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Bachfest 2024

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8 30. INTERNATIONALES BACHFEST 30. April <strong>2024</strong><br />

9<br />

Im Interview mit dem «Bock» berichtet Andreas Jud über die Komplexität des Kulturgutes Orgel. Und führt ins Innere des gewaltigen Instruments<br />

Organist Andreas Jud im Porträt: «Die Orgel bedeutet mir die Welt»<br />

Seit seiner Kindheit sitzt<br />

Andreas Jud an der Orgel. Am<br />

<strong>Bachfest</strong> will er seine Leidenschaft<br />

für das Instrument<br />

im Rahmen der Reihe «Bach<br />

entdecken» an interessierte<br />

Kinder weitergeben. Dabei<br />

nimmt er sie nicht nur auf<br />

eine musikalische Reise mit,<br />

sondern führt sie bis ins<br />

Innere des Instruments.<br />

Claudia Riedel<br />

Schaffhausen. Vier Köpfe neigen sich<br />

über einen kleinen Holzbaukasten und<br />

studieren Anleitungen. In der Kirche<br />

St. Johann in Schaffhausen leitet Organist<br />

Andreas Jud eine private Gruppe<br />

beim Orgelbau an. Die Mini-Orgel ist<br />

brandneu. Auch für Andreas Jud ist<br />

es sozusagen ein Testlauf. An einem<br />

Workshop im Rahmen von «Bach<br />

entdecken», dem <strong>Bachfest</strong> für Kinder,<br />

wird er die kleine Orgel das erste Mal<br />

mit einer Schülergruppe aufbauen. Es<br />

ist eine knifflige Aufgabe – auch für die<br />

Erwachsenen, wie sich heute zeigt.<br />

Hätte auch Lokführer werden können<br />

Andreas Jud ist Hauptorganist im<br />

Münster Allerheiligen und der Kir-<br />

che St. Johann. An der Orgel sitzt der<br />

Ostschweizer seit frühester Kindheit.<br />

«Wenn mein Vater sonntags die Orgel<br />

spielte, sass ich daneben auf der<br />

Bank.» Je älter er wurde, umso mehr<br />

durfte er mithelfen. «Anfangs nur die<br />

Noten umblättern, dann mal die Pedale<br />

drücken.»<br />

Zwar interessierte er sich schon<br />

früh für die Orgel. Genauso gut hätte<br />

er aber Lokführer werden können. Der<br />

Beruf gefällt ihm noch heute: «Eine<br />

grosse Maschine bewegen und auf sich<br />

alleine gestellt sein.» Genauso wie beim<br />

Orgelspielen. Denn den direkten Kontakt<br />

hat er auch mit seinen Zuhörern<br />

nicht, das ist ihm aber ganz recht: «Ich<br />

exponiere mich nicht so gerne.» Die<br />

Konzertbesucher würden ihn jeweils<br />

fast ein bisschen vergessen. «Sie merken<br />

erst, dass da jemand ist, wenn etwas<br />

nicht funktioniert.» Aber: «Wenn<br />

ich richtig loslasse, übernehme ich den<br />

ganzen Raum. Mit meiner Orgel kann<br />

ich jedes Orchester übertönen.»<br />

«Ich suche nach Klängen»<br />

Während die meisten Musiker ihr eigenes<br />

Instrument mitnehmen, besitzt<br />

der Organist seine Orgel nicht. Für<br />

Andreas Jud besonders spannend:<br />

«Überall wo ich hingehe, erwartet<br />

mich etwas Neues.» Und der Organist<br />

war schon an vielen Orten. Er<br />

Eine private Gruppe baut die Mini-Orgel Stück für Stück zusammen. <br />

Andreas Jud im Innern seiner Orgel im St. Johann. Der Hauptorganist übt täglich von morgens um 7 bis um 11 Uhr. <br />

gab Konzerte in Paris oder Los Angeles<br />

und gewann internationale Wettbewerbe.<br />

Zwar seien die Preise eine<br />

Ehre und würden ihm einen Energieschub<br />

verleihen, aber fast noch<br />

wertvoller sei bei seinen Reisen der<br />

Kontakt zu anderen Organisten. «Mit<br />

manchen bin ich schon seit Jahrzehnten<br />

befreundet.» Jede Reise sei auch<br />

eine Weiterbildung. Denn jede Orgel<br />

ist wieder anders: «Ich suche nach<br />

Klängen und versuche sie dann hier<br />

nachzuspielen.» Seine Lieblingsorgel<br />

steht in der deutschen Stadt Norden.<br />

Am wohlsten fühlt er sich aber in<br />

Schaffhausen: «Die Orgeln im Münster<br />

Allerheiligen und in der Kirche St.<br />

Johann sind mein Zuhause.»<br />

Grundsätzlich kann er sich an jede<br />

beliebige Orgel setzen. Wenn er sie<br />

für Publikum spielt, muss er sich aber<br />

einen Tag Zeit nehmen, um die Klänge<br />

vorzubereiten. «Ich will ja auch<br />

ausprobieren.» Zudem informiert er<br />

sich schon vorgängig über das Instrument:<br />

«Ich schaue mir die Disposition<br />

der Orgel an.» Er studiert also, wie die<br />

Orgel gebaut ist und welche technischen<br />

Details sie hat.<br />

Ähnlich geht es den Hobby-Orgelbauern<br />

im St. Johann. Sie sind inzwischen<br />

ein Stück weiter. Schritt für<br />

Schritt, wie bei einem Legobausatz,<br />

haben sie das Gerüst der Mini-Orgel<br />

zusammengebaut. Jedes Stück ist<br />

Handarbeit. Die Tasten sind der Reihe<br />

nach sortiert und einzeln eingehängt.<br />

Jede Taste gehört an ihren Platz, jede<br />

Pfeife ins richtige Loch. Etwas über<br />

eine Stunde sind die Erwachsenen damit<br />

beschäftigt. Manchmal passts auf<br />

Anhieb, manchmal folgt nach einem<br />

Stirnrunzeln und dem wiederholten<br />

Studieren der Anleitung der hilfesuchende<br />

Blick zu Organist Andreas Jud.<br />

«Die Orgel zu erklären, ist nicht ganz<br />

einfach», so der Ostschweizer. Der<br />

Bausatz hilft. Zuletzt wird der Blasebalg<br />

montiert. Jetzt ist die Mini-Orgel<br />

bereit, gespielt zu werden. Der Profi<br />

schlägt die Tasten. Aber zurücklehnen<br />

können sich die Hobby-Orgelbauer<br />

nicht. Sie müssen den Blasebalg betätigen,<br />

damit überhaupt ein Ton aus<br />

Bilder: Claudia Riedel<br />

den Pfeifen kommt. Schon bei dieser<br />

kleinen Orgel körperlich anstrengend.<br />

Über Holzleitern zu den Pfeifen<br />

Bei der grossen Orgel im St. Johann<br />

übernimmt diese Aufgabe ein Motor.<br />

Am Workshop «Orgelbau» während<br />

des <strong>Bachfest</strong>es dürfen die Kinder auch<br />

ins Innere der Orgel. Dort treffen sie<br />

nicht nur auf den Maschinenraum im<br />

Untergeschoss, sondern ihnen eröffnet<br />

sich eine ganz neue Welt. Denn die Orgel<br />

ist weit mehr als das, was man auf<br />

der Empore sieht. «Man sieht von der<br />

Orgel immer nur den schönsten Teil»,<br />

sagt Andreas Jud. Geprägt ist die Fassade<br />

jedoch hauptsächlich durch die<br />

Schreinerarbeit. Die Kunst des Orgelbauers<br />

eröffnet sich einem erst, wenn<br />

man hinter die Fassade blickt. Und was<br />

sich im St. Johann auftut, ist mehr als<br />

imposant. Rund 4500 Pfeifen aus Holz<br />

und Metall reihen sich im Innern des<br />

Instruments aneinander. Die grösste<br />

ist zehn Meter hoch. Um alle Pfeifen zu<br />

erreichen, geht der Organist über Holzleitern<br />

von einem ins andere Stockwerk.<br />

«Üben ist sehr persönlich»<br />

Je mehr man von der Orgel sieht und<br />

dem Organisten zuhört, umso bewusster<br />

wird einem die Komplexität<br />

dieses Kulturgutes. Kein Wunder,<br />

gehört das Üben zu Andreas Juds<br />

Hauptaufgaben.<br />

«Ich übe täglich von morgens<br />

um sieben bis elf Uhr». Am liebsten<br />

dann, wenn die Kirche geschlossen<br />

ist. «Üben ist sehr persönlich», so<br />

der Musiker. «Beim Üben möchte ich<br />

experimentieren.» Seien Leute in der<br />

Kirche, hätten sie eine Hörerwartung.<br />

«Diese Erwartungshaltung schwingt<br />

dann in mir mit und ich bin nicht<br />

mehr konzentriert.»<br />

Nur in den Ferien mache er eine<br />

Pause. «Ich mache mir dann aber<br />

schon auch mal Sorgen, ob meine<br />

Finger nachher noch mitmachen.»<br />

Denn bereits nach zwei, drei Wochen<br />

merke er, dass er nicht mehr das Tempo<br />

habe wie vor der Pause.<br />

Körperlich anstrengend sei das Orgelspielen<br />

zwar nicht für ihn. Allerdings<br />

sei es nicht immer gleich bequem.<br />

Wie das Klavier hat auch die Orgel<br />

schwarze und weisse Tasten. Doch<br />

oftmals hat sie gleich mehrere dieser<br />

Tastenreihen, sogenannte Manuale,<br />

übereinander. Je mehr Manuale eine<br />

Orgel hat, desto mehr Möglichkeiten<br />

hat der Organist. Bei der Orgel in<br />

der Kirche St. Johann in Schaffhausen<br />

sind es beispielsweise drei. «Die<br />

oberste zu spielen ist nicht gerade ergonomisch.»<br />

Neben dem Üben gehört die musikalische<br />

Gestaltung der Anlässe der<br />

Kirchgemeinde St.Johann-Münster,<br />

insbesondere der sonntäglichen Gottesdienste,<br />

zu seinen Hauptaufgaben.<br />

Zudem verantwortet er die Instrumentenpflege<br />

und die Kulturvermittlung.<br />

Es ist ein 50 Prozent Pensum.<br />

Dazu unterrichtet der Organist an<br />

der Musikschule Klavier. Am 30. Internationalen<br />

<strong>Bachfest</strong> wirkt er zudem<br />

an den Kantatengottesdiensten<br />

mit. «Ich habe genug zu tun», sagt<br />

Andreas Jud lachend.<br />

Angst, dass die Kinder an der<br />

rund 7000 Franken teuren Mini-Orgel<br />

etwas kaputt machen können,<br />

hat Andreas Jud nicht. «Wir arbeiten<br />

in Kleingruppen und teilen die<br />

Arbeiten auf.»<br />

Andreas Jud<br />

am <strong>Bachfest</strong><br />

Auffahrtsgottesdienst<br />

Konzertchor Schaffhausen &<br />

Schaffhauser Barockensemble<br />

Donerstag. 9. Mai, 9.30 Uhr,<br />

St. Johann Schaffhausen<br />

freier Eintritt<br />

«Bach entdecken»<br />

– Das <strong>Bachfest</strong> für Kinder<br />

Workshop «Orgelbau» mit Andreas<br />

Jud und Marianne Perrin<br />

Samstag. 11. Mai, 13.30 bis<br />

17.30 Uhr, St. Johann Schaffhausen<br />

Alle Kantatengottesdienste, Workshops<br />

und Sonarelli Kinderkonzerte<br />

sind auf der Programmübersicht auf<br />

Seite 3 zu finden.<br />

Jahrhunderte alte Geschichte<br />

Wer ein Instrument lernen möchte,<br />

denkt nicht sofort an die Orgel.<br />

Andreas Jud: «Die Orgel ist nicht<br />

mehr so im Trend.» Das mag daran<br />

liegen, dass man ihr nicht häufig begegnet.<br />

Für viele haben Orgelklänge<br />

zudem etwas Angsteinflössendes.<br />

Ertönt im Film die Orgelmusik, verheisst<br />

sie meist nichts Gutes. Wer die<br />

Orgel nur von Beerdigungen kennt,<br />

verbindet sie mit Trauer. Solche Prägungen<br />

zu kitten, ist nicht einfach.<br />

Der Orgel werde dabei aber Unrecht<br />

getan, sagt Andreas Jud: «Die Orgel<br />

kann viele Stimmungslagen ausdrücken.»<br />

Für den Organisten ist sie das<br />

prachtvollste Instrument überhaupt.<br />

Darum ist es ihm auch so wichtig, die<br />

Jahrhunderte alte Geschichte des Instruments<br />

weiterzugeben.<br />

Die Hobby-Orgelbauer haben die<br />

Mini-Orgel inzwischen wieder auseinandergebaut<br />

und in Kisten verpackt.<br />

Jetzt wartet sie darauf, am <strong>Bachfest</strong><br />

von den Workshopteilnehmer:innen<br />

wieder zusammengebaut zu werden.<br />

In der Hoffnung, dass sie bei einem<br />

von ihnen vielleicht das gleiche Interesse<br />

weckt wie bei Andreas Jud. Denn<br />

für ihn ist klar: «Die Orgel bedeutet<br />

mir die Welt.»<br />

4500 Pfeifen unterschiedlichster Art und Grösse fasst die Orgel im St. Johann.

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