Was ist eine Kurzgeschichte? - SpecFlash
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buchtipp<br />
Leseprobe aus “Seidendrachen“<br />
Es war ihm ein Rätsel, wie dieser zarte Junge<br />
aus dem fernen Orient mit solch wissenschaftlicher<br />
Präzision s<strong>eine</strong> Vorbereitungen traf. Wie<br />
sollte er – Jarin - all die tausend kl<strong>eine</strong>n Handgriffe<br />
notieren oder sich überhaupt merken<br />
können? Dafür prägte er sich jede der anmutigen<br />
Bewegungen s<strong>eine</strong>s Schützlings ein. Es<br />
glich <strong>eine</strong>m Tanz in der Stille des Morgenlichts.<br />
Die schwarzen Haare fielen wie ein glatter<br />
Vorhang auf s<strong>eine</strong> schmalen Schultern. Sie bildeten<br />
<strong>eine</strong>n Kontrast zu dem mädchenhaft<br />
zarten Teint, der nun ebenfalls <strong>eine</strong>n goldenen<br />
Schimmer angenommen hatte. Er war ganz in<br />
schwarz gekleidet, in <strong>eine</strong>n traditionellen<br />
Kimono, der die Makellosigkeit s<strong>eine</strong>s zierlichen<br />
Körpers unterstrich. Immer noch umgab ihn der<br />
Liebreiz <strong>eine</strong>s Mädchens. Unwillkürlich kam Jarin<br />
ihre erste Begegnung wieder in den Sinn. Er<br />
betrachtete versonnen s<strong>eine</strong> Fingerspitzen, die<br />
Akio damals berührt und unbewusst gestreichelt<br />
hatten.<br />
Dann blickte er wieder zu dem Asiaten hin.<br />
Dieser schien ihm heute so zerbrechlich wie<br />
chinesisches Porzellan. S<strong>eine</strong> Anmut weckte sein<br />
Verlangen, Akio nahe zu sein, ihn in die Arme zu<br />
schließen. Mühsam beherrschte Jarin sich,<br />
obwohl er am liebsten aufgesprungen wäre. Ab<br />
und zu prüften Akios grüne Augen die Materialien,<br />
die vor ihm auf dem langen Tisch lagen. Er<br />
sortierte die f<strong>eine</strong>n Pinsel aus Tierhaaren. Es<br />
waren unendlich viele. Dann sah er wieder zum<br />
Fenster hinaus. Er schien auf etwas zu warten.<br />
Endlich schien die Sonne in <strong>eine</strong>m bestimmten<br />
Winkel zu stehen und Akio begann, die weiße<br />
Fläche vor sich mit den Grundmotiven zu bemalen.<br />
Erste hauchf<strong>eine</strong> Umrisse entstanden unter<br />
<strong>SpecFlash</strong> - das Portal in <strong>eine</strong> parallele Realität<br />
s<strong>eine</strong>n Händen: <strong>eine</strong> Pagode umrahmt von<br />
Bambus. Der Tempel <strong>eine</strong>s unbekannten Gottes.<br />
Kinder in fremdartigen Gewändern und merkwürdigen<br />
Frisuren, die Opfergaben darbrachten.<br />
Jeder Pinselstrich zog Jarin mehr und mehr in<br />
s<strong>eine</strong>n Bann. Er folgte Akios zarten Fingern mit<br />
s<strong>eine</strong>n Augen und hatte sich mittlerweile von<br />
s<strong>eine</strong>m Stuhl erhoben. Näher und näher war<br />
Jarin an den Ateliertisch getreten, der für ihn<br />
aussah wie das Labor <strong>eine</strong>s Alchem<strong>ist</strong>en. Wie<br />
konnte Akio nur bei diesem Durcheinander den<br />
Überblick behalten?<br />
Akio schien genau zu wissen, dass Jarin dicht<br />
bei ihm war, obwohl dieser versucht hatte, so<br />
leise wie möglich zu sein. Außerdem übertönte<br />
der Lärm draußen s<strong>eine</strong> Schritte. „Du geben mir<br />
den anderen Pinsel?“, fragte er mit s<strong>eine</strong>m<br />
singenden Akzent. Welchen Pinsel? Da lagen ja<br />
Hunderte davon. Hilflos überflog Jarin mit s<strong>eine</strong><br />
n Augen die Auswahl an Malinstrumenten. Mit<br />
<strong>eine</strong>m Lächeln auf den Lippen wandte sich Akio<br />
z u s<strong>eine</strong>m Leibwächter um. Er wusste ganz<br />
genau, dass er Jarin mit dieser Bitte überfordert<br />
hatte! Und dieser starrte jetzt in die goldgrünen<br />
Augen – <strong>eine</strong>m geheimnisvollen See gleich, der<br />
ihn zu verschlingen drohte. Akio war <strong>eine</strong>n guten<br />
Kopf kl<strong>eine</strong>r als er und im Vergleich zu s<strong>eine</strong>r<br />
durchtrainierten Gestalt ein eher fragiles Wesen.<br />
Akios Lächeln vertiefte sich, als er mit der Hand,<br />
die immer noch den Pinsel aus feinstem Marderhaar<br />
führten, sanft über Jarins Wange fuhr und<br />
<strong>eine</strong>n dünnen Tuschestrich hinterließ. Instinktiv<br />
wollte er die Hand abwehren. S<strong>eine</strong> Finger<br />
umschlossen das zarte Handgelenk. Akio wehrte<br />
sich nicht. Er hielt ganz still. Verlor kein Wort.<br />
Jarin zog ihm den Pinsel aus der Hand, ohne ihn<br />
jedoch loszulassen. Und dann tat er etwas, das<br />
er früher nie für möglich gehalten hätte. Er