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Nancy R. Pearcey: Die ganze Wahrheit

Nancy R. Pearcey Die ganze Wahrheit Das Christsein aus der weltanschaulichen Gefangenschaft befreien

Nancy R. Pearcey
Die ganze Wahrheit
Das Christsein aus der weltanschaulichen Gefangenschaft befreien

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Kapitel 1 · Aus dem Raster ausbrechen<br />

Der Fehler liegt im Denken, es gebe so etwas wie unvoreingenommene,<br />

neutrale Theorien, die nicht mit religiösen oder philosophischen<br />

Annahmen behaftet sind. Wir wissen natürlich, dass im<br />

heiligen Bereich jede Gruppe ihre religiösen Ansichten hat: Christen,<br />

Juden, Muslime, New Ager usw. Aber im säkularen Bereich<br />

wird oft gemeint, wir alle hätten Zugang zu neutraler Erkenntnis,<br />

die nicht von religiösen oder philosophischen Werten beeinflusst ist.<br />

<strong>Die</strong> Ironie liegt darin, dass dieses Ideal selbst das Produkt einer<br />

bestimmten philosophischen Tradition ist. <strong>Die</strong> Ansicht, es sei<br />

möglich, den Verstand von allen früheren Annahmen und religiösen<br />

Bindungen zu befreien, um zu den reinen, ungeschminkten<br />

<strong>Wahrheit</strong>en der »Vernunft« vorzudringen, stammt aus der Aufklärung.<br />

Sie wurde im 17. Jahrhundert sehr eindringlich von René<br />

Descartes formuliert, den man oft für den ersten Philosophen der<br />

Moderne hält. Der Weg zur <strong>Wahrheit</strong>sfindung, so Descartes, bestehe<br />

darin, den Verstand von allem zu befreien, was angezweifelt<br />

werden kann, bis man schließlich den Felsen der <strong>Wahrheit</strong><br />

erreicht, den man keinesfalls mehr bezweifeln kann. Er glaubte,<br />

selbst tief genug bis zu diesem untrüglichen Felsen gegraben zu haben,<br />

und formulierte seine berühmte Aussage: »Cogito, ergo sum!«<br />

(»Ich denke, also bin ich«). Auch wenn wir alles andere anzweifeln,<br />

steht zumindest fest, dass wir auch beim Zweifeln denken. Darum<br />

ist das Sicherste, was wir wissen können, die Existenz des denkenden<br />

Subjekts.<br />

Es kam die Vorstellung auf, das Denken des Menschen – seine<br />

Vernunft – könne durch eine Methode des systematischen Zweifelns<br />

zu gotthafter Objektivität und Gewissheit gelangen. In einem<br />

meiner Philosophiekurse am College definierte der Professor Objektivität<br />

gerne als »Sichtweise Gottes«. Obwohl er kein Gläubiger<br />

war, war sein springender Punkt, dass wahre Objektivität nur von<br />

einem Wesen erreicht werden könnte, das über diese Welt erhaben<br />

ist, sie transzendiert, und von allem weiß, wie es wirklich ist. <strong>Die</strong><br />

Hybris der Aufklärung lag in dem Denken, die Vernunft sei solch<br />

eine transzendente Kraft, die unfehlbare Erkenntnis liefern kann.<br />

<strong>Die</strong> Vernunft wurde geradezu zu einem Götzen und übernahm die<br />

Stellung Gottes als Quelle aller Erkenntnis.<br />

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