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Friedemann Burkhardt | Simon Herrmann | Tobias Schuckert (Hrsg.): Stuttgarter Gottesdienst- und Gemeindestudie (Leseprobe)

Gesellschaftliche Pluralisierung und Internationalisierung verändern die Kirchenlandschaft – auch in Deutschland. Zu diesem Wandel bietet die LIMRIS-Studie für die Metropolregion Stuttgart (Bevölkerung: 2,7 Millionen) eine neue, bislang einzigartige Faktenlage. Ihre Brisanz resultiert daraus, dass Zahlen und Erkenntnisse ein signifikant anderes Bild von Kirche und Gottesdienst ergeben, wie es mitgliederbezogene Studien zeigen. Unterstützt durch 85 hochwertige Grafiken und Karten sowie umfangreiche Register macht die Studie Phänomene sichtbar, über die bislang kaum Kenntnisse vorliegen: Die Gesamtheit der Gemeinden in ökumenischer Perspektive und ihrer denominationellen Differenzierung, die Pluralität des Protestantismus, den Pietismus der Gegenwart, internationale Gemeinden und Migrationskirchenbildung unabhängiger Gemeinden sowie die Wirklichkeit des Gottesdienstes und seine Relevanz.

Gesellschaftliche Pluralisierung und Internationalisierung verändern die Kirchenlandschaft – auch in Deutschland. Zu diesem Wandel bietet die LIMRIS-Studie für die Metropolregion Stuttgart (Bevölkerung: 2,7 Millionen) eine neue, bislang einzigartige Faktenlage. Ihre Brisanz resultiert daraus, dass Zahlen und Erkenntnisse ein signifikant anderes Bild von Kirche und Gottesdienst ergeben, wie es mitgliederbezogene Studien zeigen. Unterstützt durch 85 hochwertige Grafiken und Karten sowie umfangreiche Register macht die Studie Phänomene sichtbar, über die bislang kaum Kenntnisse vorliegen: Die Gesamtheit der Gemeinden in ökumenischer Perspektive und ihrer denominationellen Differenzierung, die Pluralität des Protestantismus, den Pietismus der Gegenwart, internationale Gemeinden und Migrationskirchenbildung unabhängiger Gemeinden sowie die Wirklichkeit des Gottesdienstes und seine Relevanz.

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<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong> | <strong>Simon</strong> <strong>Herrmann</strong> | <strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong><strong>und</strong><br />

<strong>Gemeindestudie</strong><br />

Religionssoziologische Momentaufnahme christlicher Gemeinden<br />

einer europäischen Metropolregion in ökumenischer Perspektive


Vorwort der Herausgeber<br />

Die <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong> bietet für die innere Metropolregion<br />

Stuttgart (Bevölkerung: 2,7 Millionen) eine neue <strong>und</strong> bislang einzigartige<br />

Faktenlage zur Wirklichkeit christlicher Kirchen <strong>und</strong> ihrer <strong>Gottesdienst</strong>e.<br />

Ihre Brisanz resultiert aus der Tatsache, dass die Zahlen <strong>und</strong> Erkenntnisse ein<br />

signifikant anderes Bild von Kirche <strong>und</strong> <strong>Gottesdienst</strong> zeigen, wie es eine mitgliederbezogene<br />

Perspektive vermittelt: Die beiden Volkskirchen repräsentieren<br />

lediglich die Hälfte der Gemeinden <strong>und</strong> ihres wöchentlichen <strong>Gottesdienst</strong>besuchs.<br />

Das gemeinhin vermittelte Kirchenbild, das nur die evangelische <strong>und</strong><br />

katholische Kirche zeigt, übergeht die andere Hälfte der real existierenden Gemeinden<br />

<strong>und</strong> ihrer <strong>Gottesdienst</strong>besucherinnen <strong>und</strong> -besucher!<br />

Einzigartigkeit kann das Buch auch aus einem zweiten Gr<strong>und</strong> beanspruchen:<br />

Der zugr<strong>und</strong>e liegende Forschungsansatz macht es erstmals möglich, die<br />

<strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> Gemeindewirklichkeit einer Metropolregion Deutschlands in<br />

der ganzen Breite ihrer Ökumene in den Mittelpunkt einer wissenschaftlichen<br />

Betrachtung zu stellen. Dabei handelt es sich um ein spezielles Forschungsformat<br />

sogenannter »Metropolstudien«, die für solche Studien eigens am Liebenzell<br />

Institute for Missiological, Religious, Intercultural, and Social Studies<br />

(LIMRIS) der Internationalen Hochschule Liebenzell entwickelt wurden. Diese<br />

kirchenk<strong>und</strong>lich-kirchensoziologisch ausgerichteten vergleichenden Studien<br />

können die Kirchenlandschaft in ihrer Einheit <strong>und</strong> Pluralität differenziert<br />

beschreiben, kritisch untersuchen <strong>und</strong> zur Erarbeitung neuer kirchentheoretischer<br />

Impulse dienen. Insbesondere durch die Kombination verschiedener<br />

beobachtungsleitender Theorien <strong>und</strong> Konzepte gelingt es, eine präzise kirchenk<strong>und</strong>liche<br />

Bestimmung der Gemeinden vorzunehmen, sie nach verschiedenen<br />

Gesichtspunkten zu kategorisieren <strong>und</strong> in einem vergleichenden Verfahren in<br />

gemeindestrategische <strong>und</strong> -kybernetische Überlegungen zu überführen.<br />

Die Volkskirchen berichten seit Jahren über anhaltend hohe Austrittszahlen.<br />

Die Studie zeigt für die innere Metropolregion Stuttgart, dass sich darin<br />

nur eine Seite der kirchlichen Wirklichkeit abbildet. Neben den beiden Großkirchen<br />

gibt es ein vitales Segment überwiegend protestantischer Freikirchen,<br />

die zusammen mehr als 40 Prozent der <strong>Gottesdienst</strong>besucherinnen <strong>und</strong> -besucher<br />

mobilisieren. Ein weiteres wichtiges Ergebnis liegt in der Feststellung,<br />

dass wachsender oder überdurchschnittlicher <strong>Gottesdienst</strong>besuch nicht mit der<br />

konfessionellen oder denominationellen Zugehörigkeit einhergeht, sondern mit<br />

anderen Faktoren korreliert.<br />

Über die Lücken <strong>und</strong> Tücken empirischer Religionsforschung lässt sich<br />

trefflich streiten. So auch über den Fokus, auf den sich eine solche Unter-


6 Vorwort der Herausgeber<br />

suchung ausrichtet. Die Festlegung der Hauptuntersuchungsgegenstände auf<br />

<strong>Gottesdienst</strong> <strong>und</strong> Gemeinde geschieht nicht nur aus theologischem Interesse,<br />

sondern hat forschungsstrategische Gründe. Die Studie stellt neben der gr<strong>und</strong>legenden<br />

Sozialform »Gemeinde« mit dem Parameter »<strong>Gottesdienst</strong>« eine zweite<br />

Messgröße auf, die bei einer Erhebung der <strong>Gottesdienst</strong>besucherzahlen eine<br />

bessere Vergleichbarkeit von Gemeinden zulässt als etwa Mitgliederzahlen<br />

aufgr<strong>und</strong> der denominationell sehr unterschiedlichen Mitgliedschaftsverständnisse.<br />

Die Möglichkeit zum Einbezug von <strong>Gottesdienst</strong>-Teilnahmezahlen in die<br />

vergleichende Analyse der Gemeinden in der gesamten Breite der Ökumene<br />

eröffnet wichtige Interpretationsmöglichkeiten <strong>und</strong> Einsichten. Auch darin liegt<br />

eine Besonderheit der Studie.<br />

Ein Anliegen der Studie war, Phänomene in den Blick zu nehmen, über<br />

die bisher wenig Kenntnisse vorliegen. In kirchenk<strong>und</strong>licher Hinsicht richtet<br />

sich die Aufmerksamkeit auf die Gesamtheit der Gemeinden, die die Kirchenlandschaft<br />

in einer Metropolregion ausmachen, <strong>und</strong> auf ihre konfessionelle <strong>und</strong><br />

denominationelle Vielfalt. Ein besonderes Interesse gilt dabei dem Protestantismus<br />

in seiner Pluralität, dem Pietismus als ein in unterschiedlichen Sozialformen<br />

verortetes Querschnittsphänomen <strong>und</strong> den internationalen Gemeinden als<br />

vielfach verborgene Dimension der kirchlichen Landschaft. Im Hinblick auf den<br />

<strong>Gottesdienst</strong> stellte die Studie die Frage nach der Relevanz des <strong>Gottesdienst</strong>es<br />

ins Zentrum verb<strong>und</strong>en mit der Frage nach Möglichkeiten, die <strong>Gottesdienst</strong>relevanz<br />

zu beeinflussen. An diesen Interessenslagen orientieren sich auch die<br />

Themen der vertiefenden Beiträge im Teil 3 der Studie.<br />

Sehr herzlich haben wir zu danken den externen Mitarbeiterinnen <strong>und</strong><br />

Mitarbeitern für ihre Beiträge <strong>und</strong> unserem Forschungsteam für seinen Einsatz<br />

während der drei Jahre, die die Durchführung dieser Studie in Anspruch<br />

nahm. Dieses Buch entstand ganz an unserem Institut. Besonders danken wir<br />

Larissa Meister für die Hauptverantwortung am Layout <strong>und</strong> vielfältige weitere<br />

Mitarbeit <strong>und</strong> Verantwortung, Marcel Folz für die Erstellung der Statistik, Jorge<br />

Krist für die Herstellung der Karten, <strong>Tobias</strong> Dehn für die Vorbereitung <strong>und</strong><br />

Maika Hirschfeld für die Erstellung der Register sowie Jonathan Kocher, Marco<br />

Munz M.A., Hartmut Scherer, Th.M. <strong>und</strong> <strong>Simon</strong>a Schlott für ihre Mitarbeit in<br />

der Datenerhebung <strong>und</strong> vieles andere. Unseren zweiten Dank sprechen wir der<br />

Internationalen Hochschule Liebenzell <strong>und</strong> ihrem Träger, der Liebenzeller Mission,<br />

aus, hierbei besonders dem Rektor der Hochschule, Prof. Dr. Volker Gäckle<br />

<strong>und</strong> dem Prorektor, Prof. Dr. Roland Deines, die uns in allen Phasen der Studie<br />

mit Rat <strong>und</strong> Tat beiseitegestanden haben, dem Direktor der Liebenzeller Mission,<br />

Pfarrer Johannes Luitle, für sein anhaltendes Interesse, <strong>und</strong> dem Kanzler<br />

der Hochschule, Dr. Thomas Eisinger, der uns in finanziellen <strong>und</strong> personellen<br />

Fragen stets unterstützte, sowie Claudius Schillinger für das Korrekturlesen.<br />

In diesen Dank eingeschlossen seien auch die Kolleginnen <strong>und</strong> Kollegen im<br />

Forschungskolloquium <strong>und</strong> in der Dozierendenkonferenz der Internationalen<br />

Hochschule Liebenzell. Ein großer Dank geht an Prof. Dr. Gerhard Wegner für<br />

das Geleitwort <strong>und</strong> Dr. habil. Hilke Rebenstorf vom Sozialwissenschaftlichen


Vorwort der Herausgeber 7<br />

Institut der EKD. Sie haben uns 2019 bei der Konzeption der Studie geholfen,<br />

wovon wir sehr profitieren konnten. Ebenfalls als externer Berater unterstützte<br />

uns Dr. Carsten Ramsel, dem wir an dieser Stelle herzlich danken. Schließlich<br />

sei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig gedankt für die Übernahme des<br />

Buches in ihr Programm <strong>und</strong> die fre<strong>und</strong>liche Unterstützung, die wir durch<br />

Dr. Annette Weidhas erfahren haben.<br />

Dass das Buch nun fast pünktlich zum fünften Geburtstag des Instituts erscheint,<br />

war nicht beabsichtigt, sondern ist der Corona-Pandemie geschuldet,<br />

die den Forschungsprozess verzögerte. Doch gibt uns dies die Gelegenheit, dem<br />

ersten Instituts-Leiter Prof. Dr. Jürgen Schuster herzlich zu danken für seine<br />

wohlwollende Begleitung in allen Fragen, <strong>und</strong> ebenso Prof. Dr. Detlef Hiller, der<br />

als sein Nachfolger das Institut in einer Übergangszeit führte <strong>und</strong> der den Weg<br />

für dieses Forschungsprojekt mit bereitet hat. Wir freuen uns auf zahlreiche<br />

weitere Jahre fruchtbarer Institutsarbeit.<br />

Bad Liebenzell an Ostern 2022<br />

<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong><br />

<strong>Simon</strong> <strong>Herrmann</strong><br />

<strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong>


Geleitwort von Prof. Dr. Gerhard Wegner<br />

Es war in der letzten Zeit vor meinem Eintritt in den sogenannten Ruhestand,<br />

als sich bei mir im Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD in Hannover einige<br />

Personen aus Bad Liebenzell meldeten <strong>und</strong> um eine Beratung für ein soziologisches<br />

Forschungsprojekt baten. Das war überraschend, wenngleich die Liebenzeller<br />

Mission <strong>und</strong> ihre Internationale Hochschule Liebenzell mir natürlich<br />

bekannt waren. Ich verband mit Liebenzell Glaubensstärke <strong>und</strong> eine weltweite<br />

Ausrichtung, was mir beides schon immer imponiert hatte. Aber Soziologie?<br />

Gar die Fähigkeit, methodisch sauber empirisch zu arbeiten <strong>und</strong> sich in den<br />

säkularen Diskurs einbringen zu können? Da war mir Liebenzell noch nicht<br />

aufgefallen. Aber das änderte sich schnell. In einem ersten Treffen in Stuttgart<br />

im Restaurant staunte ich über die Professionalität, mit der das neue Institut<br />

LIMRIS an die Fragen heran ging. Später übernahm dann Dr. habil. Hilke Rebenstorf<br />

aus unserem Institut die Beratung.<br />

Und nun liegen die Ergebnisse der großen <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong><br />

für die innere Metropolregion Stuttgart vor. Es stimmt: Hier wird eine neue<br />

<strong>und</strong> bislang einzigartige Faktenlage zur Wirklichkeit christlicher Kirchen <strong>und</strong><br />

ihrer <strong>Gottesdienst</strong>e entfaltet. Der Blick geht weit über die großen Volkskirchen<br />

hinaus, relativiert sie auch ein Stück weit, <strong>und</strong> lässt die gesamte Ökumene in all<br />

ihrer Vielfältigkeit <strong>und</strong> Pluralität zum Tragen kommen. Die Region Stuttgart erweist<br />

sich als religionsproduktiv – so hat es jedenfalls den Anschein, auch wenn<br />

es sich um eine statische Erfassung handelt <strong>und</strong> demgemäß Entwicklungsprozesse<br />

kaum beschrieben werden. Im Mittelpunkt stehen vitale Segmente überwiegend<br />

protestantischer Freikirchen. Das ist sicherlich für den Kenner gerade<br />

der <strong>Stuttgarter</strong> Szene nicht völlig überraschend – wurde aber bisher noch nie so<br />

detailliert dargestellt. Es lohnt sich folglich, diese Ergebnisse in den allgemeinen<br />

wissenschaftlichen Diskurs zu rezipieren, was vor dem Hintergr<strong>und</strong> der<br />

kirchensoziologischen Diskussion der letzten Zeit auch geschehen soll.<br />

Säkularisierung <strong>und</strong> religiöse Vitalität<br />

Die Rede vom Niedergang der Kirchen <strong>und</strong> dem Verschwinden des christlichen<br />

Glaubens – zumindest aus den nord- <strong>und</strong> mitteleuropäischen Gesellschaften –<br />

kommt immer wieder schnell über die Lippen. Viele Zahlen belegen es deutlich:<br />

im Jahr 2021 werden die bisher größten Mitgliedschaftsverluste der Evangelischen<br />

Kirche in Deutschland (2,5%) <strong>und</strong> wohl auch der Katholischen Kirche ver-


10 Geleitwort<br />

öffentlicht. Trotz aller Relativierungen in einer weltweiten Perspektive oder vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> eines weiten Religionsbegriffs in der Tradition eines Thomas<br />

Luckmann 1 sind deswegen komplexe <strong>und</strong> empirisch ausgearbeitete Säkularisierungstheorien<br />

wie insbesondere das herausragende Werk von Detlef Pollack <strong>und</strong><br />

Gergely Rosta: »Religion in der Moderne«, 2 von enormer Bedeutung zur Deutung<br />

der religiösen Situation der Gegenwart. Welche Tabelle auch immer man im Abschnitt<br />

über Westdeutschland betrachtet: es geht bergab. Besonders eindrucksvoll<br />

ist die Übersicht über die Weitergabe der Konfession von einer Generation zur<br />

nächsten zwischen 1991 <strong>und</strong> 2018. 3 Während in Westdeutschland 1991 nur 6%<br />

der katholisch <strong>und</strong> 11% der evangelisch Erzogenen konfessionslos wurden, waren<br />

dies 2018 bereits 14% bzw. 23%. Die einzige wachsende »Konfession« ist die der<br />

Konfessionslosen. Und für Ostdeutschland gilt ohnehin: »Säkularisiert wie kein<br />

anderes Land der Welt« 4 . Ende 2021 sind nur noch unter 50% der Bevölkerung<br />

Deutschlands den beiden großen Kirchen angehörig – ein epochaler Einschnitt!<br />

Ein Ende des Rückgangs ist nicht zu erwarten. Entsprechende Analysen – in eins<br />

mit einem defensiven Verhalten der großen Kirchen – mögen ihn sogar verstärken.<br />

Dennoch: So plausibel diese Analysen auch sind, so wenig befriedigen sie<br />

diejenigen, die wissen wollen, was denn genau vor Ort – »in« den Menschen –<br />

geschieht. Nach wie vor ist Deutschland von einem dichten Netz von Kirchengemeinden<br />

überzogen, in denen nicht zuletzt jede Woche <strong>Gottesdienst</strong>e gefeiert<br />

werden. Schläft hier einfach alles ein? Die Kirche wird sich doch auch gegen den<br />

Niedergang wehren! Und noch weniger werden jene einfach zustimmen, denen<br />

der christliche Glaube am Herzen liegt <strong>und</strong> die deswegen immer wieder auch<br />

neue Formen des Religiösen <strong>und</strong> Hotspots christlichen Glaubens entdecken –<br />

was dem generellen Trend zwar nicht widersprechen muss, aber alles dennoch<br />

komplexer werden lässt. So werden z. B. die besondere Attraktivität von Migrantengemeinden<br />

entdeckt oder hochreligiöse junge Menschen 5 , so sehr sie eine<br />

kleine Minderheit sind, in den Blick genommen. Erstaunlich resilient erweist<br />

sich die Kirchenmusik Szene. Und was ehrenamtliche Mitarbeit in der Kirche<br />

anbetrifft, so ist es gelungen, sie in den letzten Jahren beträchtlich zu steigern.<br />

Die Diakonie boomt <strong>und</strong> expandiert überall. Ganz so einheitlich ist das Bild<br />

folglich nicht – ganz abgesehen von den regionalen Unterschieden zwischen<br />

Norden <strong>und</strong> Süden – Osten <strong>und</strong> Westen des Landes. Die hier zur Rede stehende<br />

Region in Württemberg – Schwaben war immer religiös wesentlich aktiver als<br />

der Norden <strong>und</strong> international schon lange weltweit unterwegs. 6<br />

1<br />

Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 7 2014.<br />

2<br />

Detlef Pollack/Gergely Rosta: Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich,<br />

Frankfurt a. M. 2 2022.<br />

3<br />

A. a. O., 161.<br />

4<br />

A. a. O., 307.<br />

5<br />

<strong>Tobias</strong> Faix/<strong>Tobias</strong> Künkler: Generation Lobpreis <strong>und</strong> die Zukunft der Kirche, Neukirchen<br />

– Vluyn 2018.<br />

6<br />

Vgl. dazu nur jüngst die faszinierende Studie über deutsche Missionare in Westafrika<br />

im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert aus dieser Region von Paul Glen Grant: Healing and Power in


Geleitwort 11<br />

Und so kommt es zu aufregenden Entdeckungen »gegen den Trend«, über<br />

die breit diskutiert wird. Eine sorgfältige Analyse der religiösen Landschaft<br />

Londons seit 1980 führt zur überraschenden Entdeckung wahrhafter religiöser<br />

Vitalität, was die These einer Desäkularisierung der Stadt plausibel sein<br />

lässt. 7 Auf der einen Seite bleibt London zwar hochsäkular auf einer europäischen<br />

Linie – auf der anderen Seite ist es das enorme Wachstum aller nur<br />

denkbaren Migrantengemeinden, »likely to raise the profile of religion in local<br />

community« 8 , in eins mit der durchaus am Markt vital bleibenden öffentlichen<br />

Rolle der anglikanischen Parochien <strong>und</strong> ihrer Kathedralen, die London als eine<br />

globale Metropole profilieren. Alles in allem geben nur 20% der Londoner an<br />

(mit die geringste Zahl in England), keiner Religion anzugehören <strong>und</strong> etwa 50%<br />

verstehen sich als Christen 9 - Zahlen, die in Deutschland in Städten nicht mehr<br />

erreicht werden. London gewinnt ein globales Profil <strong>und</strong> ragt damit aus dem<br />

typisch europäischen säkularen Sonderweg heraus. Zusammenfassend ist die<br />

These Grace Davies: »that we are becoming aware of a global narrative overlaying<br />

the European one.« 10 Die überkommenen staatskirchlichen europäischen<br />

Strukturen, die die religiöse Anpassungsfähigkeit <strong>und</strong> Kreativität des Christentums<br />

einschränken, weichen flexibleren, aus dem globalen Süden stammenden<br />

organisatorischen <strong>und</strong> vor allem liturgischen Formen. Religion boomt in der<br />

Stadt – während sie auf dem Lande abstirbt. Eine neue Erfahrung!<br />

Wie letztlich durchgreifend diese Prozesse sind, lässt sich nicht mit Sicherheit<br />

voraussagen. London kann ein Ausnahmefall bleiben. Aber die Londoner<br />

Einsichten verändern die Blickrichtung der Soziologen hin zu realen Alltagsprozessen,<br />

in denen Glaube <strong>und</strong> Religion nach wie vor – <strong>und</strong> eben auch ganz<br />

neu – eine wichtige Rolle spielen. Uta Pohl-Patalong hat erst vor kurzem auf ein<br />

eigentlich erstaunliches Forschungsdefizit hingewiesen, nämlich, dass Untersuchungen<br />

dazu fehlen würden, »was Menschen in verschiedenen Kontexten <strong>und</strong><br />

Formen als Erleben des Evangeliums beschreiben <strong>und</strong> wie sie diese Erfahrung<br />

deuten.« 11 Platt gesagt: Genau so, wie der Glaube in den überkommenen ehemals<br />

staatskirchlichen Anstaltsstrukturen lediglich verwaltet (<strong>und</strong> reguliert)<br />

Ghana. Early Indigenous Expressions of Christianity, Waco 2020. Und nicht vergessen<br />

natürlich die beiden Blumhardts in Boll mit Ausstrahlungen in alle Welt, nach China,<br />

in den religiösen Sozialismus <strong>und</strong> zu den Anfängen des Social Gospel in den USA. Vgl.<br />

dazu Gary Dorrien: The Legacy of the social Gospel, in Black and White. In: Jahrbuch<br />

Sozialer Protestantismus, Band 10, Leipzig 2017, 223 – 240.<br />

7<br />

David Goodhew/Anthony–Paul Cooper: The Desecularisation of the City. London’s<br />

Churches, 1980 to the Present, Abington/New York 2019. Ich vermute, dass Ähnliches<br />

auch über New York (Manhattan) gesagt werden kann.<br />

8<br />

A. a. O., 360.<br />

9<br />

Grace Davie: London’s Churches. Sociological Perspectives, in: David Goodhew/Anthony-Paul<br />

Cooper, A. a. O., 345 – 362, hier S. 351.<br />

10<br />

A. a. O., 360.<br />

11<br />

Uta Pohl-Patalong: Kirche gestalten. Wie die Zukunft gelingen kann, Gütersloh<br />

2021, 19.


12 Geleitwort<br />

wurde, scheint sich auch die Forschung hauptsächlich mit den großen Trends<br />

zu befassen. Es muss doch aber darum gehen, um noch einmal Grace Davie zu<br />

zitieren: »to ›bring to life‹ the <strong>und</strong>erlying analysis, recognising that this is a<br />

story of real people, doing real things in the real world.« 12 Also näher heranzukommen<br />

an jene tatsächlichen Erfahrungen, die Menschen als christlichen<br />

Glauben beschreiben <strong>und</strong> die sie begeistert weitergeben (oder aber unplausibel<br />

<strong>und</strong> störend empfinden) <strong>und</strong> in ihren Gemeinden leben.<br />

Kirchenmitgliedschaftsstudien <strong>und</strong><br />

Kirchengemeindebarometer<br />

Dazu gehört es, möglichst komplex die Situation der Kirchen »evidenzbasiert«<br />

zu analysieren. Nicht dogmatische Setzungen dessen, was man glauben soll,<br />

stehen am Anfang, sondern empirische Exkursionen in die reale Welt der Kirchen<br />

<strong>und</strong> religiösen Gemeinschaften. Zum Glück steht man in dieser Frage in<br />

Deutschland nicht am Anfang – ganz im Gegenteil! Unmittelbar nach dem ersten<br />

Einbruch der Kirchenmitgliederzahlen nach 1968 startete die EKD ein wahrhaft<br />

epochales Forschungsprogramm zur Selbsterk<strong>und</strong>ung: die »Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen«<br />

(KMU) im Abstand von jeweils 10 Jahren. Mittlerweile<br />

liegen 5 solcher Studien 13 vor – die sechste ist in Arbeit. So ziemlich alles, was<br />

Menschen mit der Kirche verbindet wird hier abgefragt. Im Zeitverlauf lassen<br />

sich faszinierende Entwicklungen aufzeigen. Hatte man in den Umfragen zur<br />

KMU 1 vor allem Kritik an der Kirche erwartet so überraschte ihre enorme<br />

Stabilität, die vor allem auf einem distanzierten aber völlig selbstverständlichen<br />

Mitgliedschaftsverhalten beruhte, was sich als Charakteristikum der<br />

Volkskirchen erweist: man gehört zur Kirche, nimmt aber wenig an ihr teil<br />

<strong>und</strong> nutzt ihre Angebote kaum – auch nicht diejenigen der eigenen Gemeinden,<br />

die aber gleichwohl den oftmals einzigen Zugang zur Kirche darstellen. Wenn<br />

auch theologisch umstritten wurde dieses Verhalten als spezifisch modern <strong>und</strong><br />

zukunftsfähig gewertet <strong>und</strong> entsprechend umfassend analysiert. In den Hin-<br />

12<br />

Grace Davie, A. a. O., S. 345.<br />

13<br />

KMU 1: Helmut Hild (Hg.): Wie stabil ist die Kirche? Bestand <strong>und</strong> Erneuerung.<br />

Ergebnisse einer Umfrage, Gelnhausen/Berlin 1974. KMU 2: Johannes Hanselmann/<br />

Helmut Hild/Eduard Lohse (Hg.): Was wird aus der Kirche? Ergebnisse der 2. EKD Umfrage<br />

über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 1984. KMU 3: Klaus Engelhardt/Hermann<br />

von Loewenich/Peter Steinacker (Hg.): Fremde Heimat Kirche. Die dritte EKD Erhebung<br />

über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 1997. KMU 4: Wolfgang Huber/Johannes<br />

Friedrich/Peter Steinacker (Hg.): Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte<br />

EKD Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2006. KMU 5: Heinrich Bedford-<br />

Strohm/Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung<br />

<strong>und</strong> Säkularisierung. Die fünfte EKD – Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh<br />

2015. In der Regel folgen jeweils ergänzende umfangreiche Kommentarbände.


Geleitwort<br />

13<br />

tergr<strong>und</strong> geriet demgegenüber ein sich der Kirche <strong>und</strong> dem Glauben stärker<br />

verb<strong>und</strong>ener Mitgliedschaftstyp, der sich nicht zuletzt als tragende Basis der<br />

Kirchengemeinden erwies. Bisweilen konnte er sogar als rückständig beschrieben<br />

werden. 14 Erst in der KMU 5 widmet man sich ihm <strong>und</strong> entdeckt die große<br />

Bedeutung wieder, die den Kirchengemeinden für die Reproduktion der Kirche<br />

zukommt. Tatsächlich hat es gut 50 Jahre lang keine nennenswerte empirische<br />

Erforschung der Situation in den Kirchengemeinden in Deutschland nach den<br />

zahlreichen Studien in den fünfziger Jahren gegeben. Dagegen gab es allerdings<br />

konzeptionelle Beiträge <strong>und</strong> z.T. heftige Debatten über Struktur <strong>und</strong> Zukunft<br />

der Gemeinden. »Congregational Studies« im angloamerikanischen Sinn haben<br />

aber gerade erst begonnen <strong>und</strong> die Liebenzeller Studie gehört nun auch dazu.<br />

Herausragend war in der letzten Zeit im Kontext der Sozialraumorientierung<br />

der Kirche eine empirische Studie über die zivilgesellschaftliche Einbettung<br />

von 6 landeskirchlichen Kirchengemeinden von David Ohlendorf <strong>und</strong> Hilke Rebenstorf.<br />

15<br />

Einen wichtigen Neuansatz zur Analyse der Situation in den Gemeinden<br />

ist das im Jahr 2015 zum ersten Mal vom Sozialwissenschaftlichen Institut der<br />

EKD durchgeführte Kirchengemeindebarometer 16 . Es stellt eine repräsentative<br />

Umfrage unter den EKD-Gemeinden in Deutschland dar <strong>und</strong> ist jetzt (2021) im<br />

2. Durchgang um freikirchliche Gemeinden erweitert worden. Befragt werden<br />

die leitenden Gremien (Kirchenvorstand, Presbyterium) um ihren Blick auf ihre<br />

Gemeinden. Dabei wird ein dynamisches Modell der Gemeindeentwicklung zugr<strong>und</strong>e<br />

gelegt, in dem einerseits zwischen sozialen Koordinationsformen (eher<br />

Marktorientierung – Organisation – Gemeinschaft) <strong>und</strong> andererseits zwischen<br />

inhaltlichen Ausrichtungen der Gemeinde (eher religiös – sozial – kulturell)<br />

unterschieden wird. Indem man Formen <strong>und</strong> Inhalte sozusagen kreuztabelliert<br />

kann man komplexe Strukturen beschreiben <strong>und</strong> insbesondere ihre Dynamik in<br />

den Blick bekommen (z. B. eine Entwicklung von einer religiösen Schwerpunktsetzung<br />

mit Gemeinschaftsformen hin zu einer sozialen Marktorientierung<br />

usw.). Es zeigte sich, dass außer <strong>Gottesdienst</strong> <strong>und</strong> explizit religiösen Angeboten<br />

sehr viel in den Gemeinden als eher sozial ausgerichtet wahrgenommen<br />

wird – <strong>und</strong> zwar stark unter dem Charakter von Gemeinschaft. Die Leitungsgremien<br />

verstehen sich zudem nur begrenzt als die Gemeinden zielorientiert<br />

organisierend. Insgesamt ergibt sich ein Bild von sich selbst als erfolgreich<br />

einschätzenden (ca. 23 %), zufriedenen (ca. 33%), zwar zufriedenen, aber skeptisch<br />

in die Zukunft blickenden (ca. 33%) <strong>und</strong> im Niedergang befindlichen Kir-<br />

14<br />

Vgl. dazu Gerhard Wegner: 50 Jahre dasselbe gesagt? Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen<br />

der EKD im religiös-kirchlichen Feld. In: Gerhard Wegner (Hg.): Gott<br />

oder die Gesellschaft? Das Spannungsfeld von Theologie <strong>und</strong> Soziologie. Würzburg<br />

2012, 295–342.<br />

15<br />

David Ohlendorf/Hilke Rebenstorf: Überraschend offen. Kirchengemeinden in<br />

der Zivilgesellschaft, Leipzig 2919.<br />

16<br />

Hilke Rebenstorf/Petra-Angela Ahrens/Gerhard Wegner: Potenziale vor Ort. Erstes<br />

Kirchengemeindebarometer, Leipzig 2 2015.


14 Geleitwort<br />

chengemeinden (ca. 10%). 17 Deutlich ist, dass es sich bei diesen Gemeinden um<br />

ortsbezogene, landeskirchlich angeb<strong>und</strong>ene »Parochien« handelt, die sich von<br />

freien »Congregations« US – amerikanischen Stils 18 unterscheiden. 19 Im Fall der<br />

vorliegenden <strong>Stuttgarter</strong> Studie lässt sich nun die unterschiedliche Dynamik<br />

beider Formen innerhalb Deutschlands vergleichen.<br />

Die <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong><br />

Mit dem bisher Gesagten ist – zumindest zu einem Teil – der diskursive Kontext<br />

beschrieben, in den nun die spannenden Ergebnisse der hier vorliegenden<br />

Liebenzeller Studie intervenieren. Zum ersten Mal wird eine solche empirisch<br />

basierte komplette Übersicht über Gemeinden <strong>und</strong> <strong>Gottesdienst</strong>e in einer Region<br />

vorgelegt – ergänzt durch eine enorm große Zahl an historischen <strong>und</strong> konfessionsk<strong>und</strong>lichen<br />

Informationen. Dabei liegt der Fokus auf dem Bereich der<br />

nichtparochialen, in diesem Sinne freien »Congregations«. Besonders deutlich<br />

wird der bedeutende Anteil internationaler Akteure in der religiösen Szene –<br />

<strong>und</strong> die sehr unterschiedliche Art <strong>und</strong> Weise mit der Kirchengemeinden auf<br />

diese Herausforderung reagieren. In der klaren Affirmierung von Pluralität <strong>und</strong><br />

Vielfalt gerade der protestantischen Welt im Raum Stuttgart wird die alte, nie so<br />

gemeinte aber faktisch denn doch diskriminierende Unterscheidung von Kirche<br />

<strong>und</strong> Sekte i.S. von Max Weber <strong>und</strong> Ernst Troeltsch ad acta gelegt. 20<br />

Ob der organisatorische Unterschied zwischen Volkskirchen aus staatskirchlicher<br />

Tradition <strong>und</strong> Freikirchen aber dennoch nach wie vor charakteristisch<br />

durchschlägt ist offen. Zu erwarten ist eine höhere Teilnahmefrequenz der<br />

freikirchlichen Mitglieder aufgr<strong>und</strong> eines verbindlicheren Bindungsverhaltens<br />

(z. B. Bekehrungserfahrungen als Eintrittsbedingung) <strong>und</strong> damit insgesamt ein<br />

intensiveres Gemeindeleben <strong>und</strong> stärkeres Engagementverhalten im Vergleich<br />

zu den offeneren volkskirchlichen Formen. 21 Und das wird in der Studie ja auch<br />

belegt. An den Volkskirchen nimmt in der Regel teil, wer eine hohe religiöse<br />

17<br />

A. a. O., 167ff.<br />

18<br />

Klassisch dazu Nancy T. Ammerman: Pillars of Faith. American Congregations and<br />

their Partners, Berkeley/Los Angeles/London 2005.<br />

19<br />

Vgl. dazu den Berichtsband über eine internationale Tagung im Anschluss an das<br />

Kirchengemeindebarometer Thorsten Latzel/Gerhard Wegner (Hg.): Congregational<br />

Studies worldwide. The Future of the Parish and the Free Congregation. Leipzig 2017<br />

mit Beiträgen u. a. von Eberhard Hauschildt, Nancy T. Ammerman, Mark Chaves, Ulla<br />

Schmidt, Jörg Stolz u. a.<br />

20<br />

Wobei gesehen werden muss, dass in deren Typologie die Sekten als die dynamischeren<br />

Akteure gelten. Vgl. klassisch Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen<br />

Kirchen <strong>und</strong> Gruppen, Band 1 <strong>und</strong> Band 2, Tübingen 1994, Nachdruck der Ausgabe<br />

Tübingen 1912.<br />

21<br />

Das unterstützt eindrücklich Julia Steinkühler mit Ergebnissen aus dem 2. Kirchengemeindebarometer<br />

des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD in SI Kompakt<br />

Nr. 3 – 2021, Hannover 2021: »Setzen sich evangelikale Gemeinden am Markt durch?«


Geleitwort<br />

15<br />

Verbindlichkeit gerade nicht will. Patrick Todjeras hebt in dieser Studie zudem<br />

hervor, wie sehr das freikirchliche Milieu unter Spannung steht <strong>und</strong> diskutiert<br />

die Bedeutung post-evangelikaler Diskurse. Ebenso warnt Philipp Bartholomä<br />

davor, zu viel von einem aus Bekehrungen gespeisten Wachstum zu erwarten.<br />

Deutlich wird allerdings, dass moderne <strong>Gottesdienst</strong>e – <strong>und</strong> eine auf sie bezogene<br />

Gemeindearbeit – Wachstumsfaktoren sind. Allerdings gilt: »Derart zeitgemäße<br />

<strong>Gottesdienst</strong>e entfalten ihre Wirkung aber wiederum nur dann, wenn<br />

glaubensmäßig überzeugte Bezugspersonen im Vorfeld ausdauernd in tragfähige<br />

<strong>und</strong> vertrauensvolle Beziehungen investiert haben.« (S. 392 in diesem Buch).<br />

Der Faktor des persönlichen Charismas in der Weitergabe des Glaubens bleibt<br />

durch alle Konfessionsfamilien hindurch entscheidend. Gerade dieser Gedanke<br />

verweist auf die Prozesshaftigkeit jedweder Gemeindeentwicklung, die letztlich<br />

davon lebt, dass der Glaube intergenerational – meist in der Familie – weitergegeben<br />

wird.<br />

Und damit wären wir wieder am Anfang. Was treibt die Christen in der<br />

Region Stuttgart in ihren Gemeinden um? Warum besuchen erstaunlich viele<br />

sonntags ihre <strong>Gottesdienst</strong>e? Dazu finden sich zahlreiche Analysen in diesem<br />

Buch. Unterschiedliche Profile einer ökumenisch versöhnten Vielfalt werden<br />

deutlich. Das macht Hoffnung für die Zukunft des christlichen Glaubens in einem<br />

säkularisierten Land! Noch sind die großen parochial verfassten Volkskirchen<br />

ressourcenstark, aber das wird sich ändern. Religiös vitaler scheinen denn<br />

doch die kleineren »Congregations« zu sein, die schon immer ein, wenn man so<br />

will, »bürgerschaftliches« Gegenmodell gegen die ehemaligen »Staatskirchen«<br />

boten. Für die weitere Entwicklung ist entscheidend, welches Kirchenmodell<br />

sich im allgemeinen Druck der Säkularisierung als am resilientesten erweist.<br />

Anders gesagt: In welchem Modell finden sich genügend »Anreize« zur aktiven<br />

Weitergabe des Glaubens, zur missionarischen Dynamik? Zur Diskussion dieser<br />

Frage liefert dieses Buch viel neues Material. Danke für diese Studie!<br />

Prof. Dr. Gerhard Wegner,<br />

bis 2019 Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD <strong>und</strong> apl. Professor<br />

für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität<br />

Marburg


Inhalt<br />

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />

Geleitwort von Dr. Gerhard Wegner . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

Abbildungen, Übersichten <strong>und</strong> Karten. . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />

Methodische <strong>und</strong> technische Hinweise. . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />

Teil 1: Einleitung in die Studie<br />

<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/<strong>Simon</strong> <strong>Herrmann</strong>/<strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong><br />

Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .29<br />

<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong><br />

Gr<strong>und</strong>begriffe, Forschungsstand <strong>und</strong> theoretische F<strong>und</strong>ierung. . . . . . .35<br />

<strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong><br />

Methodik der <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong> . . . . . . . 71<br />

Teil 2: Darstellung der Untersuchungsergebnisse<br />

<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/Marcel Folz/Jorge Krist/Larissa Meister<br />

Gemeinden in der Region Stuttgart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91<br />

Eine ökumenisch-kirchenk<strong>und</strong>liche Beschreibung<br />

<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/Marcel Folz/Larissa Meister<br />

<strong>Gottesdienst</strong> in ökumenischer Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189<br />

Empirische Einsichten zur <strong>Gottesdienst</strong>wirklichkeit im <strong>Stuttgarter</strong> Raum<br />

<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/<strong>Simon</strong> <strong>Herrmann</strong>/<strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong><br />

Die <strong>Stuttgarter</strong> Gemeindelandschaft – ein bewegtes<br />

Bild der Ökumene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227<br />

Ergebnis <strong>und</strong> ökumenische Perspektiven


18 Inhalt<br />

Teil 3: Vertiefungen <strong>und</strong> Perspektiven<br />

Julia Steinkühler/Hilke Rebenstorf<br />

Die Beteiligung an <strong>Gottesdienst</strong>en <strong>und</strong> Gemeindeaktivitäten<br />

in den evangelischen Denominationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263<br />

Ergebnisse des 2. Kirchengemeindebarometers des<br />

Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD<br />

Andreas Schäffer<br />

Zwei Gemeinden – ein <strong>Gottesdienst</strong>!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273<br />

Stationen eines gemeinsamen <strong>Gottesdienst</strong>-Projektes von Offenem Abend<br />

<strong>und</strong> CVJM in Stuttgart.<br />

Chibiy Tchtachouang/<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong><br />

Digitale <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> Gemeindeangebote . . . . . . . . . . . . . . 279<br />

Potenziale medial vermittelter kirchlicher Verkündigungs- <strong>und</strong><br />

Gemeinschaftsangebote am Beispiel einer internationalen eChurch<br />

<strong>Simon</strong> <strong>Herrmann</strong><br />

Kirche <strong>und</strong> Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295<br />

Impulse im Anschluss an die <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong><br />

für einen ganzheitlichen Dienst der Gemeinde in der Welt<br />

Volker Gäckle<br />

Pietismus in der Metropolregion Stuttgart in<br />

Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321<br />

<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong><br />

Ortsgemeinde als kirchliches Zukunftsmodell . . . . . . . . . . . . . . . 353<br />

Leitungsgr<strong>und</strong>sätze des pietistischen Entrepreneurs Friedrich Heim als<br />

Impulse für die Gemeindeentwicklung heute<br />

Philipp Bartholomä<br />

Gemeindeaufbau in der Metropolregion Stuttgart . . . . . . . . . . . . 389<br />

Reflexion aus freikirchlicher Perspektive<br />

Jorge Krist/<strong>Simon</strong> <strong>Herrmann</strong><br />

Neue experimentelle Gemeindeformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397<br />

Aspekte der Umsetzung von FreshX in zwei Gemeindegründungen<br />

Patrick Todjeras<br />

Transformationen im evangelikalen Milieu . . . . . . . . . . . . . . . . 409<br />

Eine Erk<strong>und</strong>ung


Inhalt<br />

19<br />

Eduard Ferderer<br />

Ein Volk auf dem Weg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421<br />

Streiflichter zur Russlanddeutschen Kirchengeschichte<br />

Björn Szymanowski<br />

Von der Nebenkirche zur interkulturellen Konvivenz . . . . . . . . . . . 431<br />

Die Entwicklung fremdsprachiger Pastoral als Geschichte kultureller<br />

Öffnung der katholischen Kirche in Deutschland<br />

<strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong><br />

Diaspora als theoretischer Rahmen zum Verständnis ausländischer<br />

Gemeinden am Beispiel der Japanischen Evangelischen Gemeinde<br />

Stuttgart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449<br />

Joyce Dara/<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong><br />

FEPACO-Nzambe Malamu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469<br />

Portrait einer afrikanischen Gemeinde<br />

Anhang<br />

Zahlen zu den christlichen Gemeinden <strong>und</strong><br />

<strong>Gottesdienst</strong>en in der iMS 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483<br />

Denominationen in der iMS. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486<br />

Auswertungsdokumente zur SGGS im LIMRIS-Archiv . . . . . . . . . . . 492<br />

Autorinnen <strong>und</strong> Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494<br />

Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496<br />

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497<br />

Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497<br />

Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502<br />

Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507


Teil 1<br />

Einleitung in die Studie


<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/<strong>Simon</strong> <strong>Herrmann</strong>/<strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong><br />

Einführung<br />

<strong>Gottesdienst</strong> <strong>und</strong> Gemeinde – diese beiden Begriffe stehen in ihrer Verbindung<br />

für ein Phänomen, das so alt ist wie die Sachverhalte selbst, für die sie stehen:<br />

ihre Verwobenheit sowohl historisch-theologisch als auch in der öffentlichen<br />

Wahrnehmung. Am <strong>Gottesdienst</strong> zeigen sich die Herausforderungen für Gemeinden<br />

in der Gegenwart wie in keinem anderen kirchlichen Handlungsfeld.<br />

Entsprechend offenbart eine Untersuchung dieser beiden Größen <strong>Gottesdienst</strong><br />

<strong>und</strong> Gemeinde die kolossale Aufgabe <strong>und</strong> Schwierigkeit, vor denen christlicher<br />

Glaube zu Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts steht, besonders deutlich. Gelten <strong>Gottesdienst</strong>e<br />

doch weithin als das Aushängeschild einer Gemeinde <strong>und</strong> als schlechthinniges<br />

Wesensmerkmal christlichen Glaubens. So kann jemand auf die Frage<br />

nach seiner weltanschaulichen Überzeugung antworten: »Ich gehe in die Kirche«<br />

<strong>und</strong> damit meinen, dass er regelmäßig den <strong>Gottesdienst</strong> besucht, oder auch<br />

dass, er sich einer Gemeinde angeschlossen hat.<br />

Nun hat es in den vergangenen zwanzig Jahren eine Fülle von empirischen<br />

<strong>Gottesdienst</strong>untersuchungen gegeben. Allerdings zeigt sich bei näherer<br />

Betrachtung, dass quantitative wie qualitative <strong>Gottesdienst</strong>studien auf die Untersuchung<br />

einzelner Kirchen ausgerichtet sind <strong>und</strong> sich innerhalb der religiösen,<br />

konfessionellen <strong>und</strong> denominationellen Traditionslinien bewegen. Eine<br />

ökumenische Perspektive ist bislang noch kaum im Blick. Etwa dasselbe Bild<br />

ergibt sich auch für die Gemeindeforschung, die sich in Deutschland bisher<br />

nicht einmal als ein eigener Forschungsbereich etablieren konnte. Eine ökumenische<br />

Perspektive vergleichender <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> Gemeindeforschung ist<br />

ein Desiderat, gleichzeitig aber auch der einzige Weg, um zu gültigen <strong>und</strong> verlässlichen<br />

Daten <strong>und</strong> Bewertungen der <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> Gemeindewirklichkeit<br />

als Ganzer zu gelangen.<br />

Dieses Anliegen verfolgt das Liebenzell Institute of Missiological, Religious,<br />

Intercultural, and Social Studies (LIMRIS) der Internationalen Hochschule Liebenzell<br />

<strong>und</strong> hat dafür das Forschungsformat der »Metropolstudien« entwickelt.<br />

Die <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong> ist die zweite dieser Art, die<br />

das Institut durchgeführt hat. Das primäre Ziel dieser Metropolstudien besteht<br />

in der Beschreibung eines differenzierten <strong>und</strong> möglichst wirklichkeitsgetreuen<br />

Bildes von der Gesamtheit christlicher Gemeinden in einer Metropolregion in<br />

ihrer denominationellen, liturgischen <strong>und</strong> ethnisch-lebensweltlichen Vielfalt.<br />

Sie zielen in der Datenerhebung auf Informationen über den <strong>Gottesdienst</strong> <strong>und</strong><br />

die Gemeinden in der gesamten Breite der Ökumene eines Untersuchungsgebiets.<br />

Sodann geht es um ein kritisches Verstehen <strong>und</strong> Darstellen dessen, was


30 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/<strong>Simon</strong> <strong>Herrmann</strong>/<strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong><br />

sich in den Daten als Momentaufnahme des Gemeindepanoramas wahrnehmen<br />

lässt. Schließlich gilt das Interesse Einsichten, Anregungen <strong>und</strong> Perspektiven,<br />

die sich aus einer solchen Metropolstudie für die Erarbeitung einer Theorie zur<br />

Gestaltung des Lebens <strong>und</strong> Zusammenwirkens von Gemeinden für die Praxis<br />

ergeben.<br />

Mit der <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong> liegt nun erstmals<br />

eine kirchenk<strong>und</strong>lich-kirchensoziologisch ausgerichtete vergleichende Gemeindeforschung<br />

in ökumenischer Perspektive für Deutschland vor. Sie präsentiert<br />

im Ergebnis eine Momentaufnahme der christlichen Gemeinden, Kirchen <strong>und</strong><br />

Gemeinschaften <strong>und</strong> ihrer <strong>Gottesdienst</strong>e in der inneren Metropolregion Stuttgart<br />

für die Jahre 2019 bis 2021.<br />

Begriffliche Klärungen, Forschungsstand<br />

<strong>und</strong> Methodik<br />

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um die erste Veröffentlichung einer<br />

Metropolstudie des LIMRIS. Entsprechend bietet der Beitrag von <strong>Friedemann</strong><br />

<strong>Burkhardt</strong> im ersten Teil des Buches für die Studie eine Klärung ihrer<br />

wichtigsten Gr<strong>und</strong>begriffe, einen Überblick über den Forschungsstand sowie<br />

eine Darlegung der theoretischen F<strong>und</strong>ierung. Da die beiden Forschungsgegenstände<br />

primär Fachbereiche der Praktischen Theologie darstellen, wird der<br />

Untersuchungsansatz der Studie im Raum empirischer praktisch-theologischer<br />

Forschung verortet <strong>und</strong> beschreibt diese in den Bestandteilen des Forschungsprozesses.<br />

Abschließend werden die der Untersuchung zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />

beobachtungsleitenden Theorien <strong>und</strong> Konzepte vorgestellt. Dazu gehören ihr<br />

Verständnis von Ökumene, der Pluralismusbegriff, das Konzept der Transnationalisierung<br />

<strong>und</strong> der World Christianity sowie ein Modell kirchlicher Handlungsfelder,<br />

das eine differenzierte Untersuchung der <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> Gemeindewirklichkeit<br />

in ökumenischer Perspektive ermöglichen soll.<br />

Wie die bisherigen Ausführungen zeigen, ergab sich für die Untersuchung<br />

der doppelte Forschungsgegenstand Gemeinde <strong>und</strong> <strong>Gottesdienst</strong>. Ihr gr<strong>und</strong>legendes<br />

Interesse galt der Frage, welche Gemeinden die Kirchenlandschaft der<br />

inneren Metropolregion Stuttgart bilden <strong>und</strong> welche <strong>Gottesdienst</strong>wirklichkeit<br />

sich darin feststellen lässt. Die für eine solche Studie erforderliche Methodenreflexion<br />

<strong>und</strong> ihr Design beschreibt <strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong> in seinem Beitrag zur<br />

Forschungsmethodik der <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong> im<br />

Hinblick auf die Forschungsfrage, das Untersuchungsziel, die Methoden der<br />

Datenerhebung <strong>und</strong> -analyse <strong>und</strong> ordnet diese in das Feld empirischer Sozialforschung<br />

ein. Beide Beiträge, der zu den Gr<strong>und</strong>begriffen, zum Forschungsstand<br />

<strong>und</strong> zur theoretischen F<strong>und</strong>ierung wie der zur Methodik, haben für das<br />

Forschungsformat der Metropolstudien gr<strong>und</strong>legenden Charakter.


Einführung<br />

31<br />

Ergebnisse einer <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong><br />

Gemeindeuntersuchung<br />

Im Zentrum des Buches steht die Präsentation der Ergebnisse der vorgenommenen<br />

empirischen Untersuchungen zu Gemeinden der iMS. <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>,<br />

Marcel Folz, Jorge Krist <strong>und</strong> Larissa Meister eröffnen mit ihrem Beitrag<br />

»Gemeinden in der Region Stuttgart« diese ausführliche Darstellung mit einer<br />

ökumenisch-kirchenk<strong>und</strong>lichen Beschreibung christlicher Kirchen, Gemeinden<br />

<strong>und</strong> Gemeinschaften in der Region Stuttgart. Beginnend mit Betrachtungen<br />

über die Orthodoxie, den Katholizismus <strong>und</strong> Protestantismus bis hin zu den<br />

»christlichen Sondergemeinschaften« erfolgt eine ausführliche Beschreibung<br />

der ökumenischen Vielfalt in der iMS. Historische Entwicklungen <strong>und</strong> statistisches<br />

Datenmaterial zeigen die Lebendigkeit des christlichen Glaubens in <strong>und</strong><br />

um Stuttgart. Manch überraschender <strong>und</strong> brisanter Ertrag, der vorher so nicht<br />

zu erwarten war, findet sich in den Ergebnissen. Die angesprochene Vitalität<br />

christlichen Lebens in der Region Stuttgart drückt sich vorrangig in den unterschiedlichen<br />

ökumenischen <strong>Gottesdienst</strong>formen aus.<br />

»<strong>Gottesdienst</strong>« ist einer der beiden theologischen Leitbegriffe dieser Studie.<br />

Darum beschäftigen sich <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>, Marcel Folz <strong>und</strong> Larissa Meister<br />

in einem weiteren Beitrag mit der Thematik unter dem Titel »<strong>Gottesdienst</strong><br />

in ökumenischer Vielfalt«. Auffällig ist in diesen empirischen Betrachtungen<br />

die Bedeutung des Sonntagsgottesdienstes in seinen unterschiedlichen Erscheinungsbildern<br />

<strong>und</strong> divergierenden Zielgruppen als wichtigste Veranstaltung des<br />

Gemeindelebens. Beeindruckend sind dabei die festgestellten Zusammenhänge<br />

des wöchentlichen <strong>Gottesdienst</strong>besuches zu den anderen kirchlichen Handlungsfeldern.<br />

Der christliche Glaube in der iMS zeigt kein homogenes Erscheinungsbild,<br />

sondern präsentiert sich als buntes Mosaik einer »Vielzahl von Christentümern«.<br />

Die <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong> liefert darum<br />

auch Einsichten für verschiedene wissenschaftliche Diskurse. <strong>Friedemann</strong><br />

<strong>Burkhardt</strong>, <strong>Simon</strong> <strong>Herrmann</strong> <strong>und</strong> <strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong> reflektieren über »Die <strong>Stuttgarter</strong><br />

Gemeindelandschaft – ein bewegtes Bild der Ökumene« aus vier unterschiedlichen<br />

Perspektiven über die Bedeutung der Ergebnisse. Kirchenk<strong>und</strong>e,<br />

Praktische Theologie, Missions- <strong>und</strong> Religionswissenschaften sind wesentliche<br />

Schwerpunkte der Forschung des LIMRIS. Die vorher dargestellten Ergebnisse<br />

werden anhand dieser Perspektiven interpretiert <strong>und</strong> eine Anschlussfähigkeit<br />

an die unterschiedlichen Diskurse hergestellt.<br />

Aspekte zum <strong>Gottesdienst</strong><br />

Im dritten Teil des Bandes werden Themenbereiche vertieft, die sich im Verlauf<br />

der Studie als besonders relevant hinsichtlich des Verständnisses der <strong>Gottesdienst</strong>-<br />

<strong>und</strong> Gemeindewirklichkeit herauskristallisiert haben. Die einzelnen


32 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/<strong>Simon</strong> <strong>Herrmann</strong>/<strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong><br />

Artikel gehen dabei entweder direkt auf die Daten der Studie ein, verdeutlichen<br />

anhand exemplarisch ausgewählter Gemeinden ein bedeutendes Thema oder<br />

ermöglichen durch ihre eher gr<strong>und</strong>sätzliche Natur die Einordnung bestimmter<br />

Phänomene in einen größeren Zusammenhang.<br />

Die ersten drei Artikel beleuchten die <strong>Gottesdienst</strong>wirklichkeit aus verschiedenen<br />

Blickwinkeln näher. Julia Steinkühler <strong>und</strong> Hilke Rebenstorf setzen<br />

die Ergebnisse der SGGS ins Verhältnis mit den Resultaten des 2. Kirchenbarometers<br />

des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD. Sie gehen insbesondere<br />

auf die Besucherzahlen in <strong>Gottesdienst</strong>en <strong>und</strong> regelmäßigen Gemeindeveranstaltungen,<br />

die Anzahl der <strong>Gottesdienst</strong>e <strong>und</strong> Wege der Mitgliedergewinnung<br />

ein. Während die abgefragten Parameter nicht deckungsgleich sind, weisen die<br />

Tendenzen der Ergebnisse aus beiden Studien in wesentlichen Gesichtspunkten<br />

klar in dieselbe Richtung.<br />

Im Beitrag »Zwei Gemeinden – ein <strong>Gottesdienst</strong>!« beschreibt Andreas Schäffer<br />

aus einer Innenperspektive die Entwicklungen hin zu einem gemeinsamen<br />

<strong>Gottesdienst</strong>angebot von Offenem Abend Stuttgart <strong>und</strong> CVJM Stuttgart. Zuerst<br />

nur als temporäres Konstrukt der zwei eigenständigen Gemeinschaften gedacht,<br />

entwickelte sich die Kooperation trotz zahlreicher ideeller <strong>und</strong> praktischer Herausforderungen<br />

sogar noch über die gemeinsamen <strong>Gottesdienst</strong>e hinaus weiter.<br />

Der Autor führt die gelingende Zusammenarbeit vor allem darauf zurück, dass<br />

beide Gemeinden sich von dem Anliegen leiten ließen, der Stadt dienen zu wollen.<br />

Chibiy Tchatchouang <strong>und</strong> <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong> zeigen am Beispiel der im<br />

Januar 2020 gegründeten BSZ-eChurch auf, welche Potenziale sich für den Gemeindebau<br />

durch gezielt eingesetzte mediale Angebote eröffnen. Durch interaktiv<br />

gestaltete Elemente erfahren online vernetzte <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> Gemeindebesucher<br />

geistliche Gemeinschaft. Neben den <strong>Gottesdienst</strong>en finden auch<br />

Gebetstreffen, Seelsorge <strong>und</strong> Glaubenskurse statt. Durch den internationalen<br />

Charakter der Gemeinde ist eine transnationale Gemeinde entstanden, die Menschen<br />

in verschiedenen Erdteilen miteinander verknüpft <strong>und</strong> so Gemeinde neu<br />

erleben lässt.<br />

Ekklesiologische Perspektiven<br />

Die nächsten vier Artikel nehmen ekklesiologische Perspektiven ein. <strong>Simon</strong><br />

<strong>Herrmann</strong> untersucht in seinem Beitrag die Zuwendung der Gemeinden in der<br />

SGGS zur Welt in sozialdiakonischer <strong>und</strong> globaler Sicht <strong>und</strong> stellt die Ergebnisse<br />

in einen größeren Zusammenhang, indem er sie mit der Literatur aus<br />

katholischer, evangelisch-landeskirchlicher <strong>und</strong> evangelikaler Perspektive verknüpft.<br />

Er plädiert dabei für einen ganzheitlichen Dienst am Nächsten <strong>und</strong> für<br />

die Durchlässigkeit der sozialdiakonischen Arbeit für das explizite Zeugnis des<br />

christlichen Glaubens.<br />

Die weite Verbreitung <strong>und</strong> Bedeutung des Pietismus ist ein wesentliches<br />

Charakteristikum der kirchlichen Landschaft innerhalb der iMS. Seine 350-jäh-


Einführung<br />

33<br />

rige Geschichte nimmt Volker Gäckle unter die Lupe <strong>und</strong> stellt dabei herausragende<br />

Persönlichkeiten ebenso vor, wie die wesentlichen Gruppen <strong>und</strong> Organisationen<br />

in Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart. Bei allen Veränderungen, die in der<br />

Bewegung stattgef<strong>und</strong>en haben, benennt Gäckle auch die bleibenden Merkmale,<br />

die dem Pietismus Identität verleihen. Der Beitrag endet mit einem Ausblick<br />

in die Zukunft, in dem die Herausforderungen für den Pietismus ebenso betont<br />

werden wie seine Erneuerungsfähigkeit.<br />

Vom Leben <strong>und</strong> Wirken des pietistischen Pfarrers <strong>und</strong> Entrepreneurs Friedrich<br />

Heim (1789-1850) ausgehend entwickelt <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong> Impulse<br />

für die Neubelebung der Gemeindearbeit von heute. Er vergleicht Heims Ansätze<br />

mit denen des aus Großbritannien stammenden Mixed Economy-Modells<br />

<strong>und</strong> der deutschen Gemeindeaufbaudebatte. Als Zukunftsmodell sieht er nicht<br />

Gemeinden, die sich auf ausgewählte Zielgruppen konzentrieren, sondern Ortsgemeinden,<br />

die Ansätze des Mixed Economy-Modells aufnehmen.<br />

Dem großen <strong>und</strong> in der SGGS deutlich hervorgetretenen freikirchlichen<br />

Spektrum der Gemeinden ist der Beitrag von Philipp Bartholomä gewidmet,<br />

der die Ergebnisse der SGGS mit seiner eigenen Forschung im freikirchlichen<br />

Raum in Relation setzt. Er führt aus, wie ein zeitgemäßer <strong>Gottesdienst</strong> zwar<br />

ein notwendiger, aber keinesfalls hinreichender Faktor für ein hohes Mobilisierungsvermögen<br />

von Gemeinden darstellt <strong>und</strong> nennt weitere Schlüsselfaktoren<br />

für einen überdurchschnittlichen <strong>Gottesdienst</strong>besuch, die sowohl in der SGGS<br />

als auch in seiner eigenen Forschung deutlich werden.<br />

Eine neue Form der kontextsensiblen Gemeindegründung wird von Jorge<br />

Krist <strong>und</strong> <strong>Simon</strong> <strong>Herrmann</strong> beschrieben. In »Neue experimentelle Gemeindeformen«<br />

stellen sie zwei Gemeinden vor, die das aus England stammende Fresh-<br />

Expression of Church-Konzept bewusst oder unbewusst in ihren Handlungsfeldern<br />

umsetzten. Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass Konzeptionen nicht<br />

immer vollständig umgesetzt werden können, sondern jede Gemeinde sich in<br />

ihrer Gestaltung individuell entwickelt.<br />

Aspekte der Pluralisierung <strong>und</strong> Internationalisierung<br />

Die letzten fünf Beiträge zur Studie greifen die Pluralität <strong>und</strong> Internationalität<br />

des christlichen Glaubens in der iMS auf <strong>und</strong> diskutieren sie. Dadurch lassen<br />

sich manche Auffälligkeiten der Studie besser einordnen. Patrick Todjeras kritischer<br />

Blick auf »Transformationen im evangelikalen Milieu« zeigt auf, wie diese<br />

Bewegung, die auch in der <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong> einen<br />

prominenten Platz einnimmt, keineswegs als einheitliche Gruppierung verstanden<br />

werden kann. Während viele evangelikale Gruppen <strong>und</strong> Kirchen an traditionellen<br />

Glaubens- <strong>und</strong> Gemeindeüberzeugungen bewusst festhalten, sind die<br />

sogenannten Post-Evangelikalen um eine Neudeutung ihrer Auffassung christlichen<br />

Lebens bemüht.


34 Einleitung<br />

Unter der Gruppierung »Neupietistische <strong>und</strong> evangelikale Kirchen, Gemeinden<br />

<strong>und</strong> Gemeinschaften« werden auch Gemeinden kategorisiert, deren Mitglieder<br />

russlanddeutsche Migrantinnen <strong>und</strong> Migranten <strong>und</strong> deren Nachkommen sind.<br />

In seinem Artikel »Ein Volk auf dem Weg – Streiflichter zur Russlanddeutschen<br />

Kirchengeschichte« stellt Eduard Ferderer die bewegende Geschichte dieser<br />

Volksgruppe dar <strong>und</strong> leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis<br />

dieser Gruppierung <strong>und</strong> damit zur Heterogenität des Glaubens in der iMS.<br />

In einer Studie mit explizit ökumenischer Perspektive darf auch eine<br />

römisch-katholische Perspektive nicht fehlen. In seiner Vorstellung über die<br />

Entwicklung fremdsprachiger Seelsorge als Geschichte kultureller Öffnung der<br />

katholischen Kirche in Deutschland unter dem Titel »Von der Nebenkirche zur<br />

interkulturellen Konvivenz« bespricht Björn Szymanowski die verschiedenen Lösungsansätze<br />

der katholischen Kirche mit der Herausforderung der Seelsorge<br />

an fremdsprachigen Kirchenmitgliedern. Dabei wird deutlich, wie Kirche sich<br />

immer wieder an veränderte Umstände anpassen kann.<br />

Die Kirchenlandschaft in der iMS ist bunt <strong>und</strong> vielsprachig. Das zeigen<br />

auch die beiden nächsten Artikel. <strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong> verwendet »Diaspora als<br />

theoretischen Rahmen zum Verständnis ausländischer Gemeinden am Beispiel<br />

der Japanischen Evangelischen Gemeinde Stuttgart«. Die Entwicklung des<br />

Diaspora-Begriffs vom Gericht hin zu einem ekklesiologischen Paradigma der<br />

World Christianity zeigt auf, wie ausländische Gemeinden, die gern übersehen<br />

werden, Brückenorte in der weltweiten Mission Gottes werden.<br />

Die <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong> konnte insgesamt 14<br />

Gemeinden mit afrikanischem Hintergr<strong>und</strong> ausfindig machen. Viele dieser Gemeinden<br />

haben ein internationales Netzwerk. Ein Beispiel einer transnationalen<br />

Gemeindebewegung mit Ursprung im Kongo ist »FEPACO – Nzambe Malamu«,<br />

die von Joyce Dara <strong>und</strong> <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong> porträtiert wird. Darin wird<br />

erkennbar, mit welchem Blick afrikanische Gemeinden ihre Arbeit in Deutschland<br />

<strong>und</strong> Europa gestalten. Es wird erkennbar, welchen Herausforderungen sich<br />

diese Gemeinden <strong>und</strong> deren Leiter stellen müssen.


<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong><br />

Gr<strong>und</strong>begriffe, Forschungsstand,<br />

theoretische F<strong>und</strong>ierung<br />

Um ein möglichst vollständiges Bild der Gemeindelandschaft <strong>und</strong> ihrer <strong>Gottesdienst</strong>wirklichkeit<br />

in der inneren Metropolregion Stuttgart (iMS) zu gewinnen,<br />

verfolgte die Studie eine ökumenische Gr<strong>und</strong>perspektive <strong>und</strong> wurde als Kombination<br />

von empirischer Gemeindeforschung <strong>und</strong> empirischer <strong>Gottesdienst</strong>forschung<br />

angelegt. Dieser einleitende Beitrag erläutert die für die Studie erforderlichen<br />

thematischen Gr<strong>und</strong>begriffe, gibt einen Forschungsüberblick über die<br />

empirische <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> Gemeindeforschung im deutschsprachigen Raum<br />

<strong>und</strong> die theoretische Begründung für einen Ansatz vergleichender <strong>Gottesdienst</strong><strong>und</strong><br />

Gemeindeforschung in ökumenisch-kirchenk<strong>und</strong>licher Perspektive.<br />

Thematische Gr<strong>und</strong>begriffe<br />

Das Untersuchungsgebiet der vom LIMRIS-Forschungsinstitut durchgeführten<br />

<strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong> ist die sogenannte innere Metropolregion<br />

Stuttgart (iMS). Die Untersuchung fällt institutsintern in den Bereich<br />

der Metropolstudien, die einen Schwerpunkt von LIMRIS darstellen. 1 Diese<br />

Metropolstudien untersuchen urbane Zentren religionssoziologisch im Sinn<br />

vergleichender regionaler christlicher Gemeindeforschung in interkultureller<br />

<strong>und</strong> globaler Perspektive. Als Metropolregionen gelten in einem allgemeinen<br />

Sinn weitgefasste Ballungs- <strong>und</strong> Verdichtungsräume von Großstädten mit ihrem<br />

Umland. Diese lassen sich charakterisieren durch eine enge Verzahnung von<br />

Wirtschaft, Politik, Wissenschaft <strong>und</strong> sozio-kulturellen Faktoren sowie durch<br />

eine Vernetzung der ländlichen Randlagen mit dem Ballungszentrum durch<br />

eine entsprechende Verkehrsinfrastruktur <strong>und</strong> wirtschaftliche Entwicklung.<br />

Der Begriff Europäische Metropolregion (EMR) wurde durch die Politik Mitte<br />

der 1990er Jahre auf europäischer <strong>und</strong> nationaler Ebene eingeführt, weist etwa<br />

120 geografische Räume als eine EMR aus <strong>und</strong> erfuhr seither unterschiedliche<br />

Auslegungen. 2 So umfasst die EMR Stuttgart in ihrer weiten Auslegung etwa<br />

1<br />

Vgl. LIMRIS-Forschungsinstitut, Themen, ihl.eu/forschung/limris-institut.<br />

2<br />

Vgl. Growe, Metropolregion, 1511f., econstor.eu.


36 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong><br />

5,2 Millionen Einwohner 3 <strong>und</strong> in ihrer 2015 vorgenommenen engen Definition<br />

2,7 Millionen Einwohner, 4 die meist als innere Metropolregion bezeichnet<br />

wird. 5 Für eine religionssoziologische Studie zu Ballungsräumen schien es<br />

naheliegend, aus Gründen der Vergleichbarkeit als Untersuchungsgebiet die<br />

EMR zu wählen. Die Entscheidung für die iMS als kleinstmögliche Variante der<br />

EMR Stuttgart als Untersuchungsgebiet geschah aus forschungsstrategischen<br />

Gründen. Sie umfasst den Stadtkreis der Landeshauptstadt Stuttgart <strong>und</strong> die<br />

fünf unmittelbar angrenzenden Landkreise Böblingen, Esslingen, Göppingen,<br />

Ludwigsburg <strong>und</strong> Rems-Murr, wobei von den beiden letztgenannten nicht alle<br />

kommunalen Gemeinden eingeschlossen sind. Die iMS gilt als Wachstumsregion<br />

mit der Prognose des drittstärksten Bevölkerungszuwachses unter den elf<br />

Europäischen Metropolregionen in Deutschland. 6<br />

Ziel der LIMRIS-Metropolstudien ist es, eine Momentaufnahme der verschiedenen<br />

christlichen Gemeinden, Kirchen <strong>und</strong> Gemeinschaften in ihrer<br />

denominationellen, liturgischen <strong>und</strong> ethnischen Vielfalt zu erstellen. Um für<br />

dieses Bild eine möglichst große Vollständigkeit <strong>und</strong> Tiefenschärfe zu erreichen,<br />

setzt sich diese Momentaufnahme aus mehreren Einzelbildern zusammen,<br />

die nacheinander <strong>und</strong> teilweise parallel miteinander angefertigt wurden. 7<br />

In einem ersten Untersuchungsschritt von September 2019 bis Anfang 2020<br />

entstand eine Aufnahme, die die Gemeinden in der gesamten Fläche der iMS in<br />

ihrer konfessionellen <strong>und</strong> denominationellen Vielfalt präsentiert. Weitere Untersuchungsschritte<br />

2020/21 ergänzten diese auf die Fläche ausgerichtete eindimensionale<br />

Darstellung, sodass mehr von den Besonderheiten der einzelnen<br />

Gemeinden in demominationeller Hinsicht, im Hinblick auf den <strong>Gottesdienst</strong><br />

<strong>und</strong> weitere kirchliche Handlungsfelder erkennbar wurde. Im Zeitraum von<br />

etwa zwei Jahren von September 2019 bis Herbst 2021 entstanden so mehrere<br />

Einzelaufnahmen, die in der Synopse ein kontrastscharfes <strong>und</strong> profilstarkes<br />

Panorama der christlichen Gemeinde- <strong>und</strong> Kirchenlandschaft der iMS zeigen.<br />

Diese Mehrdimensionalität ermöglicht eine Vorstellung vom Neben- <strong>und</strong> Miteinander<br />

der Gemeinden, von stabilen <strong>und</strong> brüchigen Sozialräumen <strong>und</strong> von festeren<br />

<strong>und</strong> loseren Netzwerkstrukturen. Das Bild, das so entstand <strong>und</strong> welches<br />

die Studie im Ergebnis bietet, versteht sich weder als Schnappschuss noch als<br />

Film. Vielmehr handelt es sich, um eine Formulierung von Johann Hafner <strong>und</strong><br />

Irene Becci aufzugreifen, um ein »bewegtes Bild«, 8 das etwas von den Entwicklungen,<br />

vom Wandel <strong>und</strong> den Dynamiken in der <strong>Stuttgarter</strong> Kirchenlandschaft<br />

3<br />

Statista, Metropolregionen 2019, statista.com.<br />

4<br />

Eurostat (ESTAT), 2015, eumonitor.eu.<br />

5<br />

Vgl. die Aufstellungen zur inneren Metropolregion Stuttgart, Art. Metropolregion<br />

Stuttgart, wiki.de; Art. Metropolregion Stuttgart, wikipedia.org. Eine detaillierte Aufstellung<br />

s. Dehn, Die innere Metropolregion Stuttgart, LIMRIS-Archiv, SGGS, A1.<br />

6<br />

Zur Bevölkerungsentwicklung s. Daten <strong>und</strong> Karten zu den Europäischen Metropolregionen<br />

in Deutschland, s. Anm. 6.<br />

7<br />

→ Methodik, S. 71–88.<br />

8<br />

Hafner/Becci, Glaube in Potsdam, Bd. I, 13.


Gr<strong>und</strong>begriffe, Forschungsstand, theoretische F<strong>und</strong>ierung<br />

37<br />

aufzeigen kann <strong>und</strong> darüber hinaus auch manches unerwartetes Ereignis festgehalten<br />

hat.<br />

Im Fokus der <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong> stehen christliche<br />

Gemeinden, Kirchen <strong>und</strong> Gemeinschaften, die einen der beiden Hauptgegenstände<br />

der Untersuchung bilden. Da diese Begriffe sowohl umgangssprachlich<br />

als auch in den verschiedenen christlichen Traditionen <strong>und</strong> theologischen sowie<br />

religionswissenschaftlichen Diskursen unterschiedlich verstanden werden,<br />

sollen ihre Bedeutung <strong>und</strong> ihr Verständnis im Folgenden erläutert werden.<br />

1. Die Gemeinde gilt als die gr<strong>und</strong>legende Sozialgestalt christlichen Glaubens<br />

im Sinn der communio sanctorum, die die Gemeinschaft mit Gott <strong>und</strong> mit<br />

Menschen ermöglicht. 9 Bis Mitte des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts galt die parochiale<br />

bzw. lokale Ortsgemeinde als die gr<strong>und</strong>legende Form von Gemeinde, unabhängig<br />

davon, ob es sich um eine landes- bzw. staatskirchliche oder eine freikirchliche<br />

Gemeinde handelte. Seit den Debatten um den missionarischen Gemeindeaufbau<br />

in den 1980er Jahren wird das Verständnis von Gemeinde kontrovers<br />

diskutiert <strong>und</strong> es entstanden neue Formen von Gemeinde. 10 In der Gegenwart<br />

existiert eine Vielfalt von Gemeindeformen 11 in einem Miteinander von Ortsgemeinden<br />

12 eher parochialer Prägung einerseits <strong>und</strong> Funktionsgemeinden<br />

alternativer Gestalt andererseits. Diese Funktionsgemeinden reagieren mit ihrem<br />

spezifischen Profil auf lebensweltliche, soziale, zeitliche oder spirituelle<br />

Bedürfnisse von Menschen in ihrer Umgebung <strong>und</strong> sind meist stark von ihrer<br />

Zielgruppe bestimmt. Ungeachtet der Unterschiede lassen sich gemeinsame<br />

theologische Überzeugungen identifizieren. 13 In theologischer Perspektive steht<br />

die Gemeinde für die gr<strong>und</strong>legende christliche Gemeinschaft, in der sich Gläubige<br />

im Sinn des neutestamentlichen Gemeinschaftsverständnisses zu einer<br />

Lebens-, Lern- <strong>und</strong> Dienstgemeinschaft verbinden. 14 Danach ist eine Gemeinde<br />

durch eine basale Kernidentität in der Beziehung zu Christus gekennzeichnet, 15<br />

9<br />

Vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, 271–275; Karle, Praktische Theologie,<br />

117f.<br />

10<br />

Vgl. Kunz/Pohl-Patalong, Aufbruch zu einem neuen Verständnis von Gemeinde, 28.<br />

11<br />

Vgl. Bubmann et al., Gemeinde auf Zeit; Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, 290–<br />

305; Pohl-Patalong, Kirche bei neuen Gelegenheiten.<br />

12<br />

Zur Bedeutung der traditionellen Ortsgemeinden s. Hauschildt/Pohl-Patalong,<br />

Kirche, 285–290; Karle, Praktische Theologie, 117–126.<br />

13<br />

So z. B. Ralph Kunz <strong>und</strong> Uta Pohl-Patalong im Blick auf neue Formen von Gemeinde,<br />

Dies., Aufbruch, 29.<br />

14<br />

Vgl. Frey, Neutestamentliche Perspektiven, 36f.; Luz, Ortsgemeinde <strong>und</strong> Gemeinschaft<br />

im Neuen Testament, 406.<br />

15<br />

Eine theologische Bestimmung von Gemeinde, die für die zunehmende Internationalisierung<br />

der deutschen Kirchen landschaft offen sein will, kann weder bei kultischen<br />

noch bei ethischen, kulturellen oder institutionellen Merkmalen einsetzen. Vielmehr<br />

muss sie »in der gemeinsamen <strong>und</strong> ursprünglichen Bezogenheit auf Jesus Christus, die<br />

sich in zahlreichen Gestalten geschichtlich realisiert«, ihren Ausgangspunkt sehen, Lienemann,<br />

Die Christenheit in der Weltgesellschaft, 385f. So auch Eberhard Hauschildt,<br />

Ralph Kunz <strong>und</strong> Uta Pohl-Patalong in ihren Bestimmungen theologischer Kriterien <strong>und</strong>


38 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong><br />

die sie zur Gestaltung einer versöhnten Gemeinschaft innerhalb der Gemeinde,<br />

im ökumenischen Miteinander <strong>und</strong> in der Umsetzung ihres Weltauftrags motiviert.<br />

Sie feiert regelmäßige <strong>Gottesdienst</strong>e 16 <strong>und</strong> schafft Raum für Glaube, Teilnahme<br />

<strong>und</strong> Partizipation der einzelnen entsprechend ihren individuellen Charismen.<br />

Da die Studie kirchensoziologisch ausgerichtet ist <strong>und</strong> das Selbstverständnis<br />

der jeweiligen Gemeinden bei ihrer Kategorisierung maßgeblich sein soll, liegt<br />

der Untersuchung ein weiter Gemeindebegriff zugr<strong>und</strong>e, der in der Lage ist, die<br />

religiöse Pluralität der Gemeindelandschaft möglichst vollständig zu erfassen.<br />

Dieses Gemeindeverständnis bestimmt eine Gemeinde als einen organisierten<br />

lokalen Zusammenschluss von Menschen, die sich regelmäßig zu gemeinsamer<br />

christlicher Praxis an einem dafür bestimmten Ort versammeln <strong>und</strong> die übergemeindlich<br />

mit anderen Gemeinden ihrer religiösen Prägung in Bewegungen,<br />

Netzwerken, Organisationen <strong>und</strong> Institutionen verb<strong>und</strong>en sein können. 17<br />

2. Um Kirchen, Gemeindebünde oder Gemeinschaftsverbände, aber auch sich<br />

gänzlich autonom verstehende Einzelgemeinden in ihrer denominationellen<br />

oder konfessionellen Profilierung darstellen <strong>und</strong> miteinander vergleichen zu<br />

können, verwendet die Studie den Begriff Partikularkirche. 18 Mit dieser Kategorie<br />

werden kirchliche <strong>und</strong>/oder gemeinschaftliche Gemeinschaftsformen bezeichnet,<br />

in denen sich Gemeinden entsprechend ihrer denominationellen oder<br />

konfessionellen Überzeugungen übergemeindlich, regional, 19 national, transnational<br />

<strong>und</strong>/oder international zusammenschließen <strong>und</strong> organisieren. 20 Ihre<br />

Prinzipien für Gemeinde. Allerdings treten zu diesem christologischen Gr<strong>und</strong>prinzip<br />

auch noch ein ökumenisches, ein Gemeinschaft stiftendes rechtfertigungstheologisches<br />

<strong>und</strong> ein missiologisches Prinzip, die gemeinsam die Eckpunkte einer theologischen<br />

Gr<strong>und</strong>legung für Gemeinde bilden, vgl. Kunz-Herzog, Theorie des Gemeindeaufbaus,<br />

73–76; Hauschildt/Pohl-Patalong, Art. Gemeinde; Kunz/Pohl-Patalong, Verständnis<br />

von Gemeinde, 29; Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, 290–305; Bubmann et al., Gemeinde<br />

auf Zeit, 10f.<br />

16<br />

Dabei sind die Häufigkeit des <strong>Gottesdienst</strong>besuchs oder die Intensität der Gemeindezugehörigkeit<br />

von kulturellen, lebensweltlichen, biografischen oder persönlichen<br />

Faktoren abhängig <strong>und</strong> können als theologisches Kriterium angesehen werden. Gerade<br />

neue <strong>Gottesdienst</strong>formate <strong>und</strong> Gemeindeformen zeigen, dass jenseits eines parochialen<br />

Gemeindebegriffs Gemeinde gelebt <strong>und</strong> erfahren werden kann. Vgl. Hauschildt/Pohl-<br />

Patalong, Kirche, 276.<br />

17<br />

Vgl. die Bestimmung bei Körs, Empirische Gemeindeforschung, 632f.<br />

18<br />

Partikularkirche oder -gemeinschaft entspricht dem, was das Center of the Study of<br />

the Global Christianity am Gordon-Conwell Theological Seminary als Denominaton bezeichnet.<br />

Allerdings werden in der SGGS auch einzelne Gemeinden oder Gemeinschaften,<br />

die sich selbst als autonome christliche Größe verstehen, von anderen Kirchen <strong>und</strong><br />

Traditionen unterschieden wissen wollen <strong>und</strong> insofern eine eigene Konfession darstellen,<br />

als Partikulargemeinschaft bezeichnet, Center for the Study of the Global Christianity,<br />

Quick Facts (How do you define a »Denomination«?), gordonconwell.edu.<br />

19<br />

Durch Fragen <strong>und</strong> Themen des Umbaus oder Abbaus kirchlicher Strukturen gewinnt<br />

in der Gegenwart die Regionsarbeit an Bedeutung, vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche,<br />

307–310.<br />

20<br />

Zur Kirche als Bezeichnung für christliche Religionsgemeinschaften einer bestimm-


Gr<strong>und</strong>begriffe, Forschungsstand, theoretische F<strong>und</strong>ierung<br />

39<br />

Sozialform, Organisations-, Interaktions- <strong>und</strong> Partizipationsstruktur kann von<br />

hoher Komplexität sein. Zu der Kategorie zählen aber auch einzelne autonome<br />

Gemeinden mit einer eigenständigen konfessionellen oder denominationellen<br />

Profilierung.<br />

3. Einen hybriden Typus bilden Formen freier Gemeinschaften innerhalb<br />

landeskirchlicher Kirchengemeinden. 21 Eine erste Subkategorie stellen Gemeinschaften<br />

dar, die aufgr<strong>und</strong> vertraglicher Vereinbarungen mit der Evangelischen<br />

Landeskirche als autonomer, aber rechtlich unselbstständiger Teil einer<br />

Ortskirchengemeinde gelten. Dazu gehören pietistische Versammlungen, die<br />

innerhalb einer evangelischen Kirchengemeinde auf der Basis des sogenannten<br />

Pietistenreskripts existieren <strong>und</strong> diese mit einem ergänzenden Angebot<br />

unterstützen. Dieses kann neben gottesdienstlich-lehrhaften Veranstaltungen<br />

auch in weiteren kirchlichen Handlungsfeldern wie Kinder- oder Jugendgruppen<br />

liegen. Meist beteiligen sich diese Gemeinschaften gleichzeitig auch an<br />

Angeboten ihres übergeordneten Gemeinschaftsverbands. Kennzeichnend ist,<br />

dass sich die Gemeinschaften ihrem Selbstverständnis nach ganz als integraler<br />

Teil der Kirchengemeinde verstehen. Zu diesem Gemeinschaftstyp zählen auch<br />

autonome internationale Gemeinden in Kirchengemeinden der Evangelischen<br />

Landeskirche aufgr<strong>und</strong> entsprechender Vereinbarungen. 22 Dieser Typus von<br />

Gemeinschaften innerhalb landeskirchlicher Kirchengemeinden unterscheidet<br />

sich von pietistischen Gemeinschaftsgemeinden 23 <strong>und</strong> eigenständigen Gemeinden<br />

pietistischer Provenienz, 24 deren getaufte Mitglieder zwar in landeskirchlichen<br />

Registern geführt werden, obgleich sich die Gemeinschaften als eigenständige<br />

Gemeinden verstehen, teilweise juristisch eigene Körperschaften bilden <strong>und</strong><br />

entsprechend nach außen autonom auftreten.<br />

ten Denomination als übergemeindliche Sozialform <strong>und</strong> Organisation vgl. Hauschildt/<br />

Pohl-Patalong, Kirche, 117. 181. Beispiel eines eher regionalen Verb<strong>und</strong>s sind die ETG-<br />

Gemeinden im südwestdeutschen Raum <strong>und</strong> in angrenzenden Gebieten in der Schweiz<br />

<strong>und</strong> Frankreich, Vgl. Gerlach, Alt-Mennoniten unter uns; Vgl. Ott, Missionarische Gemeinde<br />

werden. Als transnational können Migrationsgemeinden gelten, die in einer festen<br />

Verbindung mit ihrer ausländischen Muttergemeinde leben. Beispielhaft für die<br />

internationale Organisationsform sind die Anglikanische, die römisch-katholische <strong>und</strong><br />

Evangelisch-methodistische Kirche/United Methodist Church. Keine Verwendung fand<br />

der Kirchenbegriff in der Organisation des B<strong>und</strong>es Freier evangelischer Gemeinden<br />

(FeG) oder bei den baptistischen Gemeinden, die im B<strong>und</strong> Evangelisch-Freikirchlicher<br />

Gemeinden (BEFG) organisiert sind, Vgl. Körtner, Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e, 236f.<br />

252f.<br />

21<br />

Vgl. im Untersuchungsteil den Abschnitt zum Pietismus, S. 130–134.<br />

22<br />

Vgl. im Untersuchungsteil den Abschnitt zu den internationalen Gemeinden im Protestantismus,<br />

S. 163f..<br />

23<br />

Zu dieser zweiten Variante zählen pietistische Gemeinschaften nach dem Gnadauer<br />

Modell, S. 131, bes. Anm. 129.<br />

24<br />

Zu dieser dritten Variante zählen Gemeinden wie die Herrnhuter Brüderunität oder<br />

die Brüdergemeinde Korntal.


40 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong><br />

4. Der Begriff Kirchenfamilie wird für konfessionelle oder denominationelle<br />

Hauptrichtungen verwendet wie Adventisten, Baptisten, Lutheraner, Methodisten,<br />

Reformierte etc., die im Laufe ihrer Geschichte weitere Partikulargemeinschaften<br />

ausgebildet haben. 25<br />

5. Auf der obersten Ebene der Kategorisierung christlicher Gemeinden<br />

differenziert die Studie drei christliche Hauptgruppen oder große christliche<br />

Strömungen: die Orthodoxie, den Katholizismus <strong>und</strong> den Protestantismus. Die<br />

vierte Hauptgruppe ist mit Andere Kirchen <strong>und</strong> christliche Gemeinschaften betitelt.<br />

Diese steht nicht für eine einheitliche christliche Strömung im Sinn der<br />

vorgenannten drei Gruppen, sondern umfasst alle diejenigen Gemeinden <strong>und</strong><br />

Partikulargemeinschaften, die sich aufgr<strong>und</strong> ihres Frömmigkeitsprofils nicht<br />

einer der drei ersten Hauptgruppen zurechnen oder zurechnen lassen, die sich<br />

aber als christliche Gemeinden verstehen.<br />

Der zweite Hauptgegenstand der Studie ist der <strong>Gottesdienst</strong>. Für viele Menschen<br />

sind Christsein, Kirche <strong>und</strong> <strong>Gottesdienst</strong> Synonyme. 26 Entsprechend kommt<br />

ihm ungeachtet aller liturgischen Pluralisierungen quer durch alle Konfessionen<br />

<strong>und</strong> Denominationen der höchste Rang zu. 27 Er gehört zum Wesen christlicher<br />

Existenz <strong>und</strong> zeigt die soziale Verfasstheit des Christentums. 28 Gleichzeitig<br />

ist ähnlich wie bei Gemeinden auch im Hinblick auf den <strong>Gottesdienst</strong> eine zunehmende<br />

Pluralisierung seiner Formate zu beobachten: 29<br />

So ist in empirischer Perspektive zu konstatieren: Die traditionelle Konzentration<br />

kirchlicher Praxis auf den in Kirchengebäuden am Sonntagmorgen stattfindenden<br />

<strong>Gottesdienst</strong> erweist sich für die große Mehrheit der Menschen als unzulänglich.<br />

Nicht nur für jüngere Menschen kommt diese <strong>Gottesdienst</strong>form in ihrer wöchentlichen<br />

Regelmäßigkeit gar nicht mehr in den Blick. Anders sieht es aus, wenn es<br />

gelingt, gottesdienstliches Feiern mit Herausforderungen zu verknüpfen, die sich<br />

aus der Biografie […] ergeben. Solche kasuellen <strong>Gottesdienst</strong>e reichen in der Regel<br />

über die jeweilige Parochie hinaus. Die gilt ebenso für die gottesdienstlichen Feiern<br />

in den Medien.<br />

Da im Zusammenhang solcher Beobachtungen auch das <strong>Gottesdienst</strong>verständnis<br />

zur Debatte steht, soll der für die Studie maßgebliche <strong>Gottesdienst</strong>begriff<br />

erläutert <strong>und</strong> f<strong>und</strong>amentalliturgisch bestimmt werden.<br />

1. Als Sammelbegriff bezeichnet <strong>Gottesdienst</strong> den Vollzug von rituell, zeremoniell<br />

oder formal unterschiedlichen Akten glaubender Menschengrup-<br />

25<br />

So zum Beispiel die methodistische Kirchenfamilie, die u. a. die Evangelisch-methodistische<br />

Kirche, die Kirche des Nazareners <strong>und</strong> die Heilsarmee einschließt.<br />

26<br />

Vgl. Karle, Praktische Theologie, 249.<br />

27<br />

Vgl. Grethlein, <strong>Gottesdienst</strong>, 128–130.<br />

28<br />

Vgl. Häussling, <strong>Gottesdienst</strong> III. Liturgiegeschichtlich, LThK 4, 891, A. a. O., 897.<br />

Vgl. Grethlein, <strong>Gottesdienst</strong>, 128–130.<br />

29<br />

Grethlein, <strong>Gottesdienst</strong>, 127.


Gr<strong>und</strong>begriffe, Forschungsstand, theoretische F<strong>und</strong>ierung<br />

41<br />

pen, die sich ausdrücklich Gott zuwenden, um ihn zu verehren oder um von<br />

ihm betroffen zu werden. 30 Die liturgische Hauptfunktion liegt im Wecken <strong>und</strong><br />

Stärken des Glaubens 31 durch die Vermittlung christlicher Glaubensinhalte,<br />

Ausdrucksmöglichkeiten des Glaubens im Beten, Singen, Proklamieren <strong>und</strong><br />

Bekennen, die Annahme von Glaubenszusagen <strong>und</strong> -erfahrungen, insbesondere<br />

von Versöhnung, Vergebung <strong>und</strong> Vergewisserung, sowie die Anerkennung <strong>und</strong><br />

Eingliederung von Menschen über soziale, kulturelle <strong>und</strong> ethnische Grenzen<br />

hinweg in die Gemeinschaft. 32<br />

2. Theologiegeschichtlich wurzelt der neutestamentliche <strong>Gottesdienst</strong> in drei<br />

verschiedenen gottesdienstlichen Formaten: Dem rituell-kultischen Tempelgottesdienst,<br />

dem wortorientierten <strong>und</strong> auf Hören <strong>und</strong> Lernen ausgerichteten Synagogengottesdienst<br />

<strong>und</strong> dem häuslichen <strong>Gottesdienst</strong>, der durch die wöchentliche<br />

Sabbatfeier <strong>und</strong> das jährliche Passahfest geprägt war. 33 Neue Akzente im<br />

gottesdienstlichen Leben setzte die christliche Gemeinde mit der Tauffeier <strong>und</strong><br />

mit dem Abendmahl. Bis Ende des ersten Jahrh<strong>und</strong>erts hatte sich der erste Tag<br />

der Woche als <strong>Gottesdienst</strong>tag durchgesetzt. 34 Eine Präferenz für oder gegen<br />

die Einheit von Mahlfeier <strong>und</strong> Wortgottesdienst lässt sich im Neuen Testament<br />

nicht erkennen. 35<br />

3. In den gegenwärtigen liturgiewissenschaftlichen Debatten der Praktischen<br />

Theologie gilt der <strong>Gottesdienst</strong> einerseits als die gr<strong>und</strong>legende christliche<br />

Veranstaltung, wird aber hinsichtlich seiner Formate heftig diskutiert. 36 Diese<br />

werden meist etwa nach folgenden Hauptkategorien differenziert: 37 Sonntags-<br />

30<br />

Vgl. Karle, Praktische Theologie, 249, vgl. Häussling, <strong>Gottesdienst</strong> III. Liturgiegeschichtlich,<br />

LThK 4, 891. Ungeachtet aller liturgischen Pluralisierungen kommt dem<br />

<strong>Gottesdienst</strong> quer durch alle Konfessionen <strong>und</strong> Denominationen der höchste Rang zu,<br />

A. a. O., 897. Vgl. Grethlein, <strong>Gottesdienst</strong>, 128–130.<br />

31<br />

1Kor 14,20–26. Vgl. Karle, Praktische Theologie, 249.<br />

32<br />

Peter Cornehl, differenziert die Dimensionen des <strong>Gottesdienst</strong>es in dieser vierfachen<br />

Weise, ders., Der Evangelische <strong>Gottesdienst</strong>, 25ff. Der <strong>Gottesdienst</strong> ist über »Herkunft,<br />

Geschlecht <strong>und</strong> Ethnie hinweg Ort der Bewährung christlicher Einheit.« Karle, Praktische<br />

Theologie, 249. Christian Grethlein verweist im Anschluss an Jürgen Becker auf<br />

die drei liturgischen Kommunikationsmodi »Lehren <strong>und</strong> Lernen«, »gemeinschaftliches<br />

Feiern« <strong>und</strong> »Helfen zum Leben«, ders., <strong>Gottesdienst</strong>, 129.<br />

33<br />

Vgl. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, Stuhlmacher, Kirche nach dem Neuen<br />

Testament, Wick, Die urchristlichen <strong>Gottesdienst</strong>e. Luther knüpft insbesondere im<br />

Vorwort zur Deutschen Messe daran an, wenn er neben den öffentlichen <strong>Gottesdienst</strong>en<br />

die häusliche Feier als dritte Weise beschreibt <strong>und</strong> im Rahmen der Hausgemeinschaften<br />

dem Aspekt des Helfens einen festen Platz zugewiesen hat, WA 19,75. Vgl. <strong>Burkhardt</strong>,<br />

Erneuerung der Kirche, 19–27.<br />

34<br />

Vgl. Karle, Praktische Theologie, 253.<br />

35<br />

Vgl. Karle, Praktische Theologie, 256.<br />

36<br />

Vgl. Fechtner, Liturgik, 128f.; Grethlein, <strong>Gottesdienst</strong>, 127. Karle, Praktische<br />

Theologie, 248f. 309–343.<br />

37<br />

Kategorien bei Karle, Praktische Theologie, 336, vgl. a. a. O., 310. Eine Einteilung<br />

nach zwölf Kategorien findet die Kirchgangsstudie 2019, 9f.


42 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong><br />

gottesdienst (als der gewöhnliche oder normale <strong>Gottesdienst</strong>), Festtagsgottesdienste,<br />

Kasualgottesdienste (Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen), zielgruppen-<br />

oder milieubezogene neue bzw. alternative <strong>Gottesdienst</strong>e im »Zweiten<br />

Programm« (Motorradgottesdienste, Tiergottesdienste, Kinder-, Jugend-, Seniorengottesdienste,<br />

Salbungsgottesdienste). Diskutiert wird das <strong>Gottesdienst</strong>geschehen<br />

zwischen rituellen <strong>und</strong> diskursiven Kommunikationsformen, zwischen<br />

Subjekt- <strong>und</strong> Weltbezug sowie zwischen zweckfreier religiöser Feier <strong>und</strong><br />

pädagogischer Veranstaltung. 38<br />

Prinzipiell befinden sich alle Gemeinden im ökumenischen Verb<strong>und</strong> kirchlicher<br />

Gemein schaften <strong>und</strong> interagieren mit den anderen. Zur Erforschung <strong>und</strong><br />

Beschreibung dieses kirchlichen Gesamtnetzwerks <strong>und</strong> -panoramas in der<br />

iMS verfolgt die Studie eine ökumenisch-kirchenk<strong>und</strong>liche Perspektive. Sie unterscheidet<br />

vier kirchenk<strong>und</strong>liche Hauptgruppen, 39 von denen drei die großen<br />

kirchlichen Strömungen der Orthodoxie, des Katholizismus <strong>und</strong> des Protestantismus<br />

repräsentieren, 40 während die vierte Hauptgruppe Andere Kirchen <strong>und</strong><br />

christliche Gemeinschaften christliche Partikulargemeinschaften der Neuzeit<br />

umfasst, die gr<strong>und</strong>sätzliche Differenzen zu den erstgenannten drei Hauptgruppen<br />

aufweisen. 41 Um die fortschreitende Pluralisierung der Kirchenlandschaft<br />

in der für die Gegenwart charakteristischen Weise möglichst realitätsgetreu,<br />

differenziert <strong>und</strong> vollständig wahrnehmen <strong>und</strong> beschreiben zu können, ver-<br />

38<br />

Vgl. Fechtner, Liturgik 145–151; Meyer-Blanck, Liturgie <strong>und</strong> Liturgik, 320–327.<br />

39<br />

Fünf Hauptgruppen bei Körtner, Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e, 40f. Irritierend an<br />

der Gliederung ist die fünfte Gruppe, die die pfingstlich-charismatischen Kirchen von<br />

den protestantischen Kirchen separiert <strong>und</strong> sie mit den Sondergemeinschaften zu einer<br />

Gruppe formiert, insofern seine Grafik, a. a. O., 41, die Verbindung bzw. Zusammengehörigkeit<br />

von Pentekostalismus mit dem Protestantismus zeigt. Weiter gibt Ulrich H.<br />

J. Körtners Darstellung der Sondergemeinschaften als Entwicklungen des angloamerikanischen<br />

Protestantismus keine Möglichkeit, Bewegungen wie die Neue Kirche oder<br />

die Lorber-Kreise kirchenk<strong>und</strong>lich einzuordnen. Ähnlich separiert die Darstellung der<br />

Kirchenfamilien bei E. Hauschildt <strong>und</strong> U. Pohl-Patalong den Pentekostalismus von den<br />

Kirchen der Reformation, dies., Kirche, 221–245.<br />

40<br />

Hingewiesen sei auf drei kirchen- bzw. konfessonsk<strong>und</strong>liche Zuordnungen, die in<br />

der Literatur nicht einheitlich gehandhabt werden: 1. Die mit Rom unierten altorientalischen<br />

<strong>und</strong> orthodoxen Kirchen kommen hier in Anlehnung an Ulrich H. J. Körtner unter<br />

der ersten Hauptgruppe der altorientalischen <strong>und</strong> orthodoxen Christenheit zur Darstellung,<br />

ders., Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e, 93f. Vgl. auch Lange/Pinggéra, Die altorientalischen<br />

Kirchen, XII. 2. Die Anglikanische Kirchenfamilie wird ebenfalls Ulrich H. J.<br />

Körtner (ders., Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e, 222ff.), aber auch Friedrich Wilhelm Graf<br />

(ders., Der Protestantismus, 46ff.) folgend dem Protestantismus zugeordnet. 3. Schließlich<br />

wird das pfingstlich-charismatische Christentum nach der Darstellung bei Friedrich<br />

Wilhelm Graf (ders., Der Protestantismus, 56–62) als protestantische Konfessionsfamilie<br />

behandelt, anders wie bei Ulrich H. J. Körtner (ders., Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e,<br />

255–283).<br />

41<br />

Zur Definition <strong>und</strong> Differenzierung der vierten Gruppe s. Pöhlmann/Jahn, Handbuch<br />

Weltanschauungen, 320–324.


Gr<strong>und</strong>begriffe, Forschungsstand, theoretische F<strong>und</strong>ierung<br />

43<br />

wendet die Studie einen deskriptiv-hermeneutischen Ansatz, 42 der auf einem<br />

positiven <strong>und</strong> dialogbereiten Verständnis christlicher Ökumene fußt. 43 Ein solcher<br />

Ökumenebegriff sieht die Einheit der Kirche als »Einheit in versöhnter<br />

Verschiedenheit« 44 , bei der sich konfessionelle Identität <strong>und</strong> ökumenische Verb<strong>und</strong>enheit<br />

nicht widersprechen. Einheit ist nicht uniform, sondern als »Einheit<br />

der Differenz« <strong>und</strong> »paradoxe Einheit« verstanden. 45 Die konfessionelle Vielfalt<br />

des Christentums ist nicht nur möglich <strong>und</strong> theologisch begründbar, sondern<br />

wird als Reichtum bewertet. 46 Die Aufgabe eines solchen ökumenisch <strong>und</strong> kirchenk<strong>und</strong>lich<br />

ausgerichteten Ansatzes ergibt sich aus der enormen Pluralisierung<br />

der Christenheit im 20. <strong>und</strong> 21. Jahrh<strong>und</strong>ert, die sich insbesondere der<br />

Entwicklung charismatischer <strong>und</strong> pentekostaler Kirchen sowie der Emanzipation<br />

von Kirchen aus traditionellen Missionskirchen verdanken. Gleichzeitig vollziehen<br />

sich Einheitsbewegungen unter kirchlichen Gruppierungen innerhalb<br />

von Kirchenfamilien zwischen Gemeinden <strong>und</strong> Partikulargemeinschaften. Bestehende<br />

Kirchen fusionieren <strong>und</strong> bilden neue Kirchen oder Kirchenunionen, 47<br />

die zu neuen, die bestehenden Konfessionen <strong>und</strong> Denominationen übergreifenden,<br />

teilweise sehr fluiden christlichen Strömungen, Netzwerkstrukturen<br />

<strong>und</strong> Milieubildungen führen, die von je eigenen Leitbildern oder Visionen von<br />

Kirche bewegt werden. 48 Diese Entwicklung zeigt sich besonders ausgeprägt<br />

im Protestantismus infolge seiner Internationalisierungsbewegungen im 18.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> durch Migrationsbewegungen, die ab dem ausgehenden 19.,<br />

während des gesamten 20. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> bis in die Gegenwart Deutschland<br />

erreichen. Sie prägt aber auch die altorientalische <strong>und</strong> orthodoxe Christenheit,<br />

in der es gegenwärtig neben den traditionellen Kirchenfamilien <strong>und</strong> Partikularkirchen<br />

zu neuen gemeindlichen <strong>und</strong> partikularkirchlichen Formierungen<br />

kommt. Um diese Entwicklungen differenziert wahrnehmen <strong>und</strong> reflektieren<br />

zu können, geschieht die kirchenk<strong>und</strong>liche Arbeit zum einen in einem enzyklopädischen,<br />

alle theologischen Disziplinen umfassenden Verständnis: Sie bewegt<br />

sich für die erforderlichen Klärungen insbesondere an der Schnittstelle<br />

von Kirchengeschichte, Systematischer Theologie <strong>und</strong> Praktischer Theologie<br />

42<br />

Die Studie stellt sich damit in eine Linie, die von den beiden Kirchenhistorikern<br />

Ernst Benz <strong>und</strong> Peter Meinhold über Erwin Fahlbusch bis zu der jüngst veröffentlichten,<br />

ökumenischen Kirchenk<strong>und</strong>e von Ulrich H. J. Körtner reicht.<br />

43<br />

Vgl. Körtner, Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e, 20f.<br />

44<br />

Diese Formulierung charakterisiert das Ökumene-Modell der Gemeinschaft evangelischer<br />

Kirchen in Europa (GEGE), das neben protestantischen Kirchen auch katholische<br />

<strong>und</strong> orthodoxe mit einbezieht, Körtner, Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e, 21.<br />

45<br />

Luhmann, Gesellschaftsstruktur, 262.<br />

46<br />

Was Kirchen trennt, muss nicht negativ bewertet werden, Vgl. Körtner, Ökumenische<br />

Kirchenk<strong>und</strong>e, XI. 20–23. 27.<br />

47<br />

Vgl. Körtner, Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e, 23f.<br />

48<br />

Vgl. S. Fahlbusch, Kirchenk<strong>und</strong>e, 13; Körtner, Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e, 1–29.<br />

Reinhard Hempelmann charakterisiert diese kulturschaffenden Frömmigkeitsströmungen<br />

als »volkskirchlich-pluralistisch, missionarisch-evangelistisch, charismatisch-, ökumenisch-konziliar<br />

<strong>und</strong> politisch-emanzipatorisch«, ders., Verschärfungen, 5.


44 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong><br />

<strong>und</strong> nutzt zur Wahrnehmung, Reflexion <strong>und</strong> Einordnung globaler Phänomene<br />

die mittlerweile in der Interkulturellen Theologie gebündelten Einsichten. Ziel<br />

ist es, die einzelnen Kirchen als ökumenische Vielfalt in ihren Potenzialen zu<br />

beschreiben. 49 Gleichzeitig prägt die Studie ein interdisziplinärer Ansatz, in<br />

dem sie theoretische Konzepte benachbarter Wissenschaftsbereiche einbezieht,<br />

insbesondere aus der Kirchen- <strong>und</strong> Religionssoziologie.<br />

In kirchensoziologischer Perspektive lassen sich die Gemeinden nach drei<br />

Gr<strong>und</strong>kategorien differenzieren in Volkskirchen, Freikirchen <strong>und</strong> Nationalkirchen.<br />

Der Begriff Volkskirche fungiert in der Gegenwart als Oberbegriff für<br />

die beiden Großkirchen in Deutschland, die katholische Kirche in Deutschland<br />

<strong>und</strong> die Evangelische Kirche in Deutschland oder einzelne ihrer Bistümer <strong>und</strong><br />

Landeskirchen. Aufgr<strong>und</strong> des öffentlichen Gebrauchs 50 <strong>und</strong> als Selbstbezeichnung<br />

51 verwendet die Studie den Volkskirchenbegriff deskriptiv 52 zur soziologischen<br />

Bestimmung der beiden großen, ehemals staatskirchlichen Kirchentraditionen.<br />

53 Der Ausdruck Freikirchen dient ungeachtet seiner Begriffsgeschichte<br />

in der Gegenwart in der Regel dazu, diejenigen Kirchen oder Gemeindeverbünde<br />

gegenüber den Volkskirchen abzugrenzen, zu deren ekklesiologischen<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen sowohl die Trennung von Kirche <strong>und</strong> Staat als auch die freiwillige<br />

Mitgliedschaft gehören. 54 Eine dritte kirchensoziologische Kategorie bilden Nationalkirchen.<br />

55 Sie nehmen in ihrer Organisation <strong>und</strong> oft auch in ihrem Namen<br />

Bezug auf einen bestimmten Staat <strong>und</strong> verstehen sich nationalen Autoritäten<br />

unterstellt.<br />

Die Untersuchung verlangt Differenzierungen im Protestantismus, der seit<br />

dem 18. Jahrh<strong>und</strong>ert im Zuge der Internationalisierungs- <strong>und</strong> Globalisierungs-<br />

49<br />

Vgl. Körtner, Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e, 24.<br />

50<br />

So fragt etwa Peter Scherle in einem Beitrag am 12.11.2018 in der Frankfurter Allgemeinen<br />

Zeitung nach der »Zukunft der Volkskirche«, ders., Zukunft der Volkskirche,<br />

faz.net; Klatt, Die Zukunft der Großkirchen in Deutschland, deutschlandfunk.de; B<strong>und</strong>eszentrale<br />

für politische Bildung, Katholische <strong>und</strong> Evangelische Kirche, bpb.de.<br />

51<br />

Martin, Siegeszüge der Volkskirchen, katholisch.de; Springer, Warum die Volkskirchen<br />

neue prophetische Kraft entwickeln müssen, sonntagsblatt.de.<br />

52<br />

Im deskriptiven Gebrauch des Volkskirchenbergriffs trifft sich das römisch-katholische<br />

<strong>und</strong> das protestantische Verständnis von Volkskirche, Mette, Volkskirche I. Katholisches<br />

Verständnis, LThK 10, 862f.: »V.[olkskirche] bezeichnet in Europa die Situation<br />

der möglichst großen Deckungsgleichheit zw. Kirche u. Ges.[ellschaft] in einem<br />

bestimmten Volk bzw. einer Nation.« Vgl. Hein, Volkskirche I. Katholisches Verständnis,<br />

LThK 10, 863f.<br />

53<br />

Der auf Friedrich Schleiermacher zurückgehende Begriff ist ein kirchentheoretisch<br />

zentraler, aber auch umstrittener Begriff, Vgl. Hein, Art. Volkskirche I. Begriff, RGG 4 8,<br />

1184f.; ders., Art. Volkskirche II Dogmatik, RGG 4 8, 1185; Link, Art. Staatskirche, RGG 4<br />

7, 1649.<br />

54<br />

Vgl. Schwarz, Art. Freikirche I. Begriffsbestimmung, TRE 11, 550.<br />

55<br />

Heun, Nationalkirche, RGG 4 6, 78f.; G. Graf, Nationalkirchliche Bewegung, EKL<br />

3,625; Hatz, Nationalkirchen 1. Begriff <strong>und</strong> 2. Geschichtliche Entwicklung, LThK 7,<br />

650f.


Gr<strong>und</strong>begriffe, Forschungsstand, theoretische F<strong>und</strong>ierung<br />

45<br />

prozesse bis in die Gegenwart weltweit eine kontinuierliche Pluralisierung<br />

erlebt. Die Wiege dieser Entwicklung liegt im Denominationalismus Nordamerikas,<br />

der dort ein eigenes Sozialitätsmuster religiöser Pluralität hervorbrachte.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der strikten Trennung von Staat <strong>und</strong> Kirche mussten sich die Einwanderer<br />

in freien Formen unabhängig von staatlichen Strukturen religiös<br />

assoziieren. Christlich gesinnte Privatpersonen organisierten ihr religiöses<br />

Gemeinschaftsleben eigenständig in zivilgesellschaftlichen Vereinen oder Gesellschaften.<br />

Kennzeichnend waren engagierte Mitglieder, die ihre Kirche unabhängig<br />

von staatlicher Unterstützung finanzierten <strong>und</strong> sich mit ihr in einem<br />

hohen Maß identifizierten. Diese protestantischen Denominationen angelsächsischer<br />

Couleur verbreiteten sich von Nordamerika aus weltweit <strong>und</strong> hielten<br />

seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts auch in Württemberg mit ihren<br />

Missionsgesellschaften Einzug. 56<br />

Im zweiten Drittel des zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts kam es infolge der Unabhängigkeitsbewegungen<br />

in den Ländern des globalen Südens, vielfach in<br />

Verbindung mit der Ausbreitung der Pfingstbewegung, zur Gründung unabhängiger<br />

protestantischer Kirchen, was eine neue Pluralisierungsdynamik im<br />

Protestantismus hervorrief. 57 Insbesondere durch Migration gelangen diese<br />

neuen Denominationen auch nach Europa. Zur Wahrnehmung der Vielfalt protestantischer<br />

Kirchen im Binnenraum der iMS <strong>und</strong> zur sach- <strong>und</strong> zeitgerechten<br />

Beschreibung der damit verb<strong>und</strong>enen Phänomene, differenziert die Studie den<br />

Protestantismus nach drei Kategorien in einen kontinentaleuropäischen Zweig,<br />

einen angloamerikanischen Zweig <strong>und</strong> einen Außereuropa-Zweig. 58<br />

1. Der kontinentaleuropäische Zweig umfasst Kirchen <strong>und</strong> Gemeinden, die<br />

direkt auf die Reformationen des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts zurückgehen, in ihrer Wirkungsgeschichte<br />

stehen oder aus dem internationalen Raum stammend sich in<br />

einer engen Verbindung mit der Evangelischen Kirche in Deutschland sehen.<br />

2. Der angloamerikanische Zweig des Protestantismus bezeichnet Partikularkirchen,<br />

die aus Missionsinitiativen, im Zuge der Internationalisierung, Globalisierung<br />

<strong>und</strong> Pluralisierung des europäischen Protestantismus in Nordamerika<br />

oder von dort ausgehend in anderen britischen Kolonien entstanden sind oder<br />

bis heute in der Tradition solcher Kirchen stehen.<br />

3. Den Außereuropa-Zweig bilden Gemeinden, Partikularkirchen <strong>und</strong> missionarische<br />

Initiativen, die auf von Kirchen <strong>und</strong> Missionsgesellschaften ehemaliger<br />

Kolonialmächte unabhängige Kirchenbildungen im globalen Süden zurückgehen<br />

<strong>und</strong> die in ihrer Theologie, theologischen Ausbildung sowie hinsichtlich<br />

ihrer finanziellen, materiellen <strong>und</strong> personellen Ressourcen eine weitgehende<br />

56<br />

Vgl. <strong>Burkhardt</strong>, Christoph Gottlob Müller, 414–416.<br />

57<br />

Vgl. Asamoah-Gyadu, Pentecostalism, 102–106; Wrogemann, Interkulturelle Theologie<br />

<strong>und</strong> Hermeneutik, 175f. 188.<br />

58<br />

Die ersten beiden Kategorien finden sich auch bei Körtner, ders., Kirchenk<strong>und</strong>e,<br />

41. Die dritte Kategorie fokussiert auf freie <strong>und</strong> unabhängige Kirchenbildungen des<br />

globalen Südens mit seinen Auslandsmissionen <strong>und</strong> -gemeinden in der westlichen Welt.<br />

Diesen Kirchen ist ein starkes Wachstum prognostiziert, Vgl. Graf, Protestantismus, 22.


46 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong><br />

Eigenständigkeit besitzen. 59 Weitere Merkmale, die Gemeinden, Partikularkirchen<br />

<strong>und</strong> Missionsinitiativen im Außereuropa-Zweig des Protestantismus kennzeichnen,<br />

zeigen sich vielfach in einer starken transnationalen Organisation<br />

<strong>und</strong> Wirksamkeit 60 <strong>und</strong> in einem missionarischen Bewusstsein einer Sendung<br />

vom Süden in die Länder der westlichen <strong>und</strong> nördlichen Welt. 61<br />

4. Nicht zuletzt zeigt sich die Pluralisierung des Protestantismus im Pietismus<br />

als einer protestantischen Querschnittsbewegung, die sich nicht nur frömmigkeitsperspektivisch<br />

unterschiedlich ausdifferenziert hat. Vielmehr bilden<br />

sich innerhalb dieser pietistischen Traditionslinien verschiedene Sozial- oder<br />

Organisationformen aus. 62 Diese umfassen (1.) evangelische Gemeinschaften<br />

als Teil der landeskirchlichen Gemeinden, (2.) evangelische Gemeinschaften<br />

als Gemeinschaftsgemeinden <strong>und</strong> (3.) evangelische Gemeinschaften als eigenständige<br />

Gemeinden oder als solche, die sich auf dem Weg dahin befinden. 63<br />

Neben diesen pietistischen Verbänden, die sich innerhalb der Evangelischen<br />

Landeskirche in Deutschland befinden, gibt es auch Gemeinden, Verbünde <strong>und</strong><br />

Kirchen mit pietistischen Wurzeln oder die in der Tradition des Pietismus ste-<br />

59<br />

Die Anfänge dieser Kirchen reichen zurück ins zu Ende gehende 19. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Im Zuge der Unabhängigkeitsbewegungen kam es zu Abspaltungen von den klassischen<br />

Missionskirchen <strong>und</strong> zur Bildung der sog. »Ethiopianist Churches«, Vgl. Asamoah-<br />

Gyadu, Pentecostalism, 100; Ludwig, Ethiopians, 228. Diese frühe Phase der African<br />

Independent Churches bekam nach 1906 starke pfingstkirchliche Impulse aus der<br />

Azusa Street Erweckung unter der Leitung des Schwarzen Methodistenpredigers William<br />

J. Seymour (1870–1922), Vgl. Asamoah-Gyadu, Pentecostalism, 102f. Nordamerikanische<br />

Pfingstprediger brachten diese Frömmigkeit nach Liberia <strong>und</strong> Angola <strong>und</strong><br />

Printmedien berichteten von Pfingsterfahrungen wie Sprachengebet, Zeichen <strong>und</strong> W<strong>und</strong>er.<br />

Im afrikanischen Kontext trafen solche Glaubensäußerungen auf eine besondere<br />

Sensibilität für Resonanzen der christlichen Botschaft, die im Kontext einer geistorientierten<br />

biblischen Weltsicht auf der einen Seite <strong>und</strong> einem charismatisch-indigenen<br />

Wirklichkeitsverständnis auf der anderen Seite entstanden. So bildete sich im Gegenüber<br />

zu der eher liturgisch-hochkirchlichen, statischen, stillen <strong>und</strong> feierlichen Frömmigkeit<br />

<strong>und</strong> <strong>Gottesdienst</strong>kultur der Missionskirchen in den African Independent Churches eine<br />

dynamische, charismatische, erfahrungsbezogene <strong>und</strong> geistorientierte Glaubenskultur.<br />

Theologisch oder frömmigkeitsperspektivisch betrachtet sind nahezu alle Independent<br />

Churches der Familie der Pfingstkirchen zuzuordnen.<br />

60<br />

John, Transnational Religious Organisation.<br />

61<br />

Andreas Heuser <strong>und</strong> Claudia Hoffmann verstehen Migrationskirchen als »Akteure<br />

einer ›Rückkehrmission‹ (reverse mission)« <strong>und</strong> »Visionäre der Neuevangelisierung Europas«,<br />

dies., Afrikanische Mirationskirchen, 294.<br />

62<br />

Zum aktuellen Stand s. Volker Brecht, Zwischen Landeskirche <strong>und</strong> Freikirche, 10.<br />

63<br />

Vgl. S. 39f. Für die Organisationsstruktur vieler größeren pietistischer Gemeinschaftsverbände<br />

ist das sog. Gnadauer Modell maßgeblich. Hinsichtlich ihres Bezugs zur<br />

landeskirchlichen Ortsgemeinde unterschiedet es drei verschiedene Gemeinschaftsmodelle:<br />

den »ergänzenden Dienst«, den »partiell stellvertretenden Dienst« <strong>und</strong> den »alternativ<br />

stellvertretenden Dienst«, Volker Brecht, Zwischen Landeskirche <strong>und</strong> Freikirche,<br />

10.


Gr<strong>und</strong>begriffe, Forschungsstand, theoretische F<strong>und</strong>ierung<br />

47<br />

hen, die eine noch größere Eigenständigkeit 64 bis hin zur Freikirchlichkeit 65<br />

kennzeichnet.<br />

Der Forschungsüberblick<br />

Die beiden Hauptthemen der Studie, <strong>Gottesdienst</strong> <strong>und</strong> Gemeinde werden in<br />

unterschiedlichen Teildisziplinen in der Praktischen Theologie behandelt, weswegen<br />

der Überblick zum Forschungsstand der Gemeindeforschung <strong>und</strong> <strong>Gottesdienst</strong>forschung<br />

zunächst gesondert dargestellt wird. In Deutschland war<br />

die empirische Gemeindeforschung bis in die 1960er Jahre kirchensoziologisch<br />

stark auf einzelne Kirchengemeinden ausgerichtet. Die nächste Dekade brachte<br />

einen Umschwung hin zu einer religionssoziologischen Perspektive, die sich<br />

auf der Makroebene mit den großen religiösen Bewegungen <strong>und</strong> auf der Mikroebene<br />

mit dem individuellen religiösen Leben beschäftigte. 66 Kirchensoziologische<br />

Untersuchungen der Evangelischen Kirche in Deutschland befassten<br />

sich ab den 1970er Jahren schwerpunktmäßig mit Themen der Kirchenmitgliedschaft.<br />

Dazu gehören die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen (KMU),<br />

die zunächst rein quantitativ, dann aber auch qualitativ ausgerichtet waren mit<br />

jeweils verschiedenen Fokussen, von denen die KMU aus dem Jahr 2012 einen<br />

Schwerpunkt auf die Vielfalt religiösen Lebens legte. 67 Im Zusammenhang des<br />

EKD-Reformprozesses <strong>und</strong> der Diskussion von Profil- <strong>und</strong> Regionalgemeinden<br />

entstanden Best-Practice-Studien, die sich auf die Ortsgemeinden bezogen wie<br />

die von Wilfried Härle initiierte Untersuchung (2008), oder Forschungen des<br />

Sozialwissenschaftlichen Institutes der EKD (2015). 68 Daneben entstanden auch<br />

eine Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen zur Freikirchenlandschaft im<br />

deutschsprachigen Raum. Diese untersuchten überdenominationell <strong>und</strong> in weiter<br />

gefassten Gebieten Gemeinden als Forschungsgegenstand insgesamt (Jörg<br />

Stolz/Olivier Favre, 2014) oder zu bestimmten Themen wie Gemeindegründung<br />

in Ostdeutschland (Sabine Schröder, 2007) oder Mission (Philipp Bartholomä,<br />

2019) auf Basis von Erhebungen in Gemeinden. In ihrem religionssoziologischen<br />

Überblicksartikel zur Gemeindeforschung resümiert Anna Körs (2018),<br />

64<br />

Es sind Gemeinden nach einem vierten Modell von freien Gemeinden außerhalb der<br />

Volkskirche, die aber vom Gnadauer Gemeinschaftsverband abgelehnt werden, Volker<br />

Brecht, Zwischen Landeskirche <strong>und</strong> Freikirche, 10.<br />

65<br />

Hierzu zählen die Brüdergemeinde Korntal, die Herrnhuter Brüdergemeine oder die<br />

Freie evangelische Gemeinde, die sich heute nicht mehr dem Pietismus zurechnen, aber<br />

in ihren Anfängen in unterschiedlicher Weise im Pietismus verwurzelt waren.<br />

66<br />

Vgl. Körs, Empirische Gemeindeforschung, 634f.<br />

67<br />

Zu den ersten vier Untersuchungen vgl. Hauschildt/Pohl-Patalong, Kirche, 316–<br />

322, zur Interpretation <strong>und</strong> Deutung; a. a. O., 322–356, <strong>und</strong> Pohl-Patalong, <strong>Gottesdienst</strong>,<br />

48f. Zur V. KMU vgl. EKD (<strong>Hrsg</strong>.), Engagement <strong>und</strong> Indifferenz.<br />

68<br />

Vgl. Härle et al., Wachsen gegen den Trend.


<strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong><br />

Methodik der <strong>Stuttgarter</strong><br />

<strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong><br />

Überlegungen aus Perspektive der empirischen Sozialforschung<br />

Die <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong> stellt eine Momentaufnahme<br />

christlicher Gemeinden, Kirchen <strong>und</strong> Gemeinschaften 1 in der inneren Metropolregion<br />

Stuttgart (iMS) mit ungefähr 2,7 Mio Einwohnern 2 dar. Gemeinden<br />

erscheinen in religionssoziologischer Hinsicht in einer Vielfalt unterschiedlicher<br />

Sozialformen, religiöser Prägungen <strong>und</strong> Handlungsfelder, die einem steten<br />

Wandel unterworfen sind. Insofern bietet die vorliegende Untersuchung eine<br />

Momentaufnahme im Sinn eines »bewegten Bildes« von der Gemeindelandschaft<br />

in der iMS. 3 Ziel der Studie war es, zuerst möglichst alle Gemeinden statistisch<br />

zu erfassen <strong>und</strong> kirchenk<strong>und</strong>lich zu kategorisieren, um damit eine Panoramadarstellung<br />

der Gemeindelandschaft zu erstellen. Danach folgte durch<br />

Fokusgruppengespräche eine »Tiefenbohrung«, in der die Arbeiten einzelner<br />

Gemeinden durch die Aussagen leitender Verantwortlicher betrachtet wurden.<br />

Die vorliegende Studie ist ein Beispiel einer zeitlich aufeinanderfolgenden<br />

Mixed-Methods-Forschung. Der deutsche Methodiker Udo Kuckartz weist darauf<br />

hin, dass gerade in dieser Art der quantitativen wie qualitativen Datenerhebung<br />

eine Integration beider Daten von besonderer Bedeutung ist: 4<br />

Wichtig ist es zu bestimmen, wo die Integration, das Mixing, im Forschungsverlauf<br />

stattfindet, d. h. wo die Schnittstellen sind, an denen qualitativer <strong>und</strong> quantitativer<br />

Strang zusammengeführt werden.<br />

Dieser Beitrag stellt die Methoden, das Design <strong>und</strong> den methodischen Prozess<br />

der vorliegenden Studie vor. Dabei werden sowohl der quantitative als auch der<br />

qualitative Strang vorgestellt <strong>und</strong> erläutert. Die von Udo Kuckartz geforderte<br />

Integration der beiden Methoden geschieht in den einzelnen Beiträgen dieses<br />

Bandes, in der die Autorinnen <strong>und</strong> Autoren jeweils die qualitativen <strong>und</strong> quantitativen<br />

Daten im Kontext der Literatur interpretieren. Dieser Artikel führt zu<br />

1<br />

Zur Bestimmung <strong>und</strong> Differenzierung von »Gemeinden, Kirchen <strong>und</strong> Gemeinschaften«<br />

s.o. S. 37–40.<br />

2<br />

Zum Begriff der inneren Metropolregion Stuttgart (iMS) s.o. S. 36.<br />

3<br />

S. 35f.<br />

4<br />

Kuckartz, Datenanalyse, 165.


72 <strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong><br />

einer kritischen Reflexion des methodischen Vorgehens mit einigen Hinweisen<br />

zur Verfahrensweise bei weiteren zukünftigen Metropolstudien. Die Methode<br />

des Mixed-Methods spiegelt sich in der Forschungsfrage <strong>und</strong> den entsprechenden<br />

Unterfragen wider.<br />

1. Forschungsproblem <strong>und</strong> Forschungsziel<br />

In Anlehnung an den Religionswissenschaftlichen Medien- <strong>und</strong> Informationsdienst<br />

(REMID), 5 der die religiösen Gemeinschaften der gesamten B<strong>und</strong>esrepublik<br />

erfasst, fokussiert sich die <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong><br />

auf die christlichen Gemeinden im Gebiet der iMS. Dies entspricht den religiösen<br />

Gemeinschaften, die REMID unter seinen ersten drei Kategorien von Religionsgemeinschaften<br />

subsumiert: Katholizismus, Protestantismus (einschließlich<br />

Freikirchen <strong>und</strong> Sondergemeinschaften) <strong>und</strong> Orthodoxie / Orientalische<br />

/ Unierte Kirchen. Das primär ausschlaggebende Kriterium für die Aufnahme<br />

einer Gemeinde in die Studie <strong>und</strong> deren Zuordnung zu einer der Kategorien<br />

ist deren eigenes christliches <strong>und</strong> denominationalistisches bzw. konfessionelles<br />

Selbstverständnis <strong>und</strong> nicht etwa Zuschreibungen anderer Kirchen oder<br />

Gemeinden. Das Christentum wird religionswissenschaftlich als ein offenes<br />

System betrachtet. Ziel ist eine Darstellung der Gemeinden in der gesamten<br />

Vielfalt der Ökumene.<br />

Handlungsleitend für den gesamten Prozess war folgende Forschungsproblem:<br />

»Welche Aussagen lassen sich über christliche Gemeinden der iMS<br />

im Jahr 2019, ihre zentralen Veranstaltungen <strong>und</strong> deren Besucher sowie ihre<br />

kirchlichen Handlungsfelder treffen?« Um diese Frage zu beantworten, bearbeitete<br />

das LIMRIS folgende Unterfragen: Welche christlichen Gemeinden gibt<br />

es in den Kommunen der iMS? Wie lassen sich diese christlichen Gemeinden<br />

kirchenk<strong>und</strong>lich kategorisieren? Was lässt sich hinsichtlich der Besucherzahlen<br />

der nach eigenen Aussagen drei wichtigsten Veranstaltungen der erfassten<br />

Gemeinden statistisch beobachten? Was lässt sich hinsichtlich kirchlicher<br />

Handlungsfelder in den Arbeiten der erfassten Gemeinden wahrnehmen? Welche<br />

statistischen Aussagen lassen sich im Blick auf Besucherinnen <strong>und</strong> Besucher<br />

der Gemeinden, die nicht aus Deutschland stammen treffen? Was ergibt<br />

eine Analyse der Berichte ausgewählter Gemeindeleiterinnen <strong>und</strong> -leiter über<br />

ihre Arbeiten anhand des Modells kirchlicher Handlungsfelder nach Eberhardt<br />

Hauschildt <strong>und</strong> Uta Pohl-Patalong? 6<br />

5<br />

Religionswissenschaftlicher Medien <strong>und</strong> Informationsdienst, Mitgliederzahlen,<br />

remid.de.<br />

6<br />

Diese kategorisieren die Aufgaben einer Gemeinde nach der Gr<strong>und</strong>orientierungen<br />

Thema, Subjekt <strong>und</strong> Welt. S.o. S. 64f. Vgl.: Hauschildt/ Pohl-Patalong, Kirche, 409–<br />

438.


Methodik der <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong><br />

73<br />

Bevor im nächsten Abschnitt die unterschiedlichen Datenerhebungsmethoden<br />

besprochen werden, sei darauf hingewiesen, dass alle ethischen Richtlinien<br />

empirischer Sozialforschung eingehalten wurden, insbesondere die drei<br />

Gr<strong>und</strong>sätze Respekt, Gewinn <strong>und</strong> Selbstbestimmung. 7 1. Entsprechend dem<br />

Gr<strong>und</strong>satz Respekt wurden alle erhobenen Daten anonymisiert <strong>und</strong> im Rahmen<br />

datenschutzrechtlicher Verordnungen verwaltet. 8 Die Teilnehmenden wurden<br />

in ihrem Alltagsablauf nicht gestört. 2. Die Teilnahme an der Studie stellte für<br />

alle Beteiligten einen Gewinn in Aussicht: Die Teilnehmerinnen <strong>und</strong> Teilnehmer<br />

an der quantitativen Forschung nahmen an einem Preisausschreiben teil, während<br />

sich für die an den Gruppeninterviews beteiligten Leitungspersonen von<br />

Gemeinden die Möglichkeit verband, ihre Arbeit anderen bekannt zu machen.<br />

3. Prinzipiell wurde niemand zur Teilnahme gezwungen. Die Fragebögen gelten<br />

als Alternative zu Einverständniserklärungen. Die Teilnehmenden an den Fokusgruppen<br />

wurden darauf hingewiesen, dass sie sich jederzeit ohne Konsequenzen<br />

aus dem Gespräch zurückziehen können, <strong>und</strong> gaben im Vorfeld ihre Einverständniserklärung<br />

zum Forschungsprozess. Dasselbe gilt auch für die nach den Fokusgruppengesprächen<br />

geführten Interviews mit Christinnen <strong>und</strong> Christen aus<br />

internationalen Gemeinden.<br />

2. Methoden zur Datenerhebung<br />

Um die zu analysierenden Daten zu erheben, geschah ihre Erhebung unter Einsatz<br />

verschiedener Methoden in drei aufeinander folgenden Schritten (s. Übersicht<br />

1). 9 Den Einstieg bildete eine umfangreiche Internetrecherche <strong>und</strong> Dokumentenanalyse<br />

existierender Gemeinde-Websites, um Name, Ort <strong>und</strong> eventuelle<br />

denominationale oder konfessionelle Zugehörigkeit der einzelnen Gemeinden<br />

zu erheben. Bei diesem ersten Schritt der Datenerhebung wurden insgesamt<br />

1.418 christliche Kirchen, Gemeinden <strong>und</strong> Gemeinschaften ausfindig gemacht.<br />

Darauf folgte in einem zweiten Schritt eine schriftlich-standardisierte Befragung<br />

mittels eines Fragebogens per E-Mail oder Post. Mit einem Rücklauf von<br />

404 Gemeinden wurde eine Rücklaufquote von 28 % erreicht. Doppelt so hoch<br />

sind die erhobenen Zahlen zum <strong>Gottesdienst</strong>besuch mit einem Rücklauf von<br />

835 Gemeinden, was 59 % entspricht. Dieser höhere Rücklauf wurde erreicht,<br />

indem die <strong>Gottesdienst</strong>teilnahmezahlen der Gemeinden, die den Fragebogen abgegeben<br />

haben, durch Rückmeldungen aus einer zusätzlichen Telefonrecherche<br />

bei Gemeinden <strong>und</strong> die Nachfrage bei den Kirchen <strong>und</strong> Gemeindeverbänden<br />

ergänzt wurden.<br />

7<br />

Vgl. Hennink/Hutter/Bailey, Qualitative Research Methods, 63.<br />

8<br />

S.o. S. 25, Abschnitt zur Anonymisierung <strong>und</strong> Verwendung des Datenmaterials.<br />

9<br />

Vgl.: Rebenstorf, Die evangelische Kirche in Hannover, 4.


74 <strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong><br />

Übersicht 1: Schritte der Datenerhebung<br />

In einem dritten Schritt der Datenerhebung wurden ausgewählte Verantwortliche<br />

der Gemeinden zu drei Fokusgruppengesprächen eingeladen <strong>und</strong> zusätzlich<br />

zwei Interviews mit pastoralen Leitungspersonen internationaler Gemeinden<br />

geführt. Die Phase der Erhebung quantitativer Daten fand vom Oktober 2019<br />

bis Dezember 2020 statt. Danach wurden bis zum April 2021 die qualitativen<br />

Daten erhoben. Um Aussagen auf belastbares Datenmaterial zurückzuführen,<br />

beziehen sich die einzelnen Beiträge dieses Buches jeweils auf die Datensätze<br />

aus der quantitativen wie qualitativen Erhebung. Somit ist eine für die Belastbarkeit<br />

der Aussagen essenzielle Triangulation gewährleistet. 10<br />

Internetrecherche <strong>und</strong> erste Dokumentenanalyse<br />

Die Forschung wurde als Totalerhebung in der iMS vollzogen. Das heißt, dass<br />

möglichst alle christlichen Gemeinschaften befragt wurden, um ein objektives<br />

Bild zu erhalten. Dies brachte im Rahmen eines linearen Forschungsverlaufs 11<br />

mit sich, dass der erste Forschungsschritt die genaue Erfassung möglichst aller<br />

christlichen Gemeinden in der iMS war. LIMRIS-Mitarbeiter durchsuchten ab<br />

Oktober 2019 systematisch das Internet nach christlichen Gemeinden innerhalb<br />

der sechs Landkreise der iMS. Alle ausfindig gemachten Gemeinden wurden in<br />

einer Adressenliste nach Kommunen sortiert. Durch eine Analyse der Informationen,<br />

die durch das Internet zugänglich waren, konnte eine kirchenk<strong>und</strong>liche Einordnung<br />

jeder einzelnen Gemeinde vorgenommen werden. 12 Bemerkenswert ist,<br />

dass auch während der quantitativen Datenerhebung durch den standardisierten<br />

Fragebogen immer wieder neue Gemeinden entdeckt <strong>und</strong> eingeordnet wurden.<br />

Einige Unschärfen der Studie resultieren aus strukturellen Eigenheiten von<br />

Gemeinden <strong>und</strong> Gemeinschaften. So finden sich im protestantischen Bereich<br />

pietistische Gemeinschaften, die von ihrem Selbstverständnis her Teil der landeskirchlichen<br />

Gemeinde vor Ort sind, andere wiederum bilden einen hybriden<br />

10<br />

Vgl.: Hennink/Hutter/Bailey, Qualitative Research Methods, 52. Zusätzlich wurden<br />

für die einzelnen Beiträge Daten von den jeweiligen Autorinnen <strong>und</strong> Autoren erhoben.<br />

11<br />

Burzan, Quantitative Methoden kompakt, 23.<br />

12<br />

Vgl. <strong>Burkhardt</strong>/Meister, Kirchenk<strong>und</strong>eblatt 2, SGGS, A3, LIMRIS-Archiv.


Methodik der <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong><br />

75<br />

Typus freier Gemeinschaften <strong>und</strong> Gemeinden, die teilweise innerhalb der landeskirchlichen<br />

Kirchengemeinden verortet sind, teilweise große Eigenstädnigkeit<br />

aufweisen. 13 Eine ähnlich gelagerte Schwierigkeit zeigt sich bei manchen<br />

Christlichen Vereinen Junger Menschen (CVJM), die gemeindliche Strukturen<br />

ausbilden <strong>und</strong> gegenüber der Kirchengemeinde ihre Eigenständigkeit betonen. 14<br />

Standardisierte Fragebögen<br />

Die deskriptive (beschreibende) Statistik erlaubt das Quantifizieren von Daten<br />

einer weiteren Bevölkerungsschicht. Dazu wurde die Form des standardisierten<br />

Fragebogens gewählt, wie er im Lehrbuch von Elisabeth Raab-Steiner <strong>und</strong><br />

Michael Benesch beschrieben wird. 15 Die Erstellung des Fragebogens begann<br />

im März 2019. Der ursprüngliche Fragebogen enthielt insgesamt zwölf Fragestellungen.<br />

Diese wurden aber aufgr<strong>und</strong> der Hinweise externer Berater auf<br />

vier Fragen reduziert. Durch diese Fragen wurde ein summarischer Zugang<br />

zu quantitativen Informationen hinsichtlich der gesammelten Gemeinden gef<strong>und</strong>en.<br />

Eine Erklärung, wie es zu diesem Ist-Zustand gekommen ist, wird hier<br />

Übersicht 2: Fragebogen Teil 1 <strong>und</strong> 2, Frage 1<br />

nicht erwartet. Diese Informationsreduktion wird bewusst in Kauf genommen.<br />

Der Fragebogen wurde in drei Teile unterteilt. 16 Ein erster Teil erfragte Infor-<br />

13<br />

S.o. S. 39.<br />

14<br />

So wurden die CVJM Stuttgart <strong>und</strong> Gärtringen als Gemeinde gezählt, während andere<br />

wie Arbeiten des Evangelischen Jugendwerks (EJW) oder des Jugendverbands Entschieden<br />

für Christus (EC) nicht als Gemeinde gewertet wurden. Letzte Gruppen verstehen<br />

sich nicht als eigenständige Gemeinden, sondern sind Teil einer lokalen Gemeinde.<br />

15<br />

Vgl. Raab-Steiner/Benesch, Der Fragebogen, 15–16.<br />

16<br />

Vgl. Fragebogen SGGS, LIMRIS-Archiv. Zur Verwendung bei internationalen Gemeinden<br />

wurde der Fragebogen in verschiedene Sprachen übersetzt.


76 <strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong><br />

mationen zur kirchenk<strong>und</strong>lichen Einordnung <strong>und</strong> Zugehörigkeit: Zu welcher<br />

Denomination, Konfession oder welchem übergeordneten Verb<strong>und</strong> zählen Sie<br />

sich? Und Name <strong>und</strong> Ort ihrer Kirchengemeinde, Gemeinde oder Gemeinschaft.<br />

Mit diesen Angaben ließen sich die im ersten Erhebungsschritt (s. Übersicht 1)<br />

getroffenen Kategorisierungen anhand der Selbstaussagen der Gemeinden testen<br />

<strong>und</strong> gegebenenfalls korrigieren. Im Zweifelsfalle wurde immer die Aussage<br />

der befragten Gemeinde priorisiert. In Teil 2 des Fragebogens geschah die Datenerhebung<br />

zum Forschungsthema anhand dreier Fragen. Frage 1 erforschte<br />

die drei wichtigsten regelmäßigen Veranstaltungen der Kirchengemeinde, Gemeinde<br />

oder Gemeinschaft <strong>und</strong> die durchschnittliche Besucherzahl (Erwachsene<br />

<strong>und</strong> Kinder). In Frage 2 ging es um eine Abfrage der Veranstaltungen,<br />

Einrichtungen, Dienste, Initiativen <strong>und</strong>/oder Projekte der Kirchengemeinde,<br />

Gemeinde oder Gemeinschaft. Frage 3 erhebt Daten, aus welchen von insgesamt<br />

13 vorgegebenen Regionen (außerhalb Deutschlands) die Menschen kommen,<br />

die die zentrale geistliche Veranstaltung (Frage 1) besuchen.<br />

Zur Frage 1<br />

Die deskriptive (beschreibende) Statistik erlaubt das Quantifizieren von Daten.<br />

Diejenigen, die die Fragebögen beantworteten, konnten als Freitext drei Veranstaltungen<br />

nennen. Dass nicht von vorneherein nach dem <strong>Gottesdienst</strong> als wichtigster<br />

Veranstaltung gefragt wurde, trägt der vielfach geäußerten Annahme<br />

Rechung, dass die zentrale Veranstaltung zum einen nicht von vorneherein der<br />

<strong>Gottesdienst</strong> einer Gemeinde sein muss oder als ein solcher bezeichnet wird.<br />

Ziel war es, herauszufinden, welche Veranstaltungen eine Gemeinde als ihre<br />

drei wichtigsten bezeichnet. Die Antworten lassen theologisch-ekklesiologische<br />

Rückschlüsse zu. Welche Relevanz haben gottesdienstliche Angebote? Sind die<br />

wichtigsten Veranstaltungen immer auch die, mit den meisten Teilnehmenden,<br />

oder werden diese aus inhaltlichen Aspekten als solche priorisiert? Solche Fragen<br />

zielen ferner auf das Selbstverständnis der spezifischen christlichen Gemeinschaft.<br />

Eine landeskirchliche Gemeinschaft, die sich selbst als ergänzend<br />

zur evangelischen Landeskirche versteht, wird hier mit aller Wahrscheinlichkeit<br />

nicht <strong>Gottesdienst</strong> als Antwort nennen. Im Folgenden wird also nun nach<br />

der wichtigsten Veranstaltung gefragt. Weil die Studie sich für den <strong>Gottesdienst</strong><br />

als einen ihrer Hauptuntersuchungsgegenstände interessiert, wurde nicht explizit<br />

nach dem <strong>Gottesdienst</strong> gefragt, sondern nach der Richtlinie sozialer Forschung<br />

verfahren: »Wenn es den Leuten wichtig ist, werden sie es erwähnen.«<br />

Der <strong>Gottesdienst</strong> soll den Beteiligten nicht als wichtige Veranstaltung »in den<br />

M<strong>und</strong> gelegt« werden. 17<br />

17<br />

Folgt Forschung nicht diesem Prinzip, besteht die Gefahr eines sog. »deference effects«<br />

bei dem die Beantwortenden – wenn auch unbewusst – Antworten geben, von<br />

denen sie ausgehen, dass die Forschenden diese hören wollen, vgl. Bernard, Research<br />

Methods in Anthropology, 186. Dies wäre vordergründig bei einem theologischen


Methodik der <strong>Stuttgarter</strong> <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> <strong>Gemeindestudie</strong><br />

77<br />

Diese Frage gewährt weiter einen<br />

summarischen Zugang zu<br />

den Daten der Besucher dieser<br />

Veranstaltungen. Hierbei wurde<br />

davon ausgegangen, dass der<br />

<strong>Gottesdienst</strong> bei einer großen<br />

Mehrheit der Gemeinden auch<br />

als eine der drei wichtigsten<br />

Veranstaltungen genannt wird.<br />

Entsprechend wären dann auch<br />

die Zahlen des <strong>Gottesdienst</strong>besuches<br />

in der iMS erfasst, wenngleich<br />

dabei weniger belastbare<br />

Aussagen über Gründe, die zur<br />

gegenwärtigen Situation führten,<br />

gemacht werden können.<br />

Diese müssen in einem weiteren<br />

qualitativen Schritt erhoben<br />

werden. Die beschriebene Informationsreduktion<br />

wird bewusst<br />

in Kauf genommen, da das große<br />

Bild das Ziel ist. Welches sich<br />

anschaulich in Grafiken präsentieren<br />

lässt. 18<br />

Zur Frage 2<br />

Die Forschungsfrage 2 zielt auf<br />

das soziale Engagement der<br />

christlichen Gemeinschaft. Unterhalb<br />

der Frage waren 38 Antwortmöglichkeiten<br />

aufgelistet.<br />

Hier waren Mehrfachnennungen<br />

sowie Felder mit »Sonstige«<br />

als Antworten möglich. Erfragt<br />

wurde, welche karitativen/<br />

diakonischen Projekte, <strong>Gottesdienst</strong>e,<br />

Glaubenskurse <strong>und</strong> viele<br />

weitere Handlungsfelder, die<br />

jeweiligen Gemeinden gestalten.<br />

Übersicht 3: Fragebogen Teil 2, Frage 2<br />

Leitbegriff wie <strong>Gottesdienst</strong> zu erwarten, dass keine Verantwortlichen in Gemeinden<br />

diesen als »unwichtig« bezeichnen würden.<br />

18<br />

Vgl.: Rebenstorf, Die evangelische Kirche in Hannover – Wer kennt was? Wer kennt<br />

wen? Wer nutzt welche Angebote?, in SI Kompakt (2017), Nr.1, 1–12, 2.


78 <strong>Tobias</strong> <strong>Schuckert</strong><br />

Dieser Kompromiss der standardisierten Antwort <strong>und</strong> einer freien, qualitativen<br />

Antwort wurde getroffen, um den Antwortenden eine möglichst große Freiheit<br />

zu gewährleisten. Die vorgegebenen Antworten basieren auf dem Modell<br />

kirchlicher Handlungsfelder nach Eberhardt Hauschildt <strong>und</strong> Uta Pohl-Patalong<br />

<strong>und</strong> einer Kategorisierung dieser Handlungsfelder nach den drei Gr<strong>und</strong>orientierungen<br />

»Thema, Subjekt <strong>und</strong> Welt«. 19 Durch diese Frage ließ sich abzeichnen,<br />

in welchen Bezugspunkten kirchlicher Handlungsfelder christliche Gemeinschaften<br />

in der iMS ihre Schwerpunkte setzen. Gleichzeitig lässt sich das<br />

weltmissionarische Engagement der christlichen Gemeinschaften ermitteln, da<br />

verschiedene Antwortmöglichkeiten auch auf interkulturelle Arbeiten zielten.<br />

Unter weltmissionarischem Engagement versteht diese Studie von den Gemeinden<br />

wahrgenommene Aufgaben, die über den eigenen kulturellen Horizont hinausgehen.<br />

Weltmissionarisches Engagement fokussiert sich auf missionarische<br />

Aufgaben im Ausland, ist aber keineswegs nur darauf beschränkt. Es sollen<br />

hier bewusst auch interkulturelle Begegnungen mit Menschen in Deutschland<br />

in den Blick genommen werden. Eine Gemeinde hat also auch weltmissionarisches<br />

Engagement, wenn sie zum Beispiel mit, beziehungsweise unter Menschen<br />

internationaler Herkunft arbeitet.<br />

Zur Frage 3<br />

Diese Frage erfasst, aus welchen Regionen (neben Deutschland) die Besucher<br />

der christlichen Gemeinden kommen. In der Analyse werden die Gemeinden<br />

summarisch erfasst, die a) von Teilnehmern aus anderen Regionen der Welt<br />

besucht werden. Weiter werden b) die einzelnen Regionen summarisch erfasst,<br />

um herauszufinden, welche Regionen der Welt in den christlichen Gemeinschaften<br />

vertreten sind. Die Schwäche dieser Methode ist, dass keine absolute<br />

Zahl von Menschen aus einer speziellen Region erfasst wird. Wenn zum Beispiel<br />

in einer Gemeinde 100 Menschen aus Lateinamerika sind <strong>und</strong> eine Person<br />

aus Ostasien, werden beide jeweils als eine Gruppe gezählt. Hier musste eine<br />

Informationsreduktion in Kauf genommen werden.<br />

Ein »freies Antwortformat ist zur Erfassung spontaner Reaktionen« 20 der Beteiligten<br />

als Teil 3 des Fragebogens gedacht. Dabei wurden Aspekte der kirchlichen<br />

Handlungsfelder sowie Kommentare der Beteiligten qualitativ erfasst. Es<br />

ist wichtig, den Antwortenden einen Freiraum zu geben, sich auch zur Form der<br />

Forschung zu positionieren.<br />

Angestrebte Rücklaufquote<br />

Um belastbare Zahlen zu erhalten, wurde eine hohe Rücklaufquote von 30 %<br />

angestrebt. Dieses Ziel wurde um zwei Prozentpunkte verfehlt. Die statistische<br />

Erhebung war im Januar 2021 weitestgehend abgeschlossen, sodass im Februar<br />

19<br />

Hauschildt/Pohl-Patalon, Kirche, 415. Vgl. o. S. 64f. Die komplette Liste s. Übersicht<br />

4.<br />

20<br />

Raab-Steiner/Benesch, Der Fragebogen, 57.


Teil 2<br />

Darstellung der<br />

Untersuchungsergebnisse


<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/Marcel Folz/Jorge Krist/Larissa Meister<br />

Gemeinden in der Region Stuttgart<br />

Eine ökumenisch-kirchenk<strong>und</strong>liche Beschreibung<br />

Etwa anderthalbtausend ihrem Selbstverständnis nach christliche Kirchen, Gemeinden<br />

<strong>und</strong> Gemeinschaften bestehen in der inneren Metropolregion Stuttgart<br />

(iMS). 1 Das 3.654 Quadratkilometer große Gebiet mit einer Bevölkerungsstärke<br />

von 2,7 Millionen Menschen besteht aus dem Stadtkreis Stuttgart sowie den<br />

fünf ihn umgebenden Landkreisen Böblingen, Esslingen, Göppingen, Ludwigsburg<br />

sowie dem Rems-Murr-Kreis, wobei einzelne Gemeinden der drei letztgenannten<br />

Landkreise außerhalb des untersuchten Gebietes liegen, weil sie nicht<br />

zur iMS gehören. 2<br />

In diesem Gebiet wurden zwischen 2019 <strong>und</strong> 2021 in einer Totalerhebung<br />

insgesamt 1.418 einzelne christliche Gemeinden <strong>und</strong> Gemeinschaften mit<br />

einem eigenständigen gottes-<br />

Karte 1: Die fünf Landkreise <strong>und</strong> der Stadtkreis<br />

der iMS<br />

dienstlichen Versammlungsangebot<br />

identifiziert, die sich<br />

über den Stadtkreis <strong>und</strong> die fünf<br />

Landkreise gleichmäßig verteilen.<br />

3 Ihre kirchenk<strong>und</strong>liche Beschreibung<br />

ergibt im Gesamtbild<br />

einen Überblick über die in der<br />

iMS gegenwärtig bestehenden,<br />

ihrem Selbstverständnis nach<br />

christlichen Kirchen, Gemeinden<br />

<strong>und</strong> Gemeinschaften. 4<br />

1<br />

Diese Aussage beschreibt eine Momentaufnahme, die für den Zeitraum September<br />

2019 bis Herbst 2021 im Sinn eines »bewegten Bildes« Gültigkeit besitzt. Vgl. Einführung,<br />

S. 36.<br />

2<br />

Daten von 2019, Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, statistik-bw.de.<br />

Eine detaillierte Aufstellung der Einwohnerzahlen s. LIMRIS-Archiv, SGGS-A1.<br />

3<br />

Gesamtaufstellung der Gemeinden in der iMS, s. Anm. 2. Die Gemeindedichte in<br />

Relation zur Bevölkerung ist in der iMS recht homogen. Im Durchschnitt ist pro 1.900<br />

Einwohner eine Gemeinde zu verzeichnen. Im Einzelnen ergaben sich folgende Einwohnerzahlen<br />

pro Gemeinde: Stadtkreis Stuttgart 2.060, Lk Böblingen: 1.860, Lk Esslingen<br />

1.750, Lk Göppingen 1.750, LK Ludwigsburg 2.160 <strong>und</strong> LK Rems-Murr 1.750.<br />

4<br />

Zum Vorgehen s. Gr<strong>und</strong>begriffe, S. 27.


92 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/Marcel Folz /Jorge Krist /Larissa Meister<br />

Karte 2: Verteilung der Gemeinden in der iMS<br />

In konfessioneller bzw. denominationeller Hinsicht verteilen sich die Gemeinden<br />

auf 164 unterschiedliche Partikularkirchen, 5 die in der Studie vier kirchenk<strong>und</strong>lichen<br />

Hauptgruppen zugeordnet werden. 6 Drei dieser Hauptgruppen repräsentieren<br />

die großen kirchlichen Strömungen der Orthodoxie, des<br />

Katholizismus <strong>und</strong> des Protestantismus. 7 Die vierte Hauptgruppe »Andere Kirchen<br />

<strong>und</strong> christliche Gemeinschaften« umfasst christliche Partikulargemeinschaften<br />

der Neuzeit, die aufgr<strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzlicher Differenzen zu den erstgenannten<br />

drei Hauptgruppen gesondert aufgeführt werden müssen. 8 Im<br />

Gesamtbild der iMS zeigt sich der Protestantismus mit 1.062 Gemeinden als<br />

größte christliche Traditionsrichtung gefolgt vom Katholizismus mit 259 Gemeinden,<br />

der Orthodoxie mit 45 Gemeinden <strong>und</strong> 52 Gemeinden der Gruppe<br />

Andere Kirchen <strong>und</strong> christliche Gemeinschaften.<br />

5<br />

Übersicht zu den Partikularkirchen in der iMS, s. S. 484.<br />

6<br />

Zur Kategorisierung s. Einführung, S. 40.<br />

7<br />

Zu den kirchen- bzw. konfessonsk<strong>und</strong>lichen Zuordnungen, die in der Literatur nicht<br />

einheitlich gehandhabt werden, s. Einführung, S. 42 Anm. 40.<br />

8<br />

Vgl. Pöhlmann/Jahn, Handbuch Weltanschauungen, 320–324.


Gemeinden in der Region Stuttgart<br />

93<br />

Übersicht 10: Die 1.418 Gemeinden in der iMS nach Kirchenfamilien


94 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/Marcel Folz /Jorge Krist /Larissa Meister<br />

Karte 3:<br />

a) Gemeindedichte orthodoxer Gemeinden in der iMS<br />

b) Verteilung orthodoxer Gemeinden in der iMS


Gemeinden in der Region Stuttgart<br />

95<br />

1. Die Orthodoxie<br />

In der weiteren Ausdifferenzierung der Untersuchungserträge ergeben sich<br />

für die Orthodoxie als erste Hauptgruppe insgesamt 21 nationalkirchliche Partikulargemeinschaften<br />

mit zusammen 44 Gemeinden. Diese Kirchen sehen<br />

ihre Wurzeln in der orientalisch- <strong>und</strong> östlich-orthodoxen Kirchentradition <strong>und</strong><br />

haben als Teil ihrer weltweiten Diaspora Gemeinden in der iMS gebildet. Als<br />

»orthodox« im Sinn von rechtgläubig bezeichnen sich sowohl orientalische Nationalkirchen<br />

(orientalisch-orthodoxe Kirchen), 9 die sich im 4. <strong>und</strong> 5. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

von der byzantinischen Reichskirche trennten, als auch ihre slawischen<br />

Nachfolgekirchen (östlich-orthodoxe Kirchen), die ab Ende des 10. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

entstanden. 10 Die Anfänge der Orthodoxie reichen zurück in die Frühzeit der<br />

Christenheit, 11 die sich bis Ende des ersten Jahrh<strong>und</strong>erts im gesamten Römischen<br />

Reich verbreitet hatte <strong>und</strong> von den fünf in Rom, Konstantinopel, Alexandrien,<br />

Antiochien <strong>und</strong> Jerusalem ansässigen Patriarchen geleitet wurde. Früh<br />

schon zeigten sich unterschiedliche kirchliche Entwicklungen zwischen dem<br />

Westen des Reiches unter Leitung des römischen Patriarchats <strong>und</strong> den vier<br />

östlichen Patriarchaten Alexandrien, Antiochien, Jerusalem <strong>und</strong> Konstantinopel.<br />

Die Divergenz verfestigte sich durch die 395 n. Chr. vom Kaiser verfügte<br />

Herrschaftsteilung in eine westliche <strong>und</strong> eine östliche Reichhälfte. Während<br />

das weströmische Kaisertum im 5. Jahrh<strong>und</strong>ert zum Ende kam, behauptete der<br />

oströmische Teil als byzantinisches Reich bis ins ausgehende Mittelalter seine<br />

Führungsrolle in der christlichen Welt. Zu diesem Herrschaftssystem gehörte<br />

die byzantinische Reichskirche mit ihren Tochterkirchen, innerhalb derer das<br />

östlich-orthodoxe Kirchentum seine unverwechselbare Prägung erhielt. Im Laufe<br />

der Zeit kam es in der orientalisch- <strong>und</strong> östlich-orthodoxen Christenheit zu<br />

weiteren Kirchenbildungen. Einen Einschnitt bedeutete das Jahr 1054, das den<br />

endgültigen Bruch zwischen der römischen West- <strong>und</strong> byzantinischen Ostkirche<br />

brachte, <strong>und</strong> in dessen weiterer Wirkungsgeschichte die Eroberung Konstantinopels<br />

durch den Islam 1453 fällt, was das Ende der byzantinischen Reichskirche<br />

bedeutete. In der Folge setzte sich die östlich-orthodoxe Kirchentradition<br />

in den seit dem 10. Jahrh<strong>und</strong>ert entstandenen zahlreichen Tochterkirchen fort.<br />

Missionsbemühungen der römischen Kirche führten im Laufe des ausgehenden<br />

9<br />

Nationalkirchen geben das Land oder den Staat, auf den sie sich beziehen, im Kirchennamen<br />

an <strong>und</strong> sind rechtlich eigenständige Kirchen. Heun, Art. Nationalkirchen,<br />

78f.; Körtner, Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e, 50.<br />

10<br />

Die kirchenk<strong>und</strong>liche Kategorisierung in östlich-orthodoxe <strong>und</strong> orientalisch-orthodoxe<br />

Kirchen findet sich bei Thöle, Art. Orthodoxe Kirchen II. Konfessionsk<strong>und</strong>lich, 681–<br />

686. Vgl. eine ähnliche Einteilung bei Eggenberger, Die Kirchen, 30–33, <strong>und</strong> Lange/<br />

Pingggéra, Die altorientalischen Kirchen, IX–XIV.<br />

11<br />

Zur Geschichte: Hauptmann, Orthodoxe Kirchen I. Kirchengeschichtlich, 675–681;<br />

Jacobs, Die Reichskirche; Kallis, Orthodoxe Katholische Kirchen, EKL 3, 939–951;<br />

Körtner, Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e, 50–95; Lilienfeld, Orthodoxe Kirchen, TRE 25,<br />

423–464; Thümmel, Die Kirche des Ostens.


96 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/Marcel Folz /Jorge Krist /Larissa Meister<br />

Mittelalters zu Wiedervereinigungen mit dem Katholizismus (unierte orientalisch-<br />

<strong>und</strong> orthodoxe-katholische Kirchen) <strong>und</strong> aus Gemeindegründungen protestantischer<br />

Missionsgesellschaften entstanden im 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

freie altorientalische protestantische Gemeinden.<br />

Östlich-orthodoxe Kirchen<br />

Heute werden als östlich-orthodoxe Kirchen all jene Kirchen in den Balkanländern,<br />

Griechenland, Kleinasien, Russland <strong>und</strong> Syrien bezeichnet, die auf die autokephalen<br />

Nationalkirchen im römisch-hellenistischen Sprachraum zurückgehen<br />

<strong>und</strong> bis zur Eroberung Konstantinopels durch den Islam 1453 n. Chr. zur byzantinischen<br />

Reichskirche gehörten. 12 Zu diesen Nationalkirchen zählten zunächst<br />

die alten östlichen Patriarchate der Reichskirche in Alexandrien, Antiochien, Jerusalem<br />

<strong>und</strong> Konstantinopel. Hinzu kamen die teilweise beträchtlich größeren<br />

orthodoxen Kirchen slawischer Provenienz. Sie entstanden bereits ab dem 10.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert in Russland, der Ukraine <strong>und</strong> in Weißrussland <strong>und</strong> führten zur Bildung<br />

der Bulgarischen, Rumänischen, Russischen <strong>und</strong> Serbischen Orthodoxen<br />

Kirchen. Während dem konstantinopolitanischen Patriarchat ein Ehrenrang zukam,<br />

wurden die drei anderen östlichen Patriarchate als »griechisch-orthodox«<br />

bezeichnet, was sie als Teil der griechisch-sprachigen Reichskirche kennzeichnete.<br />

13 In der iMS gibt es sieben verschiedene östlich-orthodoxe Partikularkirchen<br />

mit insgesamt 28 Gemeinden. 14 Nahezu flächendeckend mit 15 Gemeinden<br />

ist die Griechische-Orthodoxe Kirche vertreten. 15 Als zweitgrößte orthodoxe<br />

Gruppe aufgeteilt in zwei Partikularkirchen mit vier Gemeinden erscheinen die<br />

Rumänisch-Orthodoxen Gemeinden. 16 Die Russisch-Orthodoxe Kirche 17 unterhält<br />

12<br />

Vgl. Körtner, 50–75. Die östlich-orthodoxen Kirchen waren eine feste Größe geworden,<br />

nachdem sich im 5. <strong>und</strong> 6. Jahrh<strong>und</strong>ert die non-chaledonesischen Kirchen von<br />

Byzanz getrennt <strong>und</strong> sich Ende des 8. Jahrh<strong>und</strong>erts die byzantinische gegenüber der<br />

weströmischen Reichskirche als eigenständige Größe profiliert hatten.<br />

13<br />

Vgl. Lange/Pinggéra, Einleitung, XI.<br />

14<br />

Zur Situation der orthodoxen Gemeinden heute finden sich zwei Beiträge bei Etzelmüller/Rammelt<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Migrationskirchen, 287–327.<br />

15<br />

Die Griechische Orthodoxie ist seit Anfang des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in Deutschland mit<br />

Gemeinden vertreten <strong>und</strong> ist heute dem ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel<br />

unterstellt. Costabel, GaSH, 39–43; ACK-NRW, Griechisch-Orthodoxe Metropolie von<br />

Deutschland, ack-nrw.de.<br />

16<br />

Zum einen sind es drei Gemeinden der Rumänisch Orthodoxen Metropolie für<br />

Deutschland, Zentral- <strong>und</strong> Nordeuropa. Ihre erste Gemeinde in Stuttgart wurde 1993<br />

gegründet, Vgl. Costabel, GaSH, 45; <strong>Stuttgarter</strong> Atlas der Religionen, 171. Die zweite<br />

Partikularkirche rumänisch-orthodoxer Provenienz ist die Rumänisch-Orthodoxe Kirche<br />

des Patriarchats von Konstantinopel, Vgl. Costabel, GaSH, 44.<br />

17<br />

Die Russisch-Orthodoxe Kirche gilt heute als größte autokephale Kirche der östlichen<br />

Orthodoxie <strong>und</strong> umfasst die Länder der ehemaligen UdSSR, aber ohne Georgien <strong>und</strong><br />

Armenien, sowie China, Japan <strong>und</strong> die Mongolei <strong>und</strong> seit 2007 auch die Russisch-Orthodoxe<br />

Kirche im Ausland, die nach der Oktoberrevolution 1927 von Exulanten gegründet<br />

wurde. Vgl. Art. Russisch-Orthodoxe Kirche, wikipedia.org, <strong>und</strong> Art. Russisch-Orthodoxe


Gemeinden in der Region Stuttgart<br />

97<br />

drei <strong>und</strong> die Serbisch-Orthodoxe Kirche 18 zwei Gemeinden. Jeweils eine Gemeinde<br />

findet sich von der Bulgarisch-Orthodoxen Kirche, 19 der Mazedonisch-Orthodoxen<br />

Kirche 20 <strong>und</strong> der Rum-Orthodoxen Kirche von Antiochia. 21 Im Interview wies<br />

der orthodoxe Priester darauf hin, dass die russisch-orthodoxe Gemeinde, der<br />

er vorsteht, »die älteste lebende orthodoxe Gemeinde in Deutschland ist <strong>und</strong> seit<br />

13. April 1816 existiert«. 22<br />

Kirche im Ausland, wikipedia.org; Costabel, GaSH, 48–50; <strong>Stuttgarter</strong> Atlas der Religionen,<br />

166. 172. In Stuttgart gibt es heute drei Gemeinden russisch-orthodoxer Tradition:<br />

Die älteste ist die 1816 gegründete Russisch-Orthodoxe Gemeinde des Heiligen<br />

Nikolaus von Myra in Stuttgart. Sie gehört zusammen mit der Gemeinde zu Ehren des<br />

heiligen <strong>und</strong> rechtgläubigen Fürsten Alexander Nevskij zur Russisch-Orthodoxen Kirche<br />

im Ausland. Die dritte Gemeinde in Stuttgart ist die Russisch-Orthodoxe Gemeinde des<br />

Heiligen Propheten Elias, die dem Moskauer Patriarchat angehört, das seit 2007 die<br />

Russisch-Orthodoxe Auslandskirche aufgenommen hat. Vgl. Kulturportal Russland,<br />

Russisch-Orthodoxe Kirche des Hl. Nikolaus von Myra in Stuttgart, kulturportal-russland.de;<br />

Russisch-Orthodoxe Kirche, rok-stuttgart.de; Orthodoxe Kirche Stuttgart,<br />

orthodoxe-kirche-stuttgart.de.<br />

18<br />

Die erste Serbisch-Orthodoxe Gemeinde in der iMS wurde 1971 in Stuttgart gegründet<br />

<strong>und</strong> eine zweite 1992 in Göppingen begonnen. Beide gehören zur autokephalen<br />

Serbisch-Orthodoxen Kirche Patriarchat Belgrad, deren Wurzeln ins 9. Jahrh<strong>und</strong>ert zurückreichen.<br />

Vgl. Costabel, GaSH, 51; <strong>Stuttgarter</strong> Atlas der Religionen, 173; Art. Serbisch-Orthodoxe<br />

Kirche, wikipedia.org.<br />

19<br />

Die Bulgarisch-Orthodoxe Kirche ist eine Kirche der östlichen Orthodoxie <strong>und</strong> wurde<br />

927 vom Patriarchat von Konstantinopel als autokephal anerkannt. Die <strong>Stuttgarter</strong><br />

Gemeinde wurde 1984 gegründet. Vgl. Costabel, GaSH, 38; Art. Bulgarisch-Orthodoxe<br />

Kirche, wikipedia.org; Bulgarisch-Orthodoxe Kirche Stuttgart bgorthodox-stuttgart.<br />

de<br />

20<br />

Die <strong>Stuttgarter</strong> Gemeinde wurde 1984 gegründet <strong>und</strong> gehört zur Mazedonischen<br />

Orthodoxen Kirche, die sich 1967 gegen den Willen des serbischen Patriarchats als autokephal<br />

erklärte, aber bis heute von der Serbisch-Orthodoxen Kirche nicht anerkannt<br />

wird. Vgl. Costabel, GaSH, 43; Art. Mazedonisch-Orthodoxe Kirche, wikipedia.org.<br />

21<br />

Die Rum-Orthodoxe Kirche von Antiochia repräsentiert den Teil des antiochenischen<br />

Patriarchats, der im Jahr 451 den Beschlüssen des Konzils von Chalzedon gefolgt war.<br />

Zur Geschichte vgl. Antiochenisch-Orthodoxe Metropolie, rum-orthodox.de; Costabel,<br />

GaSH, 47.<br />

22<br />

FGG1-8, S. 33 ZZ 21f.


98<br />

<strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/Marcel Folz /Jorge Krist /Larissa Meister<br />

Die Heilige Nikolaus-Kathedrale in Stuttgart – die älteste<br />

Gemeinde orthodoxer Tradition in Deutschland:<br />

In der Russisch-Orthodoxen Kirche des Heiligen Nikolaus von Myra in Stuttgart versammelt<br />

sich die älteste Gemeinde orthodoxer Tradition in Deutschland. Sie wurde<br />

1816 ins Leben gerufen, als Katharina Pawlowna Romanowa, Großfürstin von Russland<br />

(1788–1819), nach ihrer Hochzeit mit dem württembergischen Kronprinzen Wilhelm<br />

(1781–1864) an den <strong>Stuttgarter</strong> Hof übersiedelte. Es war eine Zeit schwerer Missernten,<br />

von denen 1816 als »Jahr ohne Sommer« in die Annalen einging. Nachdem ihr<br />

Mann noch im selben Jahr als König Wilhelm I. die Regierungsgeschäfte übernommen<br />

hatte, gründete die religiös motivierte Königin Katharina den Wohltätigkeitsverein,<br />

dessen Zentralleitung sie selbst vorstand. Sie besetzte das Gremium mit pietistisch<br />

gesinnten Pfarrern <strong>und</strong> Geschäftsleuten <strong>und</strong> organisierte mit ihnen die Armenhilfe<br />

flächendeckend für das gesamte Land. Daneben initiierte sie weitere sozialdiakonische<br />

Institutionen wie das königliche Erziehungsinstitut, später Katharinenstift, die württembergische<br />

Spar-Casse, später Württembergische Landessparkasse, Industrieschulen,<br />

die Vorläufer der Gewerbeschulen, <strong>und</strong> das Katharinenhospital. Ihr plötzlicher<br />

Tod 1819 traf das Land unvermittelt. Wilhelm I. ließ für sie auf dem Württemberg eine<br />

Grabkapelle errichten, wo einst die Burg Wirtemberg, Stammsitz des württembergischen<br />

Königshauses, gestanden hatte. Dort wurde sie 1824 in der Krypta beigesetzt<br />

<strong>und</strong> die Grabkapelle als erste orthodoxe Kirche Stuttgarts geweiht. Indessen setzte<br />

sich die württembergisch-russische Verbindung fort. 1846 heiratete Kronprinz Karl<br />

von Württemberg die russische Zarentochter Großfürstin Olga Nikolajewna Romanowa,<br />

die ab 1864 Königin von Württemberg wurde. Schließlich ist noch Herzogin Wera<br />

Konstantinowna zu nennen, die 1854 als Neunjährige an den <strong>Stuttgarter</strong> Hof kam <strong>und</strong><br />

1871 von König Karl I. adoptiert wurde. Alle drei Frauen waren im Volk aufgr<strong>und</strong><br />

ihres sozialdiakonischen Engagements beliebt. Sowohl Königin Olga als auch ihre Adoptivtochter<br />

unterhielten in ihren Residenzen russisch-orthodoxe Kapellen. Nachdem<br />

die Königin 1892 verstorben war, setzte sich Herzogin Wera für die Errichtung einer<br />

russisch-orthodoxen Kirche ein. So wurde nach dem Vorbild Moskauer Kirchen die<br />

Russisch-Orthodoxe Kirche des Heiligen Nikolaus von Myra erbaut <strong>und</strong> 1895 als die<br />

Heilige Nikolaus-Kathedrale geweiht, die bis heute von einer der russisch-orthodoxen<br />

Gemeinden in Stuttgart als Gotteshaus in Gebrauch ist.<br />

Abb. 3: Die Heilige Nikolaus-Kathedrale in Stuttgart<br />

Abb. 4: Kirchenraum der Heiligen Nikolaus-Kathedrale in Stuttgart


Gemeinden in der Region Stuttgart<br />

99<br />

Orientalisch-orthodoxe Kirchen<br />

Schon früh war es zu nationalkirchlichen Entwicklungen gekommen, die zu<br />

Kirchenbildungen außerhalb der byzantinischen Reichskirche führten. Als erste<br />

erscheint die Armenische Apostolische Kirche, 23 mit der bereits im Jahr 301<br />

n. Chr. in dem unabhängigen Königreich Armenien der christliche Glaube zur<br />

Staatsreligion erhoben wurde. Die Armenische Kirche gilt als älteste eigenständige<br />

Staatskirche der Welt. Sie stand in keiner Verbindung zu Byzanz, war am<br />

Konzil von Chalcedon nicht beteiligt gewesen, verwarf Anfang des 6. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

die dort gefassten Beschlüsse <strong>und</strong> führt chronologisch die Gruppe der<br />

altorientalischen (oder orientalischen orthodoxen National-) Kirchen an. Diese<br />

bildeten sich entweder außerhalb des Territoriums der byzantinischen Reichskirche<br />

oder entstanden in Folge der macht- <strong>und</strong> kirchenpolitischen Konflikte<br />

im 4. <strong>und</strong> 5. Jahrh<strong>und</strong>ert durch Abspaltung. 24 Im Jahr 410 n. Chr. formierte<br />

sich die persische Christenheit zu einer selbstständigen Kirche, die 486 n. Chr.<br />

die nestorianische Christologie übernahm <strong>und</strong> sich als Heilige Apostolische <strong>und</strong><br />

Katholische Kirche des Ostens 25 (Nestorianer) zu einer starken Missionskirche<br />

in den Gebieten Asiens entwickelte. Als Entgegnung auf die Beschlüsse des<br />

Konzils von Chalcedon 451 n. Chr. trennte sich zunächst das alexandrinische<br />

Patriarchat von der byzantinischen Reichskirche <strong>und</strong> gründete eine eigene<br />

Koptisch-Orthodoxe Kirche. 26 Als Teil des koptischen Christentums war bereits<br />

Anfang des 4. Jahrh<strong>und</strong>erts die äthiopische Kirche entstanden, 27 die bis ins 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert zur Koptisch-Orthodoxen Kirche gehörte <strong>und</strong> 1950 als Äthiopisch-<br />

Orthodoxe Tewahedo-Kirche den Status der Autokepahalie erhielt. Im Zuge der<br />

Unabhängigkeitserklärung Eritreas von Äthiopien wurde schließlich die eritreische<br />

Christenheit 1998 als Eritreisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche in die<br />

23<br />

Als Armenien ein christlicher Staat wurde, reichte das Land im Osten bis ans Südwestende<br />

des Kaspischen Meers <strong>und</strong> den Umrah See, im Norden bis auf die Höhe des Kura,<br />

im Süden bis an das Taurus-Gebirge <strong>und</strong> im Westen bildete der Oberlauf des Euphrat<br />

die Grenze, Hage, Art. Armenien I, TRE 4, 40–57. Vgl. Spuler, Art. Armenien II, TRE 4,<br />

57–63; Hannik, Art. Armenien II. Armenische Apostolische Kirche, RGG 4 1, 766–771;<br />

Körtner, Kirchenk<strong>und</strong>e, 91–93.<br />

24<br />

Vgl. Körtner, Kirchenk<strong>und</strong>e, 76–80.<br />

25<br />

Im 13. <strong>und</strong> 14. Jahrh<strong>und</strong>ert erreichte die nestorianische Kirche des Ostens ihre größte<br />

Ausdehnung. Ihr Gebiet erstreckte sich über eine Distanz von über 8.000 Kilometer<br />

zwischen Tarsus, Alexandrien <strong>und</strong> Damskus im Westen bis nach Peking im Osten <strong>und</strong><br />

hatte eine Breite von 5.000 Kilometer im sibirischen Baikalsee im Norden bis in den Süden<br />

Indiens. Vgl. Gillmann, Art. Nestorianermission, RGG 4 6, 199–202. Vgl. Hage, Art.<br />

Nestorianische Kirche, TRE 24, 264–276; Körtner, Kirchenk<strong>und</strong>e, 80–82; Markschies,<br />

Art. Nestorianismus, RGG 4 6, 204–206.<br />

26<br />

Vgl. Ghattas, Art. Kopten I. Koptische Orthodoxe Kirche, RGG 4 4, 1670–1673; Körtner,<br />

Kirchenk<strong>und</strong>e, 82–85; Orlandi, Art. Koptische Kirche, 595–607.<br />

27<br />

Vgl. Ghattas, Art. Kopten I. Koptische Orthodoxe Kirche, RGG 4 4, 1671; Heyer, Art.<br />

Äthiopien II. Christentum, RGG 4 1, 890–894; Körtner, Kirchenk<strong>und</strong>e, 85–87.


100 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/Marcel Folz /Jorge Krist /Larissa Meister<br />

Autokephalie entlassen. 28 Ebenfalls als Folge des Konzils von Chalcedon kam<br />

es auch im Vorderen Orient zu einer Kirchentrennung, bei der sich im 6./7.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert Teile der syrischen Christenheit als Syrisch-Orthodoxe (bzw. Jakobitische)<br />

Kirche 29 gegenüber der byzantinischen Reichskirche für eigenständig erklärten.<br />

Die syrische Christenheit umfasste damals den gesamten Raum des antiken<br />

Syriens <strong>und</strong> hatte ihr Zentrum in Antiochien. Aus der syrisch-orthodoxen<br />

Kirche gingen die orthodoxen Kirchen Indiens 30 (Thomas Christen) hervor. In<br />

der iMS sind nahezu alle orientalisch-orthodoxen Kirchen vertreten. 31 Die sechs<br />

vorchalcedonischen (monophysitischen) Kirchen sind mit fünf Gemeinden vertreten:<br />

Eine Gemeinde der Armenischen Apostolischen Kirche in Göppingen 32 ,<br />

eine der Koptisch-Orthodoxen Kirche in Stuttgart, 33 eine der Äthiopisch-Orthodoxen<br />

Tewahedo-Kirche in Stuttgart, 34 zwei der Eritreisch-Orthodoxen Tewahedo-Kirche<br />

in Stuttgart 35 sowie drei Gemeinden der Syrisch-Orthodoxen Kirche, 36<br />

28<br />

Bereits Ende der 1920er-Jahre wurde in Trennung von der äthiopischen Orthodoxie<br />

eine eritreisch-orthodoxe Kirche gegründet. Im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen<br />

Eritreas kam es 1993 zur Unabhängigkeitserklärung <strong>und</strong> in Folge auch zur Trennung<br />

von der Äthiopisch-Orthodoxen Tewahedo-Kirche <strong>und</strong> zur Bildung der Eritreisch-Orthodoxen<br />

Tewahedo-Kirche, die 1998 autokephal wurde. Vgl. Gebremedhin, Art. Eritrea,<br />

RGG 4 2, 1413; Art. Eritreisch-Orthodoxe Tewahedo-Kirche, wikipedia.org.<br />

29<br />

Vgl. Feldkeller, Art. Syrien III. Von der Spätantike bis zur Gegenwart, TRE 32, 589–<br />

595; Fitschen, Art. Syrien V. Kirchengeschichte 1. Syrische Kirchen, RGG 4 7, 1990–<br />

1995; Hage, Art. Jakobitische Kirche, TRE 16, 474–485; Körtner, Kirchenk<strong>und</strong>e, 87–89;<br />

Tamcke, Art. Syrien V. Kirchengeschichte 2 b) Westsyrische Kirche, RGG 4 7, 1997–1999.<br />

30<br />

Die Ursprünge gehen ins 2./3. Jahrh<strong>und</strong>ert zurück, vgl. Koschorke, Art. Indien IV.<br />

Christentumsgeschichte, RGG 4 4, 95. Heute werden sechs verschiedene Kirchen unterschieden:<br />

1. Die syrisch-orthodoxe Kirche in Gemeinschaft mit dem Patriarchen von Antiochien,<br />

2. die syro-malankarische Kirche in Gemeinschaft mit Rom, 3. die Assyrische<br />

Kirche des Ostens (Nesorianer), 4. die syro-malabarische Kirche in Verbindung mit Rom,<br />

5. die Mär-Thoma-Kirche <strong>und</strong> 6. die Kirche von Südindien in Gemeinschaft mit der Mär-<br />

Thoma-Kirche. Vgl. Körtner, Kirchenk<strong>und</strong>e, 90f.<br />

31<br />

Ein Überblicksartikel s. Rammelt, Orientalisch-Orthodoxe Gemeinschaften, 235–<br />

252.<br />

32<br />

Die Gemeinde versammelt sich seit 1998 in der Heilig Kreuz Kirche Göppingen (ID<br />

89), vgl. Costabel, GaSH, 33; <strong>Stuttgarter</strong> Atlas der Religionen, 156; Armenische Gemeinde<br />

Baden-Württemberg, agbw.org.<br />

33<br />

Die Koptisch-Orthodoxe St. Georg Kirche (ID 1362), vgl. Costabel, GaSH, 35; St.<br />

Georg Koptisch-Orthodoxe Kirche, kopten-bw.de.<br />

34<br />

Die Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo Kirche in Stuttgart existiert seit 1992 (ID 95),<br />

vgl. Costabel, GaSH, 32.<br />

35<br />

Die Eritreische Koptisch-Orthodoxe Gemeinde entstand im Jahr 2000 in Bad<br />

Cannstatt (ID 180), vgl. Costabel, GaSH, 34; Sägesser, Judith A., Weihrauchduft im<br />

Morgengrauen, stuttgarter-zeitung.de. Daneben trifft sich die Eritreische-Orthodoxe Tewahedo<br />

Gemeinde (ID 181), Diözese Rottenburg-Stuttgart, Kirche auf dem <strong>Stuttgarter</strong><br />

Frauenkopf, drs.de.<br />

36<br />

Beiträge zu verschiedenen migrationskirchlichen Themenstellungen von Gemeinden<br />

der Syrisch-orthodoxen Kirche finden sich bei Etzelmüller/Rammelt (<strong>Hrsg</strong>.), Migrationskirchen,<br />

35–286.


Gemeinden in der Region Stuttgart<br />

101<br />

eine in Ludwigsburg <strong>und</strong> zwei in Göppingen. 37 Schließlich befinden sich in der<br />

iMS auch eine nestorianische Gemeinde der Heiligen Apostolischen <strong>und</strong> Katholischen<br />

Assyrischen Kirche des Ostens in Stuttgart 38 <strong>und</strong> eine Gemeinde sogenannter<br />

»Thomas-Christen«, der Orthodoxen Kirche Indiens. 39<br />

Unierte orientalisch- <strong>und</strong> orthodox-katholische Kirchen<br />

Auch nach dem Schisma zwischen Rom <strong>und</strong> Byzanz im Jahre 1054 blieb die<br />

Römisch-Katholische Kirche bestrebt, die orientalische Christenheit in ihre Gemeinschaft<br />

zurückzubringen <strong>und</strong> der päpstlichen Aufsicht wieder zu unterstellen.<br />

Dies führte im Laufe des Mittelalters <strong>und</strong> in der beginnenden Neuzeit zur<br />

Verdoppelung der orientalischen <strong>und</strong> östlich-orthodoxen Kirchen. Dabei unterstellte<br />

sich das jeweilige Double Rom, erkannte den Papst als obersten Bischof<br />

an <strong>und</strong> machte sich das lateinische Glaubensbekenntnis zu eigen. Gleichzeitig<br />

aber durften diese Kirchen ihre orthodoxe Liturgie, Kirchensprache <strong>und</strong> Kirchenordnung<br />

sowie die Priesterehen beibehalten. 40 In der iMS sind die mit Rom<br />

unierten orthodoxen Kirchen mit drei Partikularkirchen repräsentiert: Zum einen<br />

ist es die Chaldäisch-Katholische mit der Chaldäisch-Katholischen Gemeinde<br />

Mar Shimon Bar Sabai. 41 Zum anderen sind es die Äthiopisch-Katholische<br />

<strong>und</strong> die Eritreisch-Katholische Kirche, die ihre Gläubigen gemeinsam in der<br />

Geez Ritus St. Justin de Jacobis Gemeinde durch einen Priester der Eritreisch-<br />

Katholischen Kirche betreuen. 42<br />

Freie altorientalisch-protestantische Kirchen<br />

Seit dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert unternahmen europäische <strong>und</strong> nordamerikanische<br />

Missionsgesellschaften Initiativen, um Muslime für den christlichen Glauben<br />

zu gewinnen. Diesen Missionsversuchen war aber wegen der strengen Ahndung<br />

eines Religionswechsels mit der Todesstrafe durch das islamische Gesetz wenig<br />

Erfolg beschieden. Diejenigen, die von den protestantischen Missionen erreicht<br />

37<br />

ID 1131, 1390 <strong>und</strong> 1391, vgl. Costabel, GaSH, 36f.; Armenische Gemeinde Baden-<br />

Württemberg, agbw.org.<br />

38<br />

ID 92; Verzeichnis ostkirchlicher Gemeinden in Deutschland, vogid.de; Assyrer<br />

in Stuttgart, facebook.com.<br />

39<br />

Notizen Telefoninterview v. 11.10.2021 (SGGS, LIMRIS-Archiv).<br />

40<br />

Die hier vorliegende kirchenk<strong>und</strong>liche Kategorisierung ordnet die mit Rom unierten<br />

orientalisch- <strong>und</strong> östlich-orthodoxen Kirchen in der ersten Hauptgruppe der Orthodoxie<br />

ein <strong>und</strong> folgt damit der Einteilung bei Körtner, Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e, 93f, oder<br />

Lange/Pinggéra, Die altorientalischen Kirchen, XIf.<br />

41<br />

ID 1502. Vgl. Gesamtkirchengemeinde Sankt Urban Stuttgart, sankturban.de. Von<br />

den ca. 6.000 in Deutschland lebenden chaldäischen Christen leben Zweidrittel in der<br />

iMS, Art. Chaldäisch-Katholische Kirche, wikipedia.org.<br />

42<br />

ID 1479. Vgl. Südgemeinden, St. Justinus de Jacobis, kath-suedgemeinden-stuttgart.<br />

de. Diese Gemeinde ist sowohl für die Gläubigen der Äthiopisch-Katholischen als auch<br />

der Eritreisch-Katholischen Kirche zuständig <strong>und</strong> repräsentiert so zwei Partikularkirchen.


102 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/Marcel Folz /Jorge Krist /Larissa Meister<br />

wurden, waren Angehörige der altorientalischen Kirchen. 43 So entstanden Gruppen<br />

<strong>und</strong> Gemeinschaften, die sich, einem protestantischen, meist evangelikalen<br />

Glaubensverständnis folgend, außerhalb ihrer Ursprungskirchen selbstständig<br />

als Gemeinden organisierten, sich aber gleichzeitig durch ihre Namensgebung<br />

in ihre altorientalische Tradition stellten. 44 In der iMS existieren vier Gemeinden,<br />

die dem Typ der freien altorientalisch-protestantischen Kirchen zuzuordnen sind:<br />

die Aramäischen Christen Ludwigsburg, 45 die Aramäische Freie Christengemeinde<br />

Bietigheim, 46 die Äthiopische Evangelische Gemeinde in Stuttgart-Freiberg 47 <strong>und</strong> die<br />

Äthiopische Exil-Kirchengemeinde Stuttgart in Ludwigsburg. 48<br />

Religiöses Leben in orthodoxer Perspektive<br />

Da die Trennungen innerhalb der orthodoxen Christenheit hauptsächlich historisch-kirchlich<br />

bzw. -politisch motiviert waren, verbindet sie über nationalkirchliche<br />

<strong>und</strong> sprachliche Grenzen hinweg viele Ähnlichkeiten. Dazu gehört<br />

vor allem ein Verständnis des religiösen <strong>und</strong> kirchlichen Lebens, das ganz auf<br />

den <strong>Gottesdienst</strong> ausgerichtet ist. Die Liturgie mit ihren komplexen Ritualen<br />

findet ihre Mitte in der Feier der Eucharistie, in der das Sakrament den Gläubigen<br />

in beiderlei Gestalt gespendet wird. Dieses einheitliche Bild des gemeindlichen<br />

Lebens der orthodoxen Gemeinden orientalischer wie östlicher Provenienz<br />

deckt sich mit den Ergebnissen der Studie. 49 Danach stehen der <strong>Gottesdienst</strong><br />

<strong>und</strong> das sakramentale Handeln in Liturgie, Kasualien, Seelsorge <strong>und</strong> christlicher<br />

Erziehung im Zentrum. Als wichtigste Veranstaltung gilt unangefochten<br />

der <strong>Gottesdienst</strong>, 50 teilweise werden auch noch zusätzlich als zweit- <strong>und</strong>/oder<br />

drittwichtigste Veranstaltung gottesdienstliche Angebote angegeben. Aber auch<br />

die meisten anderen Veranstaltungen, die nur an zweiter <strong>und</strong>/oder dritter Stelle<br />

43<br />

Vgl. Lange/Pinggéra, Einleitung, XIII.<br />

44<br />

Dies zeigen die Selbstbeschreibungen dieser Gemeinden, in Costabel, GaSH, 4f.<br />

45<br />

ID 86, Förderverein Freie Evangelische Aramäische Gemeinde Ludwigsburg, ceginformacio.hu.<br />

46<br />

ID 87, AFCG Bietigheim, afcg-bietigheim.de; vgl. in Costabel, GaSH, 4. Zu Aramäern<br />

in Deutschland allgemein: Art. Aramäer in Deutschland, dewiki.de; Art. Aramäer in<br />

Deutschland, de.wikipedia.org.<br />

47<br />

ID 93, vgl. in Costabel, GaSH, 5.<br />

48<br />

ID 94, Äthiopisch-Orthodoxe Tewahedo Kirche in Deutschland Lideta Le Mariam<br />

Exil-Kirchengemeinde-Stuttgart, firmenwissen.de.<br />

49<br />

An der Umfrage nahmen neun orthodoxe Gemeinden aus sechs verschiedenen Partikularkirchen<br />

teil. Von den orientalisch-orthodoxen Kirchen war dies eine Gemeinde der<br />

Syrisch-Orthodoxen Kirche (ID 1391) <strong>und</strong> eine der Armenisch-Apostolischen Orthodoxen<br />

Kirche (ID 89) <strong>und</strong> von der östlich-orthodoxen Kirche waren es zwei Gemeinden der<br />

Griechisch-orthodoxen Kirche (ID 17 <strong>und</strong> ID 778), drei von Russisch-Orthodoxen Kirche<br />

(ID 745, ID 1351 <strong>und</strong> ID 1353) sowie eine Gemeinde der Rumänisch-Orthodoxen Kirche<br />

(ID 1348) <strong>und</strong> der Mazedonisch-Orthodoxen Kirche (ID 1353).<br />

50<br />

Dieses Bild zeigen übereinstimmend die Ergebnisse der Frage 1 <strong>und</strong> 2. Demgegenüber<br />

werten den <strong>Gottesdienst</strong> im Katholizismus 60 Prozent der Befragten <strong>und</strong> im Protestantismus<br />

97 Prozent als wichtigste Veranstaltung.


Gemeinden in der Region Stuttgart<br />

103<br />

Übersicht 11: Das <strong>Gottesdienst</strong>- <strong>und</strong> Kirchenbild der orthodoxen Gemeinden in der iMS<br />

genannt wurden, haben im weitesten Sinn sakramental-liturgischen Charakter.<br />

Hierzu gehören insbesondere der Kirchliche Unterricht <strong>und</strong> die Kasualien<br />

(Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen, orth. Sakramente), in denen die orthodoxen<br />

Gemeinden prozentual die meisten Nennungen verzeichnen. 51 Als eine weitere<br />

Veranstaltungskategorie erscheinen verschiedene Formate von Gemeinschafts<strong>und</strong><br />

Begegnungsangeboten. 52 Was bei den orthodoxen Gemeinden wenig ausgeprägt<br />

ist <strong>und</strong> worin sie den größten Unterschied zu den katholischen Gemeinden<br />

zeigen, sind weltbezogene Handlungsfelder. 53<br />

Dieses Bild über das gemeindliche Leben, das sich aus der quantitativen<br />

Datenerhebung ergibt, illustriert die Aussagen eines orthodoxen Priesters in<br />

einem der Gruppeninterviews der Studie, der den <strong>Gottesdienst</strong> 54 mit seinem<br />

Zentrum in der Eucharistie, die Bedeutung der Gebete <strong>und</strong> das spirituelle Interagieren<br />

beschrieb: 55<br />

[B]ei uns in der Orthodoxen Kirche steht der <strong>Gottesdienst</strong> ganz zentral. Das ist die<br />

göttliche Liturgie am Sonntag, also das, was bei Evangelischen auch gefeiert wird,<br />

im römischen Katholizismus die Messfeier. Das ist sozusagen wirklich das Herz-<br />

51<br />

Diese Aussagen beziehen sich auf die Frage 2.<br />

52<br />

Als zweit- <strong>und</strong> drittwichtigste Veranstaltung bei Frage 2 wurden u. a. genannt:<br />

»Künstlerische / Kulturelle Veranstaltungen« oder »Veranstaltungen der Begegnung<br />

(festl./mit Essen/…)«.<br />

53<br />

Entsprechende Angaben fehlen bei der Forschungsfrage 1 ganz <strong>und</strong> bei Frage 2 sind<br />

sie nur schwach vertreten.<br />

54<br />

Zum gottesdienstlichen Leben in orthodoxer Tradition s. Körtner, Ökumenische Kirchenk<strong>und</strong>e,<br />

57–65.<br />

55<br />

FGG1-8, S. 13 Z 15 – S 14 Z 5.


104 <strong>Friedemann</strong> <strong>Burkhardt</strong>/Marcel Folz /Jorge Krist /Larissa Meister<br />

stück, die Herzkammer. Die <strong>Gottesdienst</strong>e, Vesper, Morgengottesdienste <strong>und</strong> so,<br />

die führen die Gläubigen zusammen. Da geschieht vieles an geistlicher Anregung<br />

durch die Texte, die dort immer wieder gebetet werden, Psalmgebete. Also das Insich-hinein-Erleben,<br />

dass sich das Gebet mit dem, was man im alltäglichen Leben<br />

erlebt, <strong>und</strong> wie sich das dann mit dem immer wiederkehrenden Beten verbindet <strong>und</strong><br />

dadurch eine gewisse Transparenz erhält. Das ist ein ganz wichtiges Moment für die<br />

Glaubensvermittlung, […].<br />

Die Orthodoxie kennt wie der römische Katholizismus sieben Sakramente. Diese<br />

sind neben der Eucharistie die Taufe, Salbung, Buße, Weihe (Ordination),<br />

Ehe <strong>und</strong> Krankensalbung. Kennzeichnend für orthodoxe Frömmigkeit ist ferner<br />

der sakramentale Charakter des gesamten kirchlichen Handelns <strong>und</strong> die<br />

zahlreichen kulturell-religiösen Bräuche wie beispielsweise das Spenden des<br />

jährlichen Haussegens in den Tagen nach dem Fest der Taufe Christi: 56<br />

Ein gutes Datum ist diese Zeit um den 19. Januar herum. Da haben wir Taufe Christi<br />

<strong>und</strong> da wird Weihwasser geweiht <strong>und</strong> dann geht man, wenn das gewünscht wird, in<br />

die Häuser, in die Wohnungen, segnet die Wohnungen ein. Und es ist dann üblich,<br />

dass man dann zur – die Russen nennen es Chashka Chai – zur Tasse Tee gebeten<br />

wird, was aber in der Regel ein opulentes Mahl ist! Und dann sind die versammelt,<br />

die in die Kirche gehen, aber auch Familienmitglieder, die in der Regel nicht in<br />

die Kirche gehen. Und wir haben dann die Möglichkeit da mit dem Priester ins<br />

Gespräch zu kommen. Also das sind solche Momente bei uns. Also es geht vieles so<br />

übers Leben, eben dort, wo Menschen Erfahrungen machen.<br />

Im Hinblick auf das Gottesbild betont die orthodoxe Tradition die Dreieinigkeit<br />

Gottes von Vater, Sohn <strong>und</strong> Heiligem Geist <strong>und</strong> ist sich einig im Glaubensbekenntnis<br />

von Nicäa in seiner revidierten Gestalt des Nicäno-Konstantinopolitanum.<br />

57 Daneben genießt die Gottesmutter Maria eine außerordentlich<br />

hohe Verehrung. Als Glaubensgr<strong>und</strong>lagen gelten die Bibel mit dem Alten <strong>und</strong><br />

Neuen Testaments, teilweise apokryphe Schriften, die aber nicht kanonisiert<br />

sind, die kirchliche Tradition <strong>und</strong> die Entscheidungen der Kirchenväter. Entsprechend<br />

begründet der Priester im Gruppeninterview in einer theologischen<br />

Diskussion seine Position ganz selbstverständlich mit einem Verweis<br />

auf Irenäus: 58<br />

Das sagt Irenäus von Lyon im zweiten Jahrh<strong>und</strong>ert: Gott wurde Mensch, damit der<br />

Mensch Gott werde. Und diese Einswerdung mit Gott in Christus Jesus, die communio,<br />

diese Einswerdung der Wiederherstellung der Schöpfung <strong>und</strong> das dann auch<br />

56<br />

FGG1-8, S. 15 ZZ 8 – 23.<br />

57<br />

Ohne den im frühen Mittelalter in der westlichen Tradition gebräuchlich <strong>und</strong> dogmatisch<br />

gewordenen Zusatz Filioque.<br />

58<br />

FGG1-8, S. 4 Z 26 – S. 5 Z 5.


Gemeinden in der Region Stuttgart<br />

105<br />

ganz persönlich im eigenen Leben – das ist vielleicht das Moment von dem ich<br />

sagen würde, es macht mein geistliches Leben aus.<br />

Die Kirchen der Orthodoxie haben eine episkopale Verfassung, sind hierarchisch<br />

geordnet, autokephal <strong>und</strong> stehen in monastischer Tradition. Das orthodoxe<br />

Kirchenjahr gliedert sich nach zwölf Hauptfesten mit acht feststehenden<br />

Festen: Mariä Geburt am 8. September, Kreuzerhöhung am 24. September,<br />

Weihnachten am 25. Dezember, dem eigentlichen Weihnachtsfest an Epiphanias<br />

am 6. Januar, Jesu Einzug im Tempel am 2. Februar, Mariä Verkündigung<br />

am 25. März, Verklärung Christi am 6. August <strong>und</strong> Mariä Heimgang am 15.<br />

August. Als bewegliche Feste gelten Palmsonntag, Ostern, Christi Himmelfahrt<br />

<strong>und</strong> Pfingsten. Diese zahlreichen Festtage überragt das Osterfest, das mit der<br />

Osternachtsfeier <strong>und</strong> weiteren Osterbräuchen das Herzstück des orthodoxen<br />

Glaubens symbolisiert. Seine Bedeutung wird deutlich, wenn als Termin, an<br />

dem auch die zur Kirche kommen, die das Jahr über keinen <strong>Gottesdienst</strong> besuchen,<br />

das Osterfest genannt wird <strong>und</strong> nicht etwa Weihnachten. 59 Die größte<br />

Wirkungsgeschichte erfuhr der Wechselgruß aus der orthodoxen Osterliturgie,<br />

der mittlerweile in vielen Denominationen auf der ganzen Welt seinen Platz im<br />

Ostergottesdienst gef<strong>und</strong>en hat: »Der Herr ist auferstanden! – Er ist wahrhaftig<br />

auferstanden!«<br />

Im Hinblick auf das Kirchenverständnis sehen sich die Kirchen der Orthodoxie<br />

zwar als die wahren Bewahrer der apostolischen Lehre, verstehen aber<br />

dennoch die Vielfalt eigenständiger Kirchen von der Einheit der weltweiten<br />

christlichen Kirche umschlossen. Entsprechend gehören nahezu alle orthodoxen<br />

Kirchen zum Ökumenischen Rat der Kirchen, wo der Austausch mit den<br />

Denominationen stattfindet, die in reformatorischer Tradition stehen.<br />

59<br />

FGG1-8, S. 14 ZZ 24 –26.


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