apg 12,12) als Autor: der Begleiter<br />

des Barnabas und Paulus auf einem Teil der ersten Missionsreise (Apg 12,25; 13,5.13),<br />

der Anlass zum Zerwürfnis zwischen den beiden antiochenischen Protagonisten der<br />

Völkermission gegeben hat (Apg 15,37ff.) und gleichwohl in anderen Texten als Mitarbeiter<br />

des Paulus (Phlm 24; vgl. Kol 4,10; 2Tim 4,11), aber auch als »Sohn« des Petrus<br />

(1Petr 5,13) erscheint. Maßgebend für diese Zuschreibung ist das Zeugnis des Papias, 17<br />

Bischof von Hierapolis (120/130 n. Chr.).<br />

Es wird von Eusebius (HE III 39,15) mitgeteilt: »Auch dies hat der Presbyter (Johannes)<br />

gesagt: <strong>Markus</strong>, zum Dolmetscher des Petrus geworden, schrieb alles, woran er sich<br />

erinnerte, sorgfältig auf, freilich nicht der Reihe <strong>nach</strong>, sowohl Worte als auch Taten des<br />

Herrn. Denn er hatte den Herrn weder gesehen, noch war er ihm <strong>nach</strong>gefolgt, sondern<br />

erst später, wie ich bereits sagte, dem Petrus. Dieser richtete seine Lehrvorträge <strong>nach</strong><br />

den Bedürfnissen (der Hörer) ein, jedoch nicht so, als wollte er eine Gesamtdarstellung<br />

der Herrenworte geben. Darum fehlte auch <strong>Markus</strong> nicht darin, dass er einiges so aufschrieb,<br />

wie er es im Gedächtnis hatte. Denn er war darauf bedacht, nichts von dem Gehörten<br />

wegzulassen oder falsch wiederzugeben.« Der »Dolmetscher« (ἑρμηνεύτης) kann<br />

den Übersetzer meinen, den Helfer, Assistenten, Mitarbeiter; Lehrvorträge (διδασκαλίαι)<br />

sind Predigten. <strong>Das</strong>s <strong>Markus</strong> »aus dem Gedächtnis« geschrieben habe (nicht aber <strong>nach</strong><br />

einem Diktat durch Petrus), gibt einen Hinweis auf die Entstehungszeit. Die »Reihenfolge«<br />

scheint Papias mit derjenigen der anderen (synoptischen) Evangelien verglichen<br />

und ein wenig kritisch beurteilt zu haben.<br />

16 Betont von D. N. Peterson, The Origins of Mark. The Markan Community in Current Debate (BIS 48),<br />

Leiden 2000.<br />

17 Vgl. E. Norelli, Papia di Hierapolis, Esposizione degli oracoli del Signore. I frammenti. Introduzione,<br />

testo, traduzione e note, Milano 2005, 113–123.292–315 (zu Mk).


Der Kontext<br />

7<br />

Für die historische Zuverlässigkeit dieser Tradition sprechen vor allem ihr hohes Alter<br />

und das Gewicht des Petrus im <strong>Evangelium</strong>. Die Papias-Notiz passt mit 1Petr 5,13 zusammen,<br />

wo der Verfasser aus Babylon (historisch: Rom) Grüße von seinem »Sohn <strong>Markus</strong>«<br />

ausrichtet. Deshalb findet die Auffassung bis heute starke Fürsprecher. 18 In der modernen<br />

Exegese überwiegt jedoch die Skepsis. 19 Der Passus bei Papias hat einen apologetischen<br />

Klang: <strong>Das</strong> <strong>Markus</strong>evangelium soll als eine Art Petrusevangelium aufgewertet<br />

werden. Papias gilt Eusebius als nicht immer verlässlicher Zeuge (Euseb, HE III 39,8);<br />

seine Angaben über Matthäus (Euseb, HE III 39,16) sind fraglich. Im <strong>Evangelium</strong> spielt<br />

Petrus zwar eine große Rolle – doch in den anderen Evangelien ebenso, auch über den<br />

<strong>Markus</strong>-Stoff hinaus (vgl. nur Mt 16,18f. und Lk 5,1–11). Der Haupteinwand gegen die<br />

Papias-Notiz ist literarischer Art: 20 <strong>Das</strong> Spektrum der Gattungen im <strong>Evangelium</strong> ist so<br />

breit, dass es nicht allein auf »Lehrvorträge« zurückgeführt werden kann. Die Tradition<br />

der Zuschreibung zu Johannes <strong>Markus</strong> und Petrus lässt sich historisch-kritisch erklären,<br />

aber nicht bestätigen.<br />

Eine positive Aussage über die Person des Evangelisten zu treffen, ist ungleich<br />

schwerer, als die Tradition zu kritisieren. Der Evangelist wird zwar von vielen Forschern<br />

als Heidenchrist gesehen, 21 weil er, ohne es zu problematisieren, für die Völkermission<br />

eintritt (Mk 13,10; vgl. 14,9), ist aber eher ein hellenistischer Judenchrist, weil er in der<br />

Lage ist, sachgerecht über Judaica zu informieren, richtig zu übersetzen und die Schriftreflexionen<br />

pointiert zu platzieren. <strong>Markus</strong> hat Zugang zu alten Jesustraditionen gehabt,<br />

auch zu solchen aus dem Zwölferkreis und von Petrus. Diese Spur liegt der Tradition<br />

zugrunde, die sie neu arrangiert hat. Der Name »<strong>Markus</strong>« dürfte älter als die Papias-<br />

Notiz sein, die ihn voraussetzt und erklären will. Die Zuordnung geschieht durch die<br />

Identifizierung mit dem bekanntesten Namensträger im Neuen Testament. 1Petr 5,13<br />

hat Pate gestanden (vgl. Euseb, HE II 15,2; III 39,17).<br />

2.2 Die Adresse<br />

<strong>Das</strong> <strong>Markus</strong>evangelium wendet sich an Gläubige, die Orientierung suchen und missionarisch<br />

aktiv sind. In Mk 9,41 klingt die Selbstbezeichnung »Christen« durch (vgl. Apg<br />

11,26). Jesus wird im <strong>Evangelium</strong> nicht als neue Figur eingeführt, sondern als bekannte<br />

Figur neu vorgestellt.<br />

In der Mehrzahl scheinen die Gemeindemitglieder aus den Völkern zu stammen:<br />

<strong>Markus</strong> muss aramäische Ausdrücke übersetzen (Mk 5,41; 7,34; 15,22.34) und jüdische<br />

Bräuche erklären (Mk 2,19; 7,3f.; 14,12; 15,42). Indem er überliefert, dass Jesus in der Endzeitrede<br />

die Verkündigung des <strong>Evangelium</strong>s unter allen Völkern vorhersagt (Mk 13,10),<br />

vergegenwärtigt er ihnen, dass Jesus selbst den Weg des Glaubens zu ihnen gebahnt<br />

18 Vgl. M. Hengel, Der unterschätzte Petrus, Tübingen 2006, 58–78.<br />

19 Vgl. K. Niederwimmer, Johannes <strong>Markus</strong> und die Frage <strong>nach</strong> dem Verfasser des zweiten <strong>Evangelium</strong>s<br />

(1967), in: Ders., Quaestiones theologicae. Gesammelte Aufsätze, hg. v. W. Pratscher; M. Öhler (BZNW<br />

90), Berlin 1998, 31–43.<br />

20 Andere Argumente, z. B. der Verweis auf mangelnde Ortskenntnisse, sind nicht stichhaltig, so wenig<br />

wie Latinismen, die man entdeckt, für Rom sprechen.<br />

21 Auch von U. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 1), 267f.


8<br />

Einleitung<br />

hat. In seinen Heilstod »für viele« (Mk 14,24; vgl. 10,45) dürfen sie sich eingeschlossen<br />

wissen. <strong>Das</strong>s Jesus selbst zwar den Schwerpunkt seiner Verkündigung in Galiläa und Jerusalem<br />

markiert, aber auf seinen Missionswanderungen mehrfach heidnisches Gebiet<br />

erreicht und dort durch Exorzismen (Mk 5,1–20; 7,26–30), eine Heilung (Mk 7,31–37)<br />

und eine große Volksspeisung (Mk 8,1–10) die gleichen Zeichen seiner Macht setzt wie<br />

unter Juden in Galiläa, ist für sie eine besonders Frohe Botschaft. Im Streitgespräch mit<br />

Pharisäern und Jerusalemer Schriftgelehrten hat Jesus die Reinheitsgebote laut <strong>Markus</strong><br />

so erläutert, dass die <strong>nach</strong>österlichen Jünger – so wie in den paulinischen Gemeinden<br />

– nicht auf die buchstäbliche Erfüllung der Speisegebote festgelegt sind, sondern sie in<br />

ihrem Geist, von Gottes Heilswillen her, erfassen sollen (Mk 7,1–23).<br />

<strong>Das</strong> <strong>Markus</strong>evangelium hat – wie im Urchristentum meist – eine gemischte Gemeinde<br />

vor Augen. Die Schärfe der Konflikte mit Jesus, von denen <strong>Markus</strong> im Blick auf Hohepriester,<br />

Älteste, Schriftgelehrte und Pharisäer erzählt, spiegelt die Wichtigkeit der<br />

Auseinandersetzungen. Alle, die das <strong>Markus</strong>evangelium lesen, sollen wissen, warum sie<br />

in Konflikten mit dem pharisäisch bestimmten Judentum auf der Seite Jesu stehen, ohne<br />

dass sie die Kontroversen dazu führen sollen, das Erbe Israels auszuschlagen und die<br />

Hoffnung auf die Vollendung der Basileia für alle zu verlieren, für die der Menschensohn<br />

Jesus sein Leben als Lösepreis gegeben hat (Mk 10,45).<br />

2.3 Zeit und Ort<br />

Für Papias von Hierapolis ist das <strong>Markus</strong>evangelium <strong>nach</strong> dem Tode des Apostels Petrus,<br />

also frühestens Mitte der 60er Jahre geschrieben worden; denn <strong>Markus</strong> habe die »Lehrvorträge«<br />

des Apostels aus dem »Gedächtnis« heraus aufgeschrieben (Euseb, HE III 39,15).<br />

Auch Irenäus von Lyon (Haer III 1) denkt an die Zeit bald <strong>nach</strong> dem Tode des Apostels.<br />

Die moderne Exegese argumentiert in der Regel anders, gelangt aber zu einem nicht<br />

wesentlich anderen Ergebnis. Nahezu unbestritten ist die These, dass <strong>Markus</strong> sein <strong>Evangelium</strong><br />

unter dem Eindruck des Jüdischen Krieges (66–70 n. Chr.) verfasst hat, der zur<br />

Zerstörung Jerusalems und des Tempels führte. <strong>Das</strong> deutlichste Indiz lässt sich in der<br />

Endzeitrede finden (Mk 13). Ihr Thema ist die Zerstörung des Tempels, die Jesus <strong>nach</strong><br />

<strong>Markus</strong> prophezeit (Mk 13,2); ihre Intention ist die Zurückdrängung einer Naherwartung,<br />

die den Untergang des Heiligtums mit dem Ende der Welt gleichsetzen will (Mk<br />

13,6f.24f.). Dort, wo in der Rede Jesu das Gräuel der Tempelzerstörung selbst beschrieben<br />

wird, redet der Evangelist alle, die sein Buch lesen, direkt an: dass sie »verstehen«<br />

sollen (Mk 13,14). Viel deutlicher kann der Hinweis auf das, was sich aktuell ereignet,<br />

nicht sein.<br />

Mit hohem Aufwand wird diskutiert, ob das <strong>Evangelium</strong> knapp vor 22 oder knapp <strong>nach</strong><br />

der Zerstörung des Tempels 23 verfasst worden ist. Zugunsten der etwas früheren Datierung<br />

wird angeführt, dass die in Mk 13 prophezeiten Ereignisse sich nicht ganz mit<br />

dem geschichtlichen Verlauf decken, den Josephus beschreibt (Bell VI 4–10), zugunsten<br />

22 Y. Collins (Mk, 11–14) verweist auf die von Josephus beschriebene Pseudoprophetie, die auch Mk 13<br />

charakterisiert, und schließt daher auf die Zeit um 66 oder 68/69 n. Chr.<br />

23 So U. Schnelle, Einleitung (s. Anm. 1), 269f.


Der Kontext<br />

9<br />

der etwas späteren Datierung, dass Motive wie das Zerreißen des Tempelvorhangs (Mk<br />

15,38) vor 70 n. Chr. undenkbar resp. unglaubwürdig gewesen seien. Die Indizien sind<br />

so oder so nicht eindeutig, weil Mk 13 und Mk 15 im Kern auf vormarkinische Traditionen<br />

zurückgehen.<br />

Der Jüdische Krieg, dessen trauriges Ende aufmerksamen Beobachtern früh klar sein konnte,<br />

ist auch für die christlichen Gemeinden eine tiefe Krise. Die Verbindungen mit dem<br />

schwer getroffenen Judentum sind eng; aus Mk 13 spricht große Empathie mit allen, die<br />

verfolgt werden, nicht nur die Sorge, selbst um des <strong>Evangelium</strong>s willen leiden zu müssen.<br />

Weitere Zeitfaktoren spielen eine Rolle. <strong>Das</strong> Vierkaiserjahr 69 24 ist ein Indikator für die tiefe<br />

Krise des römischen Machtsystems, die auch auf die Provinzen ausstrahlte. Mit dem Jüdischen<br />

Krieg verbunden, bereitet sich auf der politischen Weltbühne der Aufstieg der Flavier<br />

vor, 25 der den christlichen Gemeinden neue Chancen und Risiken bescheren wird, weil der<br />

Machtanspruch des Imperiums steigt. Aber auch die innerkirchlichen Umwälzungen sind<br />

stark: Die Urgemeinde verliert ihre Basis in Jerusalem, Judäa und Galiläa; für die Kirche<br />

braucht es ein neues Gravitationszentrum – das multilateral ist. Die Zeit der zwölf Apostel<br />

neigt sich dem Ende zu; die Verkündigung des apostolischen <strong>Evangelium</strong>s geht weiter.<br />

Als Entstehungsort gilt traditionell Rom. Dafür ist die Papias-Notiz mit dem Hinweis<br />

auf Petrus verantwortlich (vgl. 1Petr 5,13). Auch in der neueren Forschung wird recht oft<br />

Rom genannt. 26 Aber wenn Papias mit einem Fragezeichen zu versehen ist, dann auch<br />

Rom. Historisch wahrscheinlicher ist ein Ort in größerer Nähe zu Galiläa, im Osten des<br />

Imperiums, 27 etwa in Syrien 28 oder doch eher in Alexandrien; wo die Alte Kirche das<br />

<strong>Evangelium</strong> gesehen hat.<br />

§ 3 Die Genese: Traditionen, Spannungen und Verbindungen<br />

Die Frage <strong>nach</strong> Vorlagen des <strong>Markus</strong>evangeliums zu stellen, ist notwendig; aber je detaillierter<br />

sie gestellt wird, desto unsicherer wird die Antwort. Die Frage kommt auf,<br />

weil die Evangelien Traditionsliteratur sind (vgl. Lk 1,1–4); auch <strong>Markus</strong> fabuliert nicht<br />

frei über Jesus, sondern eignet sich Überlieferungen an. <strong>Das</strong>s er Traditionen aufnimmt,<br />

beweisen allein die Doppelüberlieferungen mit der Logienquelle, 29 aber auch zahlreiche<br />

andere sprachliche Indizien.<br />

24 Vgl. G. Morgan, 69 AD. The Year of Four Emperors, Oxford 2006.<br />

25 Vgl. St. Pfeiffer, Die Zeit der Flavier. Vespasian – Titus – Domitian, Darmstadt 2009.<br />

26 So R. Pesch, Mk I, 11–15 (mit Verweis auf die Plausibilität der Tradition); M. Ebner, <strong>Markus</strong>evangelium,<br />

14f. (mit Verweis auf die Latinismen, besonders die Münzbezeichnungen).<br />

27 So A. Y. Collins, Mk, 7–10 (vor allem mit Indizien aus der Sprache des <strong>Markus</strong>evangeliums).<br />

28 So J. Marcus, Mk I, 36.<br />

29 Vgl. R. Laufen, Die Doppelüberlieferungen der Logienquelle und des <strong>Markus</strong>evangeliums (BBB 54),<br />

Königstein 1980.


10<br />

Einleitung<br />

Im 20. Jh. hatte die Diachronie eine Blütezeit. Einerseits wurden an Einzelperikopen<br />

detaillierte, oft mehrstufige Schichtenmodelle erarbeitet, 30 die das Textwachstum rekonstruieren<br />

sollten. Andererseits wurden Theorien über vormarkinische Sammlungen aufgestellt<br />

31 und Tendenzen der Redaktion <strong>nach</strong>gezeichnet, die auf eine markinische Theologie<br />

verweisen sollten. 32 Heute ist Literarkritik nicht obsolet. Aber das <strong>Markus</strong>evangelium<br />

bildet in seiner literarischen Endgestalt ein Gesamtwerk, das sich am besten als vielschichtige<br />

Einheit lesen lässt. Für die Theologie des Evangelisten wie für die intendierte Rezeption<br />

der Lesegemeinde sind die Überlieferungen ebenso wichtig wie die Redaktionen.<br />

3.1 Traditionen<br />

Die umfangreichste und theologisch gewichtigste Vorlage des Evangelisten ist der vormarkinische<br />

Passionsbericht, dessen genauer Umfang strittig, dessen Existenz aber<br />

weitgehend unstrittig ist (s. bei Mk 14,1). Seine Anfänge dürften in die Jerusalemer Urgemeinde<br />

zurückreichen. Sprachlich und kompositorisch, auch christologisch hat er das<br />

gesamte <strong>Evangelium</strong> beeinflusst.<br />

Neben dem Passionsbericht hat der Evangelist wahrscheinlich weitere schriftliche<br />

Sammlungen aufgenommen: eine Serie galiläischer Streitgespräche (Mk 2,1–3,6;<br />

s. dort), eine Folge von Gleichnissen (Mk 4; s. dort) und eine Rede über die Endzeit (Mk<br />

13; s. dort). Vor allem aber liegen dem <strong>Evangelium</strong> zahlreiche mündliche und schriftliche<br />

Einzeltraditionen zugrunde, insbesondere über Machttaten, Jüngerbelehrungen und<br />

Streitgespräche Jesu. In den allermeisten Fällen gehen die Szenen, die <strong>Markus</strong> darstellt,<br />

auf Überlieferungen zurück. Der Evangelist schreibt allerdings nichts über seine Recherchen.<br />

Er hat auch längst nicht alles erfasst, was andere Evangelien aufgesammelt haben.<br />

So fehlen die meisten Stoffe aus der Logienquelle, einschließlich der Feldrede bzw. der<br />

Bergpredigt und des Vaterunsers. Aber <strong>Markus</strong> hat Wesentliches aufgenommen, das<br />

später zu großen Teilen von Matthäus und Lukas übernommen worden ist. 33<br />

3.2 Spannungen<br />

Mit der Übernahme seiner Traditionen hat <strong>Markus</strong> große Spannungen aufgebaut, die er<br />

in seinem <strong>Evangelium</strong> als theologisches Energiefeld nutzt. 34 Der vormarkinische Passi-<br />

30 Einflussreich aufgenommen und formgeschichtlich geordnet von R. Bultmann, Geschichte; ähnlich<br />

M. Dibelius, Formgeschichte.<br />

31 Vgl. nur H.-W. Kuhn, Sammlungen; W. Weiß, Lehre, zudem die bei Mk 14,1 notierten Studien zur Passionsgeschichte.<br />

32 Grundlegend: W. Marxsen, Evangelist.<br />

33 Zum Spezialproblem der minor agreements vgl. G. Strecker (Hg.), Minor Agreements (GTA 50), Göttingen<br />

1993. Die Indizien reichen nicht, um auf einen »Ur-<strong>Markus</strong>« zu schließen; anders A. Ennulat,<br />

Die »Minor Agreements«. Untersuchungen zu einer offenen Frage des synoptischen Problems<br />

(WUNT II/62), Tübingen 1994; sie reichen auch nicht, um einen »Deutero-<strong>Markus</strong> zu postulieren;<br />

anders A. Fuchs, Sprachliche Untersuchungen zu Matthäus und Lukas. Ein Beitrag zur Quellenkritik<br />

(AnBib 49), Rom 1971 (auch in zahlreichen Einzelaufsätzen).<br />

34 Vgl. F. Fendler, Studien zum <strong>Markus</strong>evangelium. Zur Gattung, Chronologie, Messiasgeheimnistheorie<br />

und Überlieferung des ältesten <strong>Evangelium</strong>s (GTA 49), Göttingen 1991.


Die Genese<br />

11<br />

onsbericht zeichnet Jesus in den Farben des leidenden Gerechten, wie er in den Leidenspsalmen<br />

vor Augen gestellt wird (s. bei Mk 15,20b–41). Von all seinen Freunden verlassen,<br />

wird Jesus als Unschuldiger verurteilt; er wird in die härtesten inneren Kämpfe um seine<br />

Sendung geführt (Mk 14,32–42) und schreit seine Klage heraus, von Gott verlassen zu sein<br />

(Mk 15,34). Er ist ohnmächtig. Die Passion schildert eine Auseinandersetzung nicht nur<br />

zwischen Jesus und seinen Gegnern, sondern auch ein Ringen Jesu, des Sohnes, mit Gott,<br />

seinem Vater. Die Vollmacht Jesu, sein Anspruch, sein Recht, seine Autorität, spielen<br />

zwar in der Leidensgeschichte eine Rolle – aber als verkannte, verachtete und verhöhnte.<br />

Die weitaus meisten anderen Jesus-Traditionen, die <strong>Markus</strong> in sein <strong>Evangelium</strong> aufgenommen<br />

hat, legen indes den Akzent auf das vollmächtige Wirken Jesu: auf sein<br />

befreiendes Lehren und Heilen, auf sein prophetisches Vorauswissen und seinen charismatischen<br />

Nachfolgeruf. 35 In Jesus wird Gott selbst epiphan (Mk 6,45–52; 9,2–8). Jesus<br />

nimmt seine Sendung an; er weiß sich mit Gott einig, der ihn bevollmächtigt, sein<br />

Vorrecht wahrzunehmen, auf Erden Heil zu schaffen (vgl. Mk 2,1–12). Er sammelt Jünger<br />

um sich, um ihnen sein Wort als Wort Gottes nahezubringen und mit ihrer Hilfe<br />

Menschen das Reich Gottes zuzusprechen (Mk 1,16–20; 3,14–19; 6,6b–13). Er sucht die<br />

Konfrontation mit denen, die andere Vorstellungen von Gott und seiner Herrschaft haben,<br />

um sie zu gewinnen oder durch die Macht seines Wortes zu bezwingen. Die Szenen<br />

sind regelmäßig so arrangiert, dass ein einziges Wort Jesu reicht, um einen strittigen<br />

Fall zu entscheiden (Mk 2,17 u. ö.) oder um Dämonen aus Besessenen zu vertreiben (Mk<br />

1,25 u. ö.) und Kranke zu heilen (Mk 1,41 u. ö.) oder gar eine Tote aufzuwecken (Mk 5,41).<br />

Jesus weiß von seinem kommenden Leidensgeschick und kündigt es in der Erwartung<br />

seiner Auferstehung an (Mk 8,31; 9,31; 10,32ff.).<br />

3.3 Verbindungen<br />

Mit der Abfassung eines Jesusbuches zeigt <strong>Markus</strong>, dass er eine dynamische Verbindung<br />

der Traditionen vom öffentlichen Wirken mit der Passionsüberlieferung beabsichtigt; er<br />

spielt weder die Macht gegen die Ohnmacht noch die Passion gegen das Wirken Jesu 36<br />

aus, sondern zeigt beides in spannungsvoller Einheit. Die Verbindungen zwischen der<br />

Lebens- und der Leidensgeschichte baut <strong>Markus</strong> durch ein enges Netz von Vor- und<br />

Rückverweisen auf. Die Motive des Jüngerunverständnisses und der Jüngerohnmacht,<br />

die er verstärkt; die Schweigegebote, die nicht immer eingehalten werden; die Zeichenforderung,<br />

die Jesus zurückweist (Mk 8,11ff.); die Prophetien und Visionen Jesu, die<br />

in sein Leiden hinein und über seinen Tod hinaus blicken – mit einer Fülle von literarischen<br />

Mitteln macht <strong>Markus</strong> klar, dass sein Buch bis zum Ende lesen muss, wer<br />

den Anfang verstehen will, so wie die Auferstehungsbotschaft programmatisch für die<br />

Verkündigung des Irdischen, für Galiläa und für das geöffnet ist, was dort begonnen hat<br />

35 Die Figur eines »göttlichen Menschen« sehen integriert H. D. Betz, Art. Gottmensch II (Griechischrömische<br />

Antike und Urchristentum), in: RAC 12 (1983), 234–313, hier 273–279; B. Kollmann, Jesus,<br />

289. Die Quellenlage ist aber unsicher; der Monotheismus Israels bildet die Matrix der markinischen<br />

Jesusgeschichte.<br />

36 Eine Kritik der Wunder sieht Ph. Vielhauer, Erwägungen zur Christologie des <strong>Markus</strong>evangeliums<br />

(1964), in: Ders., Aufsätze zum Neuen Testament (ThB.NT 31), München 1965, 199–214.


12 Einleitung<br />

und immer neu beginnt (Mk 16,6f.): das <strong>Evangelium</strong> Jesu Christi (Mk 1,1), in dem das<br />

»<strong>Evangelium</strong> Gottes« vom »Reich Gottes« zu Gehör kommt (Mk 1,14f.).<br />

§ 4 Die Perspektiven der Deutung<br />

Der Antike galt das <strong>Markus</strong>evangelium als katechetisches Werk: Den »Lehrvorträgen«<br />

des Petrus verpflichtet (Euseb, HE 39,15), wurde von ihm erwartet, der Konzentration<br />

auf das zu dienen, was der Evangelist von Petrus her im Gedächtnis behalten hatte und<br />

was die Gläubigen als Erinnerung an Jesus pflegen sollten. So wurde <strong>Markus</strong> über Jahrhunderte<br />

im Schatten des Matthäusevangeliums und auch des Lukasevangeliums gelesen<br />

– durchaus geachtet, aber weniger beachtet.<br />

Erst die historisch-kritische Exegese brachte einen Umschwung, freilich mit ambivalentem<br />

Resultat. Denn auf der einen Seite führte die Entdeckung der <strong>Markus</strong>priorität 37<br />

zu einer Aufwertung des <strong>Evangelium</strong>s. Auf der anderen Seite wurde nicht nur die Beziehung<br />

zu Petrus, die früher fraglos angenommen wurde, in Zweifel gezogen, sondern<br />

überhaupt der historische Quellenwert, damit aber auch die theologische Aussagekraft<br />

der Evangelien, in erster Linie also des <strong>Markus</strong>. 38 Die Bemühungen katholischer Apologetik,<br />

die traditionellen Angaben zu retten, um dadurch die Glaubwürdigkeit des <strong>Evangelium</strong>s<br />

zu erhöhen, 39 waren auf hohem Argumentationsniveau zum Scheitern verurteilt.<br />

Die der existentialen Theologie verpflichtete Formgeschichte, die sich für die literarischen<br />

Prägungen der Überlieferung interessierte, begann allmählich, einen Umschwung<br />

in der Wertschätzung des <strong>Markus</strong>evangeliums einzuleiten. Für Rudolf Bultmann war<br />

zwar klar, dass <strong>Markus</strong> »eben noch nicht in dem Maße Herr über den Stoff geworden«<br />

sei, »dass er eine Gliederung wagen könnte«. 40 Später hingegen arbeitete die Redaktionsgeschichte<br />

an der Intensität, wie (rekonstruierte) Traditionen bearbeitet worden<br />

seien, eine theologische Handschrift des Evangelisten heraus, 41 die für eine markinische<br />

Theologie stehen sollte. 42 Heute gilt es, Traditionen und Redaktionen stärker als Einheit<br />

zu sehen, im <strong>Evangelium</strong> als Erzählung eine genuine Form der Theologie zu sehen 43 und<br />

nicht nur die Intention des Autors, sondern auch die Rezeption der Lesegemeinden und<br />

den Sinn des Textes selbst zu eruieren.<br />

37 Vgl. C. Lachmann, De ordine narrationum in evangeliis synopticis, in: ThStKr (1835), 570–590. Auch<br />

F. Watson (Gospel Writing. A Canonical Perspective, Grand Rapids 2013), der die Zwei-Quellen-Theorie<br />

neu justieren will, bestätigt die Priorität des <strong>Markus</strong>evangeliums.<br />

38 Vgl. D. F. Strauß, <strong>Das</strong> Leben Jesu I, 71f.<br />

39 Vgl. M.-J. Lagrange, Marc.<br />

40 R. Bultmann, Geschichte, 375.<br />

41 Pionierarbeit leistete W. Marxsen, Evangelist.<br />

42 Heute ist es Standard, dass es in einer »Theologie des Neuen Testaments« ein <strong>Markus</strong>kapitel gibt; vgl.<br />

U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments (UTB), Göttingen 3 2016, 385–416.<br />

43 Vgl. J. Rüggemeier, Poetik.


Auslegung<br />

Die Überschrift (Mk 1,1) 1<br />

(1) Anfang des <strong>Evangelium</strong>s Jesu Christi, des Sohnes Gottes 2 .<br />

Mk 1,1 ist in die programmatische Überschrift des Werkes. 3 Der Vers kann zwar mit V. 2<br />

zusammengezogen und dann als Ankündigung der Täufergeschichte gedeutet werden. 4<br />

Die Gattungsparallelen sowohl aus alttestamentlichen und frühjüdischen Büchern 5 als<br />

auch aus hellenistischen Biographien 6 sprechen jedoch für einen Bezug auf das gesamte<br />

Buch. Der »Anfang« ist die Grundlage, auf der jede Predigt im Namen Jesu steht – weil er<br />

dieses Fundament gelegt hat, in seinem Wirken, seinem Leiden und seiner Auferstehung,<br />

1 A. Rademacher, Achtet, 56–64 (als Leseanleitung gedeutet); E. Lohse, Christuskerygma und Verkündigung<br />

Jesu im <strong>Markus</strong>evangelium, in: ZNW 101 (2010), 204–222 (als Grundlegung der Christologie<br />

gelesen); Chr. Rose, Erzählung, 77–83 (der den »Anfang« auf Mk 1,1–15 und durch den Passus vermittelt<br />

auf das gesamte Buch bezieht); J. Dechow, Gottessohn, 21–43 (der den Hoheitstitel fokussiert);<br />

H.-J. Klauck, Vorspiel, 27–30 (der die Komposition fokussiert); C. Ettl, Der »Anfang der … Evangelien«,<br />

in: S. Brandenburger; T. Hieke (Hg.), Wenn drei das Gleiche sagen – Studien zu den ersten drei<br />

Evangelien (Theologie 14), Münster 1998, 121–152 (der eine Komparatistik des Beginnens entwickelt);<br />

D. Dormeyer, Die Kompositionsmetapher »<strong>Evangelium</strong> Jesu Christi, des Sohnes Gottes« Mk 1.1. Ihre<br />

theologische und literarische Aufgabe in der Jesus-Biographie des <strong>Markus</strong>, in: NTS 33 (1987), 452–468<br />

(der die christologische Programmatik erhellt); G. Arnold, <strong>Markus</strong> 1,1 und Eröffnungswendungen in<br />

griechischen und lateinischen Schriften, in: ZNW 68 (1977), 123–127 (der Mk 1,1 als Überschrift liest).<br />

2 Der Genitiv »des Sohnes Gottes« ist textkritisch nicht voll gesichert, weil er zwar im Vaticanus und<br />

Cantabrigiensis steht, im Sinaiticus jedoch ursprünglich fehlt und später <strong>nach</strong>getragen wurde. Allerdings<br />

beweist Mk 8,29, dass B und D bei Hoheitstiteln zuverlässiger als א sind; für die Langfassung<br />

argumentiert M. Botner, The role of transcriptional probability in the text-critical debate on Mark 1:1,<br />

in: CBQ 77 (2015), 467–480; für die Kurzfassung H. Greeven, Textkritik, 41–46.<br />

3 R. A. Burridge, Gospels, 189. Eine Gattungsbezeichnung sieht D. Frickenschmidt, <strong>Evangelium</strong> als Biographie.<br />

Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst (TANZ 22), Tübingen/Basel 1997, 354f.;<br />

aber die Sprachentwicklung ist jünger.<br />

4 So P. Dschulnigg, Mk, 60.<br />

5 Vgl. Mt 1,1; ebenso Jes 1,1; Am 1,1; Spr 1,1; Koh 1,1; Hld 1,1; 1Makk 1,1; Tob 1,1; Jub 1,1; ApkMos 1,1;<br />

VitAd 1,1; Test XII; 1QS 1,1.<br />

6 Beispiele liefern die Biographien des Nepos, z. B. über Themistokles (1), Alcibiades (1), Thrasybulus (1)<br />

und Hannibal (1), des Plutarch über Alexander und Caesar sowie die Philosophenviten des Diogenes<br />

Laertius, z. B. über Antaximander (Vit II 1), Anaximander (Vit II 2), Xenokrates (Vit IV 1), Arkesilaos<br />

(Vit IV 6), Antisthenes (Vit VI 1), Diogenes von Sinope (Vit VI 2), Monimos (Vit VI 3), Krates (Vit VI<br />

4) und Metrokles (Vit VI 5).


20 Die Überschrift (Mk 1,1)<br />

vor allem mit seiner Verkündigung des Reiches Gottes, in der er auch sich selbst zum<br />

Thema macht (vgl. Mk 4,2–9; 12,1–12). 7<br />

1 Der »Anfang« (ἀρχή), den <strong>Markus</strong> markiert, ist der Ursprung des <strong>Evangelium</strong>s, das<br />

Gottes universalen Heilswillen vermittelt. Der Ursprung liegt in der Geschichte; er ist eine<br />

zeitliche Größe von eschatologischer Bedeutung (vgl. Mk 13,8.19). <strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong>, das<br />

Jesus verkündet, ist der Beginn, das initium, wie die Vulgata übersetzt, und als solcher die<br />

Grundlage, damit aber auch das Kriterium für alles, was in der Nachfolge Jesu gepredigt,<br />

gelehrt und gelebt wird. Der Ernstfall der <strong>Evangelium</strong>sverkündigung in der <strong>nach</strong>österlichen<br />

Jüngerschaft ist die Vergegenwärtigung des »Anfangs«, den Jesus gemacht hat.<br />

<strong>Das</strong> »<strong>Evangelium</strong>«, das diesen »Anfang« setzt, ist <strong>nach</strong> <strong>Markus</strong> das Grundwort Jesu.<br />

<strong>Das</strong> »<strong>Evangelium</strong>« 8 steht bei <strong>Markus</strong> noch nicht für das Buch, das er geschrieben hat,<br />

sondern für die Verkündigung Jesu selbst (vgl. Mk 8,35; 10,29; 13,10; 14,9). <strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong><br />

ist das lebendige Wort Gottes, die Frohe Botschaft vom nahen Gottesreich<br />

(Mk 1,15). »<strong>Evangelium</strong>« ist als theologisches Leitwort des Urchristentums bereits vor<br />

<strong>Markus</strong> geprägt worden; es wird vor und von Paulus auf Tod und Auferweckung bezogen<br />

(vgl. 1Kor 15,3–5). <strong>Markus</strong> verbindet das <strong>Evangelium</strong> Jesu mit dieser Grundbotschaft<br />

(vgl. Mk 8,35; 10,29; 14,9), bezieht sie aber zuerst auf das Reich Gottes (Mk 1,14f.), das bei<br />

Paulus nur indirekt als Hintergrund aufleuchtet (vgl. 1Kor 15,20.28). Durch die Verbindung<br />

von Basileiatheologie und Christologie prägt <strong>Markus</strong> mit jesuanischen Motiven ein<br />

eigenes Original, das auf die prophetische Theologie Israels zurückgreift (s. bei Mk 1,15).<br />

Der Plural »Evangelien« ist im Hellenismus bekannt: für gute Nachrichten z. B. vom Ende<br />

eines Krieges (Plut, Pomp 41,3; 66,6) oder für Ausweise einer von den Göttern bestimmten<br />

Herrschaft, wie sie die Cäsaren beanspruchen (OGIS I Nr. 6–9–34; II Nr. 458,4–14.20–<br />

23.31–42 u. ö.). Diese »Evangelien« derer es nicht genug geben kann, sind ein Ausdruck<br />

politischer Theologie, der die Symbiose von Macht, Kultur und Religion vor Augen führt.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong> Jesu übersteigt diese Propaganda<strong>nach</strong>richten, indem es auf Gott setzt.<br />

Für <strong>Markus</strong> sagt Jesus mit dem <strong>Evangelium</strong> nicht ein, sondern das Wort Gottes. Seine<br />

Verkündigung sakralisiert weder die Politik noch politisiert sie Gott; sie vergegenwärtigt<br />

vielmehr jenseits aller Weltreiche das Reich Gottes, das in allen Reichen dieser Welt Gläubige<br />

sucht (Mk 13,10), die anders leben, als es die Herrscher tun, die um die Macht kämpfen<br />

(Mk 10,42ff.). Heilsversprechen sind in der Politik fehl am Platz; Gott allein kann sie<br />

abgeben und einlösen.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong> hat einen Verkünder, der zugleich sein Inhalt ist: Jesus, als »Christus«<br />

und als »Sohn Gottes«.<br />

»Christus« ist in Mk 1,1 nicht Eigenname, sondern Hoheitstitel (s. bei Mk 8,29), ebenso<br />

»Sohn Gottes« (s. bei Mk 1,11). Die Verbindung beider Hoheitstitel ist in der alttesta-<br />

7 Der Genitiv ist nicht nur ein objectivus (so R. Pesch, Mk I, 75), sondern auch ein subjectivus<br />

(J. Gnilka, Mk I, 42f.).<br />

8 Vgl. P. Pokorný (Hg.), From the Gospel to the Gospels. History, theology and the impact of the biblical<br />

term euangelion (BZNW 195), Berlin 2013.


Die Einführung (Mk 1,2–15)<br />

21<br />

mentlichen und jüdischen Theologie angelegt, aber nicht etabliert. Sie ist, verbunden mit<br />

dem »Menschensohn«, die christologische Pointe der Verhandlung vor dem Hohen Rat<br />

(Mk 14,61f.). Sie ergibt sich vor dem Hintergrund von 2Sam 7,11–14 bei einer messianischen<br />

Lesung von Ps 2,7 (vgl. Mk 1,11; 9,7) und Ps 89,20–30. 9 Die Profilierung der Messianität<br />

Jesu durch die Gottessohnschaft und der Gottessohnschaft durch die Messianität<br />

ist ein Charakteristikum markinischer Theologie, ähnlich wie, aber anders als bei Paulus<br />

(2Kor 1,9f. u. ö.).<br />

Der Titel nennt die Hauptperson: Jesus Christus, den Sohn Gottes; er nennt sein Programm:<br />

das <strong>Evangelium</strong>; und er qualifiziert die grundlegende Bedeutung der Geschichte<br />

Jesu: den »Anfang«. Bei <strong>Markus</strong> ist das »<strong>Evangelium</strong> Jesu Christi« im theologischen Sinn<br />

des Wortes archaisch. Über diesen Anfang kann man niemals hinauskommen; man kann<br />

aber immer neu in ihn hineinfinden.<br />

Die Einführung (Mk 1,2–15) 10<br />

<strong>Markus</strong> beginnt seine Erzählung mit dem öffentlichen Auftritt Jesu, der vom Täufer vorbereitet<br />

wird. 11 Die gesamte Einführung ist auf den Schlussakzent hin komponiert: Jesus, der<br />

Sohn Gottes, verkündet das <strong>Evangelium</strong> Gottes vom Reich Gottes (Mk 1,1.11.14f.). Mk 1,4–<br />

15 bildet eine kompositorische Einheit, die durch ein Schriftzitat (Mk 1,2f.) eröffnet wird.<br />

Der Taufe, die Johannes predigt, unterzieht sich Jesus (Mk 1,4f.–1,9ff.); Johannes wirkt in<br />

der Wüste, in die auch Jesus geführt wird (Mk 1,6–1,12f.); Johannes ist ein Prediger, wie<br />

Jesus (Mk 1,7f.–1,14f.). <strong>Das</strong> Schriftzitat (Mk 1,2f.) ruft <strong>nach</strong> einer Beschreibung des Weges,<br />

den der Kyrios geht; Mk 1,9–15 liefert sie. Alles, was im Folgenden von Jesus erzählt wird,<br />

ist Konkretion des »<strong>Evangelium</strong>s Gottes« vom »Reich Gottes«. Durch Mk 1,9–11 wird mit<br />

der Stimme Gottes die Gottessohnschaft Jesu erzählerisch eingeführt. Zugleich schlägt die<br />

9 Zeugnisse aus Qumran (4Q 174 III 11 mit Rekurs auf 2Sam 7,14 sowie Am 9,11; 4Q 246 II 1 mit Verweis<br />

auf Dan 7: »Er wird der Sohn Gottes genannt werden; sie werden ihn Sohn des Allerhöchsten<br />

nennen«) sind in ihren Bezügen strittig.<br />

10 Chr. Rose, Erzählung, 63–96 (der nicht eine Präexistenz Jesu, sondern die Vorsehung Gottes dargestellt<br />

sieht); H.-J. Klauck, Vorspiel (der eine philologisch und religionsgeschichtlich grundierte Gesamtexegese<br />

liefert); G. Dautzenberg, Die Zeit des <strong>Evangelium</strong>s. Mk 1,1–15 und die Konzeption des <strong>Markus</strong>evangeliums,<br />

in: BZ 21 (1977), 219–234; 22 (1978), 76–91 (der einen Primat der Basileia vor der Christologie<br />

sieht); J. D. Kingsbury, Christology, 55–71 (der die Christologie einer Wort-Gottes-Theologie zuordnet);<br />

W. Feneberg, Der <strong>Markus</strong>prolog. Studien zur Formbestimmung des <strong>Evangelium</strong>s (StANT 36),<br />

München 1974 (der eine heilsgeschichtliche Typisierung als strukturbildend erachtet); L. E. Keck, The<br />

Introduction to Mark’s Gospel, in: NTS 12 (1966), 352–370 (der die konzeptionelle Eigenständigkeit<br />

der markinischen Christologie grundgelegt sieht).<br />

11 <strong>Markus</strong> kennt keine Kindheitsgeschichte; vgl. J. Frey, How could Mark and John do without infancy<br />

stories? Jesus’ humanity and his divine origins in Mark and John, in: C. Clivaz (Hg.), Infancy gospels.<br />

Stories and identities (WUNT 281), Tübingen 2011, 189–215. Die einfachste Erklärung ist, dass er<br />

keinen Zugang zur Tradition hatte.


22 Die Einführung (Mk 1,2–15)<br />

Forderung Jesu, umzukehren (Mk 1,15), einen Bogen zurück zur »Umkehr«, die Johannes<br />

mit seiner Taufe predigt (Mk 1,4). Durch das voranstehende Schriftzitat werden sowohl die<br />

Parallele als auch das Gefälle zwischen den beiden Teilen der Einführung angezeigt: Der<br />

eine, Johannes, bereitet dem anderen den Weg: Jesus, dem »Stärkeren« (Mk 1,7).<br />

Die Einführung verrät die Handschrift des Evangelisten. Er hat nicht nur die Überschrift<br />

gesetzt (Mk 1,1), sondern auch das Reflexionszitat vorangestellt, das sie mit der Erzählung<br />

verkoppelt; er greift Traditionen vom Täufer, seiner Predigt, seinem Auftreten, seiner Taufe<br />

und seiner Verkündigung auf (Mk 1,4–8); er baut die Tradition der Taufe Jesu ein (Mk<br />

1,9ff.); er referiert die Versuchung (Mk 1,12f.) und stilisiert die Verkündigung Jesu (Mk<br />

1,14f.). Alles beruht auf Tradition, aber alles ist vom Evangelisten komponiert, redigiert<br />

und transponiert.<br />

Die »Einführung« wird oft als »Prolog«, zuweilen als Proömium oder als Exordium klassifiziert.<br />

12 Allerdings passen diese Bezeichnungen eher auf Reden als auf Erzählungen von<br />

der Art eines <strong>Evangelium</strong>s. Literaturwissenschaftlich betrachtet, handelt es sich bei Mk<br />

1,2–15 um eine Exposition. 13<br />

Die Schriftreflexion (Mk 1,2f.) 14<br />

(2) So wie geschrieben steht beim Propheten Jesaja: »Siehe, ich sende meinen Boten vor<br />

deinem Angesicht her, der deinen Weg bereiten wird. (3) Stimme eines Rufers in der Wüste:<br />

›Bereitet den Weg des Herrn. Macht gerade seine Straßen‹.«<br />

12 Übersicht und Diskussion bei H.-J. Klauck, Vorspiel, 36–39.<br />

13 In den Paralipomena Jeremiae bildet in Kap. 1 ein Dialog zwischen Gott und dem Propheten den<br />

Auftakt der Geschichte, die ab Kap. 2 erzählt wird. In den Vitae Prophetarum führen die Einleitungen<br />

zu Daniel (1–3) Namen, Herkunft, Schicksal, Charakter und Erscheinung der Hauptperson ein, zu<br />

Elija (1–3) und Elisa (1–3) Namen, Herkunft und ein Orakel, das die heilsgeschichtliche Stellung der<br />

Propheten beschreibt. In hellenistischen Biographien von Philosophen und Königen ist es üblich,<br />

einleitend Herkunft, Kultur und Bestimmung des Helden zu beschreiben; vgl. Jambl, Pyth 1; Philostr,<br />

VitAp I; Isocr, Evagoras 12–21 (erst <strong>nach</strong> einem langen Prooemium); Xenoph, Agesilaos I 1–5; Nepos,<br />

Atticus 1–6; Sueton, Augustus 1–4 sowie oft bei Nepos und Diogenes Laertius, bei Plutarch in seinen<br />

Parallelbiographien und Ps-Plutarch in seinen Portraits der zehn Redner (in Plutar, Mor V). Weiter<br />

entfernt liegen Xenophons kurze Einführung in die Anabasis (I 1–3: Familie, Anlass, Vorbereitung)<br />

und Herodots Auftakt – <strong>nach</strong> dem Prolog – der Historien (I 1: Hintergrund, Anlass).<br />

14 Chr. Blumenthal, Gott, 1–11.86–105 (der die narrativen Relationen zwischen Gott und Jesus als Grundgerüst<br />

des <strong>Evangelium</strong>s herausarbeitet); F. Wilk, Wer bereitet wem den Weg? Überlegungen eines<br />

Neutestamentlers zum Verhältnis zwischen Septuaginta und Neuem Testament anhand von Mk 1,2f.,<br />

in: R. G. Kratz u. a. (Hg.), Die Göttinger Septuaginta, Berlin 2013, 185–224 (der die theologische Programmatik<br />

der Rezeption <strong>nach</strong>weist); Chr. Rose, Erzählung, 83–122 (der Gott als Initiator der Jesusgeschichte<br />

herausgestellt sieht); D. Johansson, Kyrios in the Gospel of Mark, in: JSNT 33 (2010), 101–124<br />

(der Jesus als Gott dargestellt findet); J. Majoros-Danowski, Elija im <strong>Markus</strong>evangelium. <strong>Das</strong> Buch<br />

im Kontext des Judentums (BWANT 180), Stuttgart 2008, 51–142 (der durch die Elija-Gestalt eine<br />

politische Dimension Jesu eingespielt findet); Th. R. Hatina, Search, 138–183 (der die semantischen


Die Schriftreflexion (Mk 1,2f.)<br />

23<br />

<strong>Das</strong> einleitende Schriftzitat öffnet den theologischen Horizont, in dem die Geschichte Jesu<br />

stattgefunden hat und erzählt wird. Unter dem Vorzeichen, das »Jesaja« gesetzt hat, soll<br />

<strong>nach</strong> <strong>Markus</strong> die ganze Jesusgeschichte als Gottesgeschichte verstanden werden. 15<br />

<strong>Das</strong> Zitat wird zwar als Schriftwort des Propheten Jesaja ausgewiesen. Aber nur V. 3 hat<br />

eine jesajanische Quelle (Jes 40,3) – in der Septuagintaversion, die zudem bei <strong>Markus</strong><br />

leicht variiert ist: Während im Jesajabuch von den »Straßen unseres Gottes« die Rede<br />

ist, steht in Mk 1,3 »seine Straßen«. Daraus ergibt sich ein durchgängiger Bezug auf den<br />

Kyrios, Jesus. V. 2 ist ein Mischzitat aus Ex 23,20 und Mal 3,1a (vgl. Mt 11,10 par. Lk 7,27),<br />

ungefähr <strong>nach</strong> der Septuaginta. Ex 23,20 ist ein Wort des Zuspruchs, das Mose an Israel<br />

auf seinem Weg ins Heilige Land richtet, Mal 3,1 ein Wort des Gerichts an Israel, das denjenigen,<br />

die Gott mit ihrem Verhalten und ihren Klagen ermüden (Mal 2,17), seine Präsenz<br />

auf dem Weg zum Tempel vor Augen führt. Ex 23,21 fordert dazu auf, die »Stimme« des<br />

Boten zu hören; die Verbindung von Ex 23,20 und Mal 3,1 ist auch im Judentum der Zeit<br />

belegt; vgl. ExR 32 (93 d ); Mal 3,1 schreibt Jes 40,3 fort und läuft auf die Ankündigung<br />

des Elija redivivus zu (Mal 3,23f.), die in Mk 9,11ff. explizit mit der Sendung des Täufers<br />

verbunden wird. <strong>Das</strong> Schriftzitat stammt aus einem Repertoire schriftgelehrter Theologie,<br />

das im frühen Judentum aufgebaut worden ist.<br />

2 <strong>Das</strong> einleitende »So wie« (καθώς) ist programmatisch: Jesu Sendung, die durch die<br />

Sendung des Täufers vorbereitet wird, ist schriftgemäß. Gemeint ist nicht, dass sie ein<br />

Muster ausfüllt, das unabhängig von ihm gebildet worden wäre. Betont wird aber, dass<br />

Jesu <strong>Evangelium</strong> dem entspricht, was Gott immer schon im Sinn gehabt hat. Die Präsentation<br />

des gesamten Zitates als jesajanisch verweist nicht auf eine ältere Form, die nur V.<br />

3 umfasst hätte, sondern fokussiert das Schriftwort auf den Botenspruch, der den Täufer<br />

in Szene setzt. <strong>Das</strong> charakteristisch veränderte »Jesaja«-Wort in V. 2 gibt für <strong>Markus</strong> ein<br />

Wort Gottes an den Kyrios (Mk 1,3) Jesus wieder. Nach Mk 1,3 hat Jesaja vorhergesagt, was<br />

sich durch den Auftritt des Täufers ereignen wird; <strong>nach</strong> Mk 1,2 erfüllt dieser Auftritt ein<br />

Versprechen, das Gott dem Kyrios gegeben hat. Ob es sich um einen »Prolog im Himmel« 16<br />

handelt, ist fraglich. Vielmehr weiß »Jesaja«, was Gott Jesus mit auf den Weg gibt: noch<br />

bevor er sich auf den Weg zur Taufe an den Jordan macht (Mk 1,9ff.).<br />

Durch V. 2 wird Johannes der Täufer als Gottes Bote vorgestellt. Eine höhere Qualifikation<br />

– im Vorfeld des Messias – ist nicht möglich. Mal 3,1 verweist auf Elija. Diese Spur<br />

nimmt <strong>Markus</strong> auf.<br />

Öffnungen für das Wirken Jesu in den Schriftbezügen herausarbeitet); R. E. Watts, Isaiah’s New Exodus<br />

and Mark (WUNT 2/88), Tübingen 1997, 53–121 (der mit Hilfe von »Jesaja« den hermeneutischen<br />

Horizont des <strong>Evangelium</strong>s geöffnet sieht).<br />

15 Die theozentrische Perspektive öffnet J. Rüggemeier, Poetik, 224–227.<br />

16 So R. Kampling (Israel, 40) in Variation von E. Lohmeyer, Mk, 9: »Prolog vom Himmel«. Daraus folgert<br />

er, »in Ansätzen« sei bei <strong>Markus</strong> der »Präexistenzgedanke« bezeugt (Israel, 41). Chr. Rose (Erzählung,<br />

89–95) spricht von »Proousie«.


24 Die Einführung (Mk 1,2–15)<br />

Zum Elijabild des Alten Testaments gehört, dass der Prophet ein glühender Verfechter des<br />

Glaubens an den einen Gott ist (1Kön 18–19) – aber mit seiner Geschichte nicht ans Ende<br />

kommt, weil er in den Himmel entrückt wird (2Kön 2,1–18). Daran knüpft die Erwartung<br />

seiner Wiederkunft in Israel an, die alles zum Guten führen wird (Mal 3,23f.; Sir 48,9f.;<br />

vgl. Mk 6,15 parr.; 8,28 parr.). <strong>Markus</strong> öffnet diese Erwartung für die Christologie.<br />

Der »Bote« geht vor dem »Angesicht« des Messias her (πρὸ προσώπου σου). <strong>Das</strong> heißt: Er<br />

geht ihm voraus; der Kyrios hat ihn im Blick. Die Entschiedenheit, mit der Jesus <strong>nach</strong> V. 9<br />

den Täufer am Jordan aufsucht, hat hier ihren christologischen Grund. Der »Weg«, der Jesus<br />

bereitet werden wird, ist der »Weg« der gesamten Sendung Jesu, einschließlich seines<br />

Leidensweges und seines Auferstehungsweges <strong>nach</strong> Galiläa (Mk 16,7).<br />

3 <strong>Markus</strong> folgt der Septuaginta-Version von Jes 40,3.<br />

Sie weicht an zwei Stellen charakteristisch vom Urtext ab: Auf Hebräisch wird eine Stimme<br />

laut, die ruft, auf Griechisch kommt ein Rufer zu Wort, der seine Stimme erhebt;<br />

auf Hebräisch wird ein Weg durch die Wüste gebahnt, auf Griechisch wird in der Wüste<br />

die Stimme erhoben. Beide Veränderungen passen in den markinischen Kontext. Die<br />

Jesajatradition verweist ursprünglich auf den von Gott angekündigten und – durch seine<br />

Engel? – bereiteten Weg zurück aus der babylonischen Gefangenschaft <strong>nach</strong> Israel (vgl.<br />

Jes 62,10); in der Septuaginta aber ist der Rufer ein Wüsten-Prophet, der Israel auffordert,<br />

Gott den Weg in sein Heiligtum zu bereiten. <strong>Markus</strong> identifiziert diesen Vorbereiter mit<br />

Johannes dem Täufer.<br />

Im <strong>Markus</strong>evangelium wird Gottes Wort aus der Wüste heraus laut; es dringt ins Land<br />

Israel hinein und ruft die Israeliten heraus (vgl. Mk 1,5). Der Täufer, der <strong>nach</strong> V. 2 der<br />

»Bote« Gottes ist, ist <strong>nach</strong> V. 3 seine »Stimme«. Der »Weg« und die »Straßen« sind mit<br />

dem »Weg« Jesu (Mk 1,2) identisch. <strong>Das</strong>s der »Kyrios« auf Jesus zu deuten ist, ergibt sich<br />

aus dem Kontext (Mk 1,1.9–11.14f.; vgl. 12,35ff.); dass Jesus Kyrios genannt wird, macht in<br />

ihm Gott selbst kenntlich. Der Weg, den der Bote mit seinem Ruf präpariert, ist der Weg<br />

Gottes, den Jesus geht.<br />

Mk 1,2f. ist ein einführender Erzählerkommentar, der die überlieferte und im <strong>Evangelium</strong><br />

gestaltete Hermeneutik Jesu kennzeichnen soll, indem eine messianische Schriftinterpretation<br />

begründet wird, die auf die Verheißung Gottes bezogen ist.<br />

In seiner markinischen Form erzählt das Schriftzitat in aller Kürze die Geschichte Jesu.<br />

Der Ruf des Boten in der Wüste ist die vorauslaufende Zusammenfassung der Täuferpredigt,<br />

die ab V. 4 referiert wird. Dieses Botenwort wird durch V. 2 als Reaktion auf ein Wort<br />

eingeführt, das Gott (»ich«) zu einem »Du« sagt, das (wie in Mk 1,11) dem Messias gilt<br />

(»deinen Weg«). Der Relativsatz von V. 2 steht im Futur, ist also eine Ankündigung oder<br />

ein Versprechen; V. 3 notiert, wie es eingelöst zu werden beginnt. Der Evangelist nimmt<br />

die 2. Person aus Ex 23,20 auf und überträgt sie von Israel auf Jesus, das Kind seines Volkes;<br />

er behält die Theozentrik von Mal 3,1 bei, spricht aber nicht von dem Weg, den Gottes


Der Auftritt Johannes des Täufers (Mk 1,4–8)<br />

25<br />

Bote vor Gottes Angesicht bereitet, sondern von dem Weg, den er dem Kyrios Jesus bereitet,<br />

weil dessen Weg der Weg Gottes zu seinem Volk ist, ins Heiligtum seiner Gegenwart.<br />

Der Auftritt Johannes des Täufers (Mk 1,4–8) 17<br />

(4) Es geschah: Johannes der Täufer war in der Wüste und verkündete die Taufe der Umkehr<br />

zur Vergebung der Sünden. (5) Und es zogen zu ihm heraus das ganze Land Juda<br />

und alle Jerusalemer und ließen sich von ihm im Jordan taufen, indem sie ihre Sünden<br />

bekannten. (6) Johannes war bekleidet mit einem Kamelfell und einem Ledergürtel um<br />

die Hüften und aß Heuschrecken und wilden Honig. (7) Und er verkündete: »Es kommt,<br />

der stärker ist als ich, mir <strong>nach</strong>. Ich bin nicht würdig, ihm die Riemen seiner Schuhe zu<br />

lösen. (8) Ich taufe euch mit Wasser. Er aber wird euch mit dem Heiligen Geist taufen.«<br />

Johannes der Täufer wird im <strong>Markus</strong>evangelium als Vorläufer Jesu portraitiert (Mk 1,2f.).<br />

Der Evangelist konzentriert sich auf drei Aspekte:<br />

Mk 1,4f. Die Predigt der Taufe und ihre Wirkung<br />

Mk 1,6 <strong>Das</strong> Auftreten: Kleidung und Nahrung<br />

Mk 1,7f. Die Predigt des Stärkeren und der Geisttaufe<br />

Der Akzent liegt auf dem Schluss. Nur dort kommt der Täufer zu Wort. Durch V. 8 wird<br />

die Jordantaufe als Wassertaufe klassifiziert, die auf die Geisttaufe durch den kommenden<br />

Stärkeren verweist. Dieser Spannungsbogen ist die theologische Pointe des markinischen<br />

Auftakts zum <strong>Evangelium</strong>.<br />

Der komplette Passus Mk 1,4–8 beruht auf vormarkinischer Überlieferung. <strong>Markus</strong> hat<br />

die Sequenz stilistisch geprägt und auf die Geschichte Jesu hin orientiert.<br />

4 Die »Wüste« ist der – <strong>nach</strong> Mk 1,2f. durch »Jesaja« – angekündigte Ort der Botenpredigt,<br />

die dem Kyrios den Weg bahnt.<br />

<strong>Das</strong> griechische Wort (ἔρημος) akzentuiert nicht so sehr eine geographische denn eine kulturelle<br />

Lage: die Einöde oder Einsamkeit, fernab vom Alltagsgetriebe, weit entfernt auch<br />

vom Tempel. Für <strong>Markus</strong> ist diese »Wüste« ein archaischer Ort der Gottesbegegnung, vorgeprägt<br />

durch den Exodus: 18 In der Einsamkeit wird Jesus die Versuchung bestehen (Mk<br />

1,12f.), in ihr betet er (Mk 1,35), in sie zieht er sich zurück, um wieder neu aufzubrechen<br />

(Mk 1,45; 6,31f.45). Eine ähnliche Bedeutung hat die »Wüste« in Mk 1,3 und 1,4.<br />

17 Chr. Rose, Erzählung, 122–138 (der Johannes als Wegbereiter portraitiert findet); H.-J. Klauck, Vorspiel,<br />

54f.87ff. (der die Geisttaufe als Metapher für das gesamte Wirken Jesu deutet).<br />

18 Nach der Gemeinderegel soll in die Wüste gehen, wer in den »Rat der Männer der Gemeinschaft«<br />

aufgenommen wird, »um dort den Weg des ›Er‹ [heißt: den Weg Gottes] zu bereiten« (1QS 8,12ff.;<br />

vgl. 9,19f.). Josephus berichtet, dass einige Propheten ihre Jünger in die Wüste geführt haben, um sie<br />

wieder zu Gott zu führen (Bell II 259f.261ff.).


26 Die Einführung (Mk 1,2–15)<br />

Johannes zieht sich aus Israel zurück; er begibt sich dorthin, wo er Gott nahe ist und<br />

dem Messias Raum schafft. <strong>Das</strong>s Johannes verkündet (κηρύσσειν), ist in der markinischen<br />

Sprache eine hohe Auszeichnung; weil auch Jesus (Mk 1,14.38.39) und seine Jünger<br />

(Mk 3,14; 6,12; 13,10; 14,9; vgl. 5,20 sowie 7,36) »verkünden«. <strong>Das</strong> Verkündigen ist eine<br />

Proklamation, wie durch einen Herold: nicht nur die Übermittelung einer Nachricht, sondern<br />

die autoritative, überzeugte und auf Überzeugung ausgerichtete Ansage eines Neuen,<br />

Wesentlichen. <strong>Das</strong>s Johannes eine »Taufe« verkündet, ist sein Markenzeichen geworden;<br />

er ist »der Täufer«. Die »Taufe« zu »verkündigen«, heißt, sie anzusagen, zu fordern und zu<br />

erklären. Nach Mk 1,10 ist sie durch Untertauchen vollzogen worden. Sie ist ein Zeichen,<br />

das bewirkt, was es bezeichnet. Der Genitiv »der Umkehr« ist ein genitivus qualitatis: Die<br />

Umkehr führt zur Taufe, die Taufe konkretisiert sie. Zur »Umkehr« (μετάνοια) rufen <strong>nach</strong><br />

<strong>Markus</strong> auch Jesus (Mk 1,15) und die Jünger (Mk 6,12). Sie ist <strong>nach</strong> Mk 1,5 mit dem Bekenntnis<br />

der Sünden verbunden, also eine Abkehr von der Vergangenheit, die im Zeichen<br />

des Bösen stand, und eine Hinwendung zur Zukunft, die im Zeichen der Vergebung durch<br />

Gott steht und <strong>nach</strong> Mk 1,7f. durch den »Stärkeren« beginnen wird.<br />

Die Metanoia ist ein neues Denken: ein neuer Sinn für Gott, eine Wendung des Geistes<br />

vom Bösen zum Guten, die Einsicht, neu anfangen zu müssen, weil Sünden das Leben<br />

beherrschen, aber auch das Vertrauen, neu anfangen zu können, <strong>nach</strong>dem Gott seinen<br />

»Boten« gesandt hat (Mk 1,2), um den Weg für den Kyrios zu bahnen (Mk 1,3). Diese Umkehr<br />

führt kraft der Taufe zur Vergebung.<br />

Der Ort der Taufe, der Jordan (V. 5) inmitten der Wüste (V. 4), signalisiert, dass es sich weder<br />

um eine Variante der täglichen Sündenvergebungen handelt, zu denen die Nächstenliebe<br />

mahnt (Lev 19,17f.), noch um eine Alternative zu den Opfern im Tempel, die rituell<br />

Sünden vergeben (Philo, VitMos II 147; SpecLeg I 190), sondern um eine eschatologische<br />

Vergebung. Sie ist bei <strong>Markus</strong> nicht – wie in Q und dadurch sowohl bei Matthäus als auch<br />

bei Lukas – durch den Ausblick auf das Gericht, sondern durch die Erwartung des »Stärkeren«<br />

qualifiziert (Mk 1,7).<br />

5 Johannes setzt »das ganze Land Juda und alle Jerusalemer« in Bewegung (vgl. Joseph,<br />

Ant XII 116). So stilisiert diese Dynamik ist, ist sie keine literarische Übertreibung, sondern<br />

eine theologische Botschaft: Alle haben die Vergebung nötig, weil niemand frei von<br />

Schuld ist; zu allen wird der Messias kommen, um ihre Schuld zu bezahlen (Mk 10,45).<br />

Der Weg »heraus« in die Wüste und an den Jordan ist das äußere Zeichen der inneren<br />

Umkehr.<br />

Der Jordan ist in der markinischen Topographie Lebensader und Grenzfluss Israels. Im<br />

Hintergrund steht der Übergang Israels beim Exodus aus der Wüste ins Gelobte Land, der<br />

sich <strong>nach</strong> Jos 3 unter Zeichen und Wundern ereignet hat. 19 An dieses überlieferte Ereignis<br />

19 Aufgrund von Joh 1,28 (»in Bethanien, jenseits des Jordan«; vgl. Joh 10,40) wird mithilfe der Karte<br />

von Madaba oft <strong>nach</strong> Bethabara gewiesen, im Wadi Al-Kharrar gelegen, unweit des Toten Meeres am<br />

Ostufer des Jordan auf dem Gelände des sog. Eliasberges. Allerdings nennt Joh 3,23 auch »Änon bei<br />

Salim, wo viel Wasser war …«. Dieser Ort wird schon von Eusebius (On 40) im nördlichen Samaria


Der Auftritt Johannes des Täufers (Mk 1,4–8)<br />

27<br />

knüpft der Täufer an; die Taufe erinnert an den Durchzug und begründet ein neues Leben<br />

im Land Gottes. Jesus begibt sich an diesen Ort (Mk 1,9), aber er verändert seine Bedeutung.<br />

Der Fluss wird zur Brücke: Im <strong>Markus</strong>evangelium wird erzählt, dass Jesus auch<br />

Menschen von »jenseits des Jordans« anziehen (Mk 3,9) und selbst »jenseits des Jordans«<br />

seinen Weg gehen wird (Mk 10,1).<br />

6 Die Kleidung des Johannes charakterisiert ihn als Propheten. 20 Er trägt den Mantel des<br />

Propheten (Sach 13,4); der Ledergürtel erinnert an Elija (2Kön 1,8), der allerdings einen<br />

Ziegenmantel getragen hat (2Kön 1,8; vgl. 1Kön 19,13.19; 2Kön 2,8.13f.). <strong>Das</strong>s der Mantel<br />

bei Johannes aus Kamelhaar ist, entspricht der Sitte der Steppenbewohner. Die Nahrung –<br />

Heuschrecken und wilder Honig – ist Alltagsnahrung in der Wüste, aber bei Johannes<br />

auch Ausdruck einer religiösen Überzeugung: kein Wein, kein Fleisch, reine Naturprodukte. 21<br />

7 Der Stärkere, den Johannes ankündigt, ist <strong>nach</strong> <strong>Markus</strong> der Messias Jesus. »Stärker«<br />

ist er, weil er der Kyrios ist (Mk 1,3), der Sohn Gottes (Mk 1,11).<br />

»Der Stärkere« ist <strong>nach</strong> dem Alten Testament ein Gottesprädikat (Jes 27,12f.; Jer 13,24; Mal<br />

3,19). Dieses Prädikat kommt im <strong>Evangelium</strong> Jesus zu, weil er ganz zu Gott gehört und<br />

Gott sich in seiner ganzen Stärke, aber auch in all seiner Liebe an ihn bindet (Mk 1,11).<br />

<strong>Das</strong>s Johannes die Stärke an seiner eigenen Person misst, zeigt, dass er bei <strong>Markus</strong> nicht<br />

an Gott selbst, sondern an einen Menschen denkt, der Gottes Auftrag erfüllt; der Vergleich<br />

spiegelt nicht nur die eschatologische Heilsbedeutung Jesu, sondern auch die des Täufers<br />

als eschatologischer Vorbote Gottes, der dem Messias vorangeht.<br />

Wenn selbst Johannes schwächer als dieser »Stärkere« ist, dann deshalb, weil er nicht die<br />

Rettung bringt, sondern auf den Retter verweist. Aber der Stärkere »kommt« ihm »<strong>nach</strong>«<br />

(ὀπίσω μου). <strong>Das</strong> Wort begegnet sonst in der Nachfolge Jesu (Mk 1,17.20; 8,33.34). Hier<br />

hat es einen anderen Sinn: Zum einen folgt die Sendung Jesu zeitlich auf die des Täufers,<br />

weil diese Abfolge Gottes Willen entspricht (Mk 1,2f.). Zum anderen ist es ein Akt der<br />

Demut, dass Jesus sich von Johannes taufen lässt (Mk 1,9). Ihr entspricht die Demut des<br />

Täufers. Die Riemen der Schuhe zu lösen, ist niedrigster Sklavendienst. Hier von »Würde«<br />

zu sprechen, ist paradox. Gerade das ist die Pointe: Johannes offenbart einen qualitativen<br />

Unterschied zu Jesus. Diese Sicht qualifiziert ihn als Gottesboten für den Kyrios.<br />

lokalisiert, 12 km südlich von Beth Shean (Skythopolis). Historisch braucht keine Alternative zu bestehen,<br />

wenn Johannes »… in der ganzen Jordangegend …« (Lk 3,3) getauft hat. Mk 1,5 lenkt den Blick<br />

<strong>nach</strong> Süden: Die Menschen strömen aus Judäa und Jerusalem zu Johannes; auch der weitere Weg Jesu<br />

vom Jordan (Mk 1,9ff.) durch die Wüste (Mk 1,12f.) <strong>nach</strong> Galiläa (Mk 1,14f.) spricht für Judäa als von<br />

<strong>Markus</strong> überlieferten Taufort des Johannes. Die Gegend ist gerade jene, in der Josua der Bibel zufolge<br />

Israel ins Land geführt hat (Jos 3).<br />

20 Vgl. E.-M. Becker, »Kamelhaare ... und wilder Honig«. Der historische Wert und die theologische<br />

Bedeutung der biografischen Täufer-Notiz (Mk 1,6), in: R. Gebauer; M. Meiser (Hg.), Die bleibende<br />

Gegenwart des <strong>Evangelium</strong>s. FS O. Merk (MThSt 76), Marburg 2003, 13–28.<br />

21 Nach Mk 2,18 gehört zu Johannes das Fasten; vgl. Mt 11,7f.18 par. Lk 7,25f.35, ähnlich wie Daniel (<strong>nach</strong><br />

VitProph, Dan 3) und andere Propheten (MartJes II 10f.).


28 Die Einführung (Mk 1,2–15)<br />

8 Weil Jesus »stärker« ist, wird er als Kyrios mit dem Heiligen Geist taufen (vgl.<br />

Joh 1,33). 22 Der Aorist hat die Funktion eines praesens historicum. Er zeigt an, dass die<br />

Zukunft definitiv der Geisttaufe gehört. Der Heilige Geist verbindet bei <strong>Markus</strong> den Gottessohn<br />

mit Gott (vgl. Mk 1,10f.); er ist die Quelle der Inspiration (Mk 12,36; 13,11) und<br />

die Kraft der Erlösung (vgl. Mk 3,28f.). Ihm sind die »unreinen« Geister (vgl. Mk 1,27;<br />

3,11.30; 5,2.8.13; 6,7; 7,25; 9,17f.20.25f.) entgegengesetzt, die Jesus vertreibt, um die Nähe<br />

des Reiches Gottes zu offenbaren. Die Geisttaufe umschließt die Vergebung der Sünden;<br />

sie verbindet mit der Herrschaft Gottes, weil sie mit dem Sohn Gottes verbindet, der sie<br />

spendet. Sie wird »mit« dem Heiligen Geist gespendet, weil er die Kraft ist, in der sie gespendet<br />

wird; der Heilige Geist ist aber auch die Gabe, die sie verleiht. <strong>Markus</strong> wird die<br />

Geisttaufe mit der Taufe identifiziert haben, die in der Kirche gespendet wird. Sie ist als<br />

Geisttaufe in der Jordantaufe Jesu begründet, weil sie zur Geistbegabung Jesu geführt hat,<br />

das <strong>Evangelium</strong> Gottes zu verkünden (Mk 1,9ff.).<br />

Johannes der Täufer 23 ist ein Prophet, der im gesamten Neuen Testament auf Jesus hinweist<br />

(vgl. neben Mk 1,4–9 parr. auch Mt 3,7–10.12 par. Lk 3,7–9.17 sowie Lk 3,10–14,<br />

zudem Joh 1,19–34; 3,22–36), bei Josephus aber ein Moralist ohne messianische Botschaft<br />

(Ant XVIII 116–199). <strong>Das</strong> neutestamentliche Bild ist christologisch gefärbt; aber zum Interesse<br />

des Josephus gehört es, die Eschatologie zu minimieren. <strong>Markus</strong> überliefert nicht die<br />

Gerichtspredigt aus der Logienquelle (Mt 3,1–12 par. Lk 3,1–20), die aber historisch zum<br />

Täufer gehört. In allen Evangelien sind es Johannesjünger, die ihre Eindrücke mit in die<br />

Jesus<strong>nach</strong>folge gebracht haben.<br />

<strong>Markus</strong> hat mit der Täuferperikope einen historischen Zusammenhang hergestellt, der<br />

theologisch wesentlich ist: Jesus hat nicht in der Stunde Null der Heilsgeschichte angefangen,<br />

sondern im Kairos der Gottesherrschaft (Mk 1,15). Er ist – für seine Jünger – der Messias,<br />

den der Täufer angekündigt hat. Als solcher stellt er sich »hinter« Johannes (Mk 1,7).<br />

<strong>Das</strong>s er sich von Johannes taufen lässt (Mk 1,9), ist ein Ausdruck seiner Stärke, die in seinem<br />

Dienst an den Vielen besteht (Mk 10,45). Seine Heiligkeit ist Hingabe, seine Demut Liebe.<br />

Die Taufe Jesu (Mk 1,9–11) 24<br />

(9) Und es geschah in jenen Tagen: Jesus kam von Nazareth aus Galiläa und ließ sich<br />

im Jordan taufen von Johannes. (10) Und sofort, als er aus dem Wasser stieg, sah er die<br />

Himmel aufgerissen und den Geist wie eine Taube zu sich herabkommen, (11) und eine<br />

22 Nach der Redenquelle wird der Stärkere auch »mit Feuer« taufen (Mt 3,11 par. Lk 3,16). Diese »kühne<br />

Metapher« (H. Weinrich) passt zur Gerichtsbotschaft (Mt 3,12 par. Lk 3,17).<br />

23 Zum Bild bei <strong>Markus</strong> vgl. F. Filannino, Il personaggio di Giovanni Battista nel vangelo di Marco. Una<br />

caratterizzazione, in: EstB 75 (2017), 185–215.<br />

24 F. Filannino, I tre battesimi di Gesù nel vangelo di Marco, in: EstB 78 (2019), 219–241 (der den Zusammenhang<br />

mit Mk 1,7f. und 10,38f. <strong>nach</strong>zeichnet); St. Eckhard, Zeichen, 80–97 (zur narrativen<br />

Pneumatologie); J. Rüggemeier, Poetik, 227–231 (der die hermeneutische Perspektive der Theozentrik<br />

betont); R. DeMaris, Possession, Good and Bad-Ritual Effects and Side-Effects: The Baptism of Jesus


Die Taufe Jesu (Mk 1,9–11)<br />

29<br />

Stimme erklang 25 aus dem Himmel: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen<br />

gefunden.«<br />

Die Erzählung gehört zu den christologischen Schlüsseltexten des <strong>Markus</strong>evangeliums.<br />

Sie steht auf einer Ebene mit der Verwandlung (Mk 9,2–9), in der gleichfalls Gottes Stimme<br />

ertönt und die Gottessohnschaft Jesu explizit wird. Hier steht die Verbindung Gottes<br />

zu Jesus im Fokus, und zwar als direkte Anrede in der erzählten Welt des <strong>Evangelium</strong>s,<br />

nicht wie zuvor als Reflexion in Form eines prophetischen Wortes (Mk 1,2f.).<br />

Oft wird der Passus als Beleg einer Adoptionschristologie gedeutet. 26 Dann würde Jesus im<br />

Moment der Anrede zum Sohn Gottes, der er vorher nicht gewesen wäre. Als Begründung<br />

wird in der Antike wie in der Moderne der Bezug zu Ps 2,7 angeführt. Dort wird der – regierende<br />

oder messianische – König im Moment der Thronbesteigung von Gott für seinen<br />

Sohn erklärt. Anders ist es, wenn die Taufe als »Epiphanie« gedeutet wird. Dann kommt<br />

am Jordan eines der »Geheimnisse des Lebens Jesu« zum Vorschein, nämlich das, was zu<br />

seiner öffentlichen Verkündigung führt. Jesus wird nicht zum Sohn Gottes gemacht, sondern<br />

als Sohn Gottes angeredet und in eine neue Phase seines irdischen Lebens geführt. 27<br />

Die Sprache ist an der Septuaginta geschult (vgl. Ex 2,11; 1Kön 28,1): Wie in Mk 1,4 wird<br />

ausdrücklich markiert, dass etwas Neues passiert (Καὶ ἐγένετο …); es wird »in jenen Tagen«<br />

angesiedelt, also in der Zeit der Vorbereitung, die Gott selbst angesagt hat (Mk 1,2f.).<br />

Johannes kommt nicht mehr zu Wort; Jesus beherrscht von nun an die Szene: Als Sohn<br />

Gottes verkündet er das Reich Gottes (Mk 1,14f.). 28<br />

and Mark 1:9–11 from a Cross-cultural Prospective, in: JSNT 80 (2000), 3–30 (der die Taufgeschichte<br />

als sekundäre Einkleidung einer primären Vision Jesu erweisen will); Chr. Rose, Erzählung, 138–150<br />

(der eine Leserorientierung auf das gesamte Werk bezieht); H.-J. Klauck, Vorspiel, 89–92 (der die<br />

theologischen Motive analysiert); U. Mell, Jesu Taufe durch Johannes (<strong>Markus</strong> 1,9–15). Zur narrativen<br />

Christologie vom neuen Adam, in: BZ 40 (1996), 161–178 (der die Taufe als Epiphanie im Rahmen einer<br />

Adam-Christologie deutet, die auf den Gottesknecht zuläuft); R. Kampling, Israel, 47–65 (der die Schriftbezüge<br />

fokussiert und eine »Proklamation« sieht); J. R. Edwards, The Baptism of Jesus according to the<br />

Gospel of Mark, in: JSNT 34 (1991), 43–57 (der die Christologie entfaltet); F. Lentzen-Deis, Die Taufe Jesu<br />

<strong>nach</strong> den Synoptikern. Literarkritische und gattungsgeschichtliche Untersuchungen (FThSt), Frankfurt<br />

a. M. 1972 (der eine Gattung »Deutevision« sieht); A. Vögtle, Die sogenannte Taufperikope. Zur<br />

Problematik der Herkunft und des ursprünglichen Sinns, in: EKK. Vorarbeiten 4, Zürich/Neukirchen-<br />

Vluyn 1972, 105–139 (der die Sohn-Gottes-Theologie untersucht und eine Berufung erkennt); H. Weih<strong>nach</strong>t,<br />

Menschwerdung, 46–53 (der eine Antizipation einer eschatologischen Inthronisation findet).<br />

25 <strong>Das</strong> Verb ἐγένετο ist textkritisch besser bezeugt als die Auslassung; vgl. H. Greeven, Textkritik, 62f.<br />

26 Vgl. G. Strecker, Theologie des Neuen Testaments, hg. v. F.-W. Horn, Berlin 1996, 372.376.<br />

27 Vgl. K. Berger, Formgeschichte, 285f.: »Installation«. Als Parallelen verweist er zum einen auf Mt<br />

16,18f., zum anderen auf Ps 110,4 (vgl. Hebr 5,6) sowie äthHen 71,14.<br />

28 Vgl. K. Scholtissek, Der Sohn Gottes für das Reich Gottes. Zur Verbindung von Christologie und Eschatologie<br />

bei <strong>Markus</strong>, in: Th. <strong>Söding</strong> (Hg.), Evangelist, 63–90.


30 Die Einführung (Mk 1,2–15)<br />

Der kurze Abschnitt legt das Gewicht auf die Vision und Audition.<br />

Mk 1,9 Die Taufe im Jordan<br />

Mk 1,10 Die Vision: Der geöffnete Himmel<br />

<strong>Das</strong> Herabkommen des Geistes<br />

Mk 1,11 Die Audition: Die Stimme aus dem Himmel<br />

Die Taufe durch Johannes ist der Auslöser für das himmlische Geschehen, auf dem der Akzent<br />

liegt. Jesus ist durchgehend Subjekt: Er »kam … und ließ sich … taufen … Und sofort, als<br />

er aus dem Wasser stieg, sah er …« (Mk 1,9f.). Die Himmelsstimme sagt: »Du«. Während die<br />

synoptischen Seitenreferenten den öffentlichen Charakter der Taufe betonen (Mt 3,13–17;<br />

Lk 3,21f.), lenkt <strong>Markus</strong> den Blick auf das Verhältnis zwischen Gott und Jesus. V. 10 baut die<br />

Spannung einer gegenläufigen Bewegung auf, die zur Begegnung führt: Jesus steigt aus dem<br />

Wasser; der Geist kommt auf ihn herab. In dieser Bewegung »geschieht« die Himmelsstimme.<br />

Zuerst ist der Himmel aufgerissen, dann ertönt die Stimme, in derselben Richtung, die<br />

der Geist nimmt. <strong>Das</strong> Himmelswort ist ein Gotteswort; es ist zuerst durch das »Du«, dann<br />

durch das »Ich« gekennzeichnet, spiegelbildlich zur Sprechrichtung in Mk 1,2.<br />

Der Evangelist hat mit Überlieferungen gearbeitet. Aber der Text ist so dicht, dass er keine<br />

chirurgischen Schnitte erlaubt, um Traditions- von Redaktionsschichten zu unterscheiden.<br />

9 <strong>Markus</strong> beginnt die Episode mit einer gerafften Notiz, die wichtige Informationen enthält<br />

und theologisch zielgerichtet ist. Jesus kommt aus Nazareth in Galiläa; beides passt<br />

nicht zum alttestamentlichen Messiasbild (vgl. Joh 1,46; 7,41), aber zu Jesus. <strong>Markus</strong> liegt<br />

die Zielgerichtetheit am Herzen.<br />

V. 6 hatte von Menschen aus Judäa und Jerusalem berichtet, die zu Johannes gekommen<br />

waren; Jesus kommt von Galiläa und verbindet durch seinen Weg an den Jordan die beiden<br />

großen Teile Israels miteinander – wie später auf dem Weg seiner Verkündigung von<br />

Galiläa (Mk 1,14f.) <strong>nach</strong> Jerusalem (Mk 10,1.32).<br />

Jesus geht zum Jordan, wo Johannes tauft (Mk 1,5); er lässt sich taufen, wie alle sich von<br />

Johannes haben taufen lassen (Mk 1,6). Von einem Sündenbekenntnis (Mk 1,6) wird nichts<br />

überliefert – wahrscheinlich, weil auch <strong>Markus</strong> von der Sündlosigkeit Jesu überzeugt ist<br />

(vgl. Hebr 4,15). Jesus lässt sich taufen, um genau dort seine eigene Sendung beginnen zu<br />

können, wo Johannes den Willen Gottes erfüllt, ihm den Weg zu bereiten (Mk 1,2f.).<br />

10 <strong>Das</strong> Adverb »sofort« gehört zu den markinischen Lieblingsvokabeln. Es vergegenwärtigt<br />

die Zielstrebigkeit Jesu (vgl. Mk 1,21.23.29.43; 2,8; 5,30; 6,45.50; 8,10), aber auch<br />

die Unwiderstehlichkeit seines Rufes (Mk 1,18.20.28; 5,42; 6,45; 7,25; 9,15) und die Effektivität<br />

seiner Wirkung (Mk 1,45; 2,12; 5,29; 5,42; 9,20.24; 10,52). Hier geht es erstens um<br />

die genaue Unterscheidung, dass nicht Johannes, sondern Gott selbst den Geist verliehen<br />

hat, und zweitens um die genaue Entsprechung zum Kommen des Geistes. Der Ritus der<br />

christlichen Taufe, die eine Taufe mit Wasser bleibt, aber eine Taufe des Geistes ist, wird


Der erste Hauptteil:<br />

Jesu Wirken in und um Kapharnaum (Mk 1,16 – 4,34)<br />

Der erste Hauptteil des <strong>Markus</strong>evangeliums beginnt zu konkretisieren, wie Jesus das <strong>Evangelium</strong><br />

Gottes (Mk 1,14f.) in Wort und Tat verkündet. Es wird auch deutlich, dass dieses<br />

Wirken auf Widerspruch stößt, in den sich schon früh Jerusalemer Stimmen mischen<br />

(Mk 3,1). Die Passage ist so aufgebaut, dass <strong>nach</strong> der Berufung der ersten Jünger<br />

(Mk 1,16–20) zunächst in drei Einheiten (Mk 1,21–45; 2,1 – 3,6; 3,7–15) der Spannungsbogen<br />

errichtet wird, der Jesu Vollmacht zeigt, bevor eine kleine Serie von Gleichnissen<br />

reflektiert, worin der Sinn der Sendung Jesu besteht, welche Wirkungen sie auslöst und<br />

wie auf sie reagiert werden kann (Mk 4,1–34).<br />

Die Berufung der ersten Jünger am See (Mk 1,16–20) 42<br />

(16) Als er am Meer von Galiläa entlangkam, sah er Simon und Andreas, den Bruder des<br />

Simon, wie sie Netze ins Meer warfen; denn sie waren Fischer. (17) Da sagte Jesus zu ihnen:<br />

»Herbei, mir <strong>nach</strong>, ich werde machen, dass ihr Menschenfischer werdet.« (18) Und<br />

sofort ließen sie die Netze und folgten ihm. (19) Und ein wenig weitergehend, sah er<br />

Jakobus, den (Sohn) des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder, die im Boot die Netze<br />

flickten. (20) Und sofort rief er sie. Da ließen sie ihren Vater Zebedäus im Boot mit den<br />

Tagelöhnern und gingen weg, hinter ihm her.<br />

<strong>Markus</strong> erzählt in einer idealen Szene von der Berufung der ersten Jünger Jesu.<br />

<strong>Das</strong> Gattungsmuster liefert 1Kön 19,19ff., die Berufung Elischas durch Elija, auch wenn die<br />

Bilder sich von der Landwirtschaft zur Fischerei verschoben haben. In beiden Fällen liegt<br />

die Initiative bei dem, der beruft. Er betritt die Szene, erwählt, wen er will, und beruft zu<br />

seiner Mission. In beiden Fällen folgt eine direkte Reaktion der Berufenen, allerdings mit<br />

charakteristischen Unterschieden: Die alttestamentliche Erzählung ist an der Reaktion<br />

Elischas interessiert, die durch eine Fülle retardierender Elemente das Definitive der Lebenswende<br />

anzeigt. Bei <strong>Markus</strong> hingegen liegt alles an der sofortigen Reaktion. So wird<br />

42 S. Watts Henderson, Christology, 31–65 (zur christologischen Dimension); D. Dormeyer, <strong>Markus</strong>evangelium,<br />

185–190 (zum Stellenwert als Eröffnung der Jüngerbiographie); M. Böhm, Nachfolge aus Erfahrung.<br />

Redaktionskritische Beobachtungen zur Berufung der ersten Jünger bei <strong>Markus</strong> und Lukas,<br />

in: Chr. Böttrich; Chr. Kähler (Hg.), Gedenkt an das Wort. FS W. Vogler, Leipzig 1999, 24–33 (mit<br />

einem synoptischen Vergleich); C. D. Marshall, Faith, 135–139 (zum Zusammenhang zwischen Glaube<br />

und Nachfolge); Th. <strong>Söding</strong>, Die Nachfolgeforderung Jesu im <strong>Markus</strong>evangelium, in: TThZ 94 (1985),<br />

292–310 (zur theologischen Strukturbestimmung der Nachfolge); E. Best, Jesus, 166–174 (mit einer<br />

klassisch historisch-kritischen Analyse).


44 Jesu Wirken in und um Kapharnaum (Mk 1,16 – 4,34)<br />

die Vollmacht Jesu in Szene gesetzt. Im Unterschied zu 1Kön 19 ist die Berufung in die<br />

Nachfolge mit einem Auftragswort verbunden: Aus Fischern werden Menschenfischer.<br />

Elischa inszeniert dramatisch seinen Bruch mit der Vergangenheit, indem er die Ochsen,<br />

mit denen er gepflügt hat, schlachtet und das Joch zum Feuerholz macht, um das Fleisch<br />

zu braten; die beiden Brüder zerstören hingegen nichts: Die Boote werden noch gebraucht<br />

(Mk 3,9; 4,1 parr.; 4,35–41 parr.; 5,2; 5,18 par.; 5,21; 6,32 par.; 6,45–52 parr.; 6,54; 8,10 par.;<br />

8,14–21 par.); die Netze sind ein Bild für den missionarischen Fischzug (vgl. Mt 13,47–50;<br />

Joh 21,1–11; 2Kor 12,16). Mit einer kynischen Verachtung des Besitzes (Plut, Mor 831f.;<br />

Luc, VitAuct 9) hat die Jesus<strong>nach</strong>folge nichts zu tun.<br />

Der Ruf zur Nachfolge knüpft an die Verkündigung des <strong>Evangelium</strong>s (Mk 1,15) an. Umkehr<br />

– Glaube – Nachfolge ist die Reihe verbindlicher Reaktionen auf den Anspruch Jesu.<br />

Die Nachfolge zielt auf die Sendung: In Mk 1,16–20 beginnt eine Linie, die mit der Einsetzung<br />

der Zwölf (Mk 3,14–19) und ihrer Aussendung (Mk 6,6b–13) fortgesetzt wird. Bis<br />

zum Schluss (Mk 16,6f.) werden auf dieser Linie auch die großen Schwierigkeiten der Jünger,<br />

allen voran des Simon (Petrus), nicht verschwiegen, sondern zu einem literarischen<br />

Spannungsmoment des <strong>Evangelium</strong>s gemacht, das theologisch weitreichend ist. So wie<br />

die Jüngerschaft von Jesus ausgeht, wird sie nur von ihm am Leben erhalten, weil er die<br />

Seinen nicht fallenlässt, sondern bevollmächtigt und befähigt (Mk 3,14f.; 6,7f.), begnadigt<br />

(Mk 14,28–31) und begeistert (Mk 13,9–13).<br />

Mk 1,16–20 wird durch die Einheit von Zeit und Ort zusammengehalten. Zum einen<br />

werden zwei Berufungen hintereinandergestellt, zum anderen werden jeweils zwei Brüder<br />

berufen – so wie später die Jünger paarweise ausgesendet werden (Mk 6,6b–13). Wenn<br />

man die üblichen Zeitabläufe heranziehen kann, spielt die Szene bei Tagesanbruch. <strong>Das</strong> Fischen<br />

endet oft im Morgengrauen; das Flicken ist die Folgearbeit am Vormittag. Beide Szenen,<br />

die ein kleines Diptychon bilden, spielen am See Genezareth (vgl. Mk 3,7–12; 4,1f.).<br />

Die Erzählung ist so knapp, dass es schwerfällt, Wachstumsschichten des Textes abzuheben.<br />

Die zweite Berufungsszene setzt die erste voraus. Die Stilisierung vor dem Hintergrund<br />

von 1Kön 19,19ff. ist gewollt. Im Wortspiel von V. 17 schlägt das Herz der Geschichte.<br />

16 Der See Genezareth 43 heißt hier »Meer von Galiläa« – wegen seiner eindrucksvollen<br />

Größe und wegen der Bedeutung Galiläas als Hauptort des Wirkens Jesu (Mk 7,31) vor<br />

seinem Zug <strong>nach</strong> Jerusalem (Mk 10,1.31). <strong>Das</strong> Kommen Jesu nimmt die charakteristische<br />

Bewegung auf, die ihn <strong>nach</strong> Galiläa geführt hat (Mk 1,14; s. dort) und weiter zu Begegnungen<br />

mit Menschen führen wird, denen er das <strong>Evangelium</strong> bringt. <strong>Das</strong> Sehen ist der Blick<br />

des Propheten, der aber nicht nur diagnostiziert, was sich im Herzen des Angeschauten<br />

abspielt (vgl. Mk 2,8), sondern erwählt, wen er sich ausschaut (vgl. 1Kön 19,19).<br />

43 Vgl. W. Zwickel, Der See Gennesaret in hellenistischer und frührömischer Zeit, in: ZNW 104 (2013),<br />

153–176; G. Faßbeck u. a., Leben.


Die Berufung der ersten Jünger am See (Mk 1,16–20)<br />

45<br />

Simon ist im <strong>Markus</strong>evangelium der erste der Berufenen; ihm wird der Name »Petrus«<br />

verliehen werden (Mk 3,16). 44<br />

Er wird in jeder neutestamentlichen Liste als Erster (Mk 3,16, 5,37; 9,2; 13,3; 14,33), zuweilen<br />

als Einziger namentlich genannt (Mk 1,36; 9,5f.; 16,7). Er wird das Messiasbekenntnis<br />

sprechen (Mk 8,29), aber sich auch das Satanswort anhören müssen, weil er sich Jesus in<br />

den Weg stellen will, damit er nicht zu leiden braucht (Mk 8,32f.). In der Passion schwört<br />

er Jesus zwar ewige Treue, wird ihn aber dreimal verleugnen (Mk 14,29ff.66–72). <strong>Markus</strong><br />

hat – anders als Matthäus (Mt 16,16ff.) – kein erkennbares Interesse an der Etablierung<br />

oder Rekonstruktion eines spezifischen Petrusamtes oder Petrusdienstes, sondern spiegelt<br />

in Ausschnitten die überragende Bedeutung wider, die Simon (Petrus) in der Nachfolge<br />

Jesu und – deshalb – in der frühesten Kirche gespielt hat.<br />

Andreas ist im <strong>Evangelium</strong> weniger profiliert als Simon Petrus, aber gleichfalls hervorgehoben<br />

(vgl. Mk 3,14–19; 13,3). 45 Simon und Andreas üben einen ehrbaren, wenngleich von<br />

den Gebildeten oft wenig geschätzten Beruf aus (bQid 4,13), bei dem man nicht reich werden<br />

konnte, aber auch nicht bettelarm gewesen ist. Familienarbeit ist selbstverständlich;<br />

Genossenschaften sind üblich (vgl. Lk 5,1–11). <strong>Markus</strong> fokussiert die Verwandtschaftsverhältnisse.<br />

46 <strong>Das</strong> Auswerfen der Netze ist oft Nachtarbeit (vgl. Lk 5,5; Joh 21,3). Da aber die<br />

Szene am Ufer spielt (und die beiden Brüder offenbar im Flachwasser stehen), ist auch der<br />

frühe Morgen plausibel.<br />

17 <strong>Das</strong> Berufungswort hat drei Elemente, die für das markinische Verständnis der<br />

Nachfolge wesentlich sind. Der erste Teil bestimmt die Nähe zu Jesus; das Adverb δεῦτε<br />

(vgl. Mk 6,31), »hierher«, stiftet Gemeinschaft, im Gegensatz zu Mk 8,33: Während Petrus,<br />

da er Jesus auf dem Passionsweg entgegentreten will, »weg« muss, muss er hier »her«. Der<br />

zweite Teil bestimmt die Position: »hinter« Jesus (ὀπίσω μου). Während es Ziel eines normalen<br />

Lehrers sein muss, sich überflüssig zu machen und die Schüler so zu lehren, dass<br />

sie besser sind als er selbst, ist Jesus immer vorne: weil seine Lehre auf der prophetischen<br />

Offenbarung und Verkündigung des <strong>Evangelium</strong>s beruht, Teil seines Heilsdienstes, der<br />

seinen Jüngern und allen den Weg ins Reich Gottes bahnt. Der dritte Teil des Berufungswortes<br />

bestimmt das Ziel. Er steht im Futur, weil eine Absicht ausgedrückt wird, deren<br />

Verwirklichung sicher kommen wird, aber noch nicht erreicht ist. <strong>Das</strong> Bild der »Menschenfischer«<br />

ist so farbig wie die Verkündigungssprache Jesu. Es passt genau zum Beruf<br />

der beiden und zu ihrer künftigen Aufgabe.<br />

44 Vgl. M. Bockmuehl, Simon Peter in Scripture and Memory. The New Testament Apostle in the Early<br />

Church, Grand Rapids 2012.<br />

45 Nach Joh 1,44 stammen beide Brüder aus Bethsaïda, etwas nördlich von Kapharnaum am See gelegen<br />

(vgl. Mk 8,22–26). Nach Mk 1,29ff. ist in Kapharnaum die Schwiegermutter Simons im Haus, das als<br />

das Haus des Simon und Andreas vorgestellt wird. Vielleicht haben die Brüder dort eingeheiratet.<br />

46 G. Theißen (Studien, 107) sieht eine »soziale Entwurzelung« der Nachfolger Jesu. Die Szenenfolge<br />

Mk 1,21–39 setzt aber intakte Familienverhältnisse voraus.


46 Jesu Wirken in und um Kapharnaum (Mk 1,16 – 4,34)<br />

Allerdings ist das Bild grell. Denn beim Propheten Jeremia (vgl. auch Am 4,2) werden<br />

Menschenfischer und Menschenjäger angekündigt, die in Gottes Auftrag die sündigen<br />

Israeliten fangen und zur Strecke bringen (Jer 16,16). In den Lobliedern Qumrans wird<br />

dieses Bild gewendet und die Rettung des Gerechten vor den Fischern gepriesen, die Netze<br />

auslegen, und den Jägern, die Fallen stellen (1QH 5,7f.; vgl. 3,26). Jesus provoziert mit<br />

seinem Bild: um der Prägnanz des Auftrages, der Härte des Anspruchs und der Paradoxie<br />

der Verheißung willen, die durch die Krise zum Verstehen führt (Mk 4,1–34).<br />

Eine Zwischenstation markiert die vorösterliche Aussendung (Mk 6,6b–13); im Blick<br />

steht aber bereits die österliche Sendung (vgl. Mk 13,10; 14,9). <strong>Das</strong> Wort legt alles Gewicht<br />

auf die schöpferische Aktion Jesu (»Ich werde machen«), so wie er auch <strong>nach</strong><br />

Mk 3,14 die Zwölf »macht«. Aber die grammatikalische Konstruktion ist so, dass die beiden<br />

nicht durch Jesus fremdbestimmt werden, sondern dass durch Jesu Ruf ein Prozess<br />

ausgelöst wird, in dem sie »werden«, was sie <strong>nach</strong> Jesu Wort sein sollen. Ihre persönliche<br />

Antwort ist gefragt.<br />

18 Die Reaktion der Gerufenen erfolgt prompt. <strong>Das</strong> »Sofort« spiegelt die Autorität<br />

Jesu. <strong>Das</strong> »Lassen« der Netze ist ein Liegenlassen, das symbolische Bedeutung hat (vgl.<br />

Mk 10,28).<br />

Allerdings haben die beiden <strong>nach</strong> <strong>Markus</strong> nicht alle Brücken hinter sich abgebrochen<br />

(vgl. Mk 1,29ff.). <strong>Das</strong> Verlassen konkretisiert eine Umkehr, die das bisherige Leben weder<br />

verachtet noch zerstört, aber radikal erneuert: Simon und Andreas haben einen neuen<br />

Lebensmittelpunkt, eine neue Berufung und eine neue Orientierung (vgl. Mk 10,28ff.).<br />

<strong>Das</strong> »Folgen« (ἀκολουθέω) ist terminus technicus der Jüngerschaft. Jesus wird als Meister<br />

anerkannt; er geht voran (vgl. Mk 10,1f. sowie 14,28; 16,7); die Jünger gehen hinter ihm<br />

her: auf dem von ihm gebahnten Weg. Sie schauen auf ihn, leben mit ihm und lernen von<br />

ihm. Sie werden erkennen, dass der Weg Jesu ans Kreuz führt – und davor zurückschrecken,<br />

aber zur Kreuzes<strong>nach</strong>folge angehalten (Mk 8,34).<br />

19 Die Berufung der Zebedäussöhne Jakobus und Johannes verläuft <strong>nach</strong> demselben<br />

Muster wie die Berufung des Simon und Andreas. Bei Jesus liegt wieder die Initiative: Er<br />

kommt und sieht, bevor er ruft (V. 20).<br />

Die Zebedaïden erhalten <strong>nach</strong> Mk 3,17 den Spitznamen »Donnersöhne«. Mit Simon Petrus<br />

zusammen gehören sie zu den Dreien, die Jesus dreimal an intime Orte mitnimmt<br />

(Mk 5,37; 9,2; 14,33; vgl. 13,3). Sie sind aber <strong>nach</strong> Mk 10,35ff. Ehrgeizlinge, die Privilegien<br />

der Nachfolge ausreizen wollen. Wie bei Simon und Andreas wird <strong>Markus</strong> Personaltraditionen<br />

aufgegriffen haben, die er so komponiert, dass die Umrisse von Biographien in der<br />

Nachfolge Jesu sichtbar werden.<br />

<strong>Das</strong> Flicken der Netze ist die Arbeit des Tages. Die Brüder leisten sie als Söhne des Zebedäus<br />

zusammen mit dessen Tagelöhnern (vgl. V. 20), stammen also aus einer Familie, die<br />

durchaus ein wenig Geld und Vermögen hatte. Wie bei der Berufung des ersten Bruderpaares<br />

wird die alltägliche Arbeit zum Kairos (Mk 1,15); Jesus geht zu den Menschen, wo


Die Berufung der ersten Jünger am See (Mk 1,16–20)<br />

47<br />

sie leben und arbeiten, um ihnen dort die Nähe des Gottesreiches zu erschließen. Er ruft<br />

diejenigen aus diesem Alltag heraus, die er für seine Mission braucht.<br />

20 <strong>Das</strong> »Sofort« steht diesmal beim Ruf Jesu. <strong>Markus</strong> schreibt kein zweites Berufungswort,<br />

aber er verwendet ein Verb (καλέω), das zum Schlüsselwort der Berufung geworden<br />

ist: So wie jemand beim Namen gerufen wird, so werden Johannes und Jakobus von Jesus<br />

zu Jüngern gemacht. Sie reagieren genauso entschieden wie Simon und Andreas: Sie<br />

lassen alles stehen und liegen, um Jesus zu folgen. Nur werden hier auch der Vater und<br />

die Boote mit den Tagelöhnern genannt. Die Erwähnung des Vaters spiegelt den Patriarchalismus<br />

der Zeit; das Verlassen ist auch eine Befreiung: von der Familie, die der Vater<br />

beherrschte, und vom Besitz, der eine Familiensache war.<br />

Mk 1,16–20 greift geschichtliche Erinnerungen auf. Die beiden Brüderpaare sind Fischer,<br />

die Jesus zu Menschenfischern berufen hat. Sie haben ihre Arbeit und ihre Familie verlassen,<br />

um Jesus zu folgen, auch wenn sie immer wieder in ihre Häuser zurückgekehrt sind.<br />

Nach Johannes ist allerdings Andreas der Erstberufene, zusammen mit einem ungenannten<br />

weiteren Jünger (Joh 1,35–40), während Simon erst durch seine Vermittlung zu Jesus<br />

kommt (Joh 1,41f.) und die Zebedaïden nur in Joh 21,2 erwähnt werden. Der Übergang<br />

vom Täufer zu Jesus ist historisch plausibel. Am ehesten erklärt sich Mk 1,16–20 deshalb<br />

als Erzählung des Evangelisten, der die Erinnerung, dass die Fischerbrüder Jünger geworden<br />

sind, in eine ideale Szene mit geschichtlicher Perspektive überführt.<br />

Die literarische Stilisierung lässt erkennen, das Mk 1,16–20 nicht das Psychogramm einer<br />

Berufung zeichnet, sondern die Eckpunkte – den Ruf und die Antwort – so nahe wie möglich<br />

aufeinander zu bewegt. Den Schlüssel zur Interpretation liefert die Stellung im Kontext.<br />

Die erste Aktion, die im Corpus des <strong>Evangelium</strong>s <strong>nach</strong> dem Programmwort Mk 1,15<br />

von Jesus erzählt wird, ist die Berufung in die Nachfolge. Bis zu seiner Verhaftung wird<br />

Jesus kaum je allein, sondern immer wieder mit seinen Jüngern zusammen sein. Jesus<br />

ist <strong>nach</strong> <strong>Markus</strong> der Messias aus dem Volk für das Volk und als solcher nicht einsam; die<br />

Jünger gewinnen durch ihn neue Familien und neu ihre Familien (Mk 3,31–35; 10,28ff.).<br />

Entscheidend ist die Aufgabe, zu der Jesus sie bestimmt hat: Sie sollen wie er Menschen<br />

für den Glauben an das <strong>Evangelium</strong> gewinnen. Letztlich ist es der Dienst Jesu am Heil der<br />

Israeliten wie der Heiden, der seinen Nachfolgeruf prägt. Die Nachfolge zielt nicht darauf,<br />

Jesus abzulösen, sondern ihn immer vorangehen zu lassen: durch die Welt in das Reich<br />

Gottes.


48 Jesu Wirken in und um Kapharnaum (Mk 1,16 – 4,34)<br />

Ein Sabbat in Kapharnaum (Mk 1,21–39)<br />

Nach der Eröffnung Mk 1,1–15, die auf die konzentrierte <strong>Evangelium</strong>spredigt in Mk 1,14f.<br />

zuläuft, und der Jüngerberufung Mk 1,16–20 schildert <strong>Markus</strong> einen starken Auftritt Jesu<br />

in seiner Hauptwirkungsstätte am See Genezareth. Die dichte Szenenfolge spielt in und<br />

um Kapharnaum, wo Simon mit seinem Bruder Andreas ein Haus hat. Gerade in die Jüngerschaft<br />

berufen (Mk 1,16–20), gewährten sie Jesus Gastfreundschaft. Die Ereignisse finden<br />

bei <strong>Markus</strong> im Wesentlichen innerhalb eines Tages statt. Mk 1,16–20 spielt an einem<br />

Werktag. Mk 1,21–39 hingegen am (darauffolgenden) Sabbat, wobei abends (ab 18 Uhr)<br />

wieder gearbeitet werden darf, so dass die Kranken Jesus vor die Tür gebracht werden<br />

können (Mk 1,32ff.). Am Sabbat hält Jesus sich <strong>nach</strong> Mk 1,21–34 dort auf, wo er <strong>nach</strong> jüdischer<br />

Sitte und theologischer Überzeugung sein muss: in der Synagoge und im Haus.<br />

Mk 1,35–39 führt wieder in die Morgenfrische eines neuen Tages und endet mit einem<br />

Aufbruchssignal Jesu: All dem, was sich in Kapharnaum ereignet hat, kommt paradigmatische<br />

Bedeutung zu; es soll auch anderenorts in Galiläa geschehen. <strong>Das</strong>s der erste Tag in<br />

Kapharnaum ein Sabbat ist, gibt ihm eine besondere Bedeutung. Ein Konflikt bricht noch<br />

nicht aus (anders als <strong>nach</strong> Mk 2,23–28; 3,1–6), weil beim Exorzismus von Mk 1,21–28<br />

Gefahr im Verzug ist und sich die Fieberheilung Mk 1,29ff. im Haus ereignet. Aber beide<br />

Aktionen Jesu stehen in Übereinstimmung mit seiner Sabbattheologie, die später (Mk<br />

2,23–28; 3,1–6) inkriminiert und erklärt werden wird.<br />

Die Räume, die sich am ersten Tag öffnen, sind mit der Synagoge und dem Haus kulturell<br />

vorgegeben; sie werden von Jesus auf seiner Sendung erreicht und in den Rahmen<br />

des Reiches Gottes gestellt. Wie in Mk 1,14 und Mk 1,16–20 ist er permanent in Bewegung.<br />

Mk 1,21–28 Jesus geht … lehrt … befiehlt.<br />

Mk 1,29ff. Jesus geht … weckt auf … berührt.<br />

Mk 1,32ff. Jesus heilt und treibt aus.<br />

Mk 1,35–38 Jesus steht auf … geht ... betet ... sagt.<br />

Mk 1,39 Jesus kommt … verkündet … treibt aus.<br />

Die Jünger sind mit Jesus zusammen. Wie in Mk 1,16–20 begründet, folgen sie ihm<br />

(Mk 1,35–39).<br />

<strong>Das</strong> theologische Leitmotiv des Sabbattages ist die Vollmacht (ἐξουσία) Jesu. Sie wird in<br />

Mk 1,21–28 positiv entwickelt, was sich in der Reaktion der Menge spiegelt (Mk 1,21f.27f.),<br />

während sie in Mk 2,1 – 3,6 von den Schriftgelehrten problematisiert werden wird (vgl.<br />

Mk 11,28–33). Sie hat sich im Nachfolgeruf ausgesprochen (Mk 1,16–20); sie wurzelt in der<br />

Gottessohnschaft (Mk 1,9ff.) und Gottesliebe Jesu (vgl. Mk 1,35); sie schafft Öffentlichkeit<br />

(Mk 1,37ff.). Mit seiner Vollmacht füllt Jesus den Rahmen aus, den der Sabbat bietet. Die<br />

»Vollmacht« Jesu ist seine Fähigkeit, Kranke zu heilen und Dämonen auszutreiben; sie<br />

ist auch seine Kompetenz, überzeugend zu lehren; sie ist darin jene Autorität, die ihm<br />

als Sohn Gottes eignet, der gesandt ist, das <strong>Evangelium</strong> zu verkünden (Mk 1,9ff.14f.); sie<br />

ist seine Freiheit, den »Weg des Herrn« zu gehen (Mk 1,3 – Jes 40,3), und sein Recht, das<br />

ihm bestritten, von ihm aber bewiesen wird: Gottes Nähe zu verkünden. Jesu Macht ist die<br />

rettende Kraft des kommenden Gottesreiches selbst. 47<br />

47 Vgl. K. Scholtissek, Vollmacht.


Lehre und Exorzismus in der Synagoge (Mk 1,21–28)<br />

49<br />

Die Szenenfolge ist von <strong>Markus</strong> gestaltet. 48 Er wird Lokaltraditionen aus Kapharnaum<br />

aufgegriffen haben, am ehesten aus dem Umkreis der Familien von Simon und Andreas,<br />

Johannes und Jakobus. Alle Traditionen sind durch Gattungsmuster geprägt, aber aufgearbeitet<br />

und zusammengefügt worden. <strong>Das</strong> Summarium (Mk 1,32ff.) ergibt nur im Kontext<br />

des <strong>Evangelium</strong>s Sinn. Auch die Notiz vom nächtlichen Gebet Jesu und vom Signal zum<br />

Aufbruch (Mk 1,35–39) greifen lebendige Erinnerungen an Jesus auf, sind aber literarisch<br />

durchformt. Der Tag in Kapharnaum wird als typischer Tag im Leben Jesu vorgestellt.<br />

Lehre und Exorzismus in der Synagoge (Mk 1,21–28) 49<br />

(21) Und sie kommen <strong>nach</strong> Kapharnaum hinein, und sofort ging er am Sabbat in die Synagoge<br />

und lehrte. (22) Und sie gerieten außer sich über seine Lehre; denn er lehrte sie wie<br />

einer, der Vollmacht hat und nicht wie ihre Schriftgelehrten. (23) Und sofort war in der<br />

Synagoge ein Mensch mit einem unreinen Geist und schrie: (24) »Was ist mit uns und<br />

dir, Jesus, Nazarener? Bist du gekommen, uns zu vernichten? Ich weiß, wer du bist: der<br />

Heilige Gottes.« (25) Und Jesus fuhr ihn an und sagte: »Schweig und fahr aus ihm aus!«<br />

(26) Da riss ihn der unreine Geist und, einen lauten Schrei ausstoßend, fuhr er aus ihm<br />

aus. (27) Da erschraken alle, so dass sie untereinander stritten und sagten: »Was ist das?<br />

Eine neue Lehre mit Vollmacht, und den unreinen Geistern gebietet er, und sie gehorchen<br />

ihm.« (28) Und sein Ruf drang sofort hinaus in das ganze Land von Galiläa.<br />

Die Szenenfolge am Sabbat in Kapharnaum beginnt mit einem spektakulären Exorzismus<br />

in der Synagoge. Mit diesem Auftakt führt <strong>Markus</strong> am (für damalige Augen) klarsten und<br />

massivsten Phänomen der Besessenheit die »Vollmacht« Jesu ein. Gleichzeitig wird erstens<br />

deutlich, dass Jesus den Satan in die Schranken weist (Mk 3,22–30), weil er den Raum und<br />

die Zeit für das Reich Gottes öffnet, und zweitens, dass Jesus die Synagoge für den Gottesdienst<br />

bereiten und nicht fremden Mächten überlassen will.<br />

Mk 1,21–28 ist eine im Kern (Mk 1,23–26) typische Exorzismusgeschichte 50 mit einigen<br />

ungewöhnlichen Zügen im Rahmen, der das Lehren betont.<br />

48 Mit einer vormarkinischen Tradition rechnen indes viele; vgl. R. Pesch, Mk I, 116f.; J. Marcus (Mk I,<br />

178) erklärt sogar eine Perikopenumstellung für wahrscheinlich: Der Evangelist habe Mk 1,16–20 an<br />

den Anfang der Textsequenz gestellt.<br />

49 Chr. Strecker, Mächtig in Wort und Tat (Exorzismus in Kapharnaum) Mk 1,21–28, in: R. Zimmermann<br />

u. a. (Hg.), Wundererzählungen I, 205–213 (der für einen christologischen Deutungsansatz plädiert);<br />

Chr. Rose, Erzählung, 163–178 (der die Einheit von Lehre und Handeln <strong>nach</strong>zeichnet); P.-G. Klumbies,<br />

Mythos, 216–222 (demzufolge die Person Jesu hinter seiner Tat zurücktritt); V. Burz-Tropper, Didaskalos,<br />

137–151 (mit Interesse an den historischen Bezügen); P. Müller, Wer ist dieser?, 21–36 (der die<br />

Adressierung an die Leserschaft betont); K. Scholttissek, Vollmacht, 81–137 (der die Souveränität Jesu<br />

unterstreicht); J. Delorme, Prises de parole et parler vrai dans un récit de Marc (1,21–28), in: P. Bovati<br />

(Hg.), Ouvrir les Écritures. FS P. Beauchamp (LecDiv 162), Paris 1995, 179–199 (der auf die Macht des<br />

Wortes Jesu abhebt).<br />

50 Zum Gattungsschema vgl. G. Theißen, Wundergeschichten, 57–90.


50 Jesu Wirken in und um Kapharnaum (Mk 1,16 – 4,34)<br />

Mk 1,21f.<br />

Mk 1,23–26<br />

Mk 1,27f.<br />

Einleitung: Jesus als Lehrer in der Synagoge<br />

Hauptteil: Der Exorzismus<br />

23f. Die Konfrontation des Geistes mit Jesus<br />

25f. Die Austreibung des Geistes<br />

Ausleitung: <strong>Das</strong> Staunen über die Lehre Jesu<br />

Weitere markinische Exorzismuserzählungen sind Mk 5,1–20 parr. und Mk 9,14–29 parr.<br />

sowie Mk 7,24–30 par. Ein Beispiel aus der Redenquelle ist Mt 9,32ff. par. Lk 11,14f., ein<br />

Beispiel aus der Apostelgeschichte eine Austreibung in Philippi (Apg 16,16ff.). Die Umwelt<br />

kennt spektakuläre Exorzismen durch einige wenige Stars der religiösen Szene, die übermenschliche<br />

Kräfte besitzen. Meistens wird anschaulich erzählt, welche Widerstände gebrochen<br />

werden müssen, welchen Aufwand der Exorzist treiben muss und welches Mittel<br />

den Sieg gebracht hat. Unter den markinischen Beispielen ist Mk 1,23–26, der erste Beleg,<br />

der konventionellste. Der unreine Geist (vgl. Mk 3,11; 5,2.8.13; 6,7; 7,25; 9,25 sowie 3,30)<br />

leistet Widerstand, aber erfolglos. Jesus treibt den Geist aus.<br />

<strong>Markus</strong> verbindet den Exorzismus mit der Lehre Jesu (Mk 1,21f.27). Wort und Tat bilden<br />

eine Einheit. Wie befreiend die Lehre Jesu ist, zeigt sein Exorzismus. Wie sehr die Austreibung<br />

der Wahrheit die Ehre gibt, zeigt seine Lehre. Jesus besitzt die Macht Gottes; der<br />

Satan hat ausgespielt (vgl. Mk 3,22–30); Jesus schafft Freiraum zum Leben, weil er das<br />

Böse vertreibt und die Tür zum Gottesreich öffnet.<br />

Der Exorzismus im Kern der Erzählung wird eine vormarkinische Tradition sein, die <strong>Markus</strong><br />

so redigiert hat, dass sie in sein <strong>Evangelium</strong> passt. Insbesondere wird er den Rahmen<br />

bearbeitet haben, um dort die vollmächtige Lehre zu betonen. 51<br />

21 Der Weg, den Jesus mit seinen ersten Jüngern nimmt, führt sie vom See, wo sie berufen<br />

worden sind (Mk 1,16–20), das kurze Stück in die Stadt, wo sie zuhause sind. Kapharnaum<br />

52 ist <strong>nach</strong> Josephus ein Dorf (Vit 403) – von vielleicht 1000 Einwohnern. 53 <strong>Das</strong><br />

»Sofort« bezieht sich auf den Sabbat: Jesus zögert nicht, den siebten Tag so zu feiern, wie<br />

es dem Gesetz entspricht.<br />

Die Synagoge ist bei <strong>Markus</strong> ein erstrangiger Ort jüdischer Identität; 54 Jesus nutzt ihn als<br />

Kanzelstätte (Mk 1,39) und Lehrhaus (Mk 6,2). Er wird ihn mit dem Tempel verbinden, dem<br />

»Haus des Gebetes für alle Völker« (Mk 11,17 – Jes 56,7), wie Synagoge und Tempel auch im<br />

Judentum der Zeit eine theologische Einheit bilden. <strong>Markus</strong> schildert keinen Wortgottes-<br />

51 K. Kertelge (Wunder, 50f.) schreibt V. 21a.22 dem Evangelisten zu, den Rest der Überlieferung.<br />

52 Vgl. M. Fischer, Kapharnaum – eine Retrospektive, in: JAC 44 (2001), 142–167.<br />

53 Zur Archäologie vgl. S. Loffreda – V. Tsaferis, Art. Capernaum, in: NEAEHL 1 (1993), 291–296.<br />

54 Vgl. A. Runesson; D. B. Binder; B. Olsson, The Ancient Synagogue from its Origins to 200 C.E., Leiden<br />

2008.


Lehre und Exorzismus in der Synagoge (Mk 1,21–28)<br />

51<br />

dienst wie Lukas (Lk 4,16–28); die Synagogenliturgie ist aber unausgesprochen der »Sitz<br />

im Leben« der Lehre Jesu.<br />

Jesus begibt sich am Sabbat in die Synagoge, um zu lehren. <strong>Das</strong> Lehren ist ein wesentlicher<br />

Teil seiner Verkündigung (Mk 1,21f.27; 2,13; 4,1f.; 6,2.6.34; 8,31; 9,31; 10,1; 11,17f.;<br />

12,35.38; 14,49; vgl. Mk 12,14), aber auch – in seiner Nachfolge – der seiner Jünger<br />

(Mk 6,30); nur Jesus wird als »Lehrer« (Mk 4,38; 5,34; 9,17.38; 10,17.20.35; 12,14.19.32;<br />

13,1; vgl. 14,14) und »Rabbi« (Mk 9,5) angesprochen, weil alle anderen Lehrer seine Schüler<br />

sind und bleiben.<br />

Die Bedeutung des Lehrens liegt im Bezug des <strong>Evangelium</strong>s zur Wahrheit und im Interesse<br />

Jesu, sie entdecken zu lassen. <strong>Das</strong> <strong>Evangelium</strong> hat eine innere Logik; es hat ein<br />

essentielles Verhältnis zur Realität; es hat das Ethos der Nächstenliebe, die aus der Gottesliebe<br />

erhellt (Mk 12,28–34); es hat einen entscheidenden Bezug zu Gott: seinem Willen<br />

(Mk 3,35), seinem Gebot (Mk 7,8f.), seinem Wort (Mk 7,19), seinem Weg (Mk 12,14), seinem<br />

Reich (Mk 1,15). Die »Lehre« expliziert und begründet diese Zusammenhänge: Sie ist<br />

Exegese der Heiligen Schrift (Mk 12,35; vgl. Mk 12,19.32), sie entziffert im Buch der Natur<br />

und im Buch der Kultur die Spuren Gottes (Mk 4,1f.); sie antwortet auf die Frage <strong>nach</strong><br />

dem Sinn des Lebens (Mk 10,17.20); sie prognostiziert aufgrund prophetischer Diagnostik<br />

die Zukunft (Mk 13,1f.). Die Lehre bringt das <strong>Evangelium</strong> auf den Begriff, setzt es ins Bild<br />

und entwickelt es als Geschichte; als Lehre wird das <strong>Evangelium</strong> so erschlossen, dass es<br />

einleuchten und in Freiheit angenommen, aber auch weitergegeben werden kann – von<br />

Schülern, die zu Lehrern werden.<br />

22 Die Reaktion der Zuhörerschaft ist weder Glaube, wie Jesus ihn einfordert (Mk 1,15),<br />

noch Unglaube, auf den er in Nazareth stoßen wird (Mk 6,1–6a), sondern ein enormes<br />

Erstaunen, das auf ein unerhörtes Geschehen reagiert, ohne es bereits einordnen zu können<br />

(vgl. Mk 11,18). Es wird klar, dass man ganz neu denken muss, aber noch nicht, ob<br />

man es tatsächlich zu tun beginnt. Bei <strong>Markus</strong> sind die Menschen aus dem Volk meistens<br />

neugierig und offen, ohne gleich gläubig zu sein. <strong>Das</strong> Staunen bezieht sich (hier nicht auf<br />

ein »Wunder«, sondern) auf die Lehre Jesu, ohne dass sie inhaltlich ausgeführt würde. Im<br />

Begründungssatz wird die »Vollmacht« Jesu genannt. Sie verweist auf die Methode, die<br />

Quelle, den Inhalt, das Ziel und die Wirkung der Lehre Jesu, die nur von Gott her zu verstehen<br />

ist. Erhellend ist der Vergleich mit den Schriftgelehrten (s. bei Mk 2,6). Sie werden<br />

hier nicht kritisiert, sondern kontrastiert. Wenn Jesus »nicht wie ihre Schriftgelehrten«<br />

lehrt, dann nicht, weil er gegen das Gesetz oder gar gegen die »Schrift« agierte. Vielmehr<br />

ist die Quelle seiner Lehre seine Einsicht in das »Geheimnis des Gottesreiches« (Mk 4,11),<br />

die ihm als Sohn seines himmlischen Vaters eignet. <strong>Das</strong> Volk hat für die qualitative Differenz<br />

ein Gespür.<br />

23 Der Exorzismus, der das Zentrum der Geschichte prägt, ist wie die Lehre Ausdruck<br />

der messianischen Macht Jesu. <strong>Das</strong> erneute »Sofort« signalisiert die Härte der Konfrontation.<br />

Jesus tritt ein Besessener entgegen. Sein Schreien entlarvt ihn. Nach Vers 23 ist der<br />

»Mensch« der Schreier; <strong>nach</strong> V. 25 ist es aber der »Geist«, der verstummen soll: Es schreit<br />

aus dem Mann heraus; er kann nicht anders, sein Leben ist ein Schrei (vgl. Mk 5,5). Aber


52 Jesu Wirken in und um Kapharnaum (Mk 1,16 – 4,34)<br />

er ist im Moment des Schreiens nicht er selbst; deshalb kann er nicht bitten noch beten,<br />

sondern nur brüllen.<br />

<strong>Das</strong>s der Mensch von einem »unreinen Geist« beherrscht wird, ist eine typische Ausdrucksweise<br />

des <strong>Markus</strong>evangeliums (vgl. Mk 1,26f.; 3,11.30; 5,2.8.13; 6,7; 7,25; 9,25). 55 Es<br />

spricht auch von »Dämonen« (Mk 1,32.34.39; 3,15.22; 6,13; 7,26.29f.; 9,38; vgl. 5,15.16.18).<br />

»Geist« steht hier für eine überirdische, immaterielle Macht, die mit Satan im Bunde ist<br />

(Mk 3,22–27) und sich einen Menschen sucht, um ihm massiv zu schaden. »Unrein« (vgl.<br />

bei Mk 7,1–23) heißt: zur Krankheit und zum Tod gehörig, zur Gottferne. Dämonen werden<br />

»unreine Geister« genannt, weil sie Unreinheit verbreiten, also Todeszonen der Entfremdung<br />

von Gott schaffen. Sie sind aggressiv. Bei <strong>Markus</strong> sind sie – wie im gesamten<br />

Neuen Testament – nicht für Sünden verantwortlich, aber für Besessenheit: dramatische<br />

Krankheiten, die nur durch die Vertreibung der Geister kuriert werden können.<br />

»Unrein« ist der Gegensatz zu »heilig«. Unreinheit gehört nicht in die Synagoge und passt<br />

nicht zum Sabbat. Jesus reinigt durch den Exorzismus den Sabbat und die Synagoge, indem<br />

er die bösen Geister verjagt und den besessenen Menschen befreit.<br />

24 Der »unreine Geist« will ein Abwehrmanöver starten. Solche Versuche sind stereotyp<br />

(Ri 11,12; 2Sam 16,10; 1Kön 17,18; 2Kön 9,18; vgl. Luc, Philops 31). Sie gehören zum<br />

Kampf ums <strong>Das</strong>ein, dem die Dämonen sich verschreiben müssen, weil sie eine Schreckensherrschaft<br />

ausüben. Es ist ein Überlebenskampf, den sie in der Umwelt des Neuen<br />

Testaments meistens gewinnen, aber im Neuen Testament immer verlieren, wenn Jesus<br />

die Szene betritt. Die Defensivaktion ist ein Beschwörungsversuch. Sie steht in der 1. Person<br />

Plural, weil der unreine Geist keine personale Identität hat, sondern eine multiple<br />

Persönlichkeitsstörung. Die dämonische Intervention hat zwei Teile. Zuerst steht eine rhetorische<br />

Frage. Sie ist eine Floskel (vgl. Ri 11,12; 1Kön 17,18; 2Chron 35,21), die Jesus auf<br />

Distanz halten soll. Schon diesem Versuch geht eine instinktiv richtige Analyse voraus:<br />

weil Jesus tatsächlich nichts Teuflisches an sich hat und weil dem Geist der Garaus gemacht<br />

werden wird, wenn Jesus ihm Aufmerksamkeit schenkt. Was der Dämon anbietet,<br />

ist eine schiedlich-friedliche Trennung, die vorgibt, Jesus unbeschadet zu lassen, aber den<br />

besessenen Menschen im Griff behalten würde. <strong>Das</strong>s der Name »Jesus« und seine Herkunft,<br />

»Nazarener«, genannt werden, soll dem Manöver Nachdruck verleihen, weil es ein<br />

Machtfaktor ist, den Namen und die Herkunft eines Konkurrenten zu kennen. Der zweite<br />

Teil der dämonischen Intervention beginnt gleichfalls mit einer rhetorischen Frage und<br />

soll Jesus ebenfalls ausmanövrieren. Der »Geist« weiß von vornherein, was Jesus im Sinn<br />

hat: ihn zu vertreiben. Im Text steht ein Verb (ἀπολέσαι), das auch bei einer Tötung verwendet<br />

wird (vgl. Mk 9,22; 11,18; 12,9). Diesem Schicksal will der Geist entgehen, indem<br />

er Jesus nicht nur beim Namen nennt, sondern auch in seinem Wesen erfasst. Er verfügt<br />

über höheres Wissen (vgl. Mk 3,11; 5,7 sowie 11Q 11,28f.). »Du bist der Heilige Gottes« ist<br />

sachlich richtig (vgl. Joh 6,69 sowie Apg 3,14; 4,27.30; 1Joh 2,20; Offb 3,7). Der bestimmte<br />

Artikel, der genitivus possessivus (Jesus gehört Gott) und das Attribut »heilig« passen zum<br />

55 Die Vorstellung ist jüdisch; vgl. TestBenj 5,2 sowie die rabbinischen Quellen nHag 3b; bSota 3a, ferner<br />

1QM 13,5.


Lehre und Exorzismus in der Synagoge (Mk 1,21–28)<br />

53<br />

Messias, der von Gott kommt und zu Gott führt, indem er Gottes Reich verkündet und verwirklicht;<br />

die Herabkunft des Heiligen Geistes <strong>nach</strong> der Taufe steht im Hintergrund (Mk<br />

1,10); es ergeben sich Verbindungen zum Nasiräer Simson (Ri 16,17 B), zum Priester Aaron<br />

(Ps 106,16; vgl. TestLevi 18,12) sowie zum Menschensohn (äthHen 55,4). Aber im Munde<br />

des unreinen Geistes ist das Bekenntnis ein Lügengebilde (vgl. Jak 2,19): Es kommt nicht<br />

von Herzen; es ist nur ein Lippenbekenntnis und will Jesus nicht ehren, sondern beherrschen.<br />

Durch das dämonische Bekenntnis soll Jesus vom Exorzismus abgehalten werden.<br />

Wäre er der Heilige im traditionellen Sinn des Wortes, könnte die Taktik aufgehen, weil<br />

der Heilige das Unreine flieht; aber Jesus versteht Heiligkeit nicht als Unantastbarkeit,<br />

sondern als Hingabe. Deshalb spricht sich der »unreine Geist« selbst das Gericht. Er wird<br />

die Vitalität der Heiligkeit Jesu spüren. Sie stammt aus der Dynamik der Gottesherrschaft.<br />

Sie breitet sich aus – und deshalb ist es mit dem Geist aus.<br />

25 Jesus macht mit dem »unreinen Geist« kurzen Prozess. Im Gegensatz zu anderen<br />

Exorzisten der Zeit braucht er weder magische Kampftechniken noch rituelle Austreibungsformeln,<br />

die passgenau auf die Dämonenart zugeschnitten werden müssen; 56 es<br />

reicht sein einfaches Wort. In dieser Reduktion zeigt sich die narrative Christologie des<br />

<strong>Markus</strong>. Jesus lässt sich auf keine Diskussion über Hoheitstitel ein, sondern weist den<br />

Dämon schlichtweg ab. Er spricht gebieterisch, wie er in Caesarea Philippi <strong>nach</strong> dem Messiasbekenntnis<br />

seinen Jüngern zu schweigen befiehlt (Mk 8,30), er fährt – oder herrscht –<br />

den »Geist« an (vgl. Mk 9,25), wie er Wind und Wellen kommandieren (Mk 4,39) und<br />

wie er Petrus angehen wird, als der ihm den Weg ins Leiden verlegen will (Mk 8,30). Er<br />

beschränkt sich auf zwei kurze Imperative: <strong>Das</strong> Schweigegebot schneidet dem Dämon das<br />

Wort ab – weil sein Bekenntnis nichts wert ist und seine Abwehrstrategie durchkreuzt<br />

wird. 57 Der Ausfahrbefehl ist der Exorzismus: Der Mensch soll vom unreinen Geist befreit<br />

werden. Die Richtung des Befehls ist entscheidend: Der Exorzismus ist eine Befreiung.<br />

26 Der Geist hat keine Chance; er muss weichen. <strong>Das</strong>s es den Besessenen fast zerreißt,<br />

zeigt noch einmal die Gefährlichkeit des Dämons. Aber der Schrei ist Ausdruck der Wut über<br />

seine Niederlage. Wohin der Dämon fährt, ist im Blickwinkel der Geschichte uninteressant.<br />

Nur dass er »ausfährt«, wie Jesus es ihm befohlen hat, ist wichtig: Der Besessene ist ihn los.<br />

Dämonie ist ein schwer zu erklärendes und leicht zu missbrauchendes Phänomen, das<br />

zur Erfahrungswelt der Menschen in neutestamentlicher Zeit gehört. Die Krankheitsbilder,<br />

die von <strong>Markus</strong> gezeichnet werden, 58 lassen <strong>nach</strong> heutigen Maßstäben an Hysterie<br />

(Mk 1,23–26), Schizophrenie (Mk 5,1–20) und Epilepsie (Mk 9,14–29) denken, in der Antike<br />

aber an die Macht des Bösen über das Leben von Menschen. Dämonen zeigen die<br />

Unerklärlichkeit des Bösen, die Sinnlosigkeit des Leidens, die Unfreiheit der Gequälten,<br />

denen nur Gott zu helfen vermag.<br />

56 Besonders erfolgreiche werden aufgeschrieben und als professionelles Wissen gehütet; vgl. PGM II<br />

243; IV 170–173.1239ff.1243–1248.3009–3055.<br />

57 Mit dem »Messiasgeheimnis« hat das Austreibungswort nichts zu tun; anders W. Wrede, <strong>Das</strong> Messiasgeheimnis,<br />

23–31.<br />

58 Vgl. R. v. Bendemann, Christus Medicus. Die Krankheiten in den neutestamentlichen Heilungserzählungen<br />

(BThSt 52), Neukirchen-Vluyn 2009.


Zweiter Hauptteil:<br />

Jesu Wirken in Galiläa und darüber hinaus (Mk 4,35 – 8,26)<br />

Nachdem <strong>Markus</strong> in einer ersten Serie von Episoden gezeigt hat, wie Jesus in Kapharnaum<br />

und von Kapharnaum aus die Nähe der Gottesherrschaft verkündet hat (Mk 1,16 – 4,34),<br />

erzählt er in einer zweiten Sequenz, wie Jesus in ganz Galiläa, aber auch über Galiläa hinaus<br />

gewirkt hat (Mk 4,31 – 8,26). Mit Mk 8,27 wird in Caesarea Philippi ein Außenposten<br />

seiner Missionswanderschaft markiert, von dem aus sich der Weg <strong>nach</strong> Jerusalem wenden<br />

wird (vgl. Mk 10,1). Hier beginnt der dritte Hauptteil. Die gezielte Ausweitung des galiläischen<br />

Wirkens Jesu, die der Evangelist in Mk 4,35 – 8,26 beschreibt, ist im ersten Hauptteil<br />

vorbereitet, weil Jesus Kapharnaum als Stützpunkt für die Mission an anderen Orten<br />

wählt (Mk 1,35–39; vgl. 1,40–45) und die Menschen von überall her zu Jesus strömen<br />

(Mk 3,7–12). Aber gegenüber Mk 1,16 – 4,34 weitet Jesus seinen Aktionsradius aus. Er umfasst<br />

nicht nur beide Ufer des Sees, sondern erreicht die Dekapolis (Mk 5,1–20; 7,31–37)<br />

und das nördlich gelegene Tyros und Sidon (Mk 7,24.27.31; vgl. 3,8).<br />

Die erste Überfahrt, mit der Stillung des Seesturmes verbunden (Mk 4,35–41), erschließt<br />

das Land der Gerasener (Mk 5,1–20), das zur Dekapolis gehört (Mk 5,20). Die Rückfahrt<br />

mit dem Boot (Mk 5,21) führt wieder auf den Schauplatz Galiläa, wo die Schwerpunkte<br />

des Wirkens Jesu (<strong>nach</strong> wie vor) liegen. Sowohl die Heilung der blutflüssigen Frau und die<br />

Auferweckung der Tochter des Jaïrus (Mk 5,21–41) spielen hier. Da<strong>nach</strong> stößt Jesus weiter<br />

als bislang in Galiläa vor. Er trifft in Nazareth, seiner Heimatstadt, auf Unglauben (Mk<br />

6,1–6a), lässt sich aber nicht von seiner Sendung abbringen, sondern sendet die Zwölf aus<br />

(Mk 6,6b–13). Die erzählte Zeit nutzt der Evangelist, um Herodes, den galiläischen Landesherrn,<br />

zweifach in Szene zu setzen, einmal als falschen Bewunderer Jesu (Mk 6,14ff.),<br />

einmal als getriebenen Mörder des Täufers Johannes (Mk 6,17–29). Da<strong>nach</strong> wird der Erzählfaden<br />

mit der Rückkehr der Jünger (Mk 6,30ff.) und der Speisung der Fünftausend<br />

wieder aufgenommen (Mk 6,33–44); sie spielt an einem »einsamen Ort« (Mk 6,31f.) in<br />

Galiläa (vgl. Mk 6,33), zu dem Jesus und die Jünger wieder per Boot gelangen (Mk 6,32).<br />

Im Anschluss an die erste Volksspeisung wird die Landkarte des <strong>Evangelium</strong>s etwas bunter.<br />

Jesus schickt die Jünger per Boot voraus <strong>nach</strong> Bethsaïda, das für <strong>Markus</strong> am »anderen<br />

Ufer« – im Norden – zu liegen scheint (Mk 6,45). Dort kommen sie aber nie an; vielmehr<br />

steuern sie <strong>nach</strong> dem Seewandel (Mk 6,45–52) Genezareth an (Mk 6,53), am Westufer<br />

des Sees, von wo aus Jesus wieder durch die Siedlungen in Galiläa zieht (Mk 6,54). Nach<br />

einem Streitgespräch über Reinheit und Unreinheit (Mk 7,1–23) mit Pharisäern, die »aus<br />

Jerusalem« (<strong>nach</strong> Galiläa) gekommen sind (Mk 7,1), schlägt Jesus einen großen Bogen im<br />

Norden über Tyros und Sidon (Mk 7,24) weiter <strong>nach</strong> Osten in die Dekapolis (Mk 7,31–37).<br />

Dort findet die Speisung der Viertausend statt (Mk 8,1–10). Die Rückfahrt – wieder per<br />

Boot – bringt Jesus und die Jünger <strong>nach</strong> Dalmanutha (Mk 8,10), was für <strong>Markus</strong> in Galiläa<br />

liegt. Jesu Tätigkeit dort endet mit der Zurückweisung der Zeichenforderung durch<br />

die Pharisäer (Mk 8,11ff.), einer kritischen Belehrung seiner Jünger (Mk 8,14–21) und<br />

der Heilung eines Blinden bei Bethsaïda (Mk 8,22–26). Die weitere Wegstation Caesarea


142 Jesu Wirken in Galiläa und darüber hinaus (Mk 4,35 – 8,26)<br />

Philippi (Mk 8,27) schließt im Norden gut an, eröffnet aber schon den nächsten Hauptteil<br />

des <strong>Evangelium</strong>s.<br />

Machttaten jenseits und diesseits des Sees (Mk 4,35 – 5,43) 211<br />

Mit der ersten Überfahrt, die durch die Sturmstillung ein glückliches Ende nimmt<br />

(Mk 4,35–41), erweitert der Evangelist den Radius des Wirkens Jesu. Zuvor hatte er auf<br />

dem Boot in Ufernähe gewirkt (Mk 3,9; 4,1f.); jetzt benutzt er es – wie später oft (vgl. Mk<br />

5,21; 6,45.53f.; 8,10) – als Transportmittel, um mit der Verkündigung des <strong>Evangelium</strong>s voranzukommen.<br />

Durch die Überfahrt entsteht ein Diptychon von Wundergeschichten: Am<br />

Ostufer spielt ein Exorzismus (Mk 5,1–20), am Westufer eine Krankenheilung (Mk 5,25–<br />

34), die von einer Totenerweckung gerahmt wird (Mk 5,21–24.35–43). Eine solche Ballung<br />

von Machttaten hatte es bis dahin im <strong>Markus</strong>evangelium nicht gegeben. Die Macht Jesu<br />

zeigt sich gegenüber den Elementen (Mk 4,35–41), gegenüber einer scheinbaren Übermacht<br />

von Dämonen (Mk 5,1–20), gegenüber einer Heerschar von Ärzten (Mk 5,25–34)<br />

und sogar gegenüber dem Tod (Mk 5,21ff.35–43). Sie zeigt sich auf dem Land wie auf dem<br />

Wasser, im galiläischen Gebiet der Juden wie im heidnischen der Gerasener. Im ersten<br />

Hauptteil hat <strong>Markus</strong> gezeigt, dass diese Dimensionen des vollmächtigen Wirkens Jesu<br />

in der Sendung des Gottessohnes angelegt sind (Mk 1,21–28); jetzt werden sie ausgefüllt.<br />

Die Stillung des Seesturmes (Mk 4,35–41) 212<br />

(35) Und er sagt zu ihnen an jenem Tag, als es Abend geworden war: »Lasst uns hinüberfahren<br />

ans andere Ufer.« (36) Und sie ließen die Menge zurück und nahmen ihn mit, wie<br />

er im Boot war, und andere Boote waren bei ihnen. (37) Da kam ein starker Sturm auf, und<br />

die Wellen schlugen ins Boot, so dass es schon volllief. (38) Er selbst schlief im Heck auf<br />

einem Kissen. Da weckten sie ihn und sagten: »Lehrer, kümmert dich nicht, dass wir untergehen?«<br />

(39) Da stand er auf, bedrohte den Sturm und sagte zum Meer: »Schweig und<br />

verstumme!« Da legte sich der Wind, und es herrschte große Stille. (40) Da sagte er ihnen:<br />

211 Vgl. A. Lindemann, Die Erzählung der Machttaten Jesu in <strong>Markus</strong> 4,35 – 6,6a. Erwägungen zum formgeschichtlichen<br />

und hermeneutischen Problem, in: C. Breytenbach; H. Paulsen (Hg.), Anfänge der<br />

Christologie. FS F. Hahn, Göttingen 1991, 185–207 (der die Erzählungen als christologische Zeugnisse<br />

deutet).<br />

212 H.-G. Gradl, Glaube in Seenot (Die Stillung des Sturms) Mk 4,35–41, in: R. Zimmermann u. a. (Hg.),<br />

Wundererzählungen I, 257–265 (der die literarischen Aspekte und die religionsgeschichtlichen Parallelen<br />

sorgfältig abwägt und mit der Christologie der Erzählung vermittelt); D. S. du Toit, Herr, 88–96<br />

(der sich auf die Reaktion der Jünger auf den schlafenden Jesus konzentriert); P. Müller, Wer ist dieser?,<br />

33–56 (der die Rettung als Initialzündung für einen schwierigen Auseinandersetzungsprozess<br />

deutet); Th. <strong>Söding</strong>, Glaube, 442–446 (mit Blick für das Glaubensverständnis); L. Schenke, Wundererzählungen,<br />

59–71 (der sich auf die Textgenese konzentriert); K. Kertelge, Wunder, 91–100 (der durch<br />

Literarkritik das markinische Interesse am Jüngerglauben profiliert).


Die Stillung des Seesturmes (Mk 4,35–41)<br />

143<br />

»Was seid ihr ängstlich? Habt ihr noch 213 keinen Glauben?« (41) Und sie fürchteten sich<br />

sehr und sagten zueinander: »Wer ist er, dass ihm der Wind und die Wellen gehorchen?«<br />

Die Erzählung knüpft an die Lehre Jesu in Gleichnissen an (Mk 4,1–34). Mit dem Boot, in<br />

dem Jesus gelehrt hat (Mk 4,36; vgl. 4,1f.), können die Jünger zur Überfahrt starten, <strong>nach</strong>dem<br />

Jesus seinen Wunsch geäußert hat, der den Jüngern Befehl ist (Mk 4,35). Durch die Bootstour<br />

erschließt sich Jesus ein neues Wirkungsfeld: das Land der Gerasener, das von Dämonen<br />

erfüllt ist und durch Schweine als heidnisch ausgewiesen wird (Mk 5,1–20). Die Stillung des<br />

Sturmes ermöglicht eine glückliche Überfahrt »ans jenseitige Ufer« (Mk 4,35). Sie zeigt die<br />

Macht dessen, auf den die Jünger sich noch keinen rechten Reim machen können. Der Ansturm<br />

der Wellen vermittelt einen ersten Eindruck von den Widerständen, die Jesus und die<br />

Seinen auf der großen Fahrt des <strong>Evangelium</strong>s überwinden müssen – und können. 214<br />

Der Aufbau der Geschichte ist schlicht:<br />

Mk 4,35f.<br />

Mk 4,37ff.<br />

Mk 4,40f.<br />

Der Plan<br />

35 Die Aufforderung Jesu<br />

36 Die Umsetzung durch seine Jünger<br />

<strong>Das</strong> Problem und seine Lösung<br />

37 Der Sturm<br />

38a Der Schlaf Jesu<br />

38b Die Frage der Jünger<br />

39ab Die Reaktion Jesu<br />

39c <strong>Das</strong> Ende des Sturms<br />

Die Besprechung<br />

40 Die kritische Rückfrage Jesu<br />

41 Die staunende Glaubensfrage der Jünger<br />

In allen drei Teilen kommt es zu einer Interaktion zwischen Jesus und seinen Jüngern. Am<br />

Anfang (V. 35) und am Ende (V. 40) geht die Initiative von Jesus aus; die Jünger reagieren,<br />

zuerst gehorsam (V. 36), zum Schluss ungläubig staunend (V. 41). Durch die Rückfrage Jesu<br />

(Mk 4,40) wird die gesamte Erzählung zu einer Glaubensgeschichte. Im Mittelteil steht<br />

das spektakuläre Agieren Jesu. <strong>Das</strong>s er schläft, scheint für die Jünger Lebensgefahr heraufzubeschwören,<br />

ist aber nur die Kehrseite seiner Souveränität, in der er dem Stürmen<br />

Einhalt gebietet. Die Pointe wird durch den Rahmen geliefert: Die Macht Jesu über Wind<br />

und Wellen ermöglicht es, das neue Ufer zu erreichen, und fordert die Jünger heraus, sich<br />

die Glaubensfrage zu stellen, um sie im Sinne Jesu zu beantworten.<br />

213 Die Handschriften gehen hier auseinander. Die weichere, aber durch den Sinaiticus und Vaticanus<br />

sowie (dem Augenschein <strong>nach</strong>) durch P 45 und den (früher so genannten) »westlichen« Text (D) besser<br />

bezeugte Lesart ist οὔπω; sie ist deshalb vorzuziehen. Die »härtere« Lesart hat οὔκ, ist aber – immerhin<br />

durch den Alexandrinus sowie den Claramontanus und den byzantinischen Text, doch – ein<br />

wenig schlechter bezeugt.<br />

214 Es gibt einen Bezug zur Jonageschichte, der aber nicht typologisch entwickelt wird, sondern die<br />

Macht der Elemente zeigt, die sich einem Propheten auf seiner Sendung entgegenstellen können.


144 Jesu Wirken in Galiläa und darüber hinaus (Mk 4,35 – 8,26)<br />

Der Kern der Geschichte (Mk 4,37ff.) ist kompakt und sicher vormarkinisch. Die Einleitung<br />

in den Versen 35 und 36 ist auf den Kontext bezogen, so dass die Hand des Evangelisten<br />

zu erkennen ist, auch wenn die Erzählung immer eine Einleitung gehabt haben muss.<br />

Diskutiert wird, ob V. 40 auf den Evangelisten zurückgeht, 215 weil V. 41, ohne die Rückfrage<br />

Jesu, ein stilechter Chorschluss wäre und das Motiv des Jüngerunverständnisses zu den<br />

markinischen Leitlinien gehört. Dann würde die Wundergeschichte in die Theologie des<br />

Evangelisten eingepasst worden sein; anderenfalls wäre die Erzählung eine der Inspirationsquellen<br />

für sein Konzept. 216<br />

35 Der Abend ist der desjenigen Tages, den Jesus <strong>nach</strong> Mk 4,1–34 der Gleichnisverkündigung<br />

gewidmet hat. Die Initiative zum Aufbruch geht von Jesus aus, wie immer (vgl.<br />

Mk 1,35–39). Er will aber nicht allein das andere Ufer erreichen, sondern zusammen mit<br />

seinen Jüngern. <strong>Das</strong> Schulungsprogramm, das mit der Berufung begonnen hat (Mk 1,16–<br />

20), läuft weiter. <strong>Das</strong> – von Kapharnaum aus betrachtet – jenseitige Ufer ist das Land der<br />

Gerasener (Mk 5,1–20) in der Dekapolis, die Missionsgebiet wird (vgl. Mk 7,31–37). Die<br />

Sturmstillung spiegelt wider, welche Widerstände überwunden werden müssen, damit<br />

dieses Projekt gelingen kann.<br />

36 Die Jünger befolgen, was er sagt: Nachfolge pur. Zwei Handlungen entsprechen<br />

einander und dem Wunsch Jesu: Zum einen schicken sie die Menschenmenge (ὄχλος) fort,<br />

die <strong>nach</strong> Mk 4,1–34 in Scharen am Ufer gestanden hatte; das entspricht dem Rhythmus<br />

von Zuwendung und Rückzug, der seit Mk 1,35–39 als Missionsprogramm und Erfolgsrezept<br />

Jesu eingeführt worden war. Zum anderen nehmen sie Jesus im Boot mit. Ihnen<br />

gehört es (vgl. Mk 3,9); Jesus ist als Passagier an Bord. <strong>Markus</strong> erweckt den Eindruck, dass<br />

eine kleine Flotte in See sticht, weil Jesus eine so starke Anziehungskraft ausübt, auch<br />

wenn er ans andere Ufer strebt, ins Land der Heiden und der Dämonen. Freilich werden<br />

die anderen Boote und ihre Insassen nicht mehr erwähnt, obwohl auch sie von der Sturmstillung<br />

profitiert haben müssen.<br />

37 Der See Genezareth, für seine starken Fallwinde bekannt, 217 gerät in gefährliche<br />

Unruhe. <strong>Das</strong>s <strong>nach</strong> dem abendlichen Aufbruch (V. 35) inzwischen die Dunkelheit eingebrochen<br />

sein dürfte, macht die Lage noch unheimlicher. Der heftige Wellengang droht das<br />

Schiff sinken zu lassen, weil schon viel Wasser über Bord geschwappt ist. <strong>Markus</strong> erzählt,<br />

als wäre er dabei gewesen, hätte aber einen kühlen Kopf bewahrt.<br />

38 Der Kontrast zum schlafenden Jesus könnte größer nicht sein. Der Evangelist verwendet<br />

einfache nautische Fachausdrücke; das »Kissen« ist ein Polster für Matrosen; das<br />

»Heck« war etwas erhöht. <strong>Das</strong> Schlafen Jesu zeigt sein Menschsein – im Kontrast zur<br />

Unruhe der Jünger und in Spannung zur Erwartung seines Handelns. Die Jünger werden<br />

aktiv; aber voller Sorge (vgl. Mk 4,40) tun sie das Falsche. Sie haben Angst um ihr Leben.<br />

Darauf richtet sich ihre Frage: Nicht, dass Jesus etwas zustoßen könnte, sondern dass sie<br />

untergehen könnten, treibt sie um. Jesus wird vorgehalten, dass er sich nicht um sie küm-<br />

215 So u. a. R. Pesch, Mk I, 268.274f.; J. Gnilka, Mk I, 193f. Anders u. a. C. Focant, Mk, 191.<br />

216 Eine vormarkinische Sammlung von »Wundergeschichten« ist nicht <strong>nach</strong>zuweisen; anders R. Pesch,<br />

Mk I, 277–281.<br />

217 Vgl. G. Dalman, Orte und Wege Jesu, Gütersloh 1919 u. ö., 183.


Die Stillung des Seesturmes (Mk 4,35–41)<br />

145<br />

mere. Sie wollen, dass ihr »Lehrer« (vgl. Mk 9,38; 10,35; 13,1; 14,14) dem Treiben Einhalt<br />

gebietet. Einerseits scheinen sie Jesus zuzutrauen, sie aus dem tobenden See retten zu<br />

können; andererseits denken sie, dass ihn ihr Schicksal ungerührt lasse. So erscheint er in<br />

ihren Augen wie ein launischer Gottesmann, der übernatürliche Kräfte besitzt, aber aufgeweckt<br />

werden muss, damit er sie nutzt, weil sie sonst nicht sicher seien. 218 Der in die Form<br />

einer rhetorischen Frage gekleidete Vorwurf der Jünger drückt ein Unverständnis aus, das<br />

aus Angst, Übereifer und Halbwissen resultiert. Sie sollten es besser wissen, bleiben aber<br />

hinter ihren Möglichkeiten zurück.<br />

39 Jesus reagiert auf die vorwurfsvolle Frage seiner Jünger ebenso prompt wie auf<br />

Heilungsbitten. Während er <strong>nach</strong> Matthäus (Mt 8,27) den »Kleinglauben« der Jünger hinterfragt,<br />

bevor er den Sturm beendet, überliefert <strong>Markus</strong> (wie Lk 8,24f.), dass Jesus erst<br />

gehandelt und dann die Situation besprochen (V. 40) habe. Jesus herrscht den Sturm an,<br />

wie er Dämonen anherrscht (vgl. Mk 1,25; 3,12; 9,25). Er gebietet dem Tosen Stille, wie<br />

er Dämonen den Mund verbietet (Mk 1,25; 3,12). Sein Wort ist keine »Beschwörung« 219 ,<br />

sondern eine Manifestation seiner göttlichen Vollmacht (vgl. Mk 1,21–28) in den Dimensionen<br />

von Ps 33,9: »Wenn er spricht, so geschieht es; wenn er gebietet, so steht es da«. Die<br />

Geschichte entwirft nicht das Bild einer dämonisierten Natur, sondern elementarer Mächte,<br />

die Jesus überwindet. In den Psalmen wird Gott oft als der Herr der Mächte gepriesen:<br />

»Du stillst das Brausen des Meeres, das Tosen der Wellen« (Ps 65,8; vgl. Ps 89,10; 107,29;<br />

äthHen 60,16). Was der Psalmenbeter als creatio continua meditiert, die das Chaos zum<br />

Kosmos verwandelt, wird im <strong>Markus</strong>evangelium zum Vorzeichen einer Erlösung, die den<br />

Tod überwindet.<br />

Weiter entfernt sind die griechisch-römischen Analogien, dass Götter (Hom, Hym 33,8–17;<br />

Luc, Nav 9: Dioskuren; AelArist, Or 45,29.33: Sarapis) oder Wundertäter (Philostr, VitAp<br />

4,13.15) das Meer beruhigen und Heroen sich um die tosenden Elemente nicht scheren<br />

(Cic, Pomp. 48 [Or I 350]; Lucan, Bell 5,508; Dio Cass, Hist 41,46,1–4: Caesar; AelArist, Or<br />

42,10: Asklepios); 220 ihnen fehlt das Glaubensmotiv. Näher liegt eine Anekdote aus dem<br />

Talmud (bBer 9,13b), dass ein jüdisches Kind für heidnische Seeleute in Seenot betet und<br />

sie so rettet. Eine Kontrastfolie ist 2Makk 9,8, dass Antiochus IV. Epiphanes in seiner Hybris<br />

»den Wogen des Meeres gebieten« zu können meinte – und starb.<br />

So wie die Dämonen augenblicklich Jesus gehorchen, so legt sich hier der Wind, so dass<br />

Ruhe einkehrt. Der See, der sich zuvor der Mission Jesu entgegengeworfen hatte, liegt<br />

jetzt offen im Horizont der Gottesherrschaft. Auf dem ruhigen Wasser findet das Boot, das<br />

218 Weil V. 40 vom Unglauben spricht, sind die Klagerufe frommer Beter in der Not (Ps 35,23; 44,23f.;<br />

59,4; 88) keine Parallele. Nach Vergil (Aen IV 554–661) fragt eine Gottheit den Helden, der sich im<br />

»hohen Heck« des Schiffes zur Ruhe gebettet hat, wie er bei all den Abenteuern, die er bald zu bestehen<br />

haben werde, ruhig schlafen könne. Im Unterschied dazu haben die Jünger bei <strong>Markus</strong> Angst,<br />

und Jesus ist nicht kaltblütig, sondern vollmächtig.<br />

219 So W. Eckey, Mk, 189.<br />

220 Eine direkte Konfrontation sieht R. Strelan, A Greather Than Caesar. Storm Stories in Lucan and<br />

Mark, in: ZNW 91 (2000), 166–179.


146 Jesu Wirken in Galiläa und darüber hinaus (Mk 4,35 – 8,26)<br />

Jesus mit den Jüngern vereint, schnell ans jenseitige Ufer (Mk 4,35) – zu den Gerasenern<br />

(Mk 5,1–20). 221<br />

40 Die Frage Jesu ist ein milder Tadel, der auf eine bessere Zukunft setzt. <strong>Das</strong> »noch«<br />

gibt die Richtung vor. Einerseits hätten die Jünger schon genügend Grund, zu glauben,<br />

weil Jesus vor ihren Augen schon viele Zeichen seiner messianischen Sendung gesetzt und<br />

sie zuletzt eingehend geschult hat (Mk 4,1–34); andererseits wird es einen Ausweg aus ihrer<br />

selbstverschuldeten Ungläubigkeit geben, auch wenn es erst der Passionskrise bedarf,<br />

bevor Ostern die Wende bringen wird. Der Unglaube der Jünger ist ihr Mangel an Vertrauen<br />

auf Jesus, den Tod zu besiegen, von dem sie sich bedroht fühlen. Glaube hieße in der erzählten<br />

Situation: keine Angst vor dem Tode zu haben, weil Jesus – wenn auch schlafend –<br />

gegenwärtig ist, auf die Zukunft der Sendung Jesu zu bauen, auf den Sieg Gottes über die<br />

Mächte der Finsternis. Im Licht von V. 41 spitzt sich die Glaubensfrage auf die Person zu,<br />

die sie stellt. Jesus begründet das Gottvertrauen, das er bei seinen Jüngern vermisst. An<br />

Jesus kann der Glaube sich festmachen.<br />

41 Die Furcht, von der die Jünger erfasst werden (φόβος), ist nicht dieselbe wie die<br />

Angst, von der Jesus sie <strong>nach</strong> V. 40 befreien will (δειλός). Schwingt in dieser Feigheit<br />

mit, so in jener Respekt (vgl. Ex 20,18–21; Ri 6,22f. u. ö.). Die Furcht zielt in die richtige<br />

Richtung, weil die Jünger <strong>nach</strong> der Identität Jesu fragen. Sie wissen noch keine Antwort,<br />

weil sie »noch keinen Glauben« haben (V. 40). Die Frage bleibt bei den erzählten Phänomenen.<br />

Die Jünger ahnen, dass sie mit Gott zu tun haben müssen und durch ihn mit Jesus<br />

verbunden sind. Aber sie bringen beides noch nicht zusammen. Der Evangelist hält diese<br />

Offenheit fest, um die Dynamik aufzuzeigen, die der Glaube entfalten kann.<br />

Der historischen Rückfrage sind durch die Gattung enge Grenzen gesetzt. Die Klassifizierung<br />

als »Naturwunder« ist typisch neuzeitlich, entspricht aber nicht dem biblischen<br />

Weltbild. Eine Alternative ist »Rettungswunder« 222 . Allerdings drückt der Schluss nicht<br />

die Dankbarkeit für die erfolgte Hilfe aus, sondern das ungläubige Staunen über das Geheimnis<br />

Jesu. Deshalb gehört die Geschichte bei <strong>Markus</strong> zu den »Epiphanien« 223 , deren<br />

Hauptaufgabe darin besteht, die Jünger, die sich auf den Weg der Nachfolge haben rufen<br />

lassen, mit der Gottessohnschaft Jesu bekannt zu machen, die sich verhüllt, indem sie<br />

offenbar wird. Jeder Versuch einer Rationalisierung, seit dem 18. Jh. aus religionskritischen<br />

oder apologetischen Gründen beliebt, endet in hermeneutischen Peinlichkeiten. Die<br />

Geschichte lässt sich nicht erklären. So hat sie Eindruck gemacht und die Erinnerung an<br />

Jesus geprägt.<br />

Die Stillung des Sturmes ist eine Erzählung, die Jesu Göttlichkeit in seinem Menschsein<br />

zugleich offenbart und verhüllt. Der Schlaf konkretisiert sein Menschsein; das Machtwort,<br />

das einen atmosphärischen Exorzismus bewirkt, kennzeichnet seine Gottessohnschaft.<br />

221 Hier kann die beliebt gewordene Allegorie der Kirche als Schiff ansetzen; vgl. TestNaph 6: <strong>Das</strong> »Schiff<br />

Jakobs«, das führerlos war, wird von Jakob und seinen Söhnen übernommen, droht in einem Seesturm<br />

zu scheitern, landet aber – auf Levis Gebet hin – in einem sicheren Hafen.<br />

222 G. Theißen, Wundergeschichten, 107–111.<br />

223 K. Kertelge, Wunder Jesu, 93.


Der Exorzismus in Gerasa (Mk 5,1–20)<br />

147<br />

Beides zusammen wird zur Glaubensfrage. Die Erzählung will durch die Geschichte nicht<br />

schon die Antwort geben (die vielmehr erst das <strong>Evangelium</strong> als Ganzes anbahnt), sondern<br />

der Frage Raum geben, damit sie sich alle, die lesen, selbst stellen.<br />

Der Exorzismus in Gerasa (Mk 5,1–20) 224<br />

(1) Und sie kamen ans andere Ufer des Meeres ins Land der Gerasener. (2) Und als er<br />

aus dem Boot stieg, begegnete ihm sofort von den Gräbern her ein Mensch mit einem<br />

unreinen Geist; (3) er wohnte in den Gräbern; selbst mit einer Kette konnte niemand ihn<br />

binden, (4) weil er oft mit Fußfesseln und Ketten gebunden worden war und die Ketten<br />

und Fußfesseln von ihm zerrissen worden waren; (5) und allezeit, Tag und Nacht, war er<br />

in den Gräbern und in den Bergen; er schrie und schlug sich mit Steinen. (6) Und als er Jesus<br />

von weitem sah, lief er und fiel vor ihm nieder (7) und schrie mit lauter Stimme: »Was<br />

ist mit mir und dir, Jesus, Sohn des höchsten Gottes? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle<br />

mich nicht.« (8) Denn er sagte ihm: »Fahre aus, unreiner Geist, aus dem Menschen!«<br />

224 A. L. A. Hogeterp, Trauma and its Ancient Literary Representation: Mark 5:1–20, in: ZNW 111 (2020),<br />

1–32 (der in kulturwissenschaftlicher Perspektive das »Trauma« Gerasas als Teil der Dekapolis bearbeitet<br />

sieht); H. M. Moscicke, The Gerasene Exorcism and Jesusʼ Eschatological Expulsion of Cosmic<br />

Powers: Echoes of Second Temple Scapegoat Traditions in Mark 5.1–20, in: JSNT 41 (2019), 363–383<br />

(der die Dämonen als Allegorien der Fremdmächte sieht, die Menschen unterdrücken); D. Dormeyer,<br />

Die Heilung des Besessenen von Gerasa Mk 5,1–20: Faktualität und Fiktionalität, in: M. Guidi u. a.<br />

(Hg.), Numeri Secondi. Il volto di Dio attraverso il volto dei piccoli. FS M. Grilli, Rom 2018, 155–168<br />

(differenziert zur Frage historischer Referenz); M. Ebner, Wessen Medium willst du sein? (Die Heilung<br />

des Besessenen von Gerasa) Mk 5,1–20 (EpAp 5,9f.), in: R. Zimmermann u. a. (Hg.), Wundererzählungen<br />

I, 266–277 (der im Namen »Legion« den Hinweis auf eine antirömische Spitze findet);<br />

V. Tropper, Auseinandersetzung mit der Exegese <strong>nach</strong> Drewermann am Beispiel der »Schweineperikope«<br />

Mk 5,1–20, in: PzB 20 (2011), 125–142 (mit hermeneutischen Grundüberlegungen); I. Garroway,<br />

The Invasion of a Mustard Seed. A reading of Mark 5,1–20, in: JSNT 32 (2009), 57–75 (der die Mission<br />

des Befreiten von Mk 4,30ff. her deutet); G. Bonifacio, Personaggi minori, 99–130 (der die Aktivität<br />

des von Jesus Befreiten schätzt); C. Burdon, »To the Other Side«. Construction of Evil and Fear of Liberation<br />

in Mark 5: 1–20, in: JSNT 27 (2004), 149–167 (zur narrativen Konstruktion einer bösen Welt, in<br />

der Jesus befreit); P. G. Boldt, Jesusʼ Defeat of Death. Persuading Mark’s Early Readers (SNTSMS 125),<br />

Cambridge 2003 (zur kommunikativen Pragmatik der Erzählung); R. R. Dormandy, The Expulsion of<br />

Legion. A Political reading of Mark 5,1–20, in: ET 111 (1999), 335–337 (der sich auf eine antiimperialistische<br />

Polemik festlegt); J. Ådna, The Encounter of Jesus with the Gerasene Demoniac, in: B. D. Chilton;<br />

C. A. Evans (Hg.), Authenticating the Activities of Jesus (NTTA 28.2), Leiden 1999, 279–301 (der<br />

die historische Echtheit begründen will); Ch. W. Hedrick, Miracle Stories as Literary Compositions:<br />

The Case of Jairus’s Daughter, in: PRS 20 (1993), 217–233 (der eine narrative Analyse vorlegt); H. Merklein,<br />

Die Heilung des Besessenen von Gerasa (Mk 5,1–20). Ein Fallbeispiel für die tiefenpsychologische<br />

Deutung E. Drewermanns und die historisch-kritische Exegese, in: F. v. Segbroeck u. a. (Hg.), The<br />

Four Gospels. FS F. Neirynck (BEThL 100), Leuven 1992, 1017–1037 (der die Religionsgeschichte auf<br />

eine theologische Deutung bezieht, die Ironie integriert); L. Schenke, Wundererzählungen, 173–185<br />

(der sich auf die Textgenese konzentriert); D.-A. Koch, Bedeutung, 78–84 (klassisch historisch-kritisch);<br />

K. Kertelge, Wunder, 101–110 (der redaktionskritisch die Missionstheologie profiliert).


148 Jesu Wirken in Galiläa und darüber hinaus (Mk 4,35 – 8,26)<br />

(9) Und er fragte ihn: »Was ist dein Name?« Und er sagte ihm: »Legion ist mein Name;<br />

denn wir sind viele.« (10) Und er flehte ihn an, dass er ihn nicht aus dem Land vertreibe.<br />

(11) Es war aber dort am Berg eine große Herde von Schweinen, die weidete. (12) Und sie<br />

baten ihn: »Schick uns in die Schweine, dass wir in sie einfahren.« (13) Und er erlaubte es<br />

ihnen, und die unreinen Geister fuhren aus und fuhren in die Schweine hinein, und die<br />

Herde raste den Abhang hinunter ins Meer, etwa zweitausend, und sie ertranken im Meer.<br />

(14) Und ihre Hirten flohen und meldeten es in der Stadt und auf dem Land. Da kamen<br />

sie, zu sehen, was geschehen war, (15) und kamen zu Jesus und sahen den Besessenen,<br />

der den Legion gehabt hatte, sitzen, bekleidet und bei Verstand, und sie fürchteten sich.<br />

(16) Und es erzählten ihnen, die es gesehen hatten, was mit dem Besessenen geschehen<br />

war, und das von den Schweinen. (17) Da begannen sie ihn zu bitten, aus ihrem Gebiet<br />

fortzugehen. (18) Und als er ins Boot stieg, bat ihn, der besessen gewesen war, mit ihm<br />

zu sein. (19) Und er ließ ihn nicht, sondern sagte ihm: »Geh in dein Haus zu den Deinen<br />

und berichte ihnen, wie viel der Herr dir getan und wie sehr er sich deiner erbarmt hat.«<br />

(20) Da ging er fort und begann, in der Dekapolis zu verkünden, wie viel Jesus ihm getan<br />

hatte; und alle staunten.<br />

Der Exorzismus ist in vielerlei Hinsicht außerordentlich: Er findet nicht in Israel statt<br />

(Mk 1,21–28; 9,14–29), sondern im heidnischen Land der Gerasener. Er begnügt sich nicht<br />

mit einer knappen Feststellung der Besessenheit, sondern malt ein Bild grauenhafter Entfremdung<br />

im Reich des Todes aus. Er enthält nicht nur eine Konfrontation zwischen den<br />

Dämonen und dem Befreier Jesus, sondern ein Agreement für einen spektakulären Abzug.<br />

Er ist nicht auf die Beziehung zwischen dem Besessenen und dem Exorzisten konzentriert,<br />

sondern bringt mit den Schweinen (<strong>nach</strong> jüdischer Vorstellung) unreine Tiere ins Spiel,<br />

in die der »unreine Geist« (V. 7) hineinfährt, um sie ins Verderben zu stürzen. Er begnügt<br />

sich nicht mit dem Staunen des Publikums, sondern baut komplexe Konstellationen auf:<br />

die distanzierte Bewunderung der Gerasener, den abgelehnten Wunsch des Befreiten, in<br />

die Gesellschaft Jesu einzutreten, und dessen Verkündigung, die – auf indirektem Weg –<br />

jenes allgemeine Staunen auslöst, das zur Gattungstypologie gehört. Die außerordentlichen<br />

Züge korrespondieren mit dem außerordentlichen Ort. Im Duktus des <strong>Evangelium</strong>s<br />

ist die Erzählung von strategischer Bedeutung. Vorbereitet durch die spektakuläre Stillung<br />

des Seesturms (Mk 4,35–41), stellt sie den ersten Vorstoß Jesu in das Land jenseits der<br />

klassischen Grenzen Israels dar. Er kommt nicht weit, weil er gleich bei seinem Eintritt<br />

mit tausenden Dämonen konfrontiert wird, die er zwar aus dem Felde schlägt, aber ohne<br />

die Herzen der Gerasener zu gewinnen. Doch der von Dämonen Befreite, dem Jesus den<br />

Eintritt in die Nachfolge verwehrt, wird zum Boten der Guten Nachricht in seiner heidnischen<br />

Heimat – und löst nicht weniger, aber auch nicht mehr als jenes Staunen aus, das<br />

die Glaubensentscheidung noch vor sich hat.


Der Exorzismus in Gerasa (Mk 5,1–20)<br />

149<br />

Die Geschichte besteht aus den üblichen drei Hauptteilen einer Exorzismuserzählung:<br />

Mk 5,1–5 Exposition: Die Qual des Besessenen<br />

Mk 5,6–13 Konfrontation: Die Austreibung der Dämonen<br />

6–7 Die Bitte der Dämonen an Jesus<br />

8 Der (erfolgte) Ausfahrtbefehl<br />

9 Der Dialog über den Namen<br />

10–12 Die Bitte um einen starken Abgang<br />

13 Die Erfüllung des Wunsches<br />

Mk 5,14–20 Reaktion: <strong>Das</strong> geteilte Echo des Exorzismus<br />

14a Die Flucht der Hirten<br />

14b–17 Die Besprechung der Gerasener<br />

18–20 Der Auftrag des Befreiten<br />

Alle drei Elemente sind farbig ausgestaltet. Die Exposition (Mk 5,1–5) schildert eindringlich<br />

das Elend des Besessenen. Die Konfrontation (Mk 5,6–13) nimmt die eigenartige Wendung<br />

einer Verhandlung, die scheinbar zu einer Konzession an die Dämonen führt, tatsächlich<br />

aber ihre Lust am Untergang bedient. Der Schluss (Mk 5,14–20) öffnet ein ganzes<br />

Spektrum widersprüchlicher Reaktionen. Die Qual des Besessenen, die zu Herzen geht<br />

(V. 19), ist ebenso betont wie die souveräne Aktion Jesu, die Mitleid mit Macht und Humor<br />

mit Humanität verbindet.<br />

Die Erzählung weist Spannungen auf. V. 1 und V. 6 schildern die Begegnung mit Jesus;<br />

V. 4 enthält Redundanzen; V. 8 kommt verspätet; in den Versen 7 und 9a redet der Dämon<br />

in der 1. Person Singular, in den Versen 9b und 12 aber in der 1. Person Plural; in V. 10 gibt<br />

es eine erste, in V. 12 eine zweite Bitte an den Exorzisten; die diversen Reaktionen in den<br />

Versen 14–20 sind ungewöhnlich breit; V. 19 verweist mit dem Kyrios auf Gott, V. 20 aber<br />

auf Jesus. Aber der Numeruswechsel erklärt sich aus der multiplen Persönlichkeitsstörung<br />

des Dämons, die in V. 9 klar zum Ausdruck kommt. <strong>Das</strong> Akolouthieproblem in V. 8 dient<br />

der Spannungssteigerung. Die Modifikation von der Theozentrik in V. 19 zur Christologie<br />

in V. 20 entspricht dem theologischen Duktus des <strong>Evangelium</strong>s und seiner Traditionen.<br />

Redaktionell ist die Anbindung an den voraufgehenden Kontext in V. 1. Alle anderen<br />

Erzählzüge können zu einer vormarkinischen Tradition gehört haben, die eine Lokaltradition<br />

aus der Dekapolis spiegelt. Der Evangelist hat sie für sein <strong>Evangelium</strong> so aufbereitet,<br />

dass die komplexen Rollenspiele zur Wirkung kommen konnten.<br />

1 Der Evangelist überliefert, dass Jesus seinen Plan trotz aller Widrigkeiten umsetzt<br />

(Mk 4,35–41). Als »jenseitiges Ufer« erscheint das »Land der Gerasener«, mitten in der<br />

»Dekapolis« (Mk 5,20), von einem galiläischen point of view aus, den der Evangelist mit<br />

Jesus und seinen Jüngern einnimmt. Der Blick fällt auf Jesus; die Jünger werden ausgeblendet.<br />

Ob sie im Boot geblieben oder mit an Land gegangen sind, bleibt offen.


150 Jesu Wirken in Galiläa und darüber hinaus (Mk 4,35 – 8,26)<br />

Gerasa 225 ist eine der bekannten Städte der Dekapolis, liegt aber ca. 30 km vom See Genezareth<br />

entfernt. 226 V. 1 spricht allerdings nicht von der Stadt Gerasa (wie V. 14 und später<br />

indirekt V. 20), sondern vom »Land der Gerasener«. Auf der Landkarte des <strong>Markus</strong> reicht<br />

es offenbar bis direkt an den See. Da die politischen Verhältnisse in der Dekapolis stark<br />

im Fluss waren, 227 kann die Unschärfe aus historischen Unsicherheiten erklärt werden,<br />

die Matthäus – wie ein Teil der markinischen Handschriften – korrigiert (während Lukas<br />

sie stehengelassen) hat.<br />

2–5 <strong>Das</strong> Gebiet der Gerasener erscheint als Land des Todes, der unreinen Geister, der<br />

unbändigen Besessenheit, des gequälten Menschen, der wilden Schreie und der einsamen<br />

Berge. (Erst ab V. 14 ist von der Zivilisation die Rede.) Drastische Krankheitsschilderungen<br />

gehören zum Inventar der Gattung und sollen die Macht des Exorzisten unterstreichen.<br />

<strong>Das</strong> ist auch bei <strong>Markus</strong> gegeben, nur dass in V. 19 Jesus auf die Barmherzigkeit Gottes<br />

verweist, so dass die massiven Schilderungen nicht Abscheu und Entsetzen, sondern Mitleid<br />

erzeugen sollen. Der »unreine Geist« (Mk 5,2.8.13; vgl. 1,21.26f.; 3,11; 6,7; 7,25; 9,25;<br />

vgl. 3,30) ist ein Dämon (vgl. Mk 5,15.16.18). Der Aufenthalt in der Todeszone der Gräber<br />

passt in dieses verstörende Bild wie später der Wunsch der Dämonen, in die Schweine zu<br />

fahren (Mk 5,10–12). Im Licht von Jes 65,4, wo dem treulosen Israel vorgeworfen wird,<br />

heidnisch zu leben, »in Grabkammern« zu sitzen, die »Nächte in Höhlen« zu verbringen<br />

und »Schweinefleisch« zu essen, wird Juden gespiegelt, was pagane Lebensart in ihrer<br />

schlimmsten Ausprägung ist – die von Jesus zum Besseren geführt wird. Die übermenschlichen<br />

Kräfte des Besessenen zeigen die tyrannische Macht, die vom »Geist« auf ihn ausgeübt<br />

wird. Er ist nicht zu bändigen, am wenigsten von sich selbst. Die Ketten, die er<br />

zerreißt, verstärken nur die Fesseln, die ihn an den Dämon binden. Die Schreie, die auf den<br />

Bergen verhallen, bringen seine große Not zum Ausdruck; sie zeigen keine Hoffnung auf<br />

Hilfe an, sondern nur die Katastrophe seiner Entfremdung. 228<br />

6–7 Während in V. 1 vom <strong>Das</strong>s der Begegnung mit Jesus die Rede war (und die<br />

Verse 2–5 <strong>nach</strong>getragen hatten, wer derjenige ist, den er trifft), wird jetzt das Wie geklärt.<br />

»Von weitem« heißt, dass der Besessene Jesus schon auf dem See im Boot erspäht hat, so<br />

dass er ihn sofort beim Aussteigen am Ufer treffen kann (V. 1). Subjekt ist der Besessene.<br />

<strong>Das</strong>s er ein Getriebener ist, kann nur wissen, wer über die Informationen aus den Versen<br />

2–5 verfügt. Sein Weg zu Jesus – Laufen und Niederfallen – ist ein Akt verquerer Verehrung.<br />

Einerseits spricht er – als monotheistischer Heide – vom »Sohn des höchsten Got-<br />

225 Vgl. S. Applebaum; A. Segal, Gerasa, in: E. Stern (Hg.), The New Encyclopedia of Archaeological Excavations<br />

in the Holy Land II, New York u. a. 1993, 470–479.<br />

226 Zur Diskursgeschichte der Lokalisierungen vgl. J. King, Gadarenes, Gerasenes, and Gergesenes.<br />

Ancient and Medieval Debates surrounding the Location of the Swine Miracle, in: ASE 36 (2019),<br />

343–357. Mt 8,28 hat Gadara; vgl. A. Hoffmann; S. Kerner (Hg.), Gadara – Gerasa und die Dekapolis,<br />

Mainz 2002. Einige jüngere Handschriften geben Gergesa an; <strong>nach</strong> J. Gnilka (Mk I, 201) ist dies der<br />

ursprüngliche Ort. R. Bauckham identifiziert Gergesa, das Origenes nennt, aber mit dem etwas nördlicher<br />

gelegenen Tel Hadar: Gergesa is Tel Hadar, not Kursi, in: RB 122 (2015), 268–283.<br />

227 Vgl. R. Wenning, Die Dekapolis und die Nabatäer, in: ZDPV 110 (1994), 1–35.<br />

228 Nach antiken Maßstäben war der Mann manisch (Aret, SA III 6,1–10).


Der Exorzismus in Gerasa (Mk 5,1–20)<br />

151<br />

tes« (vgl. Gen 14,18ff.; Num 24,16; Jes 14,14). <strong>Das</strong> klingt wie die pagane Variante (vgl. Apg<br />

16,17 und Philo, LegGai 157–317) des dämonischen Bekenntnisses zum »Sohn Gottes« in<br />

Israel (Mk 3,11). Auch die Gottesbeschwörung gehört zu dieser teuflischen Orthodoxie. Die<br />

Proskynese bringt eine dämonische Verehrung zum Ausdruck – und findet ihr paradoxes<br />

Pendant, wenn die römischen Soldaten Jesus fußfällig als »König der Juden« huldigen, um<br />

ihn zu verhöhnen (Mk 15,19). Andererseits geschieht das laute Schreien (V. 7) in derselben<br />

Stimmlage (κράζω) wie das dämonische Gebrüll in den Gräbern und auf den Bergen<br />

(V. 5). Aus dem Wort spricht Todesangst. Der »Geist« schreit ebenso wie der Dämon in der<br />

Synagoge von Kapharnaum (Mk 1,23f., dort im Plural). Wie dort ist die rhetorische Frage<br />

der Versuch, Jesus abzuwehren. Beide Seiten gehören zusammen und begründen eine tiefe<br />

Ambivalenz: <strong>Das</strong> gequälte Bekenntnis führt zu einem hoffnungslosen Gebet, gerichtet an<br />

einen Gott, der eine Projektion ist, eine Karikatur des wahren Gottes, des Vaters Jesu.<br />

8 Der Ausfahrtbefehl wird <strong>nach</strong>getragen. Die vom Erzähler vorausgesetzte Folge ist<br />

die, dass Jesus den auf ihn Zustürzenden sofort mit dem Ausfahrbefehl konfrontiert, bevor<br />

der das Wort ergreifen kann. Wie in Kapharnaum (Mk 1,23f.) ist es der »unreine Geist«<br />

(vgl. Mk 5,2), der aus dem Mann spricht. Die 1. Person Singular ist eine Täuschung: Der<br />

Gerasener ist nicht er selbst; er ist eine gespaltene Persönlichkeit. Wie in den anderen<br />

Fällen kommt es Jesus nur auf eines an: dass der »unreine Geist« den Menschen verlässt,<br />

so dass er mit Gott im Reinen ist, nicht mehr verstrickt in eine angstbesetzte Frömmigkeit.<br />

9 Jesus weiß, dass er nicht den Menschen anreden kann, der ihm zu Füßen liegt<br />

(Mk 5,6), sondern direkt den »Geist« (Mk 5,8) ansprechen muss, der aus ihm spricht.<br />

Er greift aber das halbe Eingeständnis auf und beginnt, anders als sonst, ein Gespräch.<br />

Es wird möglich, weil der Dämon sich von vornherein unterwirft. <strong>Das</strong>s Jesus <strong>nach</strong> dem<br />

Namen fragt, könnte auf das Rumpelstilzchen-Motiv verweisen, dass Macht über einen<br />

Menschen hat, wer seinen Namen kennt. Aber der Jesus des <strong>Markus</strong>evangeliums hat ein<br />

solches Mittel nicht nötig. Er nutzt vielmehr seine Autorität, um den Dämon zu einem<br />

Outing zu bewegen, das ihn weiter in die Defensive treibt, aber den Exorzismus zugleich<br />

nicht als Gewaltakt, sondern als konsequente Demontage erscheinen lässt, die auch eine<br />

Selbstdemontage ist. Die Antwort: »Legion« zeigt, dass der Dämon keinen Namen hat,<br />

wie ein Mensch einen Namen trägt, der auf die Person verweist. Der Dämon treibt ja sein<br />

Unwesen; er ist eine Unperson. <strong>Das</strong> kommt in der Erklärung zum Ausdruck, dass er »viele«<br />

ist – aufgrund der zahlreichen Facetten der Selbstentfremdung. <strong>Das</strong>s es »viele« sind,<br />

scheint ihre Fähigkeiten zu multiplizieren, Macht auszuüben, führt aber letztlich ihren<br />

Untergang herbei, weil unter den zahlreichen Optionen die Identität verloren geht. Gegen<br />

Jesus, der im Namen des einzig wahren Gottes auftritt, haben die vielen Geister keine<br />

Chance. <strong>Das</strong> wird für den Besessenen zur Rettung. Der Name »Legion« verweist in der Auto-Aggression<br />

aufs Militärische: 229 Die Dämonen besetzen den Menschen, wie ein Heer ein<br />

Territorium besetzt und aussaugt. Sie sind eine Todesschwadron, viel gefährlicher und zer-<br />

229 Die Legio X Fretensis führt den Eber im Wappen, war aber nie in der Dekapolis stationiert; gleichwohl<br />

rechnen mit einer kritischen Anspielung M. Klinghardt, Legionsschweine in Gerasa. Lokalkolorit<br />

und historischer Hintergrund von Mk 5,1–20, in: ZNW 98 (2007), 28–48; M. Lau, Die Legio X<br />

Fretensis und der Besessene von Gerasa. Anmerkungen zur Zahlenangabe »ungefähr Zweitausend«<br />

(Mk 5,13), in: Bib. 88 (2009), 351–364.


152 Jesu Wirken in Galiläa und darüber hinaus (Mk 4,35 – 8,26)<br />

störerischer, als römische Truppen je sein könnten. Indem sie, von Jesus gefragt, ihren Namen<br />

offenbaren, nämlich den eines Heeresverbandes, verfolgen sie ihre Defensivtaktik –<br />

die ihnen aber nichts nützen wird.<br />

10 Die Bitte, nicht aus dem Land vertrieben zu werden, wird wieder im Singular geäußert,<br />

also im Blick auf den besessenen Menschen formuliert. Insofern ist sie der Wunsch,<br />

nicht sterben zu müssen, sondern endlich ein Gerasener sein zu dürfen, ohne in die Gräberfelder<br />

und auf die Bergeshöhen ausgestoßen zu sein. Dieser Wunsch wird ihm von<br />

Jesus gewährt.<br />

11–13 Die Schweine, die am Abhang weiden, zeigen, dass die Szene an einem heidnischen<br />

Ort spielt. Die Schweine sind für Juden unreine Tiere (Lev 11,7; Dtn 14,8). <strong>Das</strong>s der<br />

»unreine Geist« (Mk 5,2.8) – V. 13 spricht im Plural von »unreinen Geistern« – eine Symbiose<br />

mit ihnen eingehen will, ist eine tödliche Ironie. Der Evangelist erzählt von einem<br />

kollektiven Suizid der Dämonen. Nach V. 12 sind sie, obgleich sie sich in dem Besessenen<br />

fürchterlich aufgespielt haben, so kraftlos, dass sie nicht selbst ihren Umzug bewerkstelligen<br />

können. Sie müssen Jesus bitten, dass er sie in die Schweineherde schickt. <strong>Das</strong> »Einfahren«<br />

(εἰσέρχομαι) entspricht dem »Ausfahren« (ἐξέρχομαι) des Exorzismusbefehls (V.<br />

8). Jesus konzediert, was die Dämonen wollen.<br />

14–17 Zu einem regelkonform erzählten Wunder gehören die Feststellung des Effekts<br />

und der gebührende Applaus (vgl. Mk 1,27f.). Beim Exorzismus von Gerasa ist es komplizierter.<br />

Die Schweinehirten sind als Zeugen vorgestellt – nicht unbedingt des Exorzismus,<br />

aber der zweitausendfachen Tiervernichtung. Die Hirten fliehen, wohl vor Entsetzen, und<br />

verbreiten die bad news in Stadt und Land. Sie sind abhängig beschäftigt, also den Besitzern<br />

rechenschaftspflichtig, und mithin in einer äußerst prekären Lage. Ihr Bericht (ἀπαγγέλλω),<br />

der vom Tod der Schweine geprägt ist, kontrastiert mit dem Bericht (ἀπαγγέλλω), den der<br />

Besessene <strong>nach</strong> Jesu Auftrag in genau derselben Region von seiner Heilung erstatten soll<br />

(V. 19). Die Reaktion bleibt nicht aus. Aus der ganzen Gegend von Gerasa, aus Stadt und<br />

Land, kommen Menschen, um die Lage zu inspizieren. Die Leserführung des Evangelisten<br />

ist präzis. Zuerst wird berichtet, wie der Besessene gesehen wird – das komplette Gegenteil<br />

zur Vergangenheit. Er ist nicht gefesselt, sondern frei; er rennt nicht umher, sondern<br />

sitzt; er ist nicht mehr bei den Toten, sondern bei den Lebenden; er schreit nicht mehr,<br />

sondern redet vernünftig; er schlägt sich nicht mehr mit Steinen. Die Furcht, die <strong>nach</strong> V.<br />

15 die Gerasener befällt, ist ein ähnliches mysterium tremendum wie <strong>nach</strong> Mk 4,41 bei den<br />

Jüngern. Der Unterschied besteht darin, dass die Jünger, obgleich »noch« nicht gläubig<br />

(Mk 4,40), <strong>nach</strong> Jesu Identität fragen, um ihn besser kennenzulernen, während ihn die<br />

Gerasener auffordern, ihr Land zu verlassen (V. 17). Zwischendurch bestätigen Zeugen den<br />

erzählten Zusammenhang und die Abfolge zwischen der Rettung des Besessenen und der<br />

Vernichtung der Schweine (V. 16). Die Gerasener, die wie ein Mann dargestellt werden,<br />

scheinen den wirtschaftlichen Schaden vor den menschlichen Gewinn zu stellen und wollen<br />

deshalb, dass Jesus ihr Gebiet verlässt. Es scheint nicht so, dass Jesus es anders erwartet<br />

oder gewünscht hätte; er schreibt die Gerasener nicht ab, sondern wendet sich ihnen<br />

so zu, dass sich ihnen das <strong>Evangelium</strong> als Gottes Frohe Botschaft erschließen kann (vgl.<br />

Mk 5,18ff.; 7,31–37).<br />

18–19 Einer ragt aus der Masse heraus. So wie er vorher, aufgrund seiner Besessenheit,<br />

ein Außenseiter war, so jetzt aufgrund seiner Heilung. Aber während er zuvor nur


Der Exorzismus in Gerasa (Mk 5,1–20)<br />

153<br />

gequält wurde, bekommt er nunmehr eine große Aufgabe. Sein Wunsch, »mit« Jesus zu<br />

sein, wird zwar abgelehnt (V. 18); vielleicht spielt es eine Rolle, dass er kein Jude ist. Wichtig<br />

ist jedoch, dass Jesus etwas Anderes mit ihm vorhat: Er soll Aufklärungsarbeit bei sich<br />

zu Hause leisten. Dieser Auftrag ist eine Sendung, auch wenn sie nicht denselben Rang<br />

wie die Jüngersendung <strong>nach</strong> Mk 6,6b–13 hat. Sie zielt auf den engsten Lebensbereich des<br />

Besessenen, aus dem er durch die dämonische Legion am stärksten ausgeschlossen war:<br />

auf sein Haus und seine Familie (V. 19). Seine Botschaft wird ihm zweifach vorgezeichnet:<br />

einerseits durch den Verweis auf das Geschehen, andererseits durch den auf Gottes Barmherzigkeit.<br />

Beides gehört zusammen. Gottes Erbarmen schafft Fakten; dass der Exorzismus<br />

nicht nur ein Spektakel oder eine Demonstration, sondern eine von Mitleid getragene<br />

Hilfe gewesen ist, ergibt sich aus dem Bezug auf Gott. Der Kyrios ist hier, im Munde Jesu,<br />

nicht der Exorzist, sondern Gott, der ihn gesandt hat.<br />

20 In der Ausführung kommt es zu einer dreifachen Verschiebung. Erstens bezieht<br />

sich der Besessene direkt auf Jesus. <strong>Das</strong> entspricht der Christologie des <strong>Markus</strong>: Jesus<br />

verkündet und verwirklicht die Barmherzigkeit Gottes; Gott offenbart sie eschatologisch<br />

durch ihn. Zweitens »berichtet« der Mann nicht nur (ἀπαγγέλλω), wie Jesus ihm aufgetragen<br />

hat, sondern »verkündet« (κηρύσσω), so wie auch Jesus (Mk 1,15) und seine Jünger<br />

(Mk 3,14) »verkünden«; diese Qualität ergibt sich durch den christologischen Bezug. Drittens<br />

beschränkt sich der Befreite nicht auf sein »Haus« und die »Seinen«, sondern weitet<br />

seine Mission auf die ganze Dekapolis 230 aus; das entspricht der Dynamik der gesamten<br />

Sendung Jesu; es ist kein Verstoß gegen eine Restriktion Jesu, sondern ein besonderer<br />

Eifer, der Früchte trägt.<br />

Einerseits kann die Ungewöhnlichkeit der Erzählung für eine geschichtliche Erinnerung<br />

sprechen. Andererseits sind die geographischen Angaben mit vielen Fragezeichen zu<br />

versehen. Die literarische Gestaltung der Erzählung, die christologisch interessiert ist, ist<br />

stark, gerade in den burlesken Szenen. Ein direkter Rückgriff auf ein bestimmtes Ereignis<br />

ist nicht möglich; aber die Perikope fängt ein, dass Jesus als Exorzist (und Heiler; vgl.<br />

Mk 7,31–37) nicht nur in Galiläa (und Judäa), sondern auch in der Dekapolis tätig gewesen<br />

ist. Im Ursprung steht deshalb eine Lokaltradition, die in Jesu Wirken den – hier indirekten –<br />

Anfang christlicher Gemeinden in der Region verankert. 231<br />

Die Erzählung zeigt <strong>nach</strong> <strong>Markus</strong>, wie Jesus strategisch und taktisch seine Sendung ausbreitet.<br />

Strategisch ist die Überfahrt ans »jenseitige Ufer« (Mk 5,1; vgl. 4,35) <strong>nach</strong> Gerasa in<br />

die Dekapolis, weil sich das <strong>Evangelium</strong> Gottes nicht auf Israel beschränken lässt, ist es<br />

doch ein <strong>Evangelium</strong> für alle Völker (Mk 13,10); taktisch ist der Rückzug (Mk 5,18), der –<br />

durch die Aktivität des Geheilten – den Boden für einen zweiten Vorstoß (Mk 7,31–37)<br />

bereitet.<br />

230 Der Städtebund (vgl. Mk 7,31) hat sich <strong>nach</strong> dem Feldzug des Pompeius gebildet.<br />

231 Vgl. U. Wilckens, Theologie des Neuen Testaments I/1, Neukirchen-Vluyn 2002, 143. Anders J. Gnilka,<br />

Mk I, 207: »eine konkrete historische Erinnerung wegen des symbolischen Gehalts nicht sehr wahrscheinlich«.


<strong>Thomas</strong> <strong>Söding</strong>, Dr. theol., Jahrgang 1956, studierte Katholische<br />

Theologie, Germanistik und Geschichte an der Universität<br />

Münster. Von 1993 bis 2008 war er Professor für Biblische<br />

Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal,<br />

seit 2008 ist er Professor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen<br />

Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.<br />

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Gesamtgestaltung: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza<br />

ISBN 9783374053476// eISBN (PDF) 9783374053483<br />

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