Kolozs, Komm, Kind, iss! 2022 Leseprobe
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herkömmlichen Vorstellung eines (potenziellen) Heiligen zusammenpasst, die<br />
normalerweise ja davon ausgeht, dass nicht der Hauch von Schlechtigkeit oder<br />
gar Boshaftigkeit einer von Gott auserwählten Seele anhaftet – und das von Geburt<br />
an.<br />
Dagegen steht die hier vertretene Auffassung von Walter Nigg, der dazu ausführlich<br />
schrieb: „Der Ausnahmecharakter des Heiligen wird gewöhnlich in seiner<br />
sittlichen Reinheit gesehen. Die traditionelle Heiligenbiografie liebe es, ihre<br />
Helden von Jugend an als Ausbund von Tugendhaftigkeit auszugeben; als Menschen,<br />
die für die Lockungen der Welt nie auch nur das geringste Gehör übrig<br />
hatten. Mit dieser Betonung des ethischen Moments wird der Akzent auf die falsche<br />
Stelle gelegt. Die großen Heiligen haben nichts von dem unwahrscheinlichen<br />
Anstrich von Idealmenschen an sich. Das Leben zahlreicher Heiliger zeigt, dass<br />
auch sie zuerst den Weg der Sünde gingen und sich durch schwere Kämpfe daraus<br />
befreien mussten. […] Die Überwindung der niederen Sphäre gehört freilich zum<br />
Wesen des Heiligen. Ein hervorragender Mensch, der jedoch nie über seine Fehler<br />
hinausgekommen ist, kann nicht als Heiliger angesprochen werden. Trotzdem<br />
bedeutet Tugendhaftigkeit nicht dasselbe wie Heiligkeit, und es ist ein M<strong>iss</strong>verständnis,<br />
wenn man im Heiligen vor allem den moralischen Menschen sieht. […]<br />
Der Heilige muss in erster Linie als religiöser Mensch aufgefasst werden. […] Der<br />
Heilige ist der religiös begabte Mensch, auf diese Formel kann zunächst einmal<br />
sein Wesen gebracht werden. […] Die religiöse Begabung des Heiligen wirkt sich<br />
in seinem unermüdlichen Streben nach Vollkommenheit aus. […] Es gab Heilige,<br />
denen die Heiligkeit gleichsam schon in die Wiege gelegt worden war. Die große<br />
Mehrzahl von ihnen jedoch musste um dieselbe mit zäher Ausdauer ringen, bis<br />
sie ihnen zuteilwurde. Heiligung ist immer ein religiös-seelischer Prozess, der in<br />
diesem Leben keinen Abschluss findet.“ 18<br />
So betrachtet sind die meisten in der <strong>Kind</strong>heit und Jugend begangenen lässlichen<br />
Sünden bzw. Verfehlungen eines Menschen nicht letztbestimmende Hindern<strong>iss</strong>e<br />
auf dem Weg zur (Selbst-)Heiligung, sondern können durch ihre nachfolgende,<br />
ernst gemeinte Überwindung bzw. Läuterung im späteren Leben sogar<br />
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