02.12.2022 Aufrufe

GVIERT MAGAZIN WINTER 2022

Oh Baby, IT'S COLD OUTSIDE!

Oh Baby, IT'S COLD OUTSIDE!

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Interview<br />

fach gut zuhören, fühlen, schauen und<br />

alle Sinne einsetzen. Ich sehe mir den<br />

Körper genau an, da wird zum Beispiel<br />

ein Schiefstand der Hüfte schnell offensichtlich.<br />

Gegebenenfalls schicke ich<br />

den Patienten zum Fachkollegen weiter.<br />

Ich behaupte nicht, dass ich alles weiß<br />

und kann. Wenn ich mal nicht weiterweiß,<br />

dann erkläre ich das auch offen.<br />

Mein Motto: Ich kann unterstützen, doch<br />

der Patient ist eigentlich der Arzt.<br />

Die Integrative Medizin ist im Aufwind<br />

und wird von der Bevölkerung immer<br />

stärker nachgefragt. Woran liegt das<br />

Ihrer Meinung nach?<br />

Man hört immer wieder von Mängeln im<br />

Gesundheitswesen – egal, ob im Krankenhaus<br />

oder in Arztpraxen. Manche<br />

Dinge wie die Zeit werden von außen<br />

vorgegeben. In drei bis fünf Minuten ist<br />

nicht viel Zeit für den Menschen, darunter<br />

leidet die Qualität. Ich möchte mich mit<br />

dem Menschen beschäftigen können. Da<br />

sind Fragen nach dem sozialen Umfeld,<br />

der Psyche und der Arbeit auch wesentlich<br />

– all diese Aspekte nehmen Einfluss<br />

auf unsere Gesundheit. Ich bin auch als<br />

Ambulanzärztin im Chemiepark tätiggestellt,<br />

wo ich zusätzliche notärztliche<br />

Tätigkeiten verrichte und es um schnelle<br />

Entscheidungen geht. Wenn ich in meiner<br />

Praxis arbeite, will ich mir Zeit nehmen<br />

und das schätzen viele Patienten.<br />

Lassen Sie uns auf die nächsten<br />

40 Jahre schauen: Welche<br />

Entwicklung sehen Sie im Bereich<br />

der Integrativen Medizin und was<br />

muss dafür getan werden?<br />

Wir müssten weggehen von der kurativen<br />

Medizin, wo wir jetzt sind – und das<br />

sage ich ganz bewusst so. Man lindert<br />

Beschwerden und bekämpft Symptome,<br />

aber eigentlich müsste man präventiv<br />

arbeiten. Das fängt im Kindesalter an.<br />

Eine gesunde Ernährung und Sport – das<br />

sind unter anderem Programme, die ich<br />

mir wünschen würde. Wir pflegen derzeit<br />

unseren Tunnelblick und schauen<br />

nicht über den Tellerrand und auf das,<br />

was die Menschen wollen und brauchen.<br />

Die Menschen wollen Zuwendung<br />

und Aufmerksamkeit, sie wollen wieder<br />

berührt werden. Sie glauben gar nicht,<br />

was eine Berührung in Kombination<br />

mit der richtigen Frage auslösen kann.<br />

MEIN MOTTO:<br />

ICH KANN<br />

UNTERSTÜTZEN,<br />

DOCH DER PATIENT<br />

IST EIGENTLICH<br />

,,DER ARZT.<br />

So viele erzählen mir, dass sie Anweisungen<br />

oder Befunde nicht verstanden<br />

haben, weil sie ihnen nicht erklärt wurden<br />

und sitzen dann bei mir. Dazu gehört<br />

aber Zeit, die leider den Kassenärzten<br />

nicht gegeben wird. Dann würden sich<br />

die Menschen wieder gut betreut fühlen.<br />

Was bedeutet für Sie eine Medizin<br />

der Zukunft? Wie können wir helfen<br />

und dazu beitragen?<br />

Dazu gehören zwei Dinge: Dass Menschen<br />

das Bewusstsein für das eigene<br />

Körpergefühl wiederentdecken und – wie<br />

schon erwähnt – dass den Ärzten in der<br />

Ordination mehr Zeit gegeben wird. Zudem<br />

sollten wir weg von der Anonymität<br />

und hin zum Miteinander. Interessanterweise<br />

hatte ich den Eindruck, dass während<br />

der Pandemie das soziale Miteinander<br />

gewachsen ist. Die Jungen haben die<br />

Alten versorgt und beispielsweise den<br />

Einkauf erledigt. Das würde ich mir von<br />

der Gesellschaft wünschen.<br />

,,<br />

Ich hoffe, dass unsere Politik wachgerüttelt<br />

wird, denn was man sich als Arzt<br />

oder Pfleger derzeit anhören muss, ist<br />

nicht lustig. Die Menschen sehen nur<br />

das, was nicht geht, aber wissen nicht,<br />

was dahintersteht. Seit 25 Jahren betont<br />

die Ärztekammer die Pensionierungswelle<br />

und bittet die Politik, den<br />

Beruf attraktiver zu gestalten. Jetzt starten<br />

diese Initiativen, doch leider ist es<br />

jetzt schon fast 5 nach 12.<br />

Zum anderen muss man die Menschen<br />

wieder dazu bringen, etwas für sich<br />

selbst zu tun. Das beginnt zum Beispiel in<br />

der Schule bei der Ausbildung zur Ersten<br />

Hilfe, bei der Wissen und Tipps vermittelt<br />

werden. Es braucht nicht immer ein Antibiotikum.<br />

Keiner hat mehr die Zeit, krank<br />

zu sein und es auszusitzen.<br />

Wie sieht eine Ordination<br />

bei Ihnen aus?<br />

Der erste Schritt ist eine ordentliche,<br />

umfassende Anamnese. Danach werden<br />

die Fremdbefunde besprochen und<br />

warum der Patient zu mir gekommen<br />

ist. Wenn ich weiß, in welche Richtung<br />

es geht, dann mache ich zum Beispiel<br />

eine Akupunktur, manchmal kombiniert<br />

mit einer Tuina Massage. Bei dieser sehr<br />

alten Massage wird mit verschiedenen<br />

Techniken gearbeitet. Dazu gehören<br />

greifen, kneten, drücken und ziehen.<br />

Eine tolle Möglichkeit bei Faszien. Im<br />

Grunde genommen baut unsere Schulmedizin<br />

auf der Naturmedizin auf, verfeinert<br />

durch die heutige empirische<br />

Forschung. Die Schulmedizin oder das<br />

Gesundheitssystem zu verdammen ist<br />

per se nicht richtig. Altes und neues<br />

Wissen zu kombinieren, den Blick fürs<br />

Ganze und der Einsatz von allen Sinnen<br />

sind für mich wichtig und machen die<br />

Medizin für mich so spannend.<br />

<strong>GVIERT</strong> Magazin 37

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!