Was ist eine Kurzgeschichte? - SpecFlash
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kurzgeschichte<br />
Stolz und Eitelkeit. Sie fühlte sich wie <strong>eine</strong><br />
verwunschene Prinzessin.<br />
All das sollte sie in Zukunft unter der eintönigen<br />
Schwesterntracht verbergen, wenn es<br />
nach der Oberin ging. Diese makellose Haut, die<br />
zierliche Taille, die schönen, langen B<strong>eine</strong>? Alles<br />
in Daniela wehrte sich gegen diese Vorstellung.<br />
So, wie sie sich gerade da im Spiegel betrachtete,<br />
würde ihr die Welt offen stehen, würde sie<br />
Männerherzen höher schlagen lassen. So wollte<br />
sie leben und nicht anders!<br />
Die Nonnen hatten den Mädchen schon früh<br />
alle kl<strong>eine</strong>n Schmuckstücke untersagt. »Wenn<br />
man nachts in den Spiegel sieht, guckt der Teufel<br />
heraus«, dieses altväterliche Sprichwort hatten<br />
sie den heranwachsenden Kindern immer<br />
wieder vorgehalten.<br />
‚Lächerlich’, dachte Daniela jetzt, als sie sich<br />
daran erinnerte.<br />
Mit der Gewissheit, <strong>eine</strong> Entscheidung über<br />
ihre Zukunft getroffen zu haben, legte sie sich<br />
auf ein ausrangiertes Sofa und kuschelte sich<br />
zufrieden in die nach Mottenkugeln duftenden<br />
Wolldecken.<br />
Ihr Schlaf war unruhig. Nicht nur die ungewohnte<br />
Umgebung machte Daniela zu schaffen,<br />
viel mehr der Alptraum, der sie quälte.<br />
Dabei fing er so harmlos an: Daniela sah sie sich<br />
erneut vor diesem kunstvollen, alten Spiegel<br />
stehen in dem bezaubernden, schwarzen Kleid.<br />
Dann entwickelte das Bild in diesem Spiegel ein<br />
Eigenleben. Es zeigte ihr wie in <strong>eine</strong>m Film die<br />
Szenen <strong>eine</strong>r imaginären Zukunft - ihrer Zukunft.<br />
Zuerst sah sie ihre Entdeckung als Sängerin bei<br />
<strong>eine</strong>m Talentwettbewerb in <strong>eine</strong>r großen Stadt,<br />
ihre aufsteigende Karriere und später deren<br />
<strong>SpecFlash</strong> - das Portal in <strong>eine</strong> parallele Realität<br />
schreckliches Ende in Form von Kokain und<br />
schmutzigen Schlagzeilen. Aber sie sah auch, wie<br />
ihr Charakter sich veränderte, von der anständig<br />
erzogenen jungen Dame zu <strong>eine</strong>r überheblichen,<br />
bösartigen Frau mit Starallüren. Und zuletzt<br />
zeigte dieser seltsame Spiegel ihr die Menschen,<br />
die sie zunächst umjubelten und dann voller<br />
Selbstsucht umschmeichelten, um sie schließlich<br />
fallen zu lassen und zu vergessen.<br />
Daniela erwachte schweißgebadet. Sie blickte<br />
an sich herunter und bemerkte, dass sie immer<br />
noch dieses Kleid trug. Hastig zog sie es aus und<br />
hängte es zurück in den Schrank. Dann schlüpfte<br />
sie in ihre eigenen Sachen und lief zur Tür der<br />
Dachkammer. Mit heftigem Klopfen machte sie<br />
auf sich aufmerksam, bis <strong>eine</strong> der Schwestern<br />
ihr schließlich öffnete. Mit immer noch zitternden<br />
Knien eilte die Waise in den <strong>Was</strong>chraum.<br />
Die me<strong>ist</strong>en Mädchen befanden sich<br />
schon beim Frühstück, so dass sie ganz all<strong>eine</strong><br />
war. Nach <strong>eine</strong>r Katzenwäsche blickte sie in den<br />
kl<strong>eine</strong>n, schon angelaufenen Spiegel über dem<br />
<strong>Was</strong>chbecken und stellte fest, dass sie immer<br />
noch ihre Haare offen trug. Wie gewohnt begann<br />
sie, diese wieder zu <strong>eine</strong>m Zopf zu flechten.<br />
Danach lief sie hinunter in den Speisesaal zu den<br />
anderen.<br />
Nach dem gemeinsamen Frühstück gingen die<br />
Mädchen an die ihnen zugewiesenen Arbeiten.<br />
Nur Daniela wurde erneut zur Oberin gerufen.<br />
Schüchtern blieb Daniela vor der Leiterin des<br />
Waisenhauses stehen, um deren Mund ein<br />
wissendes Lächeln spielte.<br />
»Nun, mein Kind, was <strong>ist</strong> dir in der letzten<br />
Nacht widerfahren. Du siehst sehr blass aus«,<br />
begann sie das Gespräch im mütterlichen Tonfall.<br />
Daniela machte <strong>eine</strong>n tiefen Atemzug. Sto-