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Epi-Suisse Magazin 02/2023
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FACHARTIKEL
«ES IST HÖCHSTE ZEIT, DASS
WIR DEN BALL VOLLER SCHULD-
GEFÜHLE ZURÜCKWERFEN»
Schuldgefühle können für Eltern von epilepsiebetroffenen Kindern sehr belastend sein, da sie das Gefühl haben,
dass sie die Erkrankung verursacht haben könnten oder dass sie nicht genug tun, um die Symptome zu lindern.
Sara Satir ist Coach, Seminarleiterin, Kolumnistin und selber Mutter eines betroffenen Kindes.
Wie verbreitet sind Schuldgefühle
bei Angehörigen von Epilepsiebetroffenen
und welche Faktoren
können dazu beitragen?
Bei mir in der Praxis erlebe ich viele Eltern
von kranken oder beeinträchtigten
Kindern, die von Schuldgefühlen geplagt
werden. Dazu können verschiedene Faktoren
führen: zum Beispiel, wenn es sich
um eine Erbkrankheit handelt, an der das
Kind erkrankt ist. Die Eltern fragen sich,
ob sie etwas weitergegeben haben. Viele
Mütter fragen sich, ob sie während der
Schwangerschaft etwas falsch gemacht
haben. Das sind aber immer irrationale
Schuldgefühle, die medizinisch nicht auf
Fakten beruhen. Trotzdem haben sehr
viele Eltern von betroffenen Kindern damit
zu kämpfen. Auch von vielen Eltern
höre ich oft die Frage, ob sie genug für ihr
Kind machen. Könnte man in der Begleitung
etwas anders machen? Braucht mein
Kind mehr oder weniger Therapien? Auch
Eltern mit gesunden Kindern kennen diese
Fragen und Sorgen. Aber bei kranken oder
beeinträchtigten Kindern erhöhen sich die
Schuldgefühle klar. Spezifisch bei Kindern,
die von Epilepsie betroffen sind, fragen
sich die Eltern häufig, hätte man den Anfall
verhindern können oder was haben sie
falsch gemacht, dass der Anfall überhaupt
ausgelöst wurde?
Andererseits gibt es aber auch Eltern, die
keine Schuldgefühle haben, und die sind
nicht «komisch» oder «abnormal».
Wie können Angehörige von
Epilepsiebetroffenen besser mit
der Unsicherheit und den Sorgen
umgehen, die mit dieser Erkrankung
einhergehen können?
Sehr wichtig ist, dass man nicht immer
nur die Erkrankung oder Beeinträchtigung
des Kindes sieht, sondern sich auch darauf
konzentriert, was das Kind alles kann
und was man mit ihm Schönes erlebt. Diese
Glücksmomente festzuhalten, kann in
schwereren Zeiten sehr stärkend sein. Es
fördert die Resilienz. Wichtig ist auch, dass
man sich Hilfe holt und diese annimmt. Ein
Sprichwort sagt: «Es braucht ein ganzes
Dorf, um ein Kind grosszuziehen.» Bei einem
kranken oder beeinträchtigten Kind
braucht es ein noch grösseres Dorf.
Was sind weitere Herausforderungen,
die bei Angehörigen
von Epilepsiebetroffenen
Schuldgefühle auslösen?
Abgesehen von dem bereits Gesagten,
kann es eine grosse Herausforderung
sein, den Spagat zwischen den Bedürfnissen
des betroffenen Kindes, den Bedürfnissen
der Geschwister und den eigenen
Bedürfnissen zu finden. Häufig haben Eltern
auch Schuldgefühle den Geschwistern
des betroffenen Kindes gegenüber.
Man sollte die Probleme offen und ehrlich
ansprechen, nichts beschönigen und bei
Bedarf professionelle Hilfe in Anspruch
nehmen.
•
Welche Art von Unterstützung und
Ressourcen gibt es für Angehörige
von Epilepsiebetroffenen, die
unter Schuldgefühlen leiden, und
wo können sie Hilfe finden?
Ich empfehle, sich mit anderen Eltern von
betroffenen Kindern zu vernetzen. Das
nimmt das Gefühl vom Alleinsein. Wenn
mal Schuldgefühle alleine trägt, verstärken
sie sich. Im Coaching oder in der Therapie
darüber reden. Sich nicht schämen
oder denken, man sei komisch, dass man
diese Gefühle hat. Es gibt auch viele gute
Bücher zu dieser Thematik. Ich versuche,
meinen Klientinnen und Klienten Mut zu
machen, darüber zu reden. Für viele ist
es immer noch ein Tabuthema. Auch mit
Ärzten sollte man darüber reden. Diese
machen manchmal unbedachte Aussagen,
welche die Schuldgefühle verstärken. Da
sollte man klar hinstehen und die Schuld
von sich weisen. Es ist höchste Zeit, dass
wir den Ball voller Schuldgefühle zurückwerfen.
Denn als Eltern von kranken oder
beeinträchtigten Kindern trägt man sonst
schon genug.
Im November leite ich den Kurs «Selbstfürsorge
im Familiensystem» von Epi-
Suisse. Dort werden Denkanstösse und
praxisnahe Techniken vorgestellt, die sich
gut im Alltag umsetzen lassen, und sei er
noch so hektisch. Auch bleibt Raum und
Zeit für die Eltern, sich auszutauschen.
INTERVIEW: CAROLE BOLLIGER
Vollständiges Interview
«IN DEN ERSTEN JAHREN FÜHLTE
ICH MICH DAUERSCHULDIG»
«Haben Sie in der Schwangerschaft getrunken
oder geraucht?», fragte mich die
Ärztin bei einer Entwicklungskontrolle.
«Nein, habe ich nicht. Obwohl: Einmal, auf
einer Hochzeit, hatte ich einen Schluck
Sekt. Ich war im fünften Monat schwanger.
Könnte es sein, dass dies der Grund
für seine Behinderung ist?» Obwohl die
Ärztin dies verneinte, blieb in mir ein Gefühl
der Schuld zurück. Auf dem Nachhauseweg
versuchte ich mich fieberhaft zu
erinnern, ob ich sonst noch etwas getan
hatte, was vielleicht zur Behinderung meines
Sohnes geführt haben könnte. Hatte
ich Käse aus Rohmilch gegessen? Hatte
ich mich zu wenig ausgeruht, zu viel Zucker
konsumiert, zu wenig Vitamine genommen?
Oder war es die Geburt? Ich
hatte mir eine möglichst natürliche Geburt
gewünscht, die Ärzte empfahlen eine
PDA. Weil es nicht voranging, stimmte ich
zu. Hätte ich mich mehr wehren sollen?
Meine Gedanken drehten sich im Kreis.
Der Quälgeist wurde immer lauter. «Vielleicht
ist etwas in deinem Körper kaputt?»
Quälgeist in meinem Kopf hatte auch
andere Ideen. Er flüsterte: «Könntest du
mit ihm nicht häufiger in die Physiotherapie
gehen? Dann wäre seine Fussstellung
bestimmt besser.» Oder: «Hättest du
dich nur früher bei der Autismusberatung
angemeldet, er würde leichter zurechtkommen.»
Und: «Warum versuchst du
nicht, mehr Logotherapie-Übungen in
den Alltag einzubauen? Dann wäre sein
Speichelfluss schwächer.»
In den ersten Lebensjahren meines Sohnes
fühlte ich mich dauerschuldig. Obwohl
ich rational wusste, dass meine Schuldgefühle
unbegründet waren und mir dies
auch mehrere Ärzte bestätigten, signalisierten
meine Gefühle etwas anderes.
«DIE SCHULDFRAGE
STEHT IMMER IM RAUM,
WENN EIN KIND VON
DER NORM ABWEICHT.»
Lesen Sie das ausführliche Interview
mit Sara Satir auf unserer Website
unter www.epi-suisse.ch/
eltern-und-schuldgefuehle
in den Arm nehmen oder mit ihnen kuscheln.
Mit dem Mangel an mütterlicher
Wärme wurde die Entstehung von Autismus
begründet. Dieser Mythos ist einer
von vielen, der Müttern die alleinige Verantwortung
für das Gedeihen ihrer Kinder
auflädt. Es hat strukturelle Gründe, dass
Mütter besonders von Schuldgefühlen
geplagt werden.
Dieses Bewusstsein hilft mir im Umgang
mit meinen Gewissensbissen. Wann immer
der Quälgeist mir Schuldgefühle
einflüstern will, versuche ich, ihm eine
bestärkende innere Stimme gegenüberzustellen.
Ich stelle sie mir als eine gute
Freundin vor, die sagt: «Alle Entscheidungen,
die du bis jetzt für deinen Sohn getroffen
hast, waren Entscheidungen aus
Liebe. Und das ist immer gut genug.»
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SARA SATIR
ist Coach, Seminarleiterin,
Kolumnistin und Mutter eines
betroffenen Kindes.
Nicht nur der Gedanke, etwas falsch gemacht
zu haben, das seine Behinderung
ausgelöst hatte, begleitete mich. Der
Bis in die Sechzigerjahre wurde in der Bindungstheorie
der Begriff «Kühlschrankmutter»
verwendet. Er bezeichnete
Mütter, die ihre Kinder zu wenig trösten,
SARA SATIR
schreibt regelmässig im Migros Magazin
eine Kolumne. Die Kolumne in diesem Magazin
wurde bereits schon veröffentlicht.
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