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Reden heisst<br />
leben<br />
Christian ist ein lebhaftes, dunkelhäutiges Kerlchen, das mit grosser<br />
Geschwindigkeit und Wendigkeit im Zeug herumkriecht. Im Laufgitter<br />
verhält er sich ziemlich ruhig und beschäftigt sich mit dem Spielzeug;<br />
soviel als möglich soll er aber seine «Freiheit» ausserhalb des<br />
Gitters geniessen können, mindestens wenn die Pflegemutter mit<br />
einer Handarbeit dabei sitzt.<br />
Clara Reust, Akten Pro Juventute, 1967<br />
Um mich unter die Erde zu bringen, braucht es zwei Gräber.<br />
Eines für meine Klappe, ein anderes für den Rest.<br />
Ich rede viel, weil ich viel denke. Gleichzeitig. Eigentlich<br />
denkt es von selbst. Bevor ich einen Satz zu Ende sagen kann,<br />
schiebt das Hirn den nächsten auf die Zunge. So purzeln zwei<br />
Sätze nebeneinander in die Welt hinaus. Mein Gehirn merkt<br />
dies und schickt eine Berichtigung hinterher. Ein Satzgewitter<br />
baut sich auf.<br />
In seinem Donnergrollen hallt meine Kindheit nach. Versorgt,<br />
verbrüht, ignoriert, geschlagen. Gewalt, Machtmissbrauch,<br />
Unrecht. Wind wirbelt meine Jugenderinnerungen<br />
durcheinander. Erniedrigung, Verzweiflung, Trotz, Widerstand,<br />
Verweigerung, Ausbruch, Exzess, Absturz. Der Regen peitscht<br />
meine Hoffnungen und Sehnsüchte hinunter. Nähe, Bindung,<br />
Familie. Wissen, wer ich bin. Dazugehören. Ernst genommen<br />
werden. Ich. Am Ende verfliessen sie alle. Dann blitzt es.<br />
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