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Standpunkt 568, 3. November 2023

Eine Publikation der Wirtschaftskammer Baselland

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<strong>3.</strong> <strong>November</strong> <strong>2023</strong> RATGEBER <strong>Standpunkt</strong> der Wirtschaft | 11<br />

KOLUMNE<br />

Das Ende der alten Selbstverständlichkeiten?<br />

Wir Menschen gehen davon aus, dass das, was unsere<br />

persönlichen Erfahrungen und Karriereschritte geprägt<br />

hat, das Normale und Gültige ist. Auch für die anderen.<br />

Und immer so weitergehen wird. Das ist verständlich,<br />

aber nicht gerade vernünftig. Und eine Illusion.<br />

Nietzsche meinte: Menschen lieben Illusionen, das<br />

komme aber teuer zu stehen. Und die Wahrheit zu sagen,<br />

könnte leider noch teurer werden. Man möge hier an Fehleinstellungen<br />

im Unternehmen, oder im Privaten an Scheidungen<br />

denken.<br />

Hegel meinte: die Geschichte lehrt uns, dass wir Menschen<br />

nichts aus der Geschichte lernen. Jede Generation<br />

scheint ihre eigenen Bedürfnisse zu optimieren – und dieselben<br />

Fehler, etwa in der Führung, zu wiederholen. Immer<br />

wieder.<br />

Wir sagen zwar auch, wir müssen uns ändern. Weil sich<br />

der Markt, die Kunden ändern. Aber gemeint ist: Ändern<br />

sollen sich alle anderen – nur nicht ich selbst. Wir sind<br />

Weltmeister im Verdrängen, Verschieben, Verniedlichen:<br />

nach meiner Pensionierung. Nach meiner Amtszeit. Nicht<br />

in meiner Gemeinde. Nicht in meinem Kanton.<br />

Was aber, wenn alle so denken? Vielleicht haben wir<br />

uns einfach zu sehr auf die erfolgreichen «Systeme» verlassen.<br />

Die starken Strukturen, in denen ich mich bewege.<br />

Die Technik, die die Arbeit erledigt. Oder schlicht der<br />

Wohlstand, der schläfrig gemacht hat. Daneben lauern<br />

überall schwarze Schwäne oder gar schwarze Elefanten.<br />

Gemäss dem Neurowissenschafter Anil Seth ist unser<br />

Gehirn am ehesten mit einer Vorhersagemaschine vergleichbar,<br />

die aus der Vielzahl von Eindrücken, die auf<br />

uns niederprasseln (Informationen, Sinneseindrücke),<br />

hochselektiv das herauspickt, was unsere Meinung bestärkt.<br />

Es geht also nicht um Angemessenheit oder gar<br />

Wahrheit, sondern vielmehr um kontrollierte neuronale<br />

Halluzinationen, die situativ unserem Überleben dienen<br />

sollten. Wir machen permanent Annahmen, von denen<br />

wir davon ausgehen, dass sie uns dienen. Und passen sie<br />

sofort wieder an, wenn die Umstände sich ändern. Wir<br />

«WIR LEBEN ALSO IN EINER BUBBLE,<br />

ZUMEIST MIT MENSCHEN,<br />

DIE ÄHNLICH DENKEN UND HANDELN.»<br />

Dr. David Bosshart*<br />

leben also in einer Bubble, zumeist mit Menschen, die<br />

ähnlich denken und handeln. Das hat aber weitreichende<br />

Folgen. Wir sind sehr schlecht im Erkennen von wirklichen<br />

Veränderungen, geschweige denn in der Umsetzung<br />

von notwendigen Reformen oder gar Transformationen.<br />

Je grösser der Wandel, desto gefährlicher die Situation und<br />

desto verrückter die Folgen. Wie gerade jetzt.<br />

Ein herausragendes Beispiel und grossartiger Lernstoff<br />

sind das Ende der Sowjetunion in den Achtzigern, wie<br />

von Alexei Yurchak beschrieben: Alles war für immer –<br />

bis es nicht mehr da war (Everything was forever, until it<br />

was no more: The last Soviet Generation, 2006). Die Menschen<br />

lebten in Stimmungen, Täuschungen, selbstzerstörerischen<br />

Wahrnehmungen über die eigene Realität. Jeder<br />

Mensch schien zu ahnen, dass das System völlig krank<br />

ist. Aber NIEMAND konnte sich ernsthaft eine Alternative<br />

vorstellen, die über den Status Quo hinausginge. Politik<br />

und Bürger, Unternehmen und Mitarbeiter ergaben sich<br />

dem Schicksal, arrangierten sich mit unterschied lichen<br />

Strategien. Und hielten unermüdlich die Behauptung aufrecht,<br />

dass alles völlig normal funktioniere.<br />

Yurchak nennt es Hypernormalisierung, weil mit der Zeit<br />

die Täuschungen zu einer «Self Fullfilling Prophecy» wurden<br />

– Fake war normal. Und für die Menschen im System<br />

erschien ein möglicher Kollaps beides: völlig unerwartet<br />

und völlig unüberrascht. Man kann also nicht einfach sagen,<br />

die Menschen seien blind der Regierung gefolgt, oder<br />

sie hätten einfach nur Angst gehabt. Sie folgten einfach<br />

den Ritualen, mit sehr unterschiedlichen Gefühlen und<br />

Einstellungen. Viele lebten auch in Parallelwelten und mit<br />

unterschiedlichen Identitäten und Spielräumen.<br />

Noch vor der Pandemie hat der serbische Ökonom<br />

Branko Milanovic, im Kalten Krieg in Jugoslawien aufgewachsen<br />

und heute in den USA lehrend, bemerkenswerte<br />

Aussagen gemacht: Trump sei nur Gorbatschow. Merkel<br />

nur Honecker. Theresa May nur Jaruzelski. Und Macron<br />

nur Nicolae Ceausescu. Ich dachte zuerst, der ist nicht<br />

ganz bei Trost. Aber wenn man genauer hinschaut ...<br />

Lehre daraus: Wir Menschen, das scheint mir für den reichen<br />

Westen speziell zu gelten, sind überaus fähige Nichtanpasser.<br />

Die Realität kümmert uns nicht. Wir machen<br />

mit unseren Ritualen immer weiter, solange es geht. Und<br />

notfalls ändern wir einfach die Worte und Slogans, nicht<br />

aber unsere Taten. Anschauungsmaterial bietet die grüne<br />

Transformation. Norwegen wird das Wort Petroleum aus<br />

seinem Energieministerium entfernen. Und sogar die<br />

Saudis haben mittlerweile ihr Energieministerium so umbenannt,<br />

dass alles, was mit der fossilen Welt zu tun hat,<br />

nicht mehr vorkommt. Obwohl energisch weitergedrillt<br />

und die Suche nach neuen Ölquellen im Wettbewerb<br />

immer weitergeht. Die alte Normalität läuft weiter ... Der<br />

Wandel kommt dann schon. Völlig unerwartet und völlig<br />

unüberrascht ... Honni soit qui mal y pense.<br />

Dr. David Bosshart ist Gründer von Bosshart & Partners, Präsident<br />

der Duttweiler-Stiftung und Intl. Advisory Board Member in Retail,<br />

Hospitality und Akademie.<br />

Der Autor gibt seine eigene Meinung wieder. Diese muss sich nicht<br />

mit jener der Wirtschaftskammer decken.<br />

RATGEBER RECHT – Bei der Ausschreibung eines Auftrags sollte die Behörde neben der Gewichtung des Preises auch die anzuwendende<br />

Preiskurve bekannt geben. Dies fördert die Akzeptanz des Zuschlagentscheids und reduziert die Gefahr eines Beschwerdeverfahrens.<br />

Preisgewichtung und Preiskurve im Beschaffungsrecht<br />

Dr. Dominik Rieder Andreas Dürr Alexander Heinzelmann David Hug Markus Prazeller Philipp Rupp<br />

LEGAL-TEAM<br />

Die Wirtschaftskammer Baselland<br />

steht ihren Mitgliedern für eine juristische<br />

Erstberatung zur Verfügung.<br />

Im Submissionsverfahren gilt der<br />

Preis entweder als einziges oder<br />

zumindest als massgebliches Zuschlagskriterium.<br />

Offeriert ein Anbieter<br />

seine Leistung zu einem hohen<br />

Preis, wird er Mühe haben, den<br />

Zuschlag zu erhalten.<br />

Aber nicht nur der angebotene<br />

Preis entscheidet über Erfolg oder<br />

Misserfolg, sondern auch die Gewichtung<br />

desselben sowie die von<br />

der Behörde angewandte Preiskurve.<br />

Bei der Gewichtung des Preises und<br />

bei der Gestaltung der Preiskurve ist<br />

die ausschreibende Behörde an<br />

Rahmen bedingungen gebunden.<br />

Gewichtung des Preises<br />

Hier gilt folgender Grundsatz: Je<br />

standardisierter die ausgeschriebene<br />

Leistung, desto höher ist die Gewichtung<br />

des Preises. Möchte die Behörde<br />

zum Beispiel Diesel beschaffen,<br />

wird der Preis mit grosser Wahrscheinlichkeit<br />

mit 100 Prozent gewichtet<br />

werden, da jeder Lieferant<br />

denselben Diesel liefern wird. Entsprechend<br />

wird das preislich tiefste<br />

Angebot den Zuschlag erhalten.<br />

Soll demgegenüber z.B. ein Löschfahrzeug<br />

für die Feuerwehr beschafft<br />

werden, kann der Preis nicht das alleinige<br />

Zuschlagskriterium sein. Vielmehr<br />

werden weitere Kriterien, zusammen<br />

mit dem Preis, formuliert<br />

und gewichtet werden (z.B. Garantieumfang,<br />

jährlicher Wartungsaufwand,<br />

Gesamtgewicht des Fahrzeugs,<br />

Grösse des Löschwassertanks usw.).<br />

Entsprechend wird das Preiskriterium<br />

nicht mit 100 Prozent, sondern gegebenenfalls<br />

nur mit 30 Prozent gewichtet<br />

werden. Das wirtschaftlich<br />

günstigste Angebot (oder nach künftigem<br />

Recht: das vorteilhafteste Angebot)<br />

kann unter Berücksichtigung<br />

aller Zuschlagskriterien damit auch<br />

das Angebot mit dem höchsten Preis<br />

werden.<br />

Anwendbare Preiskurve<br />

Je höher die Gewichtung des Preises,<br />

desto steiler ist die Preiskurve anzusetzen,<br />

damit die Gewichtung des<br />

Preiskriteriums nicht verwässert<br />

wird. Wird der Preis zum Beispiel<br />

mit 80 Prozent gewichtet und erhält<br />

ein Anbieter, welcher die Leistung<br />

zu einem mit 50 Prozent höheren<br />

Preis anbietet, beim Zuschlagskriterium<br />

Preis noch immer 90 Prozent<br />

der möglichen Punkte, unterläuft die<br />

Preiskurve die bekannt gegebene Gewichtung<br />

des Preises, was den Zuschlag<br />

anfechtbar macht. Widerspricht<br />

die Preiskurve in anderer<br />

Weise der bekannt gegebenen Gewichtung<br />

des Preises (z.B. durch<br />

eine grobe Skalierung usw.), führt<br />

dies ebenfalls dazu, dass der Zuschlagsentscheid<br />

anfechtbar wird.<br />

Empfehlenswert ist deshalb, nicht<br />

nur die Gewichtung des Preises, sondern<br />

auch die anzuwendende Preiskurve<br />

in der Ausschreibung bekannt<br />

zu geben. So können Anbieter von<br />

Anfang an erkennen, wie die Preisangebote<br />

bewertet werden und welche<br />

Folge ein hoher Preis bei der Bewertung<br />

haben wird. Diese Bekanntgabe<br />

fördert die Akzeptanz des Zuschlagentscheids<br />

und reduziert die<br />

Gefahr eines Beschwerdeverfahrens,<br />

was wiederum das Risiko von Zusatzkosten<br />

und einer Verzögerung der<br />

Auftragserteilung minimiert.<br />

Philipp Rupp ist Mitglied des Legal-Teams<br />

der Wirtschaftskammer Baselland.<br />

Das Legal-Team von sechs Rechtsanwälten<br />

im Haus der Wirtschaft<br />

in Pratteln wird von Dr. Dominik<br />

Rieder geleitet und besteht weiter<br />

aus Markus Prazeller und<br />

David Hug (Wagner Prazeller Hug<br />

AG), Alexander Heinzelmann<br />

(Heinzel mann & Levy), Philipp<br />

Rupp (Rupp Meier Rechtsanwälte)<br />

und Andreas Dürr (Battegay Dürr<br />

AG).<br />

Die Mitglieder des Legal-Teams<br />

schreiben im <strong>Standpunkt</strong> der Wirtschaft<br />

in der Rubrik «Ratgeber<br />

Recht» regelmässig über aktuelle<br />

rechtliche Themen.<br />

Kontakt zum Legal-Team:<br />

Wirtschaftskammer Baselland<br />

Mathias Welti<br />

Leiter KMU Beratungen<br />

Hardstrasse 1<br />

4133 Pratteln<br />

Telefon: 061 927 65 94<br />

E-Mal: m.welti@kmu.org<br />

IMPRESSUM<br />

Herausgeber ⁄ Verlag: Schweizerischer Gewerbeverband sgv,<br />

Schwarztorstrasse 26, Postfach 8166, 3001 Bern,<br />

Tel. 031 380 14 14, verlag@sgv-usam.ch<br />

Redaktion sgz: Schwarztorstrasse 26, 3007 Bern<br />

Tel. 031 380 14 14, redaktion@sgv-usam.ch<br />

Regionalbund «<strong>Standpunkt</strong>»<br />

Herausgeber: Wirtschaftskammer Baselland<br />

Arbeitgeber Baselland, Unabhängiges Podium für eine<br />

liberale Wirtschaft und Gesellschaft, Haus der Wirtschaft,<br />

Hardstrasse 1, 4133 Pratteln<br />

Tel. 061 927 64 64, Fax 061 927 65 50<br />

www.kmu.org, standpunkt@kmu.org<br />

Verantwortung: Christoph Buser, Direktor<br />

Redaktion/Umbruch: Reto Anklin, Patrick<br />

Herr, Adrian Jäggi<br />

Produktion: IWF, Hardstrasse 1, 4133 Pratteln<br />

Abonnement im Mitgliederbeitrag inbegriffen<br />

Adressänderungen: standpunkt@kmu.org<br />

Der Abdruck von Textbeiträgen mit vollständiger<br />

Quellenangabe ist erlaubt.

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