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Klaus Hock | Claudia Jahnel | Klaus-Dieter Kaiser (Hrsg.): Mission in Film und Literatur (Leseprobe)

Mission hat in Film und Literatur weiterhin Konjunktur – sei es explizit wie in Scorseses »Silence« (2016) oder in der Netflix-Neuverfilmung von »Black Narcissus« (2020), sei es en passant wie im »Kanonenboot am Yangtse-Kiang« (1966) oder implizit wie in Herzogs »Der Nomade – Auf den Spuren von Bruce Chatwin«. Die Beiträge dieses Bandes befassen sich mit der Inszenierung von Mission in Romanen und Filmen. Dabei zeigen sich verbindende Motive wie etwa das der Grenzüberschreitung, der Begegnung mit dem »Fremden«, des Scheiterns oder der Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Macht. Gleichzeitig bleibt in der Spannung von Fiktion und Faktizität, Story und History das Verständnis von Mission offen und entzieht sich klassischen historischen, religionswissenschaftlichen und interkulturell-theologischen Deutungsmustern.

Mission hat in Film und Literatur weiterhin Konjunktur – sei es explizit wie in Scorseses »Silence« (2016) oder in der Netflix-Neuverfilmung von »Black Narcissus« (2020), sei es en passant wie im »Kanonenboot am Yangtse-Kiang« (1966) oder implizit wie in Herzogs »Der Nomade – Auf den Spuren von Bruce Chatwin«.
Die Beiträge dieses Bandes befassen sich mit der Inszenierung von Mission in Romanen und Filmen. Dabei zeigen sich verbindende Motive wie etwa das der Grenzüberschreitung, der Begegnung mit dem »Fremden«, des Scheiterns oder der Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Macht. Gleichzeitig bleibt in der Spannung von Fiktion und Faktizität, Story und History das Verständnis von Mission offen und entzieht sich klassischen historischen, religionswissenschaftlichen und interkulturell-theologischen Deutungsmustern.

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<strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong> | <strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong><br />

<strong>Klaus</strong>-<strong>Dieter</strong> <strong>Kaiser</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>Mission</strong> <strong>in</strong> <strong>Film</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Literatur</strong><br />

Band 1<br />

Heuristische Annäherung:<br />

Kontexte – Akteur:<strong>in</strong>nen – Ambivalenzen<br />

Veröffentlichungen der<br />

Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie


Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong>, <strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong> <strong>und</strong> <strong>Klaus</strong>-<strong>Dieter</strong> <strong>Kaiser</strong><br />

E<strong>in</strong>leitung ...................................................................................................................... 7<br />

Kathar<strong>in</strong>a Döbler<br />

Literarisches Schreiben über <strong>Mission</strong> <strong>und</strong> Kolonialismus .......................... 11<br />

Georg Seeßlen<br />

<strong>Mission</strong> im <strong>Film</strong> – ihre Repräsentation <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Kontexte ......................................................................................................................... 19<br />

Andreas Heuser<br />

Der Gottesnomade <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e GOD BOX:<br />

Werner Herzogs Hommage an Bruce Chatw<strong>in</strong> ................................................. 27<br />

Michael Biehl<br />

Bücher <strong>und</strong> <strong>Film</strong>e befremdlicher D<strong>in</strong>ge ............................................................... 53<br />

Anita Mart<strong>in</strong><br />

<strong>Mission</strong> <strong>und</strong> lebendige Legende. Imitatio <strong>und</strong> re-live-Theatralik<br />

im Heiligendrama Genoveva <strong>und</strong> der Serie Warrior Nun ................................ 71<br />

<strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong><br />

»Black Narcissus« (1938/1947). <strong>Mission</strong> als Bühne für Grenzüberschreitungen,<br />

Widersprüche <strong>und</strong> Kritik an kolonialer Selbstverliebtheit ........... 89<br />

Ulrike Sallandt<br />

Wissen ›im Fluss‹. (Ohn-)Macht(s)geschehen<br />

<strong>in</strong>terkulturell im Amazonas ................................................................................. 129<br />

<strong>Klaus</strong>-<strong>Dieter</strong> <strong>Kaiser</strong><br />

West-Östlicher Blickwechsel. Die zweifache Verfilmung des Romans<br />

Schweigen von Shūsaku Endō durch Masahiro Sh<strong>in</strong>oda <strong>und</strong><br />

Mart<strong>in</strong> Scorsese ....................................................................................................... 149<br />

Moritz Fischer<br />

Mediale <strong>und</strong> historische Verflechtungen der <strong>Mission</strong>sanstalt<br />

Neuendettelsau mit dem <strong>Mission</strong>sfeld Neugu<strong>in</strong>ea im <strong>Mission</strong>sfilm<br />

»Das Evangelium unter den Menschenfressern« (1930) .............................. 169


6 Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong><br />

MENSCH MACHT MISSION im <strong>Film</strong>. Fragmentarische Kartierung<br />

e<strong>in</strong>es Panoptikums .................................................................................................. 193<br />

Doris Günther-Kriegel<br />

<strong>Mission</strong> – Religion – Geschlecht. E<strong>in</strong> Ausblick ............................................... 223<br />

Verzeichnis der Autor<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Autoren ........................................................ 240


<strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong>, <strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong> <strong>und</strong> <strong>Klaus</strong>-<strong>Dieter</strong> <strong>Kaiser</strong><br />

E<strong>in</strong>leitung<br />

Der Pastor Peter Leigh wird für e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zigartige <strong>Mission</strong> ausgewählt. Auf dem Planeten<br />

Oasis, wo man gerade e<strong>in</strong>e menschliche Kolonie errichtet, soll er die E<strong>in</strong>heimischen<br />

zum Christentum bekehren. Auf Oasis trifft er äußerst willige Aliens, die sich<br />

gerne bekehren lassen. »Das Buch der seltsamen neuen D<strong>in</strong>ge« nennen sie die Bibel ...<br />

(Michel Faber’s »Das Buch der seltsamen neuen D<strong>in</strong>ge« [engl. 2014, dt. 2018])<br />

1934 führt Schwester Clodagh mehrere handverlesene britische Nonnen von ihrem<br />

Orden aus der Stadt Darjeel<strong>in</strong>g zum Palast von Mopu im Himala ya, um dort e<strong>in</strong>e <strong>Mission</strong><br />

zu errichten <strong>und</strong> den verfallenen Ort wieder mit Leben zu erfüllen. Doch die Abgeschiedenheit<br />

<strong>und</strong> E<strong>in</strong>samkeit lässt <strong>in</strong> den dunklen Gemäuern unterdrückte Gefühle<br />

zum Vorsche<strong>in</strong> kommen ... (Black Narcissus, P<strong>in</strong>ewood Studios 1947, remake: BBC<br />

Studios Remake 2020)<br />

<strong>Mission</strong> <strong>in</strong> <strong>Literatur</strong> <strong>und</strong> <strong>Film</strong> hat offensichtlich weiterh<strong>in</strong>, zum<strong>in</strong>dest immer wieder<br />

e<strong>in</strong>mal, e<strong>in</strong>e gewisse Konjunktur, <strong>und</strong> zwar nicht nur <strong>in</strong> den »großen« <strong>Film</strong>en<br />

wie Mart<strong>in</strong> Scorceses Silence (2016) oder Roland Joffés The <strong>Mission</strong> (1986). Auch<br />

<strong>in</strong> unbekannteren <strong>Film</strong>en <strong>und</strong> Büchern wird <strong>Mission</strong> thematisch, mit <strong>Mission</strong>aren<br />

<strong>und</strong> <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong>nen mal <strong>in</strong> Hauptrollen, mal <strong>in</strong> Nebenrollen <strong>und</strong> fast immer<br />

mit e<strong>in</strong>em wie auch immer gearteten Verhältnis zu Fragen des Kolonialismus <strong>und</strong><br />

der Begegnung mit »dem Anderen« oder auch »den Anderen«. Die wissenschaftliche<br />

Ause<strong>in</strong>andersetzung mit dem Thema fällt h<strong>in</strong>gegen vergleichsweise schmal<br />

aus, zumal aus der Perspektive der mit Religionsforschung im engeren S<strong>in</strong>ne<br />

befassten Diszipl<strong>in</strong>en. Das mag an der Interdiszipl<strong>in</strong>arität des Feldes zwischen <strong>Literatur</strong>-,<br />

<strong>Film</strong>- <strong>und</strong> Medien-, Geschichts-, Sozial- <strong>und</strong> Kulturwissenschaften sowie<br />

Religionswissenschaft <strong>und</strong> Theologie liegen – oder auch an den Verflechtungen<br />

von Vermarktungs<strong>in</strong>teressen, geschichtlich gewachsenen <strong>und</strong> aktuellen soziopolitischen<br />

Entstehungsbed<strong>in</strong>gungen h<strong>in</strong>ter Buch <strong>und</strong> <strong>Film</strong> sowie dem historischen<br />

Geschehen, auf das sich <strong>Film</strong> oder Buch je beziehen. <strong>Mission</strong> wird <strong>in</strong> <strong>Literatur</strong><br />

<strong>und</strong> K<strong>in</strong>o somit oftmals <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em äußerst komplexen <strong>und</strong> zugleich ambivalenten<br />

Spannungsfeld <strong>in</strong>szeniert <strong>und</strong> reflektiert.<br />

Doch was veranlasst eigentlich die BBC dazu, e<strong>in</strong> Remake zu e<strong>in</strong>em 70 Jahre<br />

alten <strong>Film</strong> über die Geschichte e<strong>in</strong>er <strong>Mission</strong> im Himalaya mit verrückt werdenden<br />

Nonnen neu zu drehen? Was e<strong>in</strong>en zeitgenössischen Autor zu e<strong>in</strong>em »klassischen«<br />

<strong>Mission</strong>splot? Gibt es gleichbleibende Repräsentationsmuster <strong>in</strong> der<br />

Darstellung: des <strong>Mission</strong>ars oder der <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong>, »des Anderen«, »der Anderen«<br />

oder auch der »anderen« Kultur, Religion <strong>und</strong> Gesellschaft? Welche Stereotype <strong>und</strong><br />

Hierarchien werden wie dargestellt – <strong>und</strong> gebrochen? Wie verflechten die litera-


8 <strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong> / <strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong> / <strong>Klaus</strong>-<strong>Dieter</strong> <strong>Kaiser</strong><br />

risch oder filmisch <strong>in</strong>szenierten Erzählungen historische Fakten <strong>und</strong> gegenwärtige<br />

gesellschaftliche <strong>und</strong> globalpolitische Entwicklungen? Welche Geschichts- <strong>und</strong><br />

<strong>Mission</strong>s-Narrative sowie Gegen-Narrative werden generiert oder reproduziert?<br />

Wie sieht das Bild der <strong>Mission</strong> <strong>in</strong> <strong>Film</strong>en <strong>und</strong> Büchern aus dem globalen Süden<br />

aus? Gibt es gender-, race- oder class-bezogene Differenzierungen? Welches globaluniversalisierte,<br />

nationale, regionale oder lokale Wissen über, welche Deutung<br />

von <strong>Mission</strong>, Kultur, Kulturbegegnung, Kolonialismus wird von wem wie erzeugt<br />

bzw. rezipiert?<br />

Unter diesem sehr breiten Fragespektrum wurden Beiträge für die Fachgruppentagung<br />

der Sektion Religionswissenschaft <strong>und</strong> Interkulturelle Theologie <strong>in</strong><br />

der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie erbeten, die von 31. März bis<br />

2. April 2021 <strong>in</strong> Neuendettelsau stattfand. Konkrete E<strong>in</strong>zelfallstudien <strong>und</strong> -analysen<br />

waren dabei ebenso willkommen wie konzeptionell-theoretische Reflexionen<br />

<strong>und</strong> gr<strong>und</strong>sätzliche Überlegungen. Die Beiträge durften <strong>und</strong> sollten aus unterschiedlichen<br />

fachlichen Perspektiven <strong>und</strong> Zugängen kommen – sei’s aus <strong>Literatur</strong>-<br />

oder Medienwissenschaft, sei’s aus Geschichtswissenschaft, postkolonialer<br />

Theorie oder Genderforschung, sei’s aus Religionswissenschaft, Theologie, Ethnologie<br />

oder anderen Bereichen.<br />

Zugleich war klar, dass es nicht primär darum gehen konnte, Religion im S<strong>in</strong>ne<br />

religiöser Inhalte zu thematisieren – abgesehen von ihrer <strong>in</strong> <strong>Film</strong> bzw. Buch<br />

expliziten oder gegebenenfalls zu explizierenden Verb<strong>in</strong>dung zum Thema <strong>Mission</strong>.<br />

In den Fokus rücken sollte vielmehr, welche Inhalte sich mit Blick auf <strong>Mission</strong><br />

<strong>in</strong> den <strong>Film</strong>en <strong>und</strong> Büchern spiegeln <strong>und</strong> entsprechend auff<strong>in</strong>den lassen – etwa<br />

im Plot oder <strong>in</strong> den dazugehörigen Narrativen. Dabei ist <strong>in</strong>sbesondere sowohl<br />

der historische Kontext der Entstehung des jeweiligen Werkes zu berücksichtigen<br />

(<strong>in</strong>klusive se<strong>in</strong>er potenziellen Invisibilisierung) als auch se<strong>in</strong>e rezeptionsästhetische<br />

Nachwirkung: Inwieweit spiegeln die dort verhandelten Debatten <strong>in</strong> unserer<br />

Wahrnehmung heutige Themen?<br />

Innerhalb e<strong>in</strong>er Tagung <strong>Mission</strong> im <strong>Film</strong> <strong>und</strong> <strong>in</strong> der <strong>Literatur</strong> zu verhandeln,<br />

versprach durchaus <strong>in</strong> vielfacher H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong>en Erkenntnismehrwert. Denn <strong>in</strong><br />

beiden Fällen geht es um die künstlerische Transformation von Themen – <strong>in</strong> unserem<br />

Fall: des Themas »<strong>Mission</strong>« – <strong>und</strong> <strong>in</strong> beiden haben wir es mit Projekten zu<br />

tun, die sich als Bemühen um S<strong>in</strong>nstiftung mittels kultureller Transformation<br />

durch ausgewählte <strong>und</strong> aktualisierte bzw. aktualisierende Deutungsversuche verstehen<br />

lassen. Zudem s<strong>in</strong>d K<strong>in</strong>o – bzw. Fernsehen, Videotheken oder Stream<strong>in</strong>gportale<br />

– <strong>und</strong> <strong>Literatur</strong> nicht selten durch das Genre der <strong>Literatur</strong>verfilmungen<br />

mite<strong>in</strong>ander verknüpft, woraus sich aus der Perspektive des <strong>Film</strong>s e<strong>in</strong> doppelter<br />

Bezug (a) zur literarischen Verarbeitung (b) e<strong>in</strong>es Geschehens – fokussiert auf die<br />

<strong>in</strong> der Begegnung mit dem oder den Anderen gegebene Fremdheitserfahrung – sowie<br />

e<strong>in</strong>e doppelte Übersetzung dieses Ereignisses oder dieser Erzählung a) über<br />

die Zeit h<strong>in</strong>weg (b) <strong>in</strong> e<strong>in</strong> anderes Medium ergibt.<br />

Entsprechend der bewusst offen formulierten E<strong>in</strong>ladung traktierten die Beiträge<br />

zur Tagung Themen aus e<strong>in</strong>em weiten thematischen Feld – sowohl, was die<br />

konkreten Beispiele aus <strong>Film</strong> <strong>und</strong> <strong>Literatur</strong> anbelangt, als auch h<strong>in</strong>sichtlich der<br />

verschiedenen Zugänge <strong>und</strong> Deutungsperspektiven. Angesichts der unterschied-


E<strong>in</strong>leitung 9<br />

lichen Beiträge ließ sich deshalb kaum e<strong>in</strong>e klare Strukturierung vornehmen.<br />

Das spiegelt sich auch <strong>in</strong> dieser aus der Tagung hervorgegangenen Publikation<br />

wider, deren Ausrichtung im Untertitel folgerichtig als »Heuristische Annäherung«<br />

charakterisiert ist, wobei mit dem Verweis auf »Kontexte – Akteur:<strong>in</strong>nen – Ambivalenzen«<br />

ebenso stichwortartig wie exemplarisch e<strong>in</strong>ige der <strong>in</strong> Neuendettelsau<br />

verhandelten <strong>und</strong> diskutierten Aspekte annonciert s<strong>in</strong>d.<br />

Aus zwei eher gr<strong>und</strong>sätzlichen <strong>und</strong> übergreifenden, aber doch auch auf spezifische<br />

Aspekte fokussierenden Perspektiven wird das Gesamtfeld aufgerissen:<br />

Die Schriftsteller<strong>in</strong> <strong>und</strong> Journalist<strong>in</strong> Kathar<strong>in</strong>a Döbler verknüpft <strong>in</strong> ihrem Beitrag<br />

»Literarisches Schreiben über <strong>Mission</strong> <strong>und</strong> Kolonialismus« die Frage nach dem<br />

Verhältnis von Literarizität <strong>und</strong> Historie mit dem nach der eigenen Betroffenheit<br />

als Autor<strong>in</strong> im Spannungsfeld von familiärer Überlieferung <strong>und</strong> geschichtlichen<br />

Fakten. Der Autor, Feuilletonist, Kultur- <strong>und</strong> <strong>Film</strong>kritiker Georg Seeßlen gibt e<strong>in</strong>en<br />

– generisch mit »<strong>Mission</strong>« überschriebenen – ebenso weitgespannten wie<br />

angesichts der Fülle des Materials notgedrungen exemplarischen Überblick über<br />

<strong>Film</strong>e, die das Verhältnis von <strong>Mission</strong> <strong>und</strong> Kolonialismus behandeln, wobei der<br />

Rolle des <strong>Mission</strong>ars bzw. der <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong> se<strong>in</strong> besonderes Augenmerk gilt.<br />

Diesen beiden die Thematik eröffnenden Beträgen folgt die Studie von Andreas<br />

Heuser, »Der Gottesnomade <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e God Box: Werner Herzogs Hommage an<br />

Bruce Chatw<strong>in</strong>«, <strong>in</strong> der c<strong>in</strong>eastisch-literarische Referenzen zwischen den Werken<br />

der beiden Künstler, die sich auch persönlich kannten, exemplarisch beleuchtet<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> ihrer Relevanz für die Thematisierung von <strong>Mission</strong> <strong>in</strong>terpretiert werden.<br />

Michael Biehl hat se<strong>in</strong>e Beitrag mit »Bücher <strong>und</strong> <strong>Film</strong>e befremdlicher D<strong>in</strong>ge«<br />

überschrieben – e<strong>in</strong>er direkten Anspielung auf den 2014 erschienenen Roman<br />

»The Book of Strange New Th<strong>in</strong>gs« von Michael Faber, den er <strong>in</strong>s Zentrum se<strong>in</strong>er<br />

Untersuchung stellt – <strong>und</strong> reflektiert an diesem konkreten Beispiel unter anderem<br />

darüber, ob <strong>und</strong> wie Bücher, <strong>Film</strong>e <strong>und</strong> Fernsehserien mit ihren Deutungsangeboten<br />

für die Rezipient:<strong>in</strong>nen Alternativen zu oder Variationen über e<strong>in</strong>e ihnen<br />

bekannte Religion werden können.<br />

Anita Mart<strong>in</strong> thematisiert mit »<strong>Mission</strong> <strong>und</strong> lebendige Legende: Imitatio <strong>und</strong><br />

re-live-Theatralik im Heiligendrama Genoveva <strong>und</strong> der Serie Warrior Nun« e<strong>in</strong>en<br />

besonders frappanten Bezug – zwischen e<strong>in</strong>er mittelalterlichen Legende <strong>und</strong> e<strong>in</strong>er<br />

aktuellen Netflix-Serie, deren zweite Staffel soeben zum Jahreswechsel 2022/23<br />

aufgelegt wurde – <strong>und</strong> verweist auf die Macht der aus der Verb<strong>in</strong>dung von Vorbildfunktion<br />

<strong>und</strong> Unterhaltung erwachsenden Überzeugungskraft, die nicht nur<br />

Vergangenes zu lebendiger Gegenwart werden lässt, sondern auch die Grenze<br />

zwischen Wirklichkeit <strong>und</strong> Fiktion e<strong>in</strong> Stück weit zu überw<strong>in</strong>den vermag. <strong>Claudia</strong><br />

<strong>Jahnel</strong> bezieht sich <strong>in</strong> ihrem Beitrag »›Black Narcissus‹ (1938/1947)« ebenfalls<br />

auf Nonnen, wobei sie jedoch nicht nur diese Akteur<strong>in</strong>nen als <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong>nen <strong>in</strong><br />

den Fokus nimmt, sondern entsprechend dem Untertitel »<strong>Mission</strong> als Bühne für<br />

Grenzüberschreitungen, Widersprüche <strong>und</strong> Kritik an kolonialer Selbstverliebtheit«<br />

auf ihre (deutungs)machtdurchzogenen Dimensionen h<strong>in</strong> analysiert.<br />

Ulrike Sallandt fragt <strong>in</strong> ihrem Beitrag »Wissen ›im Fluss‹: (Ohn-)Macht(s)geschehen<br />

<strong>in</strong>terkulturell im Amazonas« mithilfe Rancières’ Konzept des ästhetischen<br />

Regimes, <strong>in</strong>wieweit es Ciro Guerras, dem Regisseur des kolumbianischen


10 <strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong> / <strong>Claudia</strong> <strong>Jahnel</strong> / <strong>Klaus</strong>-<strong>Dieter</strong> <strong>Kaiser</strong><br />

Abenteuerfilms »Der Schamane <strong>und</strong> die Schlange« (2015), gelungen ist, mit se<strong>in</strong>en<br />

filmischen Mitteln »den Aushandlungsraum von Wissen <strong>und</strong> Erkenntnis der<br />

kulturell Anderen <strong>in</strong> den Blick zu nehmen«, <strong>und</strong> kommt zu dem Schluss, dass<br />

durch die filmische Inszenierung tatsächlich der Zugang zu e<strong>in</strong>er gr<strong>und</strong>legenden<br />

Kritik systemrassistischer Strukturen ermöglicht wird, <strong>in</strong>dem die Grenzen als<br />

zerbrechliches Konstrukt menschengemachter Herrschaft <strong>in</strong> den Blick kommen.<br />

<strong>Klaus</strong>-<strong>Dieter</strong> <strong>Kaiser</strong>s »West-Östlicher Blickwechsel« analysiert »Die zweifache Verfilmung<br />

des Romans Schweigen von Shūsaku Endō durch Masahiro Sh<strong>in</strong>oda <strong>und</strong><br />

Mart<strong>in</strong> Scorsese« <strong>und</strong> verweist nach e<strong>in</strong>em vielschichtigen Durchgang, unter anderem<br />

anhand dreier Motivstränge – mit den Stichworten Passionsgeschichte/<br />

Nachfolge <strong>und</strong> Gotteslästerung, Inquisition <strong>und</strong> <strong>Mission</strong>/das Fremde sowie Anpassung/Widerstand<br />

<strong>und</strong> Barmherzigkeit – auf den »Mehrwert des Fiktionalen«<br />

gegenüber e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Befassung mit demselben Sachverhalt. Moritz<br />

Fischer untersucht »Mediale <strong>und</strong> historische Verflechtungen der <strong>Mission</strong>sanstalt<br />

Neuendettelsau mit dem <strong>Mission</strong>sfeld Neugu<strong>in</strong>ea im <strong>Mission</strong>sfilm ›Das Evangelium<br />

unter den Menschenfressern‹ (1930)«, wobei er die beiden geographischen<br />

Räume als <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er »medialen Heterotopie« wechselseitig <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander verwoben<br />

bestimmt, wodurch sich der <strong>Film</strong> e<strong>in</strong>erseits der totalitären NS-Ideologie andient,<br />

diese andererseits aber zugleich auch unterläuft.<br />

<strong>Klaus</strong> <strong>Hock</strong> bemüht sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag »Mensch Macht <strong>Mission</strong> im <strong>Film</strong>«<br />

um die »Fragmentarische Kartierung e<strong>in</strong>es Panoptikums«, wobei die Entfächerung<br />

der Thematik unter anderem dazu dient, unter drei Frageperspektiven die<br />

filmisch <strong>in</strong>szenierten Größen Anthropologie, (Deutungs-)Macht <strong>und</strong> <strong>Mission</strong> aufe<strong>in</strong>ander<br />

zu beziehen, um daraus für die weitere Debatte erste, vorläufige Thesen<br />

zum Thema »<strong>Mission</strong> im <strong>Film</strong>« abzuleiten. Doris Günther-Kriegel schließlich hat<br />

die Neuendettelsauer Tagung als Reflektor<strong>in</strong> begleitet <strong>und</strong> hebt mit Blick auf die<br />

dort geführte Diskussion sowie die hier veröffentlichten Beiträge nochmals kritisch<br />

e<strong>in</strong>ige Aspekte hervor, <strong>in</strong>sbesondere jene Punkte, die der weiteren Erörterung<br />

<strong>und</strong> Reflexion bedürfen.<br />

Dieser Band sowie die Tagung, auf der er beruht, s<strong>in</strong>d ausdrücklich exploratorischen<br />

Charakters <strong>und</strong> haben das äußerst komplexe <strong>und</strong> kaum überschaubare<br />

Feld der Thematik »<strong>Mission</strong> <strong>in</strong> <strong>Film</strong> <strong>und</strong> <strong>Literatur</strong>« lediglich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen wenigen<br />

Aspekten stichwortartig anreißen können. Wir hoffen allerd<strong>in</strong>gs, dass damit<br />

Impulse für weiterführende Diskussionen gegeben werden, denn die Thematik<br />

sche<strong>in</strong>t für K<strong>in</strong>o <strong>und</strong> <strong>Literatur</strong> anhaltend attraktiv zu se<strong>in</strong>. Der dritte Teil der<br />

Avatar-Reihe von James Cameron bef<strong>in</strong>det sich bereits <strong>in</strong> Produktion <strong>und</strong> der monumental<br />

Publikumserfolg der bisherigen Folgen belegt e<strong>in</strong>drucksvoll nicht nur<br />

die Macht der Fiktionalität, sondern – zum<strong>in</strong>dest für diejenigen, die es sehen<br />

können <strong>und</strong> mögen – auch die ambivalente Fasz<strong>in</strong>ation des Themas »<strong>Mission</strong>«.


Kathar<strong>in</strong>a Döbler<br />

Literarisches Schreiben über<br />

<strong>Mission</strong> <strong>und</strong> Kolonialismus<br />

<strong>Mission</strong> ist e<strong>in</strong>e sehr spezielle Art, <strong>in</strong> der Welt unterwegs zu se<strong>in</strong>. Über der persönlichen<br />

Neugier, dem Fernweh <strong>und</strong> der Abenteuerlust ihrer Protagonist:<strong>in</strong>nen<br />

steht e<strong>in</strong> göttlicher Auftrag: »Gehet h<strong>in</strong> <strong>in</strong> alle Welt <strong>und</strong> machet zu Jüngern alle<br />

Völker <strong>und</strong> lehret sie halten, alles, was ich euch befohlen habe.« E<strong>in</strong> Auftrag, der<br />

<strong>in</strong> der Bibel, im Matthäusevangelium, steht <strong>und</strong> daher als unabweisbar gilt.<br />

Respekt für den Willen dieser Völker <strong>und</strong> für deren Kulturen ist dar<strong>in</strong> nicht<br />

vorgesehen, was daran liegen mag, dass der unbekannte Verfasser um das Jahr<br />

80 herum die Völker der griechisch/römischen Welt im S<strong>in</strong>n hatte.<br />

Im Kontext des europäischen Kolonialismus bekommt dieser Auftrag e<strong>in</strong><br />

anderes, e<strong>in</strong> imperiales Gesicht: <strong>Mission</strong> als nicht nur göttlicher, sondern auch<br />

königlicher Auftrag, der mit der Eroberung Late<strong>in</strong>amerikas <strong>und</strong> damit der Unterwerfung<br />

<strong>und</strong> kulturellen wie materiellen Enteignung der e<strong>in</strong>heimischen Bevölkerung<br />

verknüpft war. Die Allerkatholischsten Majestäten von Spanien verfügten,<br />

dass Landnahme <strong>und</strong> <strong>Mission</strong> im soeben »entdeckten« Amerika geme<strong>in</strong>sam zu<br />

erfolgen habe. Auf diese Weise funktionierte <strong>Mission</strong> jahrh<strong>und</strong>ertelang als, wenn<br />

man so will, theoretischer Überbau <strong>und</strong> Schule der Kolonisierung: <strong>Mission</strong>ierung<br />

als Zurichtung von Menschen für e<strong>in</strong>en kolonialen Arbeitsmarkt.<br />

Diese materielle Seite der <strong>Mission</strong> wurde mir zum ersten Mal deutlich bewusst,<br />

als ich zur deutschen Kolonie <strong>in</strong> der Südsee zu recherchieren begann: <strong>Mission</strong>en<br />

errichteten dort Plantagen, Sägewerke, Fabriken, Krankenhäuser, Straßen,<br />

Häfen. Das Personal dafür zogen sie <strong>in</strong> ihren Schulen heran. Die religiös-kulturelle<br />

Seite g<strong>in</strong>g Hand <strong>in</strong> Hand mit dem Aufbau von Infrastruktur <strong>und</strong> Industrie. Fleiß<br />

<strong>und</strong> Gehorsam s<strong>in</strong>d christliche Tugenden.<br />

»Schließlich ist es unsere Aufgabe, für die kulturelle Hebung der E<strong>in</strong>geborenen<br />

zu sorgen«, schrieb me<strong>in</strong> Großvater, der <strong>Mission</strong>ar Georg Schneider aus<br />

Heldsbach, <strong>Kaiser</strong>-Wilhelmsland, Neugu<strong>in</strong>ea, im Jahr 1914 nach Hause.<br />

<strong>Mission</strong>arischer Eifer: das Beispiel Sent<strong>in</strong>el<br />

Wie imperativ der »<strong>Mission</strong>sbefehl« bis heute von f<strong>und</strong>amentalistischen Christen<br />

wahrgenommen wird, illustriert die Geschichte e<strong>in</strong>es jungen evangelikalen <strong>Mission</strong>ars<br />

aus den USA, der gegen den Widerstand der E<strong>in</strong>heimischen (<strong>und</strong> gegen<br />

geltendes Gesetz) auf die verbotene Insel North Sent<strong>in</strong>el vor der <strong>in</strong>dischen Küste<br />

vordr<strong>in</strong>gen wollte <strong>und</strong> es leider auch schaffte. Bei se<strong>in</strong>em zweiten Versuch im No-


12 Kathar<strong>in</strong>a Döbler<br />

vember 2018 wurde er von den E<strong>in</strong>heimischen erschossen. Er war e<strong>in</strong> Pioniermissionar<br />

re<strong>in</strong>sten Wassers, e<strong>in</strong> rücksichtsloser Abenteurer im Namen Gottes, dem<br />

der Schutz der Sent<strong>in</strong>elesen vor tödlichen Krankheiten ebenso wenig bedeutete<br />

wie ihr erklärter <strong>und</strong> vom <strong>in</strong>dischen Staat seit 1996 gestützter <strong>und</strong> geschützter<br />

Wille, ungestört zu bleiben. Dieser <strong>Mission</strong>ar glaubte, es sei besser als Christ an<br />

den Masern oder der Grippe zu sterben, denn als Heide zu leben. Die Insel hielt<br />

er für e<strong>in</strong>e Bastion des Teufels.<br />

Literarisches Schreiben über e<strong>in</strong> manichäisches System<br />

E<strong>in</strong>e solche Weltsicht erlaubt ke<strong>in</strong>e Zwischentöne, ke<strong>in</strong>e Abweichungen. Und genau<br />

das ist das Problem beim literarischen Schreiben über <strong>Mission</strong>: Die e<strong>in</strong>zig<br />

möglichen dramaturgischen Höhepunkte <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es solchen manichäischen<br />

Systems s<strong>in</strong>d zwei: Märtyrertod <strong>und</strong> Bekehrungserfolg. Beides ist nicht besonders<br />

zeitgemäß.<br />

In der Epoche der Moderne bzw. Postmoderne lässt sich allenfalls der Zweifel<br />

noch literarisch reflektieren, gestalten, beschreiben. Aber mit dem Zweifel als<br />

thematischer Gr<strong>und</strong>lage wird nie e<strong>in</strong> literarisches Werk entstehen, das überzeugten<br />

<strong>Mission</strong>aren wie dem E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>g von Sent<strong>in</strong>el gefallen kann. Deshalb w<strong>und</strong>ert<br />

mich die überaus kritische Haltung gar nicht, die me<strong>in</strong> Roman über die Aktivitäten<br />

der Neuendettelsauer <strong>Mission</strong> <strong>in</strong> Papua Neugu<strong>in</strong>ea <strong>in</strong> der ersten Hälfte<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>in</strong> bestimmten <strong>Mission</strong>skreisen erfahren hat.<br />

Das literarische Projekt »De<strong>in</strong> ist das Reich«<br />

Erzählt habe ich <strong>in</strong> diesem Buch mit dem Titel »De<strong>in</strong> ist das Reich« von vier jungen<br />

Leuten aus e<strong>in</strong>fachen Verhältnissen der fränkischen Prov<strong>in</strong>z, die nach Papua-Neugu<strong>in</strong>ea<br />

reisten <strong>und</strong> dort als <strong>Mission</strong>are <strong>und</strong> <strong>Mission</strong>arsfrauen lebten <strong>und</strong><br />

arbeiteten, bis der Zweite Weltkrieg dem e<strong>in</strong>e Ende setzte. Der Titel verweist auf<br />

den historischen <strong>und</strong> kolonialen Hallraum: <strong>Kaiser</strong>reich, Kolonialreich, Deutsches<br />

Reich, Tausendjähriges Reich, Reich Gottes.<br />

In diesem Raum ist e<strong>in</strong>e Menge Platz für Zweifel.<br />

Der Roman stützt sich vorwiegend auf Material me<strong>in</strong>er eigenen Familie: Me<strong>in</strong>e<br />

Eltern s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Neugu<strong>in</strong>ea geboren, me<strong>in</strong>e Großeltern waren dort bei der <strong>Mission</strong>,<br />

ich habe <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit viel Zeit <strong>in</strong> Neuendettelsau, im Umfeld der <strong>Mission</strong><br />

verbracht. Und begegnete dort e<strong>in</strong>er Lebens- <strong>und</strong> Denkweise, die ich schon als<br />

K<strong>in</strong>d lebensfe<strong>in</strong>dlich, streng <strong>und</strong> unaufrichtig fand.


Literarisches Schreiben über <strong>Mission</strong> <strong>und</strong> Kolonialismus 13<br />

Exkurs: die Familie, me<strong>in</strong>e Familie<br />

Eigentlich wollte ich die Geschichte me<strong>in</strong>er Familie niemals aufschreiben. Sie war<br />

so behaftet mit Unglück <strong>und</strong> heimlichen Sehnsüchten, dass wir, die Nachgeborenen,<br />

nichts damit zu tun haben wollten. Außerdem standen me<strong>in</strong>e Großeltern auf<br />

der falschen Seite: Sie waren ja Kolonialisten.<br />

Ich dagegen gehörte zu den Leuten, die Frantz Fanons antikoloniale Schriften<br />

lasen. Die versuchten, sich von Staatsreligion, Autoritarismus, überkommenen<br />

Moralvorstellungen <strong>und</strong> Rollenzuweisungen zu emanzipieren. Den Rassismus<br />

<strong>und</strong> die Prüderie der <strong>Mission</strong>are verorteten wir selbstverständlich im selben Fe<strong>in</strong>desland<br />

wie den Nationalsozialismus.<br />

Familiäre Überlieferung <strong>und</strong> historische Fakten –<br />

e<strong>in</strong> schwieriges Verhältnis<br />

Me<strong>in</strong>e Großmutter hatte mir mehrmals von e<strong>in</strong>em Internierungslager <strong>und</strong> den<br />

Aufsehern erzählt, die, wie sie sagte, verrückt nach Muskatnüssen waren. Ich<br />

stellte mir me<strong>in</strong>e zierliche Großmutter mit ihrem Haarknoten <strong>und</strong> ihrer ewigen<br />

Schürze vor, wie sie sich unter Nussbäumen bückt, umgeben von Männern mit<br />

Reitstiefeln <strong>und</strong> Peitschen. Dieses Bild ist so lebendig <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Er<strong>in</strong>nerung, als<br />

ob ich es selbst gesehen hätte, als ob es wirklich geschehen wäre.<br />

Aber im Lauf me<strong>in</strong>er Arbeit als Journalist<strong>in</strong> stellte ich mir die Frage nach der<br />

Wahrheit h<strong>in</strong>ter diesen Geschichten.<br />

Was für Offiziere waren das? Für wen <strong>und</strong> gegen wen kämpften sie? Wer außer<br />

ihr war noch <strong>in</strong> diesem Lager? Und wo wachsen eigentlich Muskatnüsse?<br />

In unserer Familie sprachen wir über den Zweiten Weltkrieg auf e<strong>in</strong>e ganz besondere<br />

Art <strong>und</strong> Weise. Die Leute erzählten etwas, <strong>und</strong> hörten mitten <strong>in</strong> der Geschichte<br />

auf. Sie sagten: Aber der Krieg. Mehr nicht. Aber wir, die kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>der, wussten ganz<br />

genau, dass etwas schiefgelaufen war, dass jemand gestorben oder geflohen war oder<br />

nicht mehr zurückgekommen war oder etwas Unsägliches getan hatte.<br />

Nach dem Tod me<strong>in</strong>er Großmutter las ich die Briefe, die seit Jahrzehnten <strong>in</strong><br />

Kisten vor sich h<strong>in</strong> gilbten, <strong>und</strong> war vor allem: befremdet. Nicht weil sie zu <strong>in</strong>tim<br />

waren, sondern weil sie so wenig aussagten. Sie waren konventionell <strong>und</strong> emotionslos.<br />

Obwohl me<strong>in</strong>e jungen Großeltern <strong>und</strong> me<strong>in</strong>e Eltern, damals noch K<strong>in</strong>der,<br />

vor <strong>und</strong> während des Krieges mehr als zehn Jahre durch zwei Ozeane getrennt<br />

waren – die K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>Mission</strong>sheim oder bei Verwandten <strong>in</strong> Deutschland,<br />

die Eltern <strong>in</strong> Neugu<strong>in</strong>ea –, war dar<strong>in</strong> nie etwas von Sehnsucht zu spüren, es g<strong>in</strong>g<br />

um Zensuren. Um me<strong>in</strong>e Familie zu verstehen, musste ich die verborgenen, die<br />

verschwiegenen Gefühle f<strong>in</strong>den – <strong>und</strong> ebenso die historischen Fakten.<br />

Ich begann, diejenigen zu befragen, die noch lebten, <strong>und</strong> versuchte, aus den<br />

alten, glatten Anekdoten, die zu oft erzählt wurden, um dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Wahrheit zu<br />

f<strong>in</strong>den, <strong>und</strong> aus den vagen Zusammenfassungen greifbare Realität zu gew<strong>in</strong>nen.<br />

Aber der Haufen von Fragmenten, den ich vor mir hatte, ergab ke<strong>in</strong> Ganzes.


14 Kathar<strong>in</strong>a Döbler<br />

Also begann ich, die fehlenden Teile unserer Geschichte <strong>in</strong> Archiven zu recherchieren<br />

– vor allem <strong>in</strong> dem der Neuendettelsauer <strong>Mission</strong>, die me<strong>in</strong>e Großeltern<br />

beschäftigt <strong>und</strong> me<strong>in</strong>e Eltern großgezogen hatte. Ich wühlte im B<strong>und</strong>esarchiv.<br />

Ich las historische <strong>und</strong> anthropologische Bücher, verbrachte Nächte im<br />

Internet. Ich begann mich zu fragen, warum <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Familie niemand jemals<br />

das Wort Kolonialismus ausgesprochen hatte.<br />

Mit me<strong>in</strong>en Erkenntnissen habe ich dann me<strong>in</strong>e Familie konfrontiert. Nun<br />

bekam ich neue <strong>und</strong> unterschiedliche Antworten: Ja, me<strong>in</strong> Großvater Georg habe<br />

mit den Nazis sympathisiert. Nur sympathisiert. Er sei aktiv gewesen, aber nur<br />

e<strong>in</strong> bisschen, se<strong>in</strong>e Frau sei dagegen gewesen. Er habe nicht wissen können, was<br />

<strong>in</strong> Deutschland vor sich g<strong>in</strong>g. Und ne<strong>in</strong>, an den Vorwürfen, er habe e<strong>in</strong> <strong>in</strong>times<br />

Verhältnis mit e<strong>in</strong>er neugu<strong>in</strong>eischen Frau gehabt, sei gar nichts dran. Es seien<br />

bösartige Verleumdungen neidischer <strong>Mission</strong>are, sonst nichts. Ja, es habe da e<strong>in</strong>e<br />

Frau gegeben, die habe ihn aber nur gepflegt, als er krank war, sonst nichts.<br />

Diese Erkenntnisse <strong>und</strong> Dementis bildeten den nächsten Ansatzpunkt für me<strong>in</strong>e<br />

Recherchen. Dies zog sich über mehrere Jahre h<strong>in</strong>.<br />

Es war e<strong>in</strong>e merkwürdige Sache, die ich da tat. Ich machte es mir zur Aufgabe,<br />

im H<strong>in</strong>blick auf den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichten niemandem <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />

Familie mehr zu trauen. Alles zu h<strong>in</strong>terfragen. Das war etwas, das ich als Reporter<strong>in</strong><br />

gelernt hatte: Zuhören, <strong>und</strong> hören, was nicht gesagt wird. Mit den eigenen Geschwistern<br />

<strong>und</strong> Tanten ist das allerd<strong>in</strong>gs schwierig. In unserer Familie waren die<br />

Frauen die Geschichtenerzähler<strong>in</strong>nen, die Männer starben früh oder schwiegen.<br />

Und alle diese Frauen versuchten, aus ihren Selbsterzählungen etwas Wärme <strong>und</strong><br />

Trost zu schöpfen. In e<strong>in</strong>er deutschen Familiengeschichte der ersten Hälfte des<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>erts gab es kaum Wärme <strong>und</strong> Trost.<br />

Der Familienlegende zufolge war me<strong>in</strong> Großvater Georg, der im Krieg als Zivilgefangener<br />

umkam, e<strong>in</strong>e Art Heiliger, der denkbar beste Mensch, der je auf<br />

Erden wandelte, sanftmütig, liebevoll <strong>und</strong> lustig, e<strong>in</strong> großer Sänger <strong>und</strong> Dschungelpionier,<br />

der Dutzende von Sprachen sprach <strong>und</strong> so weiter. Und der eben se<strong>in</strong>er<br />

Güte <strong>und</strong> Begabung wegen von se<strong>in</strong>en Mitbrüdern verleumdet wurde.<br />

Ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich, nach st<strong>und</strong>enlanger vergeblicher<br />

Suche nach bestimmten Aspekten der NS-Geschichte im <strong>Mission</strong>sarchiv<br />

schon ziemlich müde, e<strong>in</strong>en letzten Ordner mit marg<strong>in</strong>alen Dokumenten aus dem<br />

Jahr 1936 durchg<strong>in</strong>g. Und da las ich, im Zusammenhang mit e<strong>in</strong>er ganz anderen<br />

Angelegenheit, dass die Existenz von <strong>Mission</strong>ar Georg Schneiders halbweißem<br />

K<strong>in</strong>d der <strong>Mission</strong> vor e<strong>in</strong>igen Jahren viel Ärger bereitet hatte. Es war nur e<strong>in</strong><br />

Nebensatz. Alle anderen Spuren dieses K<strong>in</strong>des <strong>und</strong> der Affäre me<strong>in</strong>es Großvaters<br />

waren ausgelöscht worden, von wem auch immer.<br />

Diese Entdeckung war wie e<strong>in</strong>e Diagnose, die man eigentlich erwartet hat,<br />

aber nicht wahrhaben wollte. Dann bestätigte mir das B<strong>und</strong>esarchiv noch e<strong>in</strong>en<br />

weiteren Verdacht: Zwei me<strong>in</strong>er frommen Großeltern waren Mitglieder der NSD-<br />

AP gewesen. Der heilige Georg Schneider <strong>und</strong> me<strong>in</strong>e Großmutter Margarete Döbler.<br />

Ich bohrte weiter <strong>und</strong> erfuhr von nationalsozialistischen Treffen im Dschungel<br />

von Neugu<strong>in</strong>ea, sowohl <strong>in</strong> der niederländischen Kolonie als auch im australischen<br />

Mandatsgebiet. Professor<strong>in</strong> Christ<strong>in</strong>e W<strong>in</strong>ter von der Fl<strong>in</strong>ders University


Literarisches Schreiben über <strong>Mission</strong> <strong>und</strong> Kolonialismus 15<br />

<strong>in</strong> Adelaide hat über die nationalsozialistischen Umtriebe im Gebiet F<strong>in</strong>schhafen<br />

geforscht, leider habe ich davon erst <strong>in</strong> Reaktion auf me<strong>in</strong>en Roman erfahren. 1<br />

Die wenigen Fakten, die mir beim Schreiben zugänglich waren, reichten aber<br />

aus, um zu begreifen, dass das Verhältnis der Neuendettelsauer <strong>Mission</strong> zum Nationalsozialismus<br />

<strong>in</strong>niger <strong>und</strong> wichtiger war, als ich je zuvor vermutet hätte. Das<br />

<strong>Mission</strong>sarchiv war (jedenfalls der mir zugängliche Teil davon) im H<strong>in</strong>blick auf<br />

diesen Aspekt der <strong>Mission</strong>sgeschichte im Übrigen ebenso lückenhaft wie es die<br />

Erzählungen me<strong>in</strong>er Familie waren.<br />

Fakten <strong>und</strong> Fiktionalisierung<br />

Irgendwann lag es nahe, aus me<strong>in</strong>er Familienforschung e<strong>in</strong> Buch zu machen, so<br />

überraschend <strong>und</strong> teilweise bizarr waren me<strong>in</strong>e Erkenntnisse – <strong>und</strong> so unbekannt<br />

ist die Kolonialgeschichte der deutschen Südsee hierzulande. Außerdem<br />

brauchte ich e<strong>in</strong> Ziel vor Augen, e<strong>in</strong>en äußeren Antrieb, um mich weiter durch<br />

das Material zu wühlen. Das ja me<strong>in</strong> Erbe war, ob es mir nun gefiel oder nicht.<br />

Und ich wollte dieses Erbe antreten.<br />

Zunächst sollte es e<strong>in</strong> dokumentarisches Buch werden, das sich ausschließlich<br />

auf Briefe, Berichte <strong>und</strong> Akten stützen sollte. Aber dar<strong>in</strong> wäre ke<strong>in</strong> Platz für<br />

Emotionen gewesen, für E<strong>in</strong>sicht – <strong>und</strong> auch nicht für den Zweifel, der me<strong>in</strong>e<br />

Großeltern ihr Leben lang begleitet haben muss. Es wäre auch ke<strong>in</strong> Platz gewesen<br />

für die Empathie mit den Menschen Neugu<strong>in</strong>eas, die mit technologischen <strong>und</strong> religiösen<br />

Mitteln unterworfen <strong>und</strong> ihrer eigenen Kultur entfremdet wurden. Denn<br />

<strong>in</strong> den mir vorliegenden Texten wurden sie nur mit e<strong>in</strong>er Herablassung <strong>und</strong> Respektlosigkeit<br />

erwähnt, die mir phasenweise den Atem verschlug. Schließlich legte<br />

ich e<strong>in</strong>en angefangenen Roman beiseite <strong>und</strong> begann, nach e<strong>in</strong>er literarischen<br />

Form zu suchen. Ich las die alten Briefe erneut <strong>und</strong> füllte sie nach <strong>und</strong> nach mit<br />

Gefühlen, mit Idealen, mit Intimität. So entstanden die Figuren des Romans, die<br />

me<strong>in</strong>en Großeltern nachgebildet waren <strong>und</strong> sie ersetzten. Und die all die D<strong>in</strong>ge<br />

fühlten <strong>und</strong> dachten – <strong>und</strong> aussprachen, die <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Familie allenfalls angedeutet<br />

worden waren. Andere Figuren gestaltete ich als Vertreter bestimmter Haltungen<br />

– <strong>und</strong> Zweifel! –, denen ich im Zuge der Recherche begegnet war.<br />

Um zu illustrieren, welches Verfahren des literarischen Umgangs mit historischen<br />

Fakten ich gewählt habe, zitiere ich hier e<strong>in</strong>e kurze Passage aus me<strong>in</strong>em<br />

Roman. Es ist e<strong>in</strong> Beispiel dafür, wie ich das Material, das ich gef<strong>und</strong>en habe,<br />

e<strong>in</strong>gesetzt habe. In diesem Fall ist das Material e<strong>in</strong>s der Fotos, die von der Neuendettelsauer<br />

<strong>Mission</strong> als Serien von Bildkärtchen <strong>in</strong> den 1920er/30er Jahren ausgegeben<br />

worden waren. Solche Fotos h<strong>in</strong>gen während des Schreibens an me<strong>in</strong>er<br />

1<br />

Christ<strong>in</strong>e W<strong>in</strong>ter, Look<strong>in</strong>g after one’s own. The rise of Nationalism and the Politics of<br />

the Neuendettelsauer <strong>Mission</strong> <strong>in</strong> Germany, New Gu<strong>in</strong>ea and Australia (1921–1933), Bern<br />

2012.


16 Kathar<strong>in</strong>a Döbler<br />

Wand. Anstatt sie <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Buch abzubilden, habe ich sie beschrieben – <strong>und</strong><br />

damit dem, was ich darauf sah, me<strong>in</strong>e eigene Stimme gegeben.<br />

Das Erste, was auf der Fotografie auffällt, s<strong>in</strong>d die angstgeweiteten Augen. E<strong>in</strong> Mann<br />

starrt entsetzt auf etwas, das sich rechts vor ihm bef<strong>in</strong>det – vermutlich auf e<strong>in</strong>en<br />

Weißen, der mit Blitzlicht fotografiert. Der erschrockene Mann trägt e<strong>in</strong>en Bart <strong>und</strong><br />

e<strong>in</strong>en Kopfputz aus e<strong>in</strong>em mit kle<strong>in</strong>en Muscheln besetzten Reif, an dem fe<strong>in</strong>e Federn<br />

oder Gräser befestigt s<strong>in</strong>d. Es sieht aus wie e<strong>in</strong>e Perücke. Auf se<strong>in</strong>er Brust liegt e<strong>in</strong>e<br />

lange Kette aus Kaurimuscheln <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e weitere aus w<strong>in</strong>zigen Seeschnecken, um se<strong>in</strong>en<br />

Hals hängen geschnitzte Gegenstände an e<strong>in</strong>em Band, die nicht zu identifizieren<br />

s<strong>in</strong>d. In se<strong>in</strong>er Nase stecken e<strong>in</strong> Eberzahn <strong>und</strong> e<strong>in</strong> knöchernes Stäbchen. Um se<strong>in</strong>e<br />

Stirn liegt e<strong>in</strong> schmaler Reif <strong>und</strong> um se<strong>in</strong>en Arm e<strong>in</strong> breites geflochtenes Band. Der<br />

Mann hockt auf den Fersen, se<strong>in</strong>e Hände mit langen schlanken F<strong>in</strong>gern s<strong>in</strong>d zwischen<br />

den Knien <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander verschränkt. H<strong>in</strong>ter se<strong>in</strong>er rechten Schulter sieht man e<strong>in</strong> weiteres<br />

Gesicht mit angstvoll aufgerissenen Augen. Es gehört zu e<strong>in</strong>er deutlich jüngeren<br />

Person, die den gleichen Kopfputz, aber sonst ke<strong>in</strong>en Schmuck trägt.<br />

Es ist das Bild Nummer 23 aus der <strong>Mission</strong>sserie. Auf der Rückseite heißt es: Ob sie<br />

Angst haben, dass durch das Fotografieren ihre Seele gestohlen wird? Die armen Menschen<br />

haben ja noch nicht das Evangelium gehört, darum die Angst. 2<br />

So wurde für mich beim Schreiben das Sehen zu e<strong>in</strong>em Erkennen.<br />

Die Erzählung <strong>in</strong> »De<strong>in</strong> ist das Reich«<br />

Da ist Johann, gestaltet nach dem Vorbild me<strong>in</strong>es Großvaters Georg, dem Pioniermissionar,<br />

der auf e<strong>in</strong>er der Siasi-Inseln e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d gezeugt hat. Da ist Nette,<br />

die später se<strong>in</strong>e Frau wird, als er das F<strong>in</strong>schhafengebiet verlassen hat <strong>und</strong> <strong>in</strong><br />

Niederländisch-Neugu<strong>in</strong>ea arbeitet, immer noch als <strong>Mission</strong>ar. Die sexuellen Beziehungen<br />

e<strong>in</strong>es weißen Mannes zu e<strong>in</strong>er schwarzen Frau waren Sünde, aber,<br />

zum<strong>in</strong>dest für die holländische (Utrechter) <strong>Mission</strong>, tolerierbar.<br />

Bei e<strong>in</strong>er weißen Frau <strong>und</strong> e<strong>in</strong>em schwarzen Mann sah man das anders: Es<br />

war unerträglich, auch wenn ke<strong>in</strong>e fleischliche Sünde im Spiel war.<br />

Und das br<strong>in</strong>gt uns zu dem anderen Paar <strong>in</strong> dem Roman, He<strong>in</strong>er <strong>und</strong> Marie.<br />

He<strong>in</strong>er, gebildet nach me<strong>in</strong>em Großvater Kaspar Döbler, ist e<strong>in</strong> Bauernsohn mit<br />

zwölf Geschwistern. Se<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Chance auf e<strong>in</strong>en anständigen Job liegt <strong>in</strong> den<br />

Kolonien <strong>und</strong> bei der <strong>Mission</strong>, für die er als Plantagenverwalter arbeitet. Marie<br />

ist e<strong>in</strong>e sehr <strong>in</strong>telligente <strong>und</strong> ehrgeizige junge Frau, die davon träumt, Ärzt<strong>in</strong> zu<br />

werden. Aber sie ist Hausmädchen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Pfarrerhaushalt, e<strong>in</strong>e Bauerntochter<br />

<strong>und</strong> Waise. Sie wird von ihrem Cous<strong>in</strong>, der für die <strong>Mission</strong> arbeitet, gezwungen,<br />

sich mit He<strong>in</strong>er zu verloben, den sie weder liebt noch respektiert.<br />

He<strong>in</strong>er geht nach Neugu<strong>in</strong>ea, der Erste Weltkrieg trennt das Paar, Marie versucht,<br />

die Verlobung aufzulösen, aber sie hat ke<strong>in</strong>e Wahl, wenn sie nicht alles ver-<br />

2<br />

Kathar<strong>in</strong>a Döbler, De<strong>in</strong> ist das Reich, Berl<strong>in</strong> 2021, 329.


Literarisches Schreiben über <strong>Mission</strong> <strong>und</strong> Kolonialismus 17<br />

lieren will. 1922, als die deutsche Kolonie <strong>in</strong> Neugu<strong>in</strong>ea australisches Mandatsgebiet<br />

geworden ist, s<strong>in</strong>d sechs junge Bräute, darunter Marie, die ersten Deutschen,<br />

die sich wieder <strong>in</strong> Neugu<strong>in</strong>ea niederlassen dürfen. Von der <strong>Mission</strong>szeitung werden<br />

sie als »Frühl<strong>in</strong>gsboten« gepriesen. Nach neun Jahren der Trennung sieht sie<br />

He<strong>in</strong>er wieder <strong>und</strong> wird <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>er Woche mit ihm verheiratet.<br />

Nichts davon habe ich erf<strong>und</strong>en. Me<strong>in</strong>e Großmutter Margarete schrieb e<strong>in</strong>en<br />

sehr ausführlichen Bericht über ihre Reise nach Neugu<strong>in</strong>ea <strong>und</strong> ihre Hochzeit,<br />

<strong>und</strong> die e<strong>in</strong>zigen Gefühle, die ich dar<strong>in</strong> f<strong>in</strong>den konnte, waren glühender Patriotismus<br />

<strong>und</strong> e<strong>in</strong> nicht m<strong>in</strong>der glühender Hass auf die Briten.<br />

In me<strong>in</strong>em Buch habe ich das Erleben Maries, der weißen Frau, <strong>und</strong> das Johanns,<br />

des weißen Mannes, e<strong>in</strong>ander gegenübergestellt. Auch hier musste ich<br />

nichts erf<strong>in</strong>den – außer den Details, den zugehörigen Gefühlen <strong>und</strong> den Namen<br />

der beteiligten E<strong>in</strong>heimischen, die nirgendwo erwähnt wurden. Im Jahr 1929 haben<br />

Marie <strong>und</strong> He<strong>in</strong>er drei K<strong>in</strong>der. Marie hat sich mit diesem Mann <strong>und</strong> ihrem<br />

Leben als weiße Mistress, als Mama, arrangiert. Zum<strong>in</strong>dest denkt sie das.<br />

Doch dann kommt es zu e<strong>in</strong>er Begegnung mit dem sogenannten »Arbeitsjungen«<br />

Zumajang. Er begleitet sie als Eskorte von der Station nach F<strong>in</strong>schhafen<br />

<strong>und</strong> sie bekommt ihn danach nicht mehr aus dem Kopf – oder besser gesagt: aus<br />

ihrem Körper. Ihr Verstand blendet alles aus, sie redet sich e<strong>in</strong>, sie hätte e<strong>in</strong>en<br />

leichten Fieberanfall. E<strong>in</strong>es Nachts, als He<strong>in</strong>er nicht auf der Plantage ist, wacht<br />

sie auf <strong>und</strong> glaubt e<strong>in</strong>en Mann <strong>in</strong> ihrem Schlafzimmer zu sehen <strong>und</strong> zu spüren,<br />

wie jemand ihr Be<strong>in</strong> streichelt. Sie gerät <strong>in</strong> Panik <strong>und</strong> schreit. Der ganze Haushalt<br />

wird aufgeschreckt, aber es ist niemand im Zimmer. Sie behauptet, e<strong>in</strong> schwarzer<br />

Mann sei ihr zu nahe gekommen. Es bleibt unklar, ob es e<strong>in</strong> Traum, e<strong>in</strong> unterdrückter<br />

Wunsch oder e<strong>in</strong>e tatsächliche Annäherung war.<br />

Sie erwähnt ke<strong>in</strong>en Namen, aber Zumajang wird verdächtigt <strong>und</strong> brutal bestraft,<br />

<strong>und</strong> am Ende wird er dem Anwerber e<strong>in</strong>er weit entfernten Plantage übergeben.<br />

Für Marie werden die Nazis zur großen Hoffnung, doch noch ihre Ambitionen<br />

zu verwirklichen, ihrer lebenslangen Demütigung als Frau e<strong>in</strong>es Bauern zu<br />

entkommen: Als beide Familien – He<strong>in</strong>er <strong>und</strong> Marie, Johann <strong>und</strong> Nette – 1933/34<br />

<strong>in</strong>s nationalsozialistische Deutschland reisen, wo sie, wie damals üblich, ihre K<strong>in</strong>der<br />

zurücklassen werden, erleben sie die frommen Diakonissen <strong>und</strong> <strong>Mission</strong>are<br />

<strong>in</strong> Neuendettelsau als begeisterte Hitler-Anhänger mit allem, was dazugehört.<br />

Johann ist schnell ebenfalls begeistert, Marie sowieso überzeugt. Die beiden anderen,<br />

Nette <strong>und</strong> He<strong>in</strong>er, halten aus verschiedenen Gründen nicht viel von den<br />

Nazis. Der Riss geht quer durch die Familien.<br />

Auch das ist etwas, was e<strong>in</strong> Roman besser erzählen kann als e<strong>in</strong>e Dokumentation:<br />

Wie e<strong>in</strong> moralischer Kompass auch dann funktioniert, wenn das Umfeld<br />

e<strong>in</strong>hellig dem Diktator zujubelt, <strong>und</strong> wie andererseits alter Hass, Größenwahn,<br />

Schwärmerei <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e rassistische Gr<strong>und</strong>haltung den Faschismus geistig willkommen<br />

heißen.<br />

Diese Worte, diese Aussage s<strong>in</strong>d, wie mir bewusst ist, sehr vere<strong>in</strong>fachend.<br />

Genau deshalb habe ich diese Figuren auf Gr<strong>und</strong>lage der Fakten gestaltet <strong>und</strong><br />

ihnen <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Roman e<strong>in</strong>e Stimme gegeben: um zu verstehen, um greifbar zu<br />

machen, warum sich die <strong>und</strong> der E<strong>in</strong>zelne <strong>in</strong> der Weltgeschichte wie positioniert.


18 Kathar<strong>in</strong>a Döbler<br />

Und welche Rolle der Glaube dabei spielt: religiöser <strong>und</strong> politischer Glaube, als<br />

Schutz, als Hoffnung <strong>und</strong> Forderung, tröstend <strong>und</strong> zerstörend.


Georg Seeßlen<br />

<strong>Mission</strong> im <strong>Film</strong> –<br />

ihre Repräsentation <strong>und</strong><br />

gesellschaftlichen Kontexte<br />

Theoretisch müssten <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> <strong>Mission</strong>are ideale K<strong>in</strong>o-Charaktere<br />

abgeben, schließlich erfüllen sie e<strong>in</strong>e typische Helden-Voraussetzung: Sie s<strong>in</strong>d<br />

mittendr<strong>in</strong>, sie haben sowohl Beziehungen zu der Welt, aus der die K<strong>in</strong>ozuschauer<br />

kommen, der bürgerlichen, mehr oder weniger geordneten <strong>und</strong> sicheren Welt<br />

Europas oder der USA, als auch zur Welt des Abenteuers, der Wildnis, der Exotik.<br />

Ihr Leben besteht aus Reisen, aus Konfrontationen. Und nicht zuletzt s<strong>in</strong>d<br />

sie auch Vermittler zwischen den Kulturen, nicht ganz der kolonialistischen Seite<br />

von Landnahme <strong>und</strong> Ausbeutung zugewandt, aber auch nicht ganz der Seite<br />

von Widerstand <strong>und</strong> Unabhängigkeit. Ihre Konflikte zwischen den Kulturen s<strong>in</strong>d<br />

manchmal komisch, fast immer dramatisch, <strong>und</strong> oft auch tragisch. Sie bieten e<strong>in</strong>e<br />

gute Identifikationsmöglichkeit an, denn mit ihnen ist das Abenteuer s<strong>in</strong>nvoll <strong>und</strong><br />

legitim. Schließlich f<strong>in</strong>den <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> <strong>Mission</strong>are immer Fre<strong>und</strong>e, vor<br />

allem k<strong>in</strong>dliche Fre<strong>und</strong>e, denn sie verkörpern offensichtlich stets auch e<strong>in</strong> väterliches<br />

oder mütterliches Pr<strong>in</strong>zip. Und zu guter Letzt, auch dies ist e<strong>in</strong> Kriterium für<br />

<strong>Film</strong>stoffe, existiert e<strong>in</strong>e reichhaltige Ikonographie sowohl <strong>in</strong> der Form dokumentarischen<br />

Materials als auch fiktionaler Illustrationen. <strong>Mission</strong>ar <strong>und</strong> <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong><br />

s<strong>in</strong>d also ikonische Gestalten, die Männer meist von eher gemütlicher, sangu<strong>in</strong>ischer<br />

Ausstrahlung, aber stets bereit, auch die Ärmel hochzukrempeln <strong>und</strong> mit<br />

anzupacken, vor allem aber dazu bereit, <strong>in</strong> Konfliktsituationen Entscheidungen<br />

zu treffen, die ihrem Auftrag <strong>und</strong> nicht der eigenen Person angemessen s<strong>in</strong>d. Die<br />

Frauen haben gern e<strong>in</strong>mal etwas Altjüngferliches an sich, als hätten sie ihren<br />

Eros <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Menschenliebe sublimiert – <strong>in</strong> den melodramatischen<br />

<strong>Film</strong>en mit dem Motiv geraten sie dann häufig <strong>in</strong> Konflikt zwischen Auftrag <strong>und</strong><br />

überraschender Wiederkehr der persönlichen Liebe, so wie Deborah Kerr <strong>in</strong> »Die<br />

schwarze Narzisse« (Black Narcissus, 1947, Michael Powell/Emeric Pressburger)<br />

als Schwester Clodagh. Die Kritik, die zu diesem <strong>Film</strong> im e<strong>in</strong>schlägigen Lexikon<br />

zu lesen ist, lässt sich wohl auf e<strong>in</strong>e Mehrzahl der <strong>Film</strong>e mit ähnlichen Motiven<br />

übertragen. Es handele sich, heißt es da, um e<strong>in</strong> »packendes Melodram <strong>in</strong> exotischer<br />

Umgebung, das sich ganz <strong>und</strong> gar dem K<strong>in</strong>o verschrieben hat <strong>und</strong> den<br />

religiösen H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> nur als Staffage nutzt«. 1<br />

1<br />

Lexikon des <strong>in</strong>ternationalen <strong>Film</strong>s, Bd. 7, Hamburg 1987, 3346.


20 Georg Seeßlen<br />

Es ist vielleicht die Problematik dieser religiösen – nicht alle<strong>in</strong> der moralischen<br />

– Dimension, die notwendig zu der Gestaltung von <strong>Mission</strong> gehören müsste,<br />

was dazu geführt hat, dass sich die Produktion von Spielfilmen, die sich ernsthaft<br />

mit dem Thema ause<strong>in</strong>andergesetzt haben, doch e<strong>in</strong>igermaßen überschaubar<br />

geblieben ist, <strong>und</strong> die Person des <strong>Mission</strong>ars, der <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong> eher als mehr oder<br />

weniger fre<strong>und</strong>liche Nebenfigur im Genre Abenteuerfilm e<strong>in</strong>gesetzt wird.<br />

<strong>Mission</strong>ar <strong>und</strong> <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d aus drei diskursiven <strong>und</strong> drei narrativen Gründen<br />

schwierig. Zuerst die thematischen Gründe: 1. Die <strong>Mission</strong> des 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

ist Teil der Kolonialgeschichte. 2. Auch <strong>Mission</strong>sgeschichten spiegeln die<br />

Konfessionskonflikte wider. Und 3. ist die Figur nicht beliebig übertragbar, man<br />

kann sie nicht wie e<strong>in</strong>en Westernhelden oder e<strong>in</strong>e Rob<strong>in</strong>-Hood-Figur so abstrakt<br />

machen, dass sie unendlich variierbar ist. Sie verlangt nach e<strong>in</strong>er Konkretion.<br />

Und dazu kommen die drei narrativen Gründe: 1. <strong>Mission</strong>are <strong>und</strong> <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong>nen<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> aller Regel gewaltfreie Menschen, <strong>und</strong> dies bis zu e<strong>in</strong>em Grad, an<br />

dem sie als K<strong>in</strong>ohelden nicht mehr taugen, weil sie das traditionelle Aktionsbild<br />

nicht füllen. Damit verb<strong>und</strong>en 2. drückt sich nicht alles <strong>in</strong> Handlungen aus. Es<br />

gibt e<strong>in</strong> <strong>in</strong>neres Geschehen, das von e<strong>in</strong>er Kamera nicht erfasst werden kann. Und<br />

3. passt auf <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> <strong>Mission</strong>are nicht die klassische Gleichung von<br />

story <strong>und</strong> history. Ihre Geschichten funktionieren nicht nach dem Drei-Akt-Schema<br />

des Erzählfilms, der <strong>in</strong> aller Regel mit e<strong>in</strong>em familiären Happy End abgeschlossen<br />

wird. Nur zum Beispiel bildet im amerikanischen Western der Prediger, den wir<br />

zum<strong>in</strong>dest als der <strong>Mission</strong>arsfigur verwandt ansehen können, e<strong>in</strong> stationäres Gegenlager<br />

zum Helden auf se<strong>in</strong>er Reise. Er ist Teil jener zivilisierenden Kraft, der<br />

der Held des klassischen Western eher skeptisch gegenüberstehen muss. Unnütz<br />

zu sagen, dass Prediger im Italowestern am ehesten dämonische oder groteske<br />

Figuren abgeben. Denn hier ist ja der Prozess der Zivilisation gescheitert.<br />

Und damit haben wir e<strong>in</strong> weiteres Problem für e<strong>in</strong>e mythische Figur im <strong>Film</strong>.<br />

<strong>Mission</strong>ar <strong>und</strong> <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong> stehen nicht nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er religiösen <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er kolonialen<br />

Geschichte, sondern auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zivilisationsgeschichte. Mit dem <strong>Mission</strong>ar<br />

kommt die Zivilisation <strong>in</strong> die Wildnis, sozusagen als Soft Power. Vollkommen<br />

positiv könnte diese Figur also nur se<strong>in</strong>, wenn sie sich vom kolonialistischen Anspruch<br />

lossagt – das gel<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>igen der <strong>Mission</strong>are, denen wir im K<strong>in</strong>o begegnen,<br />

gerade noch – <strong>und</strong> wenn die Zivilisationserzählung, die damit verb<strong>und</strong>en ist, zu<br />

e<strong>in</strong>em erkennbar guten Ende führt. Und eben dies wird umso unwahrsche<strong>in</strong>licher,<br />

als <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong> <strong>und</strong> <strong>Mission</strong>ar e<strong>in</strong>em weiteren Pr<strong>in</strong>zip unterworfen s<strong>in</strong>d,<br />

das für e<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>ohelden <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>oheld<strong>in</strong> denkbar ungeeignet ist, nämlich<br />

dem Gehorsam.<br />

Um es e<strong>in</strong>mal sehr pauschal <strong>und</strong> vor allem <strong>in</strong> Bezug auf das traditionelle<br />

Genre-K<strong>in</strong>o zu sagen: Jeder K<strong>in</strong>oheld <strong>und</strong> jede K<strong>in</strong>oheld<strong>in</strong> erlebt e<strong>in</strong>e Parallelgeschichte<br />

von Zähmung <strong>und</strong> Befreiung. Man kann es auch als e<strong>in</strong>e Art des mythischen<br />

Erwachsenwerdens ansehen. Für e<strong>in</strong>en <strong>Mission</strong>ar, wie wir <strong>in</strong> dem vielleicht<br />

mächtigsten <strong>und</strong> <strong>in</strong>teressantesten <strong>Film</strong> zum Thema sehen, kann das nicht gut<br />

ausgehen. Befreiung <strong>und</strong> Erkenntnis führen ihn <strong>in</strong> den persönlichen Untergang,<br />

Wie bereits erwähnt verfügen wir über e<strong>in</strong> reichhaltiges ikonisches Repertoire,<br />

e<strong>in</strong>e Bild-Tradition, die wir leicht aufschlüsseln können. Vielleicht e<strong>in</strong>ige wesent-


<strong>Mission</strong> im <strong>Film</strong> 21<br />

liche Elemente: Die <strong>Mission</strong>sstation als zivilisatorische Insel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er unendlich<br />

suggestiven, gefährlichen <strong>und</strong> verführerischen Wildnis. Sie ist immer <strong>und</strong> immer<br />

wieder, <strong>in</strong> den verschiedensten Genres <strong>und</strong> <strong>in</strong> den verschiedensten historischen<br />

<strong>und</strong> geografischen Assoziationen, e<strong>in</strong> Zufluchtsort. E<strong>in</strong> feststehendes dramaturgisches<br />

Element ist die Zerstörung der <strong>Mission</strong>sstation, die Weigerung des <strong>Mission</strong>ars<br />

<strong>und</strong> der <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong>, sie im Angesicht der Gefahr zu verlassen <strong>und</strong> zum<br />

dritten die abenteuerliche Flucht. E<strong>in</strong> weiteres ikonisches Bild ist das vom Hirten<br />

<strong>und</strong> se<strong>in</strong>en Schafen. Der <strong>Mission</strong>ar besetzt die Mitte des Bildes <strong>und</strong> wird von<br />

den <strong>Mission</strong>ierten umr<strong>in</strong>gt, die sich unter se<strong>in</strong>e Obhut begeben haben. Hier hat<br />

sich sozusagen e<strong>in</strong>e Ur-Ordnung auf der ikonischen Ebene ergeben, die schon<br />

ohne konkreten Inhalt Wärme <strong>und</strong> Sicherheit vermittelt – <strong>und</strong> eben auch dies<br />

ist immer <strong>in</strong> Gefahr. Zum Beispiel durch die Anwesenheit e<strong>in</strong>es Verräters oder<br />

Aufwieglers, der die Ordnung von Hirte <strong>und</strong> Herde aufzulösen droht, oder aber<br />

durch die Ankunft e<strong>in</strong>es anderen Vertreters der Zivilisierung, den wir nur als<br />

potenziellen Schlächter erkennen können.<br />

Historische Gründe hat es, dass <strong>Mission</strong>are immer wieder <strong>in</strong> Bezug auf den<br />

Kannibalismus projiziert werden. Natürlich e<strong>in</strong>erseits, weil man sich ke<strong>in</strong>en größeren<br />

Widerspruch <strong>und</strong> ke<strong>in</strong>e größere Herausforderung vorstellen kann. Kritische<br />

Historie zeigt allerd<strong>in</strong>gs auch, dass der Kannibalismus sehr häufig eher Gerücht<br />

oder gar Unterstellung denn wirkliche Praxis war. Der <strong>Mission</strong>ar im Kochtopf<br />

der Kannibalen freilich ist e<strong>in</strong> solch kanonisiertes Bild geworden, dass es<br />

zum<strong>in</strong>dest als Karikatur noch heute verbreitet ist. In aller Regel besteht der Witz<br />

dabei dar<strong>in</strong>, dass da zwei Codes aufe<strong>in</strong>andertreffen, die mite<strong>in</strong>ander nicht kompatibel<br />

s<strong>in</strong>d. Natürlich spielt auch die Verpflichtung zur Sanftmut h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, denn<br />

offensichtlich begehren die zu kochenden <strong>Mission</strong>are nie gegen ihr Schicksal auf,<br />

sondern versuchen eher die Köche <strong>in</strong> e<strong>in</strong> sophistisches Gespräch zu verwickeln.<br />

Im Übrigen erschien bereits 1899, also gerade e<strong>in</strong>mal vier Jahre nach der Geburt<br />

des K<strong>in</strong>os, e<strong>in</strong> <strong>Film</strong> <strong>in</strong> den USA mit dem harmlosen Titel »Br<strong>in</strong>g<strong>in</strong>g a Friend Home<br />

for D<strong>in</strong>ner«, <strong>in</strong> dem gezeigt wird, wie e<strong>in</strong> Kannibalenstamm sich lustvoll daran<br />

macht, e<strong>in</strong>en <strong>Mission</strong>ar zu verspeisen.<br />

Die Beziehung zwischen <strong>Mission</strong>, Verwaltung <strong>und</strong> Militär ist e<strong>in</strong> weiteres<br />

Element der Variation; selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er aktuellen Spielzeugserie s<strong>in</strong>d Playmobil-<br />

<strong>Mission</strong>are nicht ohne Playmobil-Soldaten zu denken. Aus der Ambivalenz nun<br />

entsteht das, was wir <strong>in</strong> vielen Bildern, Erzählungen <strong>und</strong> <strong>Film</strong>en, auch <strong>in</strong> unserem<br />

Beispiel, als zentrales Geschehen erleben: das Opfer. Der <strong>Mission</strong>ar <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e<br />

treuesten Anhänger opfern sich, dort wo der Widerspruch zwischen unerlöster<br />

Wildheit <strong>und</strong> rücksichtsloser kolonialer Ausbeutung zur Gewalt führt, <strong>in</strong>dem sie<br />

unbewaffnet <strong>und</strong> mit religiösen Symbolen dem Fe<strong>in</strong>d gegenübertreten. Das Gegenbild<br />

zu diesem Opfer ist das Bild der Heilung. Der <strong>Mission</strong>ar ist zugleich Arzt,<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> vielen Erzählungen <strong>und</strong> Bildern beg<strong>in</strong>nt se<strong>in</strong> Werk erst richtig, nachdem<br />

er e<strong>in</strong>en Menschen von e<strong>in</strong>er Verw<strong>und</strong>ung oder e<strong>in</strong>er Krankheit geheilt hat. Hier<br />

beg<strong>in</strong>nt freilich auch deutlich zu werden, dass <strong>Mission</strong> nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e leere oder<br />

k<strong>in</strong>dliche Situation trifft, sondern sozusagen auf e<strong>in</strong>e religiöse Konkurrenz. Der<br />

<strong>Mission</strong>ar, so wie wir ihn <strong>in</strong> der traditionellen Narration kennen, br<strong>in</strong>gt nicht nur<br />

e<strong>in</strong>en Glauben. Er oder sie muss auch e<strong>in</strong>en anderen Glauben (der ab da »Aber-


22 Georg Seeßlen<br />

glaube« heißen mag) wegnehmen. Se<strong>in</strong>e Heilungskräfte dienen dabei ebenso der<br />

Überzeugung wie – <strong>und</strong> hier schließt sich e<strong>in</strong> Kreis – se<strong>in</strong> Angebot e<strong>in</strong>er Zuflucht.<br />

In der Heilung verb<strong>in</strong>den sich also Religions- <strong>und</strong> Zivilisationsgeschichte; die – so<br />

hat man lange gesagt – »E<strong>in</strong>geborenen« verstehen oder missverstehen die Heilung<br />

als W<strong>und</strong>er. Um aus der re<strong>in</strong>en Konkurrenzsituation zu kommen, muss der<br />

<strong>Mission</strong>ar zunächst auch Lehrer <strong>und</strong> dann, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er etwas paradoxen Volte, auch<br />

Aufklärer werden. Die Bild- <strong>und</strong> Erzählwelt, die wir erzeugt haben, bewegt sich<br />

also <strong>in</strong> mächtigen Widersprüchen.<br />

In der melodramatischen Erzählweise werden diese Widersprüche <strong>in</strong> der Geschichte<br />

des Protagonisten selbst verhandelt, um nur e<strong>in</strong> Beispiel zu nennen: In<br />

Nicholas Rays »Im Land der langen Schatten« (The Savage Innocents, 1960) wird<br />

der missionarische Geistliche bei e<strong>in</strong>em Inuit gastfre<strong>und</strong>lich aufgenommen. Doch<br />

zu dessen Gastfre<strong>und</strong>lichkeit gehört es auch, dass der Gast, so verlangt es die Sitte,<br />

mit se<strong>in</strong>er Frau schlafen soll. Das muss der Geistliche natürlich zurückweisen,<br />

aber damit löst er e<strong>in</strong>e so tiefe Kränkung aus, dass er Opfer e<strong>in</strong>es Zornausbruchs<br />

wird. Der anfängliche gute Wille auf beiden Seiten war es, der zur Katastrophe<br />

führen musste. Und so haben wir e<strong>in</strong>e ideelle Transzendenz des <strong>Mission</strong>sbildes.<br />

Es ist e<strong>in</strong>e symbolische Darstellung des culture clash. Und das Augenmerk mag<br />

auf den Zorn der anderen Seite gerichtet werden: Die Vertreter der alten Ordnungen<br />

hassen die <strong>Mission</strong>are mehr als die Konquistadoren, weil sich e<strong>in</strong>e Kultur<br />

gegen e<strong>in</strong>e äußere Macht leichter zur Wehr setzen kann als gegen e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere<br />

Transformation.<br />

So beg<strong>in</strong>nt als vierte Geschichte – nach Religion, Kolonialismus <strong>und</strong> Zivilisation<br />

– die Geschichte der Schuld. Es ist diese Frage, der wir immer wieder begegnen:<br />

Wie geht der <strong>Mission</strong>ar, der die Schuld oder Mitschuld se<strong>in</strong>er Institution<br />

erkennt, mit dieser Erkenntnis um? Entweder er wechselt die Seiten, wie etwa etliche<br />

Ex-<strong>Mission</strong>are <strong>in</strong> filmischen Revolutionsgeschichten aus Brasilien, namentlich<br />

dem »Cangaceiro«-Genre <strong>in</strong> der Folge von Glauber Rocha, oder er verwandelt<br />

sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e dämonische Gestalt wie die des Predigers <strong>in</strong> »Die Nacht des Jägers«<br />

(The Night of the Hunter, 1955, Charles Laughton) , der es auf die Seelen <strong>und</strong><br />

Körper von K<strong>in</strong>dern abgesehen hat. E<strong>in</strong> anderes Beispiel ist »<strong>Mission</strong>ary« (2013,<br />

Anthony DiBlasi), <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e junge Frau vor den Problemen <strong>in</strong> ihrer Ehe flüchtet<br />

<strong>und</strong> Trost bei e<strong>in</strong>em fre<strong>und</strong>lichen jungen Mormonen-<strong>Mission</strong>ar f<strong>in</strong>det. Doch<br />

als sie zu ihrem Ehemann zurückkehren will, verwandelt sich dieser so gütige<br />

Mensch <strong>in</strong> e<strong>in</strong> wahres Ungeheuer. Die nächste Variante biegt die großen Widersprüche<br />

<strong>in</strong>s Komische ab, wie zum Beispiel der von He<strong>in</strong>z Erhardt im deutschen<br />

Karl-May-<strong>Film</strong> »Der Ölpr<strong>in</strong>z« (1965, Harald Philipp) gespielte Kantor Hampel, der<br />

auf dem Weg zu den Wilden so selig weggetreten ist, dass er noch beim wildesten<br />

Angriff Psalmen zum Harmonium s<strong>in</strong>gt. Von e<strong>in</strong>em solchen Menschen geht<br />

auch im culture clash ke<strong>in</strong>e Gefahr aus. Dämonische Aggression oder weltfremde<br />

Sanftmut, das s<strong>in</strong>d Endpunkte dieses Charakters. Generell ist die milde Komik<br />

aber eher e<strong>in</strong> Aspekt e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>eren Strategie zur Selbst-Entmachtung: das<br />

Bild des <strong>Mission</strong>ars, der ke<strong>in</strong>e Forderungen stellt, sondern nur Angebote macht,<br />

<strong>und</strong> der selber so k<strong>in</strong>dlich re<strong>in</strong> wird, wie die Schafe, deren Hirte er werden soll.<br />

So tritt er aus e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>tertür aus dem historisch-politischen Raum.


<strong>Mission</strong> im <strong>Film</strong> 23<br />

Von hier aus also mag der Weg zu e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Taxonomie der <strong>Mission</strong> im<br />

<strong>Film</strong> führen. Danach können wir unterscheiden: Die heroische, die dramatische<br />

(oder melodramatische), die dämonische, die kritische <strong>und</strong> die komische Geschichte<br />

der <strong>Mission</strong>en. Als historischer H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> dienen sich vor allem Afrika, Indien<br />

<strong>und</strong> Late<strong>in</strong>amerika an, aber es gibt auch <strong>Mission</strong>arsgeschichten aus Ch<strong>in</strong>a <strong>und</strong><br />

sogar, wie erwähnt, aus dem Land des ewigen Eises. Und im historischen Kontext<br />

lassen sich prä-kolonialistische, kolonialistische, post-kolonialistische <strong>und</strong> antikolonialistische<br />

Plots unterscheiden, wobei freilich die sozusagen ur-missionarischen<br />

Geschichten aus dem frühen Mittelalter gänzlich anderen Erzählmustern<br />

folgen. Allerd<strong>in</strong>gs projizieren wir auch die culture-clash-Geschichte zurück, wie<br />

zum Beispiel <strong>in</strong> »Vik<strong>in</strong>g – Dark Ages« von Kar<strong>in</strong> Engman <strong>und</strong> Klas Persson (2018).<br />

Im 11. Jahrh<strong>und</strong>ert wird <strong>in</strong> den Wäldern an der nördlichen Grenze Schwedens<br />

e<strong>in</strong> <strong>Mission</strong>ar vermisst <strong>und</strong> e<strong>in</strong> ehemaliger Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Kämpfer macht sich auf<br />

die Suche, wobei ihm Wesen aus der nordischen Mythologie den Weg reichlich<br />

erschweren. Hier wird verhandelt, dass auch <strong>in</strong> der vor-kolonialen Zeit christliche<br />

<strong>Mission</strong> mit Gewalt <strong>und</strong> mit dem kulturellen Verlust verb<strong>und</strong>en ist.<br />

Die melodramatische <strong>Mission</strong>arsgeschichte geht <strong>in</strong> der Regel vom Konflikt<br />

zwischen Auftrag <strong>und</strong> persönlichen Impulsen aus, wie zum Beispiel <strong>in</strong> den beiden<br />

<strong>Film</strong>en unter dem Titel »The Other Side of Heaven« (2001, Mitch Davis; 2019,<br />

Mitch Davis), die übrigens zu den wenigen durch <strong>und</strong> durch pro-missionarischen<br />

<strong>Film</strong>en der letzten Zeit gehören <strong>und</strong>, wie man so sagt, auf wahre Begebenheiten<br />

zurückgehen sollen. E<strong>in</strong> junger Amerikaner wird als <strong>Mission</strong>ar nach Tonga geschickt,<br />

widersteht dort der e<strong>in</strong>en oder anderen Versuchung, kann zurückkehren,<br />

um se<strong>in</strong>e Fre<strong>und</strong><strong>in</strong> zu heiraten, die trotz aller Widrigkeiten auf ihn gewartet hat,<br />

<strong>und</strong> beide kehren im zweiten Teil nach Tonga zurück, wo weiß der Himmel noch<br />

e<strong>in</strong>iges zu besorgen ist. Die Sollbruchstelle bei der Rezeption solcher <strong>Film</strong>e liegt<br />

dar<strong>in</strong>, dass sie immer noch aus e<strong>in</strong>er Perspektive der zivilisatorisch <strong>und</strong> moralisch<br />

überlegenen Weißen erzählt s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> dass sie <strong>Mission</strong> als Mischung aus<br />

Katastrophenthriller <strong>und</strong> success story erzählen.<br />

Zur Beurteilung e<strong>in</strong>es <strong>Film</strong>s mit dem <strong>Mission</strong>arsmotiv stehen also – neben f<strong>und</strong>amentalen<br />

Forderungen wie »wahrhaftig« oder »realistisch« – drei Achsen für e<strong>in</strong><br />

c<strong>in</strong>eastisches Koord<strong>in</strong>atensystem zur Verfügung: 1. Die Zeit: In welcher Epoche,<br />

<strong>in</strong> welcher Phase, <strong>in</strong> welchem historischen Zusammenhang spielt der <strong>Film</strong>? 2.<br />

Der geographische Ort: In welcher Entfernung, auf welchem Kont<strong>in</strong>ent, <strong>in</strong> welchem<br />

Land <strong>und</strong> <strong>in</strong> welcher Kultur bef<strong>in</strong>den wir uns? 3. Welche Haltung nimmt<br />

man e<strong>in</strong> – das kann von vollkommener Bejahung über kritisches Abwägen bis zu<br />

f<strong>und</strong>amentaler Ablehnung gehen, doch können auch c<strong>in</strong>eastische Haltungen sehr<br />

viel komplexer se<strong>in</strong>, als es e<strong>in</strong>e solche e<strong>in</strong>fache E<strong>in</strong>teilung nahelegt. Natürlich<br />

gibt es auch e<strong>in</strong>e Haltung der Exploitation wie etwa <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der <strong>in</strong> den siebziger<br />

Jahren populären Kannibalen-<strong>Film</strong>e »Die weiße Gött<strong>in</strong> der Kannibalen« (La<br />

montagna del dio cannibale, 1978, Sergio Mart<strong>in</strong>o), wo auch <strong>Mission</strong>are nur noch<br />

Teile e<strong>in</strong>es Reigens der Abscheulichkeiten s<strong>in</strong>d.<br />

Nun mag es <strong>in</strong>teressant se<strong>in</strong>, noch e<strong>in</strong>en weiteren Aspekt zu behandeln, nämlich<br />

e<strong>in</strong>e mögliche Gegenüberstellung von <strong>Film</strong>en aus den Ländern, die <strong>Mission</strong>


24 Georg Seeßlen<br />

betrieben, <strong>und</strong> solchen, die <strong>Mission</strong> erlebt haben. Welche Rolle etwa <strong>Mission</strong>are<br />

im afrikanischen <strong>Film</strong> spielen, wäre e<strong>in</strong>e eigene Recherche wert, aber wir wissen<br />

aus den <strong>Film</strong>en von Jean Rouch zum Beispiel, dass sie Teil der Reenactment-<br />

Performances s<strong>in</strong>d, mit denen das kollektive Trauma der Kolonisation bearbeitet<br />

wird.<br />

Besonders dramatisch ersche<strong>in</strong>en die <strong>Mission</strong>sgeschichten <strong>in</strong> Japan. Auf der<br />

e<strong>in</strong>en Seite werden christliche <strong>Mission</strong>are <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbesondere Nonnen gern <strong>in</strong> den<br />

»Tokugawa«-<strong>Film</strong>en <strong>in</strong> wahren Höllenqualen geschildert, andererseits gibt es <strong>in</strong><br />

verschiedenen C<strong>in</strong>ematografien Ause<strong>in</strong>andersetzungen etwa mit der portugiesischen<br />

<strong>Mission</strong> zur Zeit davor <strong>in</strong> der E<strong>in</strong>igung des Landes durch den Feldherrn Toyotomi<br />

Hideyoshi, der die Herrschaft der Tokugawa <strong>und</strong> Shogun vorbereitete. E<strong>in</strong>er<br />

der bee<strong>in</strong>druckendsten <strong>Film</strong>e ist gewiss »Silence« von Mart<strong>in</strong> Scorsese (2016). Er<br />

basiert auf dem Roman »Ch<strong>in</strong>moku« des japanischen katholischen Autors Endō<br />

Shūsaku aus den sechziger Jahren. Der Roman basiert lose auf historischen Ereignissen.<br />

Pater Cristóvão Ferreira lebte von 1580 bis 1650 <strong>und</strong> legte nach Folterungen<br />

<strong>in</strong> Japan se<strong>in</strong>en christlichen Glauben ab. Die Figur von Sebastião Rodrigues<br />

basiert auf der Person des italienischen Jesuiten Giuseppe Chiara, der <strong>in</strong> Japan<br />

tätig war. Auf der Suche nach e<strong>in</strong>em angeblich abtrünnigen Pater geraten Pater<br />

Rodrigues <strong>und</strong> Pater Garupe <strong>in</strong> die Situation der Christenverfolgung <strong>und</strong> auch<br />

hier kommt es zu e<strong>in</strong>er Situation des unauflösbaren Widerspruchs, wenn der Pater<br />

vor die Wahl gestellt wird, entweder e<strong>in</strong> Christusbild mit Füßen zu treten oder<br />

durch se<strong>in</strong>e Weigerung mehrere Menschen zum Tode zu verurteilen.<br />

Die <strong>Mission</strong>sgeschichte als Scheitern spielt <strong>in</strong> vielen <strong>Film</strong>en e<strong>in</strong>e wesentliche<br />

Rolle, darunter auch »Die Herberge zur sechsten Glückseligkeit« (The Inn of the<br />

Sixth Happ<strong>in</strong>ess, 1958, Mark Robson), der e<strong>in</strong>en geradezu klassischen Rettungsplot<br />

anbietet. Ingrid Bergman spielt die unerfahrene britische <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong>, die<br />

mit Hilfe e<strong>in</strong>es aufgeschlossenen, zum Christentum übergewechselten Mandar<strong>in</strong>s<br />

der Sitte der Fußverkrüppelung bei ch<strong>in</strong>esischen Mädchen entgegentreten<br />

soll <strong>und</strong> die sich dann bei der Besetzung Ch<strong>in</strong>as durch die Japaner bewährt, als<br />

sie 50 Waisenk<strong>in</strong>der unter Lebensgefahr über die Berge führt. Nebenbei bemerkt:<br />

Die wirkliche Gladys Aylward ärgerte sich über den <strong>Film</strong> maßlos <strong>und</strong> distanzierte<br />

sich sogar davon. Sie machte Ungenauigkeiten geltend, weil beispielsweise Liebesszenen<br />

vorkommen, obwohl sie, das müsste sie betonen, <strong>in</strong> ihrem Leben nie<br />

e<strong>in</strong>en Mann geküsst habe. Geme<strong>in</strong>sam mit Chiang Kai-Shek, mit dem sie sich oft<br />

zum Gebet traf, betete sie für Ingrid Bergman, die es diesbezüglich lockerer angehen<br />

ließ. Später entschloss sich die Schauspieler<strong>in</strong>, die wirkliche Gladys Aylward<br />

zu besuchen, doch während sie unterwegs nach Taiwan war, starb Aylward. Ingrid<br />

Bergman soll an ihrem Sterbebett zusammengebrochen se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> fernes Echo liegt<br />

<strong>in</strong> ihrer Rolle <strong>in</strong> der Verfilmung von Agatha Christies »Mord im Orient-Express«<br />

(Murder on the Orient Express, 1974, Sidney Lumet): Da ist sie als e<strong>in</strong>e <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong>,<br />

die von ihrer Arbeit mit schwarzen Babys berichtet, zusammen mit anderen<br />

am Rachekomplott gegen e<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>desmörder unterwegs. Überhaupt spielen Ex-<br />

<strong>Mission</strong>are im klassischen britischen Krim<strong>in</strong>alroman e<strong>in</strong>e bedeutende <strong>und</strong> selten<br />

ganz e<strong>in</strong>deutige Rolle. Aber das ist schon wieder e<strong>in</strong>e andere Geschichte.


<strong>Mission</strong> im <strong>Film</strong> 25<br />

Die komische Variante zeigt exemplarisch e<strong>in</strong> <strong>Film</strong> wie »Der <strong>Mission</strong>ar« von<br />

Richard Loncra<strong>in</strong>e (The <strong>Mission</strong>ary, 1982), der im Übrigen auch e<strong>in</strong> historisches<br />

Vorbild hat. 1905: Nach zehn Jahren als <strong>Mission</strong>ar <strong>in</strong> Afrika wird der englische<br />

Reverend Charles Fortescue von se<strong>in</strong>em Bischof nach England zurückgeholt. Hier<br />

soll er e<strong>in</strong>e neue pikante <strong>und</strong> eben auch missionarische Aufgabe übernehmen: Er<br />

soll Londons Prostituierte im East End von ihrer Tätigkeit abbr<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> sie <strong>in</strong><br />

den Schoß der Kirche zurückführen. Am Ende ist die Verlockung des Fleisches<br />

doch größer als der missionarische Eifer. Dagegen ist »Zwei <strong>Mission</strong>are« (Porgi<br />

l’altra guancia, 1974, Franco Rossi) e<strong>in</strong>e typische Bud-Spencer-<strong>und</strong>-Terence-Hill-<br />

Klamotte, bei der die beiden als <strong>Mission</strong>are versuchen, den E<strong>in</strong>geborenen e<strong>in</strong>er<br />

Insel zu helfen, <strong>in</strong>dem sie die frohe Botschaft auf ihre sehr eigene Weise auslegen<br />

<strong>und</strong> sich dabei schlitzohrig <strong>und</strong> schlagfertig mit der weltlichen <strong>und</strong> kirchlichen<br />

Obrigkeit ause<strong>in</strong>andersetzen. Man könnte die frohe Botschaft dieser <strong>Film</strong>e <strong>in</strong> zwei<br />

Sätzen zusammenfassen: <strong>Mission</strong>are s<strong>in</strong>d auch nur Menschen. Und: <strong>Mission</strong>are<br />

können sehr menschlich <strong>und</strong> glücklicherweise auch sehr ungehorsam se<strong>in</strong>.<br />

E<strong>in</strong>e Inversion nimmt auch der dokumentarische <strong>Film</strong> »Der große Navigator« von<br />

Wiltrud Baier <strong>und</strong> Sigrun Köhler (2007) vor. Er erzählt die Geschichte des schwäbischen<br />

<strong>Mission</strong>ars Jakob Walter nach, der, nachdem er 22 Jahren lang <strong>in</strong> Papua-<br />

Neugu<strong>in</strong>ea an der Bekehrung der dortigen Kannibalen gearbeitet hat, nun im<br />

immer noch recht heidnischen Mecklenburg-Vorpommern das Christentum <strong>und</strong><br />

damit etwas zivilisierteres Verhalten durchsetzen soll, was sich als schwieriger<br />

als gedacht erweist. Ebenfalls mit Kannibalen hatte es der Schotte John Paton zu<br />

tun, dessen Lebensziel es war, auf jeder der zahlreichen Inseln der Neuen Hebriden<br />

m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e <strong>Mission</strong>sstation zu errichten, <strong>und</strong> se<strong>in</strong>em Ziel näher kommt<br />

trotz aller familiären Tragödien <strong>und</strong> politischen Widerstände. 2017, 110 Jahre<br />

nach se<strong>in</strong>em Tod, wurde ihm e<strong>in</strong> c<strong>in</strong>eastisches Denkmal gesetzt. Wie der Protagonist<br />

von Mart<strong>in</strong> Scorseses »Silence« durchlebt auch er die Augenblicke des<br />

Zweifels <strong>und</strong> der Verzweiflung <strong>und</strong> kann nur durch e<strong>in</strong>e Erfahrung der Gnade<br />

gerettet werden, die über das Maß äußerer Wirklichkeit <strong>und</strong> vielleicht auch über<br />

das der filmischen Darstellbarkeit h<strong>in</strong>ausgeht. Das führt uns vielleicht zu e<strong>in</strong>er<br />

weiteren Dialektik <strong>in</strong> der filmischen <strong>Mission</strong>arsgeschichte, nämlich der zwischen<br />

den spirituellen <strong>und</strong> den politischen Aspekten. Während man zum Beispiel Scorseses<br />

»Silence« vor allem aus der spirituellen Perspektive sehen kann, sche<strong>in</strong>t<br />

Roland Joffés »<strong>Mission</strong>« (The <strong>Mission</strong>, 1986) – der wohl auch von se<strong>in</strong>er Publikumsakzeptanz<br />

her bedeutendste neuere <strong>Film</strong> mit diesem Motiv – vor allem<br />

politisch lesbar.<br />

Auch dieser <strong>Film</strong> geht von wahren Begebenheiten aus, die sich bei der <strong>Mission</strong><br />

der südamerikanischen Bevölkerung durch den Jesuitenorden im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

entwickelten. Nachdem sich <strong>in</strong> Europa die Machtverhältnisse drastisch geändert<br />

haben, werden die <strong>Mission</strong>are gezwungen, sich zu entscheiden, sich <strong>und</strong><br />

ihre Geme<strong>in</strong>den dem neuen, dem portugiesischen Herrn zu beugen oder sich auf<br />

die Seite der Natives gegen die Eroberer zu stellen. Der Jesuitenmissionar Gabriel<br />

begibt sich um 1750 nach Paraguay, wo er, um sie mit sanften Mitteln zum Christentum<br />

zu führen, bei den E<strong>in</strong>geborenen lebt <strong>und</strong> ihre Sprache <strong>und</strong> ihre Kultur


26 Georg Seeßlen<br />

akzeptiert, um e<strong>in</strong> Modell des Friedens <strong>und</strong> der Gerechtigkeit zu errichten. Dessen<br />

Ausstrahlungskraft ist so groß, dass sich sogar der Sklavenhändler Mendoza<br />

zum Guten wendet <strong>und</strong> den Pater bei se<strong>in</strong>en Absichten nach Kräften unterstützt.<br />

Doch als die Kolonialmächte Spanien <strong>und</strong> Portugal e<strong>in</strong>en neuen Vertrag über das<br />

Dschungelgebiet aushandeln, der die Gr<strong>und</strong>lage e<strong>in</strong>er rücksichtslosen Unterdrückung<br />

<strong>und</strong> Ausbeutung liefert, zerbricht diese Insel des Friedens, Pater Gabriel<br />

<strong>und</strong> die <strong>Mission</strong> geraten zwischen die politischen Fronten <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en blutigen<br />

Krieg, <strong>in</strong> dem auch die katholische Kirche e<strong>in</strong>e unrühmliche, realpolitische Rolle<br />

spielt. Mendoza entscheidet sich für den Kampf, Gabriel für Gewaltlosigkeit<br />

bis zum Schluss. Das Massaker an se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de kann er nicht verh<strong>in</strong>dern,<br />

nur mit ihnen sterben. Am Ende wird noch e<strong>in</strong>mal deutlich, dass hier verhandelt<br />

wird, was diese Welt eigentlich ist. Von Gott gewollt, von Menschen gemacht? Als<br />

Gabriel e<strong>in</strong>em Mann aus se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de entgegenhält, dass Gott die Welt aus<br />

Liebe erschaffen hat, entgegnet der verzweifelt, Gott habe die Welt doch schon<br />

verlassen, <strong>und</strong> auch Gabriel muss erkennen: »Wenn Macht Recht ist, hat die Liebe<br />

ke<strong>in</strong>en Platz <strong>in</strong> der Welt!« Das f<strong>und</strong>amentale Scheitern der christlichen <strong>Mission</strong><br />

hat etwas von e<strong>in</strong>er Endzeit; selbst der Chronist dieses <strong>Film</strong>s, der päpstliche Gesandte<br />

Altamirano, bekennt am Ende <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Bericht, er fühle sich seitdem wie<br />

tot. Entlassen werden wir mit dem H<strong>in</strong>weis, dass Unterdrückung <strong>und</strong> Ausbeutung<br />

der Menschen <strong>in</strong> dieser Weltregion bis heute nicht aufgehört haben.<br />

So düster sehen es nicht alle <strong>Film</strong>e, die das Verhältnis von Kolonialismus <strong>und</strong><br />

<strong>Mission</strong> behandeln. In die politischen Widersprüche der <strong>Mission</strong> führte auch das<br />

Historiendrama »Die <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong>« von Lars-Gunnar Lotz (2021), nämlich zu e<strong>in</strong>em<br />

Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte. Die junge <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong> L<strong>in</strong>a versucht<br />

auf e<strong>in</strong>er Südsee<strong>in</strong>sel, auf der 3 000 Natives <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Gruppe von<br />

Deutschen leben, zwischen den Kulturen zu vermitteln, die immer wieder ane<strong>in</strong>andergeraten,<br />

weil die Deutschen <strong>in</strong> ihrer Bauwut <strong>und</strong> Ignoranz so rücksichtslos<br />

s<strong>in</strong>d, dass sie e<strong>in</strong>en Aufstand provozieren. Nun geht es darum, e<strong>in</strong> Massaker<br />

durch die herbeigerufene Kriegsmar<strong>in</strong>e zu verh<strong>in</strong>dern. E<strong>in</strong>mal mehr also muss<br />

<strong>Mission</strong> sich im Namen der Menschlichkeit gegen den politischen Auftraggeber<br />

wenden <strong>und</strong> kann sich dabei auf die kirchliche Hierarchie selbst nicht verlassen.<br />

So gelangen wir <strong>in</strong> den unterschiedlichsten Erzählungen immer wieder zu dem<br />

Punkt, an dem <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong> oder <strong>Mission</strong>ar e<strong>in</strong>er f<strong>und</strong>amentalen E<strong>in</strong>samkeit ausgesetzt<br />

s<strong>in</strong>d. Aufgebrochen, um e<strong>in</strong>e neue <strong>in</strong>nere <strong>und</strong> äußere Ordnung zu errichten,<br />

f<strong>in</strong>den sie sich <strong>in</strong> der Situation e<strong>in</strong>es vollkommenen Chaos wieder, <strong>in</strong> der sie<br />

sich von allen Menschen, <strong>und</strong> vielleicht auch von Gott, verlassen fühlen.<br />

Wissen wir nun mehr über das Wesen <strong>und</strong> die Aufgaben von <strong>Mission</strong>? Vielleicht<br />

kehren wir mit e<strong>in</strong>em k<strong>in</strong>dlichen Publikum an ursprünglichere Bilder <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>facheren filmischen Sprache zurück.<br />

Das K<strong>in</strong>o hat die Geschichte, die Funktion <strong>und</strong> den Mythos des <strong>Mission</strong>ars<br />

<strong>und</strong> der <strong>Mission</strong>ar<strong>in</strong> also ganz <strong>und</strong> gar nicht e<strong>in</strong>deutiger oder lesbarer gemacht,<br />

als es vordem <strong>und</strong> immer noch im realen Leben oder <strong>in</strong> den Diskursen ist. Aber es<br />

kann helfen, auf die <strong>in</strong>neren <strong>und</strong> äußeren Widersprüche zu reagieren, die längst<br />

Teil unserer geme<strong>in</strong>samen Geschichte geworden s<strong>in</strong>d.


Andreas Heuser<br />

Der Gottesnomade <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e GOD<br />

BOX: Werner Herzogs Hommage<br />

an Bruce Chatw<strong>in</strong><br />

Die Rahmenhandlung: »Der Nomade«<br />

2019 dreht Werner Herzog (geb. 1942) e<strong>in</strong>en Dokumentarfilm zu se<strong>in</strong>em Künstlerfre<strong>und</strong><br />

Bruce Chatw<strong>in</strong> (1940–1989). Der Nomade – auf den Spuren von Bruce<br />

Chatw<strong>in</strong> ersche<strong>in</strong>t zu dessen 30-jährigem Todesjahr. Es ist e<strong>in</strong>e filmische Er<strong>in</strong>nerungsreise<br />

an Orte, die wegweisend für das literarische Schaffen Chatw<strong>in</strong>s waren<br />

<strong>und</strong> die er als Reisebuchschriftsteller 1 <strong>und</strong> Novellist so anregend e<strong>in</strong>fängt. Herzog<br />

<strong>und</strong> Chatw<strong>in</strong> treffen sich erstmals 1983 <strong>in</strong> Australien. Herzog, der auf Chatw<strong>in</strong>s<br />

Werke für e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>overfilmungen zurückgreift, dreht gerade se<strong>in</strong>en <strong>Film</strong><br />

Wo die grünen Ameisen träumen (1984), <strong>in</strong> dem es um den Kampf der Landrechtsbewegung<br />

der Aborig<strong>in</strong>es gegen e<strong>in</strong>e Bergbaugesellschaft geht. Chatw<strong>in</strong> geht <strong>in</strong><br />

Australien se<strong>in</strong>er Ahnung von e<strong>in</strong>er »nomadischen Alternative« der Aborig<strong>in</strong>es<br />

nach, die ihn seit Mitte der 1960er Jahre antreibt. Er wird se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>drücke, Begegnungen<br />

<strong>und</strong> Erfahrungen, die sich ihm <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er weiteren Reise nach Zentralaustralien<br />

1984 verdichten, wenig darauf <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternationalen Bestseller<br />

The Songl<strong>in</strong>es (1987) verarbeiten, <strong>in</strong> deutscher Übersetzung 1990 unter dem Titel<br />

Traumpfade veröffentlicht. Herzog erhofft sich vom Austausch mit Chatw<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

bessere E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> die Traumpfade. Beide, Herzog wie Chatw<strong>in</strong>, s<strong>in</strong>d fasz<strong>in</strong>iert<br />

von der Mythenwelt wie der Kommunikationskultur der Aborig<strong>in</strong>es. Die Songl<strong>in</strong>es<br />

gestalten e<strong>in</strong>e Memotechnik aus, die über Gesänge Wissen überliefert <strong>und</strong><br />

Orientierung <strong>in</strong> Raum <strong>und</strong> Zeit zu geben vermag. Die Traumpfade markieren die<br />

mythologischen Spuren der Ahnen, angelegt während ihrer beschwerlichen Wanderungen<br />

durch die entlegenen Gebiete des australischen Kont<strong>in</strong>ents <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

fernen Vergangenheit, die als Traumzeit bezeichnet wird. Die Ahnenspuren bilden<br />

das Herzstück der Aborig<strong>in</strong>e-Gesellschaft, denn sie repräsentieren zugleich<br />

1<br />

Im Unterschied zu fiktionalen Reiseromanen reflektiert die Reisebuchliteratur eigene<br />

Erfahrung, «konstruiert <strong>und</strong> rekonstruiert zugleich bruchstückhaft, aber für den Leser<br />

nachvollziehbar, e<strong>in</strong>en Ausschnitt aus der Vergangenheit des reisenden Autors, der sich<br />

dabei se<strong>in</strong>er Phantasie <strong>und</strong> Inspiration bedient», so Roswitha Schmich, Literarische<br />

Reisen: Bruce Chatw<strong>in</strong>s In Patagonia <strong>und</strong> The Songl<strong>in</strong>es, Egg<strong>in</strong>gen 1994, 13–14.


28 Andreas Heuser<br />

territoriale Rechte, die die Verb<strong>in</strong>dung der Menschen zu Land regeln, <strong>und</strong> ordnen<br />

die regionalen Nachbarschaftsbeziehungen zwischen e<strong>in</strong>zelnen Gruppen. Die<br />

Traumpfade kennzeichnen signifikante Anhaltspunkte <strong>in</strong> der Geographie e<strong>in</strong>er<br />

Landschaft, drücken sich aus <strong>in</strong> Felsmalereien, <strong>in</strong> rituellen Tänzen <strong>und</strong> <strong>in</strong> Liedern.<br />

Songl<strong>in</strong>es kommemorieren somit den Ursprung der Welt, vergegenwärtigen<br />

Ereignisse der Traumzeit, die über die Generationen h<strong>in</strong>weg erweitert werden,<br />

auch um gesellschaftliche Prozesse anzustoßen, Veränderungen umzusetzen<br />

oder auch, um Konventionen im Sozialverhalten zu transformieren.<br />

Herzogs Der Nomade von 2019 versteht sich mehr als e<strong>in</strong>e Hommage an Chatw<strong>in</strong>.<br />

Der filmische Erzählstrang beschreibt e<strong>in</strong>e Seelenverwandtschaft, die sich<br />

Herzog bereits <strong>in</strong> ihrer Erstbegegnung 1983 offenbart. Herzog teilt mit Chatw<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e Leidenschaft zum nomadischen Selbst- <strong>und</strong> Weltverständnis. In unvergleichlicher<br />

Weise, so kommentiert Herzog e<strong>in</strong>gangs, »verarbeitete [Chatw<strong>in</strong>] mythische<br />

Erzählungen zu Reisen der Imag<strong>in</strong>ation«. Dar<strong>in</strong> seien sie »verwandte Geister«.<br />

Wie der <strong>Film</strong>emacher, so jage auch der Schriftseller »wilden Charakteren,<br />

seltsamen Träumen <strong>und</strong> großen Ideen über die Natur der menschlichen Existenz«<br />

nach. »Das«, verdeutlicht Herzog, »s<strong>in</strong>d die Themen, von denen Chatw<strong>in</strong> besessen<br />

war.« 2 In der besonnenen Stimme des Erzählers deutet Herzog die Chatw<strong>in</strong>sche<br />

Enthüllung der menschlichen Existenzfragen als e<strong>in</strong> »zielloses Streben«. Im Unterwegsse<strong>in</strong><br />

selbst habe er sozusagen nach der conditio humana gefahndet <strong>und</strong><br />

als e<strong>in</strong>e Obsession kultiviert. Herzog baut se<strong>in</strong> filmisches Epos um se<strong>in</strong>e eigene<br />

Überzeugung herum auf, die Chatw<strong>in</strong> besonders angesprochen habe: »Die Welt<br />

enthüllt sich denen, die zu Fuß unterwegs s<strong>in</strong>d.« 3<br />

Damit aber favorisiert Herzog e<strong>in</strong>e Deutung der nomadischen Besessenheit<br />

Chatw<strong>in</strong>s, die die religiös konnotierten Anteile <strong>in</strong> dessen Werk mehr oder weniger<br />

ausblendet. Ich wage e<strong>in</strong>e Korrektur dieser Deutung. Der nomadische Antrieb<br />

Chatw<strong>in</strong>s orientiert sich nicht daran, die Welt zu enthüllen – Chatw<strong>in</strong> ist,<br />

so entfalte ich <strong>in</strong> diesem Beitrag, e<strong>in</strong> nomadischer Gottessucher. Vielleicht erahnt<br />

Herzog die religiöse Leerstelle <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Deutung des Lebensverständnisses se<strong>in</strong>es<br />

Fre<strong>und</strong>es Bruce Chatw<strong>in</strong>. Er beschließt se<strong>in</strong>en dokumentarisch angelegten<br />

<strong>Film</strong>essay mit dem H<strong>in</strong>weis auf e<strong>in</strong>en letzten eigenhändigen Tagebuche<strong>in</strong>trag<br />

Chatw<strong>in</strong>s. Diese handgeschriebene Zeile lautet, <strong>in</strong> Anspielung an Jesu Kreuzigung<br />

(vgl. Joh 19,23): »Christus trug e<strong>in</strong> nahtloses Gewand.« In se<strong>in</strong>er ziellosen<br />

Unruhe habe Chatw<strong>in</strong>, legt Herzog aus, nach der rechten Art zu sterben gesucht.<br />

So endet nach acht <strong>Film</strong>kapiteln Herzogs Drehbuch.<br />

Im Folgenden <strong>in</strong>teressiert mich nicht die Frage, wie(so) Herzog die wichtigen<br />

religiösen <strong>und</strong> theologischen Passagen im Werk Chatw<strong>in</strong>s weitgehend ausblendet,<br />

oder aber, so werden wir sehen, verzeichnet. Im Vordergr<strong>und</strong> der wiederum<br />

acht szenischen E<strong>in</strong>schübe steht, wie Chatw<strong>in</strong> selbst sich der Gottesfrage im Zusammenhang<br />

mit se<strong>in</strong>er Nomadentheorie annähert bzw. wie er se<strong>in</strong>e nomadische<br />

2<br />

Alle Zitate s<strong>in</strong>d Orig<strong>in</strong>alkommentare Werner Herzogs aus se<strong>in</strong>em <strong>Film</strong>: Der Nomade:<br />

Auf den Spuren von Bruce Chatw<strong>in</strong>, 2019.<br />

3<br />

Er geht hier auf e<strong>in</strong>e Pilgererfahrung e<strong>in</strong>, beschrieben <strong>in</strong> Werner Herzog, Vom Gehen<br />

im Eis, München 1978 (me<strong>in</strong>e Hervorhebung).


Der Gottesnomade <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e GOD BOX 29<br />

Zivilisationstheorie an der Gottesfrage reibt. Es ist auffällig, dass sich Chatw<strong>in</strong>s<br />

Gedanken zur Gottesfrage <strong>in</strong> der kurzen Zeitspanne um die Veröffentlichung der<br />

Traumpfade herum bis Anfang 1989 verdichten, als Chatw<strong>in</strong> 49-jährig aus dem<br />

Leben gerissen wird. Kurz vor se<strong>in</strong>em Tod konvertiert Chatw<strong>in</strong>, bis anh<strong>in</strong> kirchlich<br />

ungeb<strong>und</strong>en, noch zur Orthodoxie, tief bee<strong>in</strong>druckt von zeitweiligen Aufenthalten<br />

<strong>in</strong> der Mönchsrepublik auf dem Berg Athos. Die ergiebigste Quelle, <strong>in</strong><br />

denen sich theologische Fragmente <strong>und</strong> Gedanken zum nomadischen Ursprung<br />

der Religion f<strong>in</strong>den, s<strong>in</strong>d die Traumpfade selbst. In se<strong>in</strong>em bedeutendsten Werk<br />

spiegelt Chatw<strong>in</strong> auch die christliche <strong>Mission</strong>sgeschichte <strong>in</strong> Zentral-Australien.<br />

Er fördert ausgiebig das Erbe der Hermannsburger <strong>Mission</strong>, <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der<br />

Region um Alice Spr<strong>in</strong>gs, zu Tage, wie auch Religionsdiskurse <strong>in</strong>nerhalb katholischer<br />

<strong>Mission</strong>sorden. Während sich Chatw<strong>in</strong> vor allem aus diesen <strong>Mission</strong>smilieus<br />

für se<strong>in</strong> Konzept der Traumpfade <strong>in</strong>spirieren lässt, spielt für Herzog die<br />

Thematik von Religion <strong>und</strong> <strong>Mission</strong> den Part e<strong>in</strong>er filmischen Nebenrolle.<br />

Die »Reise der Imag<strong>in</strong>ation«, so argumentiere ich ausblickend, stellt e<strong>in</strong>e<br />

Gr<strong>und</strong>frage <strong>in</strong>terkulturell-theologischer Hermeneutik, nämlich die der Übersetzung.<br />

Ersche<strong>in</strong>t Chatw<strong>in</strong> <strong>in</strong> der literaturwissenschaftlich dom<strong>in</strong>ierten Rezeption<br />

als e<strong>in</strong> weltläufiger Luxusnomade, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Texten e<strong>in</strong>en selbstreferenziellen<br />

Diskurs pflegt, deute ich ihn als bricoleur der Gottesfrage. Anders als ihn »zu<br />

e<strong>in</strong>er Kultfigur zeitgenössischer Reiseliteratur <strong>und</strong> der Backpacker-Bewegung« 4<br />

zu stilisieren, formatiert der nomadische Gottessucher Chatw<strong>in</strong> gleichsam e<strong>in</strong>e<br />

Gr<strong>und</strong>frage Interkultureller Theologie: Er versucht sich daran, e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>telligible<br />

Gotteskommunikation über kulturelle <strong>und</strong> sprachliche Barrieren h<strong>in</strong>weg zu betreiben.<br />

Jedoch gebietet se<strong>in</strong> Material, Fremdheitserfahrungen, wie er sie etwa<br />

<strong>in</strong> Traumpfade beschreibt, weder <strong>in</strong> eigene Kategorien e<strong>in</strong>zuschreiben noch als<br />

Alteritätsmarker zu veranschaulichen, vielleicht gar <strong>in</strong> nostalgischer Rekonstruktion<br />

der Traumzeit. Der Gottesnomade, so argumentiere ich, bildet <strong>in</strong> nuce<br />

e<strong>in</strong>e postkoloniale epistemologische Wende <strong>in</strong> der Suche nach S<strong>in</strong>n ab. Diese anerkennt<br />

Begrifflichkeiten, die sich herrschenden epistemologischen Hierarchien<br />

entziehen, dekolonisiert universalisierte westliche Kategorien <strong>und</strong> rekurriert<br />

auf eigenständige Theorierahmungen. 5 Noch aber strebt Chatw<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>s-zu<br />

e<strong>in</strong>s-Vergleichbarkeit von Gottesvorstellungen an <strong>und</strong> erahnt doch zugleich, dass<br />

theologischer S<strong>in</strong>n im <strong>in</strong>terkulturellen Austausch nur vorsichtig entstehen kann<br />

– oder eben auch nicht.<br />

4<br />

Sab<strong>in</strong>e Boomers, »It’s a No-mad Nomad World«: Bruce Chatw<strong>in</strong> als Protagonist<br />

okzidentaler Mobilitätslust, <strong>in</strong>: W<strong>in</strong>fried Gebhardt/Ronald Hitzler (Hg.), Nomaden,<br />

Flaneure, Vagab<strong>und</strong>en: Wissensformen <strong>und</strong> Denkstile der Gegenwart, Wiesbaden 2006,<br />

51–64, 53.<br />

5<br />

Vgl. jüngst Dilip M. Menon (Ed.), Chang<strong>in</strong>g Theory: Concepts from the Global South,<br />

London/New York 2022.


30 Andreas Heuser<br />

Erste Szene: »There must be a God«<br />

Me<strong>in</strong>e theologische Relektüre Chatw<strong>in</strong>s beg<strong>in</strong>nt da, wo Herzogs Hommage endet.<br />

The Songl<strong>in</strong>es, schreibt Chatw<strong>in</strong>, entstehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em »race for time«. 6 Die<br />

Endsequenz der Traumpfade baut sich im Wissen um se<strong>in</strong>en eigenen nahenden<br />

Tod auf. Sie handelt davon, dass drei alte Aborig<strong>in</strong>emänner an ihrem Tjur<strong>in</strong>ga-<br />

Platz sterben. Es bedeutet für sie das Zurückgehen an die Stätte ihrer Geburt, die<br />

Stätte, an der ihr eigener Tjur<strong>in</strong>ga lagert. Mit Tjur<strong>in</strong>gas s<strong>in</strong>d heilige Ahnenhölzer<br />

oder Ahnenste<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>t, die die Gegenwart mit der Traumzeit verb<strong>in</strong>den <strong>und</strong><br />

bezeichnen den Platz, den e<strong>in</strong>e Person <strong>in</strong> den Mythen der Schöpfung e<strong>in</strong>nimmt.<br />

Chatw<strong>in</strong> beobachtet die Szene <strong>und</strong> fühlt sich er<strong>in</strong>nert an e<strong>in</strong>e mystische Erkenntnis,<br />

nämlich die, dass »der ideale Mensch sich se<strong>in</strong>en ›richtigen‹ Tod erwandern<br />

soll. Wer angekommen ist, ›geht zurück‹«. Im Verständnis der Aborig<strong>in</strong>es, fügt er<br />

h<strong>in</strong>zu, bedeute dies Zurückgehen, »sich dah<strong>in</strong> zu s<strong>in</strong>gen, woh<strong>in</strong> man gehört: zur<br />

Stätte der ›Empfängnis‹«. 7 Der letzte Satz der Traumpfade lautet: »Sie wussten,<br />

woh<strong>in</strong> sie g<strong>in</strong>gen. Im Schatten e<strong>in</strong>es Geistereukalyptusbaumes lächelten sie dem<br />

Tod entgegen.« 8 Chatw<strong>in</strong> verfasst diese Passage im Blick auf se<strong>in</strong>e eigene Reise,<br />

die zu Ende geht. Dies bekennt er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Interview kurz nach Publikation der<br />

Songl<strong>in</strong>es: »I wrote that last chapter about three old men dy<strong>in</strong>g <strong>und</strong>er a gum tree,<br />

when I was just about to conk myself. It was done with great speed. […] I just<br />

wrote it straight down […] and that was the end of the book.« 9<br />

Wichtig ersche<strong>in</strong>en mir <strong>in</strong> diesen Passagen die Verweise <strong>in</strong> die Welt der Religion,<br />

die Rückkehrmystik <strong>und</strong> die existenziell-religiöse Erfahrung <strong>in</strong> der Aussicht<br />

auf den Tod. Chatw<strong>in</strong> lebt mit dem permanenten Gefühl der Gefährdung, alles<br />

kann im nächsten Moment enden – doch er bleibt lebenshungrig. Im Frühsommer<br />

1987, soeben s<strong>in</strong>d die Songl<strong>in</strong>es veröffentlicht, reist er auf Drängen von<br />

Herzog nach Ghana. In Ghana soll Chatw<strong>in</strong> den Entstehungsprozess von Cobra<br />

Verde mitverfolgen. Cobra Verde (1989) ist die Verfilmung von Chatw<strong>in</strong>s Roman<br />

The Viceroy of Ouidah (1980), der von e<strong>in</strong>em obskuren brasilianischen Sklavenhändler<br />

an der Westküste Afrikas, exzentrisch besetzt mit <strong>Klaus</strong> K<strong>in</strong>ski <strong>in</strong> der<br />

Hauptrolle, handelt. Aus Sicht Chatw<strong>in</strong>s erfährt se<strong>in</strong> zehntägiger Ghana-Aufenthalt<br />

ke<strong>in</strong>e besondere Würdigung. Beiläufig notiert er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Er<strong>in</strong>nerungen:<br />

»Have been swann<strong>in</strong>g aro<strong>und</strong> <strong>in</strong> Ghana for 10 days […]. In the even<strong>in</strong>gs we would<br />

go to the Ayatollah Dr<strong>in</strong>ks Bar – no credit given!« 10 Birgt die strikte Verweigerung<br />

e<strong>in</strong>es Zahlungsaufschubs e<strong>in</strong>e gleichnishafte Andeutung darauf, dass bei<br />

6<br />

So <strong>in</strong> der posthum erschienenen Essaysammlung Bruce Chatw<strong>in</strong>, What I am Do<strong>in</strong>g<br />

Here, London 1989, 63.<br />

7<br />

Bruce Chatw<strong>in</strong>, Traumpfade, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1992, 393.<br />

8<br />

Chatw<strong>in</strong>, ebd.<br />

9<br />

Michael Ignatieff, An Interview with Bruce Chatw<strong>in</strong>, <strong>in</strong>: Granta 21, Spr<strong>in</strong>g 1987,<br />

23–37, 35.<br />

10<br />

Elizabeth Chatw<strong>in</strong>/Nicholas Shakespeare, Under the Sun: The Letters of Bruce<br />

Chatw<strong>in</strong>, London 2011, 478.


Der Gottesnomade <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e GOD BOX 31<br />

aller Ablenkung e<strong>in</strong> Verdrängen des nahenden Sterbens aussichtlos ist? Chatw<strong>in</strong><br />

ist von Krankheit gezeichnet, aber relativ stabil. Und auch nach Rückkehr<br />

aus Ghana verbessert sich se<strong>in</strong> Zustand leicht, nur um wenig später zu langen<br />

Krankenhausaufenthalten gezwungen zu se<strong>in</strong>. Im Januar 1989 erliegt er se<strong>in</strong>er<br />

AIDS-Erkrankung.<br />

Monate zuvor hatte sich Chatw<strong>in</strong> der Griechisch-Orthodoxen Kirche angeschlossen.<br />

1985 verbrachte er e<strong>in</strong>e Zeitlang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kloster der Mönchsrepublik<br />

auf dem Berg Athos. In se<strong>in</strong>en letzten Lebensmonaten lässt er sich <strong>in</strong> die Orthodoxie<br />

vertieft e<strong>in</strong>führen. In Under the Sun, e<strong>in</strong>er 2010 erschienen Edition von<br />

Briefen <strong>und</strong> Essays Chatw<strong>in</strong>s, f<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong> Foto, das den Blick herab von e<strong>in</strong>em<br />

der orthodoxen Klöster auf dem Berg Athos auf e<strong>in</strong> aufgerichtetes Eisenkreuz,<br />

das sich vom Bergkegel e<strong>in</strong>er vorgelagerten Felsenhalb<strong>in</strong>sel erhebt. Der Anblick<br />

dieses Kreuzes überzeugt Chatw<strong>in</strong> von der Existenz Gottes: »There must be a<br />

God.« 11 Chatw<strong>in</strong> bekennt, dass er sich nicht <strong>in</strong> der Lage fühle, über diese <strong>in</strong>nere<br />

Erfahrung zu schreiben, die er kaum mit se<strong>in</strong>en anderen Entdeckungsreisen zu<br />

vergleichen vermag. »I had no idea it could be like that.« 12 Das nahtlose Gewand<br />

des Gekreuzigten – se<strong>in</strong>e letzte Tagebuchnotiz –, weist auf das rechte Sterben h<strong>in</strong>,<br />

wie es Herzog erahnt. Doch es umfasst e<strong>in</strong>e num<strong>in</strong>ose Konversionserfahrung,<br />

e<strong>in</strong>e gleichsam erhabene Gottese<strong>in</strong>sicht, die ihn, den Sprachkünstler, schweigsam<br />

betroffen macht. Se<strong>in</strong> anonymes Grab f<strong>in</strong>det sich nahe e<strong>in</strong>er mittelalterlichen<br />

orthodoxen Kirche auf dem Peleponnes. 13<br />

Zweite Szene: GOD BOX<br />

E<strong>in</strong>e Gottesfrage trägt Chatw<strong>in</strong> im buchstäblichen S<strong>in</strong>n seit längerem mit sich herum.<br />

In se<strong>in</strong>em Nachlass bef<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e hölzerne Schachtel; er bezeichnet<br />

sie als die GOD BOX. Die gesamte Sek<strong>und</strong>ärliteratur zu Chatw<strong>in</strong> umschweigt<br />

diese Gottesbox, derart erratisch steht sie da. Chatw<strong>in</strong> h<strong>in</strong>terlässt 50 e<strong>in</strong>geb<strong>und</strong>ene<br />

Notizbücher, e<strong>in</strong>ige größere Heftblöcke <strong>und</strong> Tagebuchaufzeichnungen. In all<br />

diesen leicht verstau- <strong>und</strong> tragbaren Blöcken sammelt er unverb<strong>und</strong>ene Gedanken,<br />

fertigt spontane Zeichnungen an <strong>und</strong> hält Erfahrungen fest, die er während<br />

se<strong>in</strong>er Reisen für aufzeichnenswert erachtet. Daneben fotografiert er viel. Weniger<br />

bekannt ist, dass Chatw<strong>in</strong> darüber h<strong>in</strong>aus Gefallen daran f<strong>in</strong>det, Collagen<br />

aus allerlei Materialien, die er irgendwo aufliest, zu basteln. Von diesen Collagen<br />

11<br />

Foto <strong>und</strong> Kommentar f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> Chatw<strong>in</strong>/Shakespeare (s. Anm. 10), gegenüber<br />

283.<br />

12<br />

Chatw<strong>in</strong>/Shakespeare, Under the Sun (s. Anm. 10), 416. Shakespeare zufolge fühlte<br />

sich Chatw<strong>in</strong> angezogen von der liturgischen Ausstrahlung der Orthodoxen Kirche,<br />

Nicholas Shakespeare, Bruce Chatw<strong>in</strong>, London 1999, 452.<br />

13<br />

Die Kirche ist abgelichtet <strong>in</strong> Shakespeare/Chatw<strong>in</strong>, Under the Sun (s. Anm. 10),<br />

gegenüber 435.


32 Andreas Heuser<br />

existiert nur noch e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige, die GOD BOX – alle übrigen zerstört Chatw<strong>in</strong> noch<br />

vor se<strong>in</strong>em Tod selbst.<br />

Sie hat die Form e<strong>in</strong>er größeren Zigarrenkiste <strong>und</strong> trägt die Aufschrift GOD<br />

BOX <strong>in</strong> fettgedruckten, weißen Großbuchstaben. Aus dem Innern des hölzernen<br />

Kästchens, entfernt man die obere Abdeckplatte, blickt e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>e skurrile Mischung<br />

aus tierischen Überresten <strong>und</strong> fetischartigen Objekten entgegen. Die Collage<br />

ist zusammengestellt h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em Schaufenster, e<strong>in</strong>er hellen <strong>und</strong> verschiebbaren<br />

dünnen Glasplatte. Die h<strong>in</strong>tere Innenseite des Kästchens ist <strong>in</strong> blassgrüne<br />

Farbe e<strong>in</strong>getaucht, <strong>in</strong> die weiße l<strong>in</strong>ienförmige Muster e<strong>in</strong>geritzt s<strong>in</strong>d. Die <strong>in</strong>neren<br />

vier Seitenteile s<strong>in</strong>d mit Wellpappe ausgedeckt, stellenweise dürftig ausgekleidet<br />

mit blauen Pfauenfedern. E<strong>in</strong>e Gruppe westafrikanischer »Juju«-Figuren oder<br />

auch sog. »Fetische«, denen magische Kräfte nachgesagt werden, f<strong>in</strong>det sich gegen<br />

die Innenwände aus Pappe ausgerichtet. Es s<strong>in</strong>d hölzerne, zumeist aber tierische<br />

Objekte. Darunter f<strong>in</strong>det sich die Ohrtrommel e<strong>in</strong>es Löwen, e<strong>in</strong> getrocknetes<br />

Chamäleon, die Feder e<strong>in</strong>es Gu<strong>in</strong>eahuhns; zwei Vogelkrallen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Indigotuch<br />

e<strong>in</strong>geschlagen <strong>und</strong> es gibt Reste e<strong>in</strong>es nicht identifizierten <strong>in</strong>neren tierischen Organs.<br />

Von dem Schädel e<strong>in</strong>es Äffchens fehlt heute jede Spur. 14<br />

Die GOD BOX Chatw<strong>in</strong>s ist e<strong>in</strong>e bricolage, oder Bastelei. Nach Lévi-Strauss<br />

lässt e<strong>in</strong>e bricolage e<strong>in</strong> vielschichtiges Netz an Bedeutung <strong>und</strong> Bezügen zu. Es<br />

geht um e<strong>in</strong>e Art Dialog mit e<strong>in</strong>em F<strong>und</strong>us von Materialien, die <strong>in</strong> ihrer Verschiedenheit<br />

nicht von vornehere<strong>in</strong> zweckbestimmt s<strong>in</strong>d, die aber durch e<strong>in</strong>e Zusammenstellung<br />

an Aussagekraft gew<strong>in</strong>nen können. Lévi-Strauss unterscheidet e<strong>in</strong>e<br />

materielle <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e geistige bricolage. Die materielle Bastelei stellt mit beliebig<br />

vorgef<strong>und</strong>enen Materialen neue Ordnungen her, die <strong>in</strong>tellektuelle bricolage überführt<br />

kont<strong>in</strong>gente diskursive Fragmente <strong>in</strong> e<strong>in</strong> S<strong>in</strong>nkonstrukt, von Lévi-Strauss<br />

als das »wilde« oder auch mythische Denken bezeichnet. 15 Auch die GOD BOX<br />

setzt e<strong>in</strong>e Denkbewegung frei. Die Gottesbox be<strong>in</strong>haltet e<strong>in</strong>e rätselhaft komponierte<br />

Schaubühne. Die Aufschrift der GOD BOX <strong>in</strong> großen, klaren Lettern verrät<br />

Chatw<strong>in</strong>s Suchbegriff, um e<strong>in</strong>en F<strong>und</strong>us an wahllos selektierten Materialien zu<br />

korrelieren. Doch täuscht sie e<strong>in</strong>e trügerische Gewissheit vor: E<strong>in</strong>e S<strong>in</strong>n konstituierende<br />

Bedeutung der GOD BOX liegt eben nicht auf der Hand. Ihr offenbar zufällig<br />

angeordneter Inhalt, alle Gegenstände <strong>und</strong> natürlichen Überreste, ergeben<br />

für sich genommen ke<strong>in</strong>e Bedeutung. Ausgestellt auf engstem Raum, widersetzen<br />

sich die E<strong>in</strong>zelbauste<strong>in</strong>e der begrifflichen Taxonomie der Aufschrift. E<strong>in</strong>e Neukonstruktion<br />

von S<strong>in</strong>n erklärt sich weder aus der Addition der E<strong>in</strong>zelteile noch<br />

aus der Betrachtung des Ensembles, denn die Gotteskennung, die die GOD BOX<br />

suggeriert, ist kaum objektivierbar <strong>in</strong> Worte zu fassen. Die trennende Glasplatte<br />

lässt sich als Sichtfenster <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e fremdartige Welt, die der Gottessammler Chat-<br />

14<br />

E<strong>in</strong>e doppelseitige Abbildung der GOD BOX f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> David K<strong>in</strong>g/Francis<br />

Wyndham (Eds.), Bruce Chatw<strong>in</strong>: Photographs and Notebooks, London/Bas<strong>in</strong>gstoke 1996,<br />

16–17. Fälschlich wird im Begleittext das Chamäleon, mit der Fähigkeit, sich im Raum<br />

zugleich nach vorne <strong>und</strong> nach h<strong>in</strong>ten auszurichten, als Gecko identifiziert, der diese<br />

Fähigkeit der Multiperspektivität nicht hat.<br />

15<br />

Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt am Ma<strong>in</strong>, 1968, 31.


Der Gottesnomade <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e GOD BOX 33<br />

w<strong>in</strong> aufgelesen hat, verstehen. Wie e<strong>in</strong> Gatekeeper, e<strong>in</strong>e Wächter<strong>in</strong> am E<strong>in</strong>lasstor<br />

lädt sie zum Verstehen e<strong>in</strong>, um doch nur verzweifelte Assoziationen des/r Betrachtenden<br />

hervorzulocken. Die GOD BOX, obschon als Conta<strong>in</strong>er konstruiert,<br />

irritiert die Deutungsmacht des/r Draufschauenden. Sie verstört durch kaum auflösbare<br />

Verweise auf den unbekannten Gott. Chatw<strong>in</strong>s Gott der GOD BOX bleibt<br />

e<strong>in</strong> nicht e<strong>in</strong>grenzbares, befremdliches Mysterium.<br />

Die Herkunft der GOD BOX führt <strong>in</strong> die Zeit se<strong>in</strong>er ersten Reise nach Westafrika<br />

anfangs der 1970er Jahre. Es ist diese Reise <strong>in</strong> das heutige Ben<strong>in</strong>, auf der<br />

Chatw<strong>in</strong> die historischen Motive für se<strong>in</strong>en Roman The Viceroy of Ouidah f<strong>in</strong>det.<br />

Die mysteriöse GOD BOX wird Chatw<strong>in</strong> kaum an den <strong>Film</strong>set nach Ghana 1987<br />

mitgenommen haben – er bewahrt se<strong>in</strong>e zusammengesetzten objets trouvés im<br />

Normalfall bei sich zu Hause <strong>in</strong> Großbritannien auf.<br />

In se<strong>in</strong>er Besprechung des Gesamtwerks von Bruce Chatw<strong>in</strong> anerkennt der<br />

amerikanische <strong>Literatur</strong>wissenschaftler Patrick Meanor e<strong>in</strong>en religiös-spirituellen<br />

Gr<strong>und</strong>tenor. Doch hält er die religiöse Neugierde Chatw<strong>in</strong>s für den Versuch der<br />

Rekonstruktion e<strong>in</strong>es ausgeblichenen Weltbildes, quasi ohne lebenspraktischen<br />

Bezug. Am stärksten käme dies heraus <strong>in</strong> Traumpfade: »The Songl<strong>in</strong>es is a profo<strong>und</strong><br />

exam<strong>in</strong>ation and analysis of the sacred, or holy, as it is lived and practiced<br />

by a disappear<strong>in</strong>g race or doomed people.« 16 Doch Chatw<strong>in</strong> geht es um weit mehr<br />

als um e<strong>in</strong>e phänomenologische Rekonfiguration des Heiligen; ihm geht es auch<br />

nicht um die religiöse Kuriosität e<strong>in</strong>es dah<strong>in</strong>siechenden, dem Untergang geweihten<br />

Volkes. Chatw<strong>in</strong> ist auf e<strong>in</strong>er Gottesreise der Imag<strong>in</strong>ation, die sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

GOD BOX ausdrückt. Der Gottescode der GOD BOX ist kognitiv nicht zu knacken.<br />

Nur die textuelle Kennzeichnung des Holzkästchens generiert e<strong>in</strong>en kohärenten<br />

Bedeutungszusammenhang, selbst wenn er sich e<strong>in</strong>er Dechiffrierung entzieht.<br />

Die bricolage gemahnt, anders gesagt, an das erste Gebot, hält die Neugierde auf<br />

den unfassbaren Gottesbegriff wach. Wie beim Anblick des Eisenkreuzes auf dem<br />

Berg Athos, so geht es Chatw<strong>in</strong> um den assoziativen Zugang zu e<strong>in</strong>er Gotteserfahrung.<br />

Die Nomadentheorie, der er nachgeht, handelt von se<strong>in</strong>em eigenen, e<strong>in</strong>em<br />

existenziell verspürten Drang, den Zauber der ihn umgebenden GOD BOX auszudeuten.<br />

Chatw<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> Gottesbricoleur.<br />

Dritte Szene: E<strong>in</strong> »Luxusnomade« – religionsentleert<br />

E<strong>in</strong>e Woche vor se<strong>in</strong>er Ghanareise an Herzogs <strong>Film</strong>sets zu Cobra Verde sagt Chatw<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong> Interview mit dem Historiker Michael Ignatieff für die Frühjahrsausgabe<br />

1987 der britischen <strong>Literatur</strong>zeitschrift Granta zu. Es ist e<strong>in</strong> außergewöhnlich<br />

ertragreiches Interview, das geprägt ist durch geschickte Leitfragen, mit denen<br />

Ignatieff Chatw<strong>in</strong> zu Enthüllungen se<strong>in</strong>er weltanschaulichen E<strong>in</strong>flüsse wie auch<br />

biographischer Details herausfordert. Ignatieff, so hat es den Ansche<strong>in</strong>, begründet<br />

hier e<strong>in</strong>e säkular bere<strong>in</strong>igte Lesart des nomadischen Existenzverständnisses bei<br />

16<br />

Patrick Meanor, Bruce Chatw<strong>in</strong>, London/New York 1997, 125.


34 Andreas Heuser<br />

Chatw<strong>in</strong>, die Herzog noch Jahrzehnte später suggeriert. Der dichteste Gesprächsfaden<br />

geht zu den kürzlich erschienenen Traumpfaden.<br />

Chatw<strong>in</strong> beschreibt se<strong>in</strong>e Entdeckung nomadischer Lebensweise als e<strong>in</strong>e Art<br />

Konversionserlebnis – <strong>und</strong> nicht von ungefähr verknüpft er diese biographische<br />

Umkehr mit e<strong>in</strong>er tieferen Gotteserkenntnis. Dies kommt heraus <strong>in</strong> dem Interview.<br />

Bemerkenswert ist, dass Ignatieff – ähnlich Herzog – gerade diesen Konnex<br />

an religiösen Andeutungen überspr<strong>in</strong>gt. Es lohnt sich, dem Interviewhergang<br />

nachzus<strong>in</strong>nen, denn er bildet gleichsam die Schablone der religiösen Entleerung<br />

des Nomaden Chatw<strong>in</strong> à la Herzog.<br />

Zunächst zur Konversionserzählung, die Chatw<strong>in</strong> anbietet: Mitte der 1960er<br />

Jahre, Chatw<strong>in</strong> erwähnt den Kontext des Vietnamkriegs, spürt er das Verlangen,<br />

se<strong>in</strong>e lukrative Position bei Sotheby’s <strong>in</strong> London aufzugeben. Er beabsichtigt, se<strong>in</strong><br />

Leben <strong>in</strong> der prestigebehafteten Kunstwelt, geprägt durch die Detail<strong>in</strong>spektion<br />

e<strong>in</strong>zelner Bilder, durch weitere Horizonte herauszufordern. Auf e<strong>in</strong>er anschließenden<br />

Reise <strong>in</strong> den Sudan fasz<strong>in</strong>ieren ihn die Überlebenstechniken nomadischer<br />

Völker. Die Vitalität, die sie unter selbst widrigsten Bed<strong>in</strong>gungen unter Beweis<br />

stellen, weckt <strong>in</strong> Chatw<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e unersättliche Neugierde. 17 Aus der zufälligen Begegnung<br />

entwickelt sich bald darauf e<strong>in</strong>e nahezu obsessive Leidenschaft für die<br />

»nomadische Alternative«, so der Titel se<strong>in</strong>es 1970 erschienenen ersten Essays,<br />

<strong>in</strong> dem er se<strong>in</strong>e eigene Entwurzelung mit e<strong>in</strong>er Metaphysik des Umherwanderns,<br />

der Umtriebigkeit oder der Rastlosigkeit, wie er es von nun an kategorisiert, auslegt.<br />

Chatw<strong>in</strong> bricht ab jetzt von se<strong>in</strong>em Londoner Domizil regelmäßig zu Weltreisen<br />

auf. Er rekapituliert diesen Bruch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Biographie auch <strong>in</strong> Traumpfade.<br />

Dort verb<strong>in</strong>det er se<strong>in</strong>e Wissbegier auf nomadische Lebensweise mit E<strong>in</strong>sichten,<br />

die er der Religionsgeschichte abgew<strong>in</strong>nt. Er verweist unmissverständlich darauf<br />

h<strong>in</strong>, »daß alle großen monotheistischen Religionen aus dem Hirtenmilieu hervorgegangen«<br />

seien. 18<br />

Die folgende Interviewpassage wird geprägt durch Ignatieffs bohrende Nachfragen<br />

über das Reisen, über den Stellenwert der unentwegten Reisetätigkeit<br />

Chatw<strong>in</strong>s für se<strong>in</strong> literarisches Schaffen. Wiederum bietet Chatw<strong>in</strong> auch religiöse<br />

Sprache an. Er erläutert den Begriff der Reise (»travel«) mit harter Arbeit (»travail«),<br />

Unterwegsse<strong>in</strong> (»journey«) <strong>und</strong> mit Buße (»penance«). Reise bezeichnet<br />

für ihn e<strong>in</strong>en Weg wie auch e<strong>in</strong>e »Wallfahrt« mit der Idee, »die ursprüngliche<br />

Bestimmung des Menschen wiederherzustellen«. 19 Chatw<strong>in</strong> bietet erneut e<strong>in</strong>en<br />

religionsgeschichtlich vergleichenden Antwortversuch an. Er hält sich auf bei der<br />

Wallfahrtsreise, wor<strong>in</strong> er e<strong>in</strong>e archetypische Ausdrucksform des Reisens erblickt.<br />

Exemplarisch benennt er die mittelalterliche Ära christlicher Pilgerwege wie auch<br />

die muslimische Wallfahrt. »The act of walk<strong>in</strong>g through a wilderness was thought<br />

to br<strong>in</strong>g you back to God. …« 20 Die drei Auslassungspunkte <strong>in</strong> der Textform des In-<br />

17<br />

Vgl. Ignatieff, Interview (s. Anm. 9), 25–26. Bei dem nomadischen Volk im Sudan<br />

handelt es sich um die Beja, die <strong>in</strong> Wüstenregionen im Sudan, Ägypten <strong>und</strong> Eritrea leben.<br />

18<br />

Chatw<strong>in</strong>, Traumpfade (s. Anm. 7), 31.<br />

19<br />

Ignatieff, Interview (s. Anm. 9), 27 (me<strong>in</strong>e Übersetzung).<br />

20<br />

Ebd.


Der Gottesnomade <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e GOD BOX 35<br />

terviews lassen sich leicht als e<strong>in</strong> Innehalten, e<strong>in</strong>e kurzzeitige Denkpause deuten.<br />

Es sche<strong>in</strong>t, als ob Chatw<strong>in</strong> den H<strong>in</strong>weis auf den Ursprung der monotheistischen<br />

Religionen, den er <strong>in</strong> Traumpfade liefert, aufgreifen möchte – er will e<strong>in</strong>e theologische<br />

S<strong>in</strong>nlücke im Interview schließen.<br />

Ignatieff h<strong>in</strong>gegen lenkt den Gottesverweis Chatw<strong>in</strong>s um. Er umgeht die religiöse<br />

Bedeutungsfülle des Gesprächs <strong>und</strong> dockt wieder an die Bedeutung des<br />

Reisens für se<strong>in</strong>e Schreibpraxis als technisch-literarischen Prozess an. Ignatieff:<br />

»But is it true that you yourself can’t write unless you travel?« 21 Der sich <strong>in</strong><br />

Chatw<strong>in</strong>s Erläuterungen ankündigende thematische Komplex um die Gottesfrage<br />

wird – vorerst – im weiteren Gesprächsgang nicht vertieft.<br />

Damit formt Ignatieff die Diskussion des literarischen Vermächtnisses von<br />

Chatw<strong>in</strong> vor, <strong>in</strong> der Religion, gar theologische Verweise e<strong>in</strong>e untergeordnete Rolle<br />

spielen. Chatw<strong>in</strong>s wichtigster Biograph, Nicholas Shakespeare, hält fest, dass<br />

sich dessen Neugierde auf Christentum <strong>und</strong> Religion nach se<strong>in</strong>er Jugendzeit,<br />

ganz im Gegensatz zu se<strong>in</strong>er Frau Elizabeth, die zeitlebens praktizierende Katholik<strong>in</strong><br />

bleibt, aufgelöst habe. Immerh<strong>in</strong> erahnt Shakespeare, bei Chatw<strong>in</strong> diff<strong>und</strong>iere<br />

Religion <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Nomadentheorie: »The nearest th<strong>in</strong>g he had to religion was<br />

his theory of restlessness.« 22 Allerd<strong>in</strong>gs wendet auch Shakespeare sich sogleich<br />

von dieser Spurenlegung ab. Er zeigt sich überzeugt, dass die so überaus starken<br />

Motivcluster von Bewegung, Migration, Wanderung bei Chatw<strong>in</strong> Religion letzten<br />

Endes ersetzen.<br />

Feststeht, dass Chatw<strong>in</strong> im Granta-Interview über e<strong>in</strong>e »Rückkehr zu Gott«<br />

nachs<strong>in</strong>nt <strong>und</strong> zwar im Zusammenhang des Unterwegsse<strong>in</strong>s. Hatte Chatw<strong>in</strong> nicht<br />

bereits <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Reisebeschreibung »In Patagonien« von e<strong>in</strong>em »Gott der Wanderer«<br />

gesprochen – <strong>und</strong> dem Unterwegsse<strong>in</strong> gleichsam e<strong>in</strong>e sakramentale Bedeutungsschwere<br />

beigelegt? 23<br />

Dieser Gedanke treibt ihn um. Doch ist es ke<strong>in</strong> Theorierahmen, den er vor<br />

Ignatieff ausbreitet; er stellt sich dem Interview <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Phase existenzieller Betroffenheit.<br />

Das Rennen gegen die Zeit, <strong>in</strong> dem er die Traumpfade schreibt, hält<br />

an. Chatw<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t verunsichert, aber nicht aus der Bahn geworfen. Vielmehr<br />

wendet er sich se<strong>in</strong>em Verständnis der Traumpfade zu, die das Versprechen des<br />

Lebens zum Thema haben. Die Traumpfade eröffnen für Chatw<strong>in</strong> die Welt des<br />

Glaubens. Sie umfassen Schöpfungsmythen, die erneuert werden, <strong>und</strong> bilden e<strong>in</strong><br />

»unsichtbares Labyr<strong>in</strong>th« an orientierenden Wegen. 24<br />

»Und an diesem Punkt muss ich e<strong>in</strong>en Sprung <strong>in</strong> den Glauben machen: <strong>in</strong><br />

Regionen, <strong>in</strong> die mir wohl niemand folgen wird. Ich habe e<strong>in</strong>e Vision von Songl<strong>in</strong>es,<br />

die sich über Kont<strong>in</strong>ente <strong>und</strong> Zeitalter erstrecken: daß, wo immer Menschen<br />

gegangen s<strong>in</strong>d, sie die Spur e<strong>in</strong>es Liedes h<strong>in</strong>terließen«; <strong>und</strong> er führt dies<br />

21<br />

Ebd.<br />

22<br />

Shakespeare, Chatw<strong>in</strong> (s. Anm. 12), 450.<br />

23<br />

Vgl. Jürgen Raithel, Der Gott der Wanderer: Bruce Chatw<strong>in</strong>s postmoderne<br />

Reisebeschreibungen In Patagonia <strong>und</strong> The Songl<strong>in</strong>es, Trier, 1999.<br />

24<br />

Ignatieff, Interview (s. Anm. 9), 31.


36 Andreas Heuser<br />

zurück bis zum ersten Menschen, »der die erste Strophe des Weltenliedes sang:<br />

›ICH BIN!‹« 25<br />

Ignatieff hält die Selbsterkenntnis des Menschen im Weltengesang für e<strong>in</strong>e<br />

e<strong>in</strong>zige Spekulation, der er nichts abgew<strong>in</strong>nen kann. Aus literaturwissenschaftlicher<br />

Perspektive wird Jürgen Raithel später argumentieren, Chatw<strong>in</strong>s Variante<br />

der Traumzeit sei »nichts weniger als e<strong>in</strong> universales man-dream<strong>in</strong>g, e<strong>in</strong> Traum<br />

vom emanzipierten Menschen <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en zivilisatorischen Möglichkeiten«.<br />

Was Chatw<strong>in</strong> als die »erste Strophe des Weltenliedes« bezeichnet, kann <strong>in</strong> der<br />

Interpretation Raithels kaum mehr als das »humanistische, antimetaphysische<br />

Credo« 26 verstanden werden, das die Geburt des Menschen durch se<strong>in</strong> eigenes<br />

Wort, se<strong>in</strong>en eigenen Gesang beschreibt. Ignatieff spricht unverblümt von dem<br />

Ablenkungsmanöver e<strong>in</strong>es materiell gesättigten, an se<strong>in</strong>em Lebensstil jedoch<br />

frustrierten Spießbürgers, der sich e<strong>in</strong>e grandiose Metaphysik se<strong>in</strong>er eigenen<br />

Lebensunruhe zurechtlegt. Ignatieff, e<strong>in</strong> Kanadier, wirft Chatw<strong>in</strong> vor die Füße:<br />

»Come of it, Bruce, the real story is that you’re an Englishman who wanted to get<br />

out of Sotheby’s, who wanted to get out of this bloody little country and see the<br />

world.« 27<br />

Damit s<strong>in</strong>d die Wege zu e<strong>in</strong>em theologischen Verständnis der Traumpfade<br />

geblockt. Das im Ignatieff-Interview sehr früh artikulierte Misstrauen gegenüber<br />

e<strong>in</strong>er religiös begründeten Nomadentheorie bei Chatw<strong>in</strong> verfestigt sich <strong>in</strong> der<br />

jüngeren Rezeption. Die Soziolog<strong>in</strong> Sab<strong>in</strong>e Boomers beschreibt Chatw<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>en<br />

typischen Repräsentanten »okzidentaler Mobilitätslust«. Sie erkennt <strong>in</strong> Chatw<strong>in</strong>s<br />

Neugierde auf nomadische Welterkenntnis die Metapher e<strong>in</strong>es privilegierten Lebensstils,<br />

<strong>in</strong> dem Mobilität als »Verheißung der Moderne« <strong>und</strong> zugleich als »<strong>in</strong>tegraler<br />

Bestandteil neoliberaler Zumutungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er globalisierten Ökonomie« sich<br />

verschränken. 28 »[D]er geradezu manisch reisende <strong>und</strong> erzählende Autor bedarf<br />

der Stimmen der Anderen, um sich immer wieder als e<strong>in</strong>en anderen entwerfen<br />

zu können.« 29 Chatw<strong>in</strong> ist als kosmopolitaner, sich von Zufällen treiben lassender<br />

Luxusnomade 30 stilisiert, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Texten e<strong>in</strong>en selbstreferenziellen Diskurs<br />

entfaltet. Aber: Chatw<strong>in</strong> verweist im Ignatieff-Interview auf e<strong>in</strong>en Sprung <strong>in</strong> den<br />

Glauben, e<strong>in</strong>e Rückkehr zu Gott mehr als auf e<strong>in</strong>en Antrieb zur Selbstentfaltung.<br />

Die drei unkommentierten Auslassungspunkte signifizieren die Bedeutungsoffenheit<br />

der GOD BOX.<br />

25<br />

Chatw<strong>in</strong>, Traumpfade (s. Anm. 7), 378–379.<br />

26<br />

Raithel, Gott der Wanderer (s. Anm. 23), 209.<br />

27<br />

Ignatieff, Interview (s. Anm. 9), 31.<br />

28<br />

Boomers, Nomad World (s. Anm. 4), 51.<br />

29<br />

Ebd., 57.<br />

30<br />

Shakespeare attestiert Chatw<strong>in</strong> e<strong>in</strong> nomadisches Selbstverständnis »de luxe«,<br />

Shakespeare, Chatw<strong>in</strong> (s. Anm. 12), 450.


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ISBN 978-3-374-07362-7 // eISBN (PDF) 978-3-374-07363-4<br />

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